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Zur Ahnenliste „Janecke“ gehörend.

Fortsetzung der autobiografisch beschriebene Bilder aus dem Lebensfilm von

Chris Janecke,

geboren in Potsdam-Babelsberg.


Der Teil 2: Die Jahre 1956 bis 1960, mein elftes bis vierzehntes Lebensjahr.


Autor und Kontaktpartner für Fragen, Meinungen und Ergänzungen:

E-Mail: christoph@janecke.name


Jüngster Bearbeitungsstand: Juli 2021


Zur Einstimmung in diesen Text gibt es einige Bilder – bitte hier klicken.



Wer sich vornimmt, Gutes zu wirken, darf nicht erwarten,

dass die Menschen ihm deswegen Steine aus dem Weg räumen,

sondern er muss auf das Schicksalhafte gefasst sein,

dass sie ihm welche darauf rollen.


Albert Schweitzer


Auch aus den Steinen, die dir in den Weg gelegt werden,

kannst du Schönes bauen.


meint Johann Wolfgang v. Goethe


Apostel Petrus: Wir heilten im Namen Jesu Christi ...


... Er ist der Stein, von Euch Bauleuten verworfen,

der nun zum Eckstein geworden ist.



Meine bisher namentlich bekannten Vor-Mütter und Vor-Väter in gerader Linie:

Diese Tabelle kann auch gerne von unten nach oben gelesen werden –

aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit.


Gene-

ration

Ehemann

Ehefrau

Lebenszeit

Orte der Lebens-mittelpunkte


Bei der Generation 08 versiegt der Strom der Kenntnis bereits, weil die Kirchenbücher vernichtet worden sind. In benachbarten Orten lässt sich der gleiche Familienname wesentlich weiter zurück verfolgen – aber es fehlt die zuverlässige Belegbarkeit der Familien-Zusammengehörigkeit.


09

Die Eltern von Joachim J. Die Lebenszeit mag etwa zwischen 1720 und 1790 gelegen haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der junge Mann in Hoewisch aufwuchs und im Jahr 1743, mit 6 weiteren Hoewischern, entweder als Acker- oder Müllerbursche, 20 km weiter nach Calenberge „auswanderte" (nach einem Hinweis des Ortslexikons, Hoewisch betreffend).


08

Janecke,

Joachim

namentlich nicht bekannt

um

1750 bis 1806

Calenberge = Pollitz-Kahlenberge, (Altmark),

Provinz Sachsen

07

Janecke,

Andreas Christoph

Later,

Catharina Margarethe

1778 bis 1849

Calenberge, Schönberg und Höwisch (Altmark)

06

Janecke,

Joachim Heinrich

Betke,

Catherine Elisabeth

1807 bis 1887

Meseberg (Altmark),

und Osterburg

05

Janecke, Carl Friedrich August, der Ältere

Neumann,

Dorothee Elisabeth

1842 bis 1912

Schmersau (Altmark)

und Osterburg

04

Janecke, Carl Friedrich August, der Jüngere

Dittwaldt,

Pauline Klara Antonie

1869 bis 1950

Berlin, Rixdorf,

Nowawes-Neuendorf

03

Janecke,

Alfred Richard

Sommer,

Anne-Marie

1900 bis 2003

Rixdorf und Nowawes, Potsdam-Babelsberg

02

Janecke, Chris.toph



1945 bis ins folgende Jahrtausend

hinein

Potsdam, in verschiedenen Ortsteilen

01

Janecke, Kinder.

Nähere Angaben sind sogar dem Autor bekannt, unterliegen aber dem allgemeinen Interesse des familiären Datenschutzes.

00

Janecke, Enkel.


1956 – einige Begebenheiten aus meinem 11. Lebensjahr. 4. / 5. Schuljahr

Schöne Schule – bis zum Sommer bin ich noch im 4. Schuljahr.

Lehrer sind in der Nachkriegszeit oft unbemannte Frauen, öfter ältliche Frollein, also Lehrerinnen. Auch männliche Neulehrer gibt es, die als vom vergangenen Reich nicht belastet gelten, die sich den Lehrstoff manchmal selbst erst kurz vor ihrem Unterricht erarbeitet hatten. Kriegsinvaliden zählen auch zu diesem „schnell besohlten“ pädagogischen Personal. Besonders jüngere Genossen des Lehrerkollektivs wechselten bei uns des Öfteren wegen deren so genannter Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik.


Schul-Direktoren sind während jener Zeit bei uns in der Babelsberger Schule 17, Schulstraße: Herr Brepohl, Herr Russig und später wird es Frau Wieland sein.


Nachstehend einige der Lehrerinnen und Lehrer:


1. Klasse,


1952/53,


6.–7. J.

Schule 30 in der Tuchmacherstraße,

Klassenlehrerin: Frau Schollmeier


7. Klasse


1958/59


12.–13. J.

Klassenlehrer: Herr Willy Donath,

Herr Kuleschir (Russisch 7. / 8.),

Herr Donath: (Zeichnen, Technisches Zeichnen, Chemie, Physik, Unterricht

in der Produktion)


2. Klasse


1953/54


7.–8. J

Schule 30, Tuchmacherstraße


Fräulein von Kidrowski


8. Klasse


1959/60


13.–14. J.

Klassenlehrer: Herr Willy Donath

Fräulein Heinrichs (Geschichte),

Herr Fritz-P. Gnerlich: Biologie, Chemie.

Frau Sadowski (Deutsch)


3. Klasse


1954/55


8.–9. J.

von nun an:

Schule 17 in der Schulstraße.

Klassenlehrerin:

Fräulein Margarethe Karstedt,

Herr Paetke,

Frau Bischoff


9. Klasse


1960/61


14.–15. J.

Klassenlehrer: Fritz-Peter Gnerlich.

Herr Paul Ziegner (Erdkunde),

Frau Lilly Osterland (Russisch),

Herr Vogel (Mathe, Physik)

Herr Machner, Sport.

Herr Leonhardt und Herr wend.: Musik


4. Klasse


1955/56


9.–10. J.

Klassenlehrer: Herr Grüneberg, später Herr Egon Lippelt,

Herr Schulz, Klassenlehrer und Rechnen


10. Klasse


1961/62


15.–16 J.

Klassenlehrer: Herr Fritz-Peter Gnerlich,

Herr Pianowski (Russisch).

Frau Wils (Musik),

Herr Vogel: Mathe, Physik, Astronomie.


5. Klasse


1956/57


10.–11. J.

Klassenlehrer: Herr Dieter Ignor,

Herr Lüders (stellvertretender Direktor und Geschichte),


11. Klasse


1962/63


16.–17. J.

Betriebsberufsschule Großbeuthen,

Klassenlehrer Herr Utemann,

Direktor Herr Abromeit


6. Klasse


1957/58


11.–12. J.

Klassenlehrer: Herr Dieter Ignor, Sportlehrer: Herr Freydank


12. Klasse


1963/64


17.–18. J.

Volkshochschule Potsdam,

Klassenlehrerin Frau Nippert,

Direktor der VHS: Herr Budach



Neuerdings haben wir an jedem Schultag eine Matheprüfung

Wie man sich denken kann, kam dieser Einfall nicht von mir. Ich suchte mir das nicht aus. Weil so viele Lehrer (aber auch Menschen anderer Berufe) die DDR illegal, also ohne um Erlaubnis nachzufragen, einfach so verlassen und in den Westen gehen, fällt bei uns öfter ein bisschen Unterricht oder etwas mehr davon aus. Dadurch bleiben wir aber nicht dümmer als die Schüler in Hamburg oder München, dort, wo unsere Lehrer jetzt vielleicht gerade unterrichten, sondern im Gegenteil, wir werden früher selbständig, reifen schneller, weil wir uns dies' und jenes im intensiven angeleiteten „Selbststudium“ erarbeiten. Manchmal bekommen wir aber auch einen neuen Lehrer. So wie jetzt.

Es ist Herr Schulz. Unser neuer Klassenlehrer und Lehrer im Rechnen. Herr Schulz war wohl zu Kriegszeiten, also noch vor wenigen Jahren, ein Unteroffizier und wurde im Krieg leider schwer verwundet. Danach wurde er Neulehrer. Er hat gewiss inzwischen einen neuen festen Klassenstandpunkt erringen können, so dass er zu uns durfte. Herr Schulz sieht etwa so aus wie der Zwillingsbruder des Senators der Demokratischen Partei in den USA, Lyndon B. Johnson. Ein bisschen Sorge hat man schon, dass bei ihm was kaputtgeht, denn er läuft auf einer Beinprothese und deren metallische Mechanik knackt und schnappt vernehmlich bei jedem Schritt. Bisher passierte aber trotzdem nichts Schlimmes. Sein Kunstbein sieht in der Knieregion leicht seitlich abgeknickt aus. Wir denken es uns zumindest so nach der Form der Hose. Es ist nicht so ebenmäßig gebogen, wie bei einem echten Reiter oder dessen Säbel. Das lenkt bei den Aufgaben immer ab. Der Herr Schulz ist wirklich nicht zu beneiden und die Schüler sollten ihm das Leben beim Unterrichten nicht noch erschweren.

Äußerlich sieht man nichts mehr vom „Spieß“ aber etwas vom Unteroffizier steckt immer noch in ihm: Zum Beginn jeder Stunde müssen wir nicht nur zu Begrüßung stillstehen, sondern auch so stehen bleiben. Er ruft eine Rechenaufgabe laut in die Klasse und man darf / muss laut zurückrufen, also nur die richtige Lösung, ohne sich vorher zu melden. Nur der erste Rückruf wird gewertet und derjenige Schüler darf „rühren“, das bedeutet, er darf sich setzen. So wiederholt sich das sehr schnell knapp 30 x. Eine der Lieblingsaufgaben des Herrn Schulz ist die 7 x 8 = ? Er ist der Meinung: Im kleinen 1 x 1 und am Beginn des Großen gibt es nichts zu rechnen – da haben die Ergebnisse auswendig gelernt, im Gehirn eingeschliffen zu sein und wie aus der Pistole geschossen zu kommen. Seine Wunsch zur Geschwindigkeit erinnert uns sehr an ein Maschinengewehr. „Es hat euch das Rechnen in Fleisch und Blut überzugehen. Wenn ich euch nachts wecke, muss es noch im Schlaf kommen: 8 x 7 = 56“. Hoffentlich gibts da nicht zu viele Albträume.

Allerdings sammelt Herr Schulz in seiner Funktion als Klassenlehrer auch oft am Unterrichtsbeginn die Erträge, freiwillige Anteile, Spenden von den Altstoffsammlungen, den „Rumpelmännchen-Aktionen“ ein. Mitunter müssen wir gemahnt werden, wenn die Beiträge zu zögerlich oder in zu kleinen Einzelmünzen kommen. Manchmal wird der Grad des Respekts vor ihm auch mit einer „Kopfnuss“ oder des hilfreichen Hochziehens des Schülers aus der Bank an seinem Ohr erhöht.


Inzwischen wird auch unser blondgelocktes Brüderchen mit zusätzlich gereichten Vitaminen versorgt. Allerdings ist es bei ihm nicht mehr unser alter Lebertran vom Meeressäugetier, sondern ein wohlduftendes und -schmeckendes „Travidyn“. Die Wale dürfen nun hoffentlich leben bleiben.

Der Kleine genießt also eine Art Trink-Kur in der Heimat und ich ... ich darf wieder fort fahren.


Oh Schatz – eine Erlösung vom Mathe-Drill: im Frühjahr habe ich habe Zusatzferien in Borna bei Oschatz in Sachsen

Im Winter erhalte ich nach der obligatorischen Untersuchung bei der Kinder- und Jugendfürsorge in der Babelsberger Karl-Liebknecht-Straße 113, von der Sozialversicherungskasse (SVK beim FDGB) den Aufenthalt in einem Kindererholungsheim, in dem ehemaligen Schloss eines Barons oder inzwischen: in einer großen alten Villa des Dörfchens Borna verordnet, geschenkt. Danke! Großen Dank!


Unsere Ankunft

Wir kommen nun also im April im Sachsenland an. Für einige Wochen dürfen wir Kinder in dieser alten Villa gemeinsam leben. Das Haus heißt „Sonnenblume“ und steht in der Straße der

Jugend 11, in Borna bei Oschatz, so ist die Anschrift, falls ihr mir mal schreiben möchtet. Die Bäume und auch Sträucher sind leider auch hier noch kahl aber im Sonnenschein ist es draußen schon schön warm.

Erste Eindrücke: Es sind vier Kinder aus Babelsberg dabei, die sich nun kennen lernen. Es sind Ingelore, Hartmut, Ernst und ich. Ingelore hat ausgangs des Sommers, im gleichen Jahr wie ich Geburtstag aber Hartmut ist schon ein Jahr älter. Ingelores Eltern haben große Kenntnisse und Fertigkeiten in der feinen Holzbearbeitung für Wohnräume. Hartmuts Vater ist Lokomotivführer bei der Deutschen Reichsbahn. Viele Kinder kommen aber aus den sächsischen Industriegebieten, um hier endlich einmal frische Luft schnappen zu können.

Ich selber bin leider allen Kindern und dem Personal schon in der ersten Stunde unseres Aufenthalts zu schnell bekannt geworden, man kann auch sagen „ich bin aufgefallen“ und das kam so:

Der große Schlafsaal der Jungen, der sich rechts-hinten an die große, mit dunklem Wand-Paneel ausgestatteten Eingangshalle anschließt, ist mit glänzend versiegeltem Parkett ausgestattet. Mit unseren filzbesohlten Hausschuhen veranstalteten wir bereits nach dem Auspacken der Koffer einen „Schlidderwettbewerb“, so zum besseren Kennenlernen, denn die freundlichen Erzieherinnen waren in ausreichender Ferne. Das ging auch recht gut, fast so gut, wie auf dem Eis, zumindest solange, bis ich ausrutschte und mit dem Kopf auf die Ecke eines der Eisenbettgestelle knallte. Ein „Loch im Kopf“, Blutvergießen, kleine Gehirnerschütterung und plötzlich viel der Dunkelheit um mich herum. Ein baldiges Aufwachen folgte unter fremden Stimmengewirr – wie fern und in Watte gepackt die Stimmen.

Die Narbe, ein „Denkzettel“, wird auch nach mehr als einem halben Jahrhundert, noch sehr gut erhalten sein – eine Stelle „auf der kein Gras mehr wächst“. Findige und gesunde Kinderköpfe wählten für mich sofort den Indianernamen „Blutige Bärentatze“. Eine Bezeichnung, nicht völlig zutreffend für den Schaden, der ja weiter oben angesiedelt ist, ein nebensächlicher „Hauptschaden“ sozusagen. Nur soll ich mich in solch einem Falle oder Sturz nicht auf das Ändern von Zusatznamen verlegen, sondern diesen mit Würde tragen und gute Miene zu diesem Spiel machen. Bis zur Rückfahrt in die Heimat, wird das Ganze aber schon nicht mehr ganz so furchterregend aussehen.

Ganz toll und heimatverbindend ist für mich der Duft des neuen mitgebrachten Seifenstücks mit dem schmückenden Prägeeindruck in der ebenfalls neuen Seifenschale und der neuen Zahnpasta-Tube. Auch der kleine Taschenkamm gefällt mir (nur, dass ich mit diesem nur ganz vorsichtig und nur ein bisschen auf dem Kopf umherkämmen kann). Hat Mutti alles vor der Abfahrt besorgt.


Das Grundstück unseres Aufenthaltes

Jetzt besprechen wir am besten kurz das Grundstück auf dem wir zu Gast sind: Etwa seit dem Jahr 1.200 soll hier schon das ursprüngliche Schloss des Dörfchens und seiner Umgebung gestanden haben. Im 30jährigen Krieg wurde es völlig zerstört aber 1677 wieder aufgebaut. Nur über eine Zugbrücke, die über einen breiten Wassergraben führte, konnte man das Schloss erreichen. Nicht jedem Besucher wurde die Brücke herabgelassen und das Tor geöffnet. Ein Wasserschloss also, in dem man leicht eine schwere Erkältung, Gicht, Rheuma oder zumindest nasse Füße bekommen konnte. Unter dem neuen Besitzer, dem Herrn v. Byern, (nein, das ist kein Schreibfehler, nicht von Bayern ist hier die Rede) wurde 1877 das alte Schloss bis auf die gewaltig dicken Grundmauern abgetragen und darauf das jetzige Gebäude im Historismus-Stil errichtet. Nach der Enteignung des Barons baute man 1949 diesen Herrensitz in das Kindererholungsheim „Sonnenblume“ um. Schön. Seitdem wohnt nicht nur eine Familie darin, sondern viele Kinder passen hinein und dürfen sich hier erholen.

Es ist beabsichtigt, bald nach unserem Aufenthalt, aus der „Sonnenblume“ ein Dauerheim für Waisenkinder oder für solche aus sozial schwierigen Familien zu gestalten. Zum Glück noch nicht jetzt, erst nach uns – wir werden also nicht dazugezählt.


Die nahe Umgebung

Nur ungefähr 50 m vom Erholungsheim entfernt, schlängelt sich ein kleines Flüsschen oder eher ein breiterer Bach durch die Landschaft. „Die Döllnitz“ ist sein / ihr Name. Nicht etwa die „Borne“, was noch schöner wäre. Streckenweise ist das Ufer des Gewässers mit Bäumen bestanden. Borna weist in der näheren Umgebung einige Waldflächen auf, aber im Wesentlichen sind es Felder, Ackerflächen, die in dieser Jahreszeit noch graubraun, etwas kahl aussehen.


Die weitere Umgebung

Umkreisen wir in Gedanken mal gemeinsam den Ort Borna: Zum Laufen in die leicht hügelige Umgebung bestehen viele Möglichkeiten. Dabei gibt es häufig Abwechslungen, weil die kleinen Orte hier recht nahe beieinander liegen. Manche Dörfer gelten für uns als direktes Wanderziel aber wir nehmen auch mal einen Rundkurs.

Bis Liebschütz über Schönnewitz, Terpitz und Gaunitz im Nordwesten von Borna sind es knapp

7 km Weg. Der Liebschützer Berg ist mit fast 198 m die höchste Erhebung der Umgebung. Auf diesem steht eine alte Bockwindmühle, die noch fleißig das Getreide zermalmt. Nach Kleinragenitz, über Bornitz im Südwesten, sind es etwa 2,5 Kilometer. Bis zur Kreisstadt Oschatz in gleicher Richtung hätten wir 6 km zu gehen. Ganzig, reichlich 3 km entfernt, liegt im Süden von Borna. Wadewitz am Sandbach, mit dem schönen Teich, ist auf dem Waldweg nur 300 m südlich des Heimes zu finden.

Canitz im Osten liegt 3,5 km entfernt und nordöstlich liegt Strehla an der Elbe in 5,5 Kilometer Entfernung. Auch dort trafen im Mai 1945 sowjetische und amerikanische Truppen aufeinander. Das ist jetzt erst ein reichliches Jahrzehnt her! Auf halben Wege dorthin finden wir in Zaußwitz noch eine Turmwindmühle und auch eine solche am Wege nach Clanzschwitz auf dem Käferberg, also immer schön auf den Hügeln stehend. Bei uns zu Hause sind diese Mühlen wohl fast alle abgerissen oder werden nur noch als Museum genutzt – hier aber ... Ja, und mit den -itzen und -witzen (in den Ortsnamen) haben sich die sächsischen Menschen hier sehr gut ausgestattet.


Einige Anmerkungen zur Geschichte

Etwa im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wanderten in das Gebiet slawische Sorben ein. Aus diesem Grund ist der Ortsname slawischen Ursprungs. „Borna“ bedeutet ganz einfach: Siedlung am Born, an der Quelle oder am Wasser. Deshalb (?) also nennt man das Flüsschen auch „Döllnitz.“

Im Jahr 929 eroberte Heinrich I. diesen Slawengau und unterwarf dessen bisherige Bewohner. Das gehört sich nicht. Deutsche Ansiedler zogen in das Gebiet. Na gut.

Im 10. Jahrhundert:

Die alte „Hohe Salzstraße“ aus Halle über Leipzig führt durch Borna, an Clanzschwitz und Liebschütz vorbei, über Penig, Chemnitz und Reitzenhain weiter in Richtung Böhmen.

Diese Straße wird zum „Herrenweg deutscher Ritter“.

Von etwa 1150 an, siedelten hier ständig deutsche Bauern.

Das Dorf wurde schon im Jahre 1185 in einer Urkunde des Markgrafen Otto erwähnt. Wie er aussah? Ach, es gab doch so viele Ottos oder Ottonen. – Über die Siedlung Wadewitz, heute ein Ortsteil von Borna, besteht eine Urkunde aus dem Jahre 1350.

Ein ursprünglicher Schlossbau soll hier schon im 12. Jahrhundert gestanden haben.

1547 zog Kaiser Karl V. mit seinem Heer durch die Flure, auf dem Wege zur Schlacht bei Mühlberg (Kaiserweg in Schönnewitz). Borna, Schönnewitz und Bornitz waren schon früh durch die Rittergüter eng miteinander verbunden.

Die vorige wesentliche Erneuerung der alten Kirche in Borna aus dem 13. Jahrhundert, fand 1606 statt. Im 30-jährigen Krieg, also in der Zeit zwischen 1618 und 1648, zerstörten die „befreundeten“ schwedischen Soldaten nicht nur die einfachen Häuser der Bewohner, sondern sogar die „Veste“ Wasserburg Borna, waren also auch auf „unserem Grundstück“, um es zu verwüsten.

Zwischen 1681 und 1693 wurde die Gegend von der Pest heimgesucht.

Den letzten Wolf der Gegend erlegte man im Jahre 1760 im Wald zwischen Borna und Wadewitz, so dass fortan nur noch Hunde gesichtet wurden und die Schafherden ruhiger leben konnten.

1770 und 1771 traten nach den Missernten entsetzliche Hungersnöte auf.

Am 30. Dezember 1777 war in der Bornaer Schäferei ein Feuer ausgebrochen, bei dem weit über 1.000 Schafe, die Hütehunde und viele Schweine jämmerlich in den Flammen umkamen.

Dann ereignete sich über einen längeren Zeitraum nicht so viel des Berichtens Wertes. Zum Glück. Selten wird ja in der Geschichte über das Glück geschrieben oder in Nachrichten darüber gesprochen.

Der Bau der zweiten deutschen Eisenbahnstrecke brachte nach 1836 „neues Leben“ in dieses Gebiet, nämlich eine Fernlinie von Dresden nach Leipzig, die durch Bornitz führt (also im ortsüblichen Sprachgebrauch ist es richtiger: von „Dräsdn noch Leipzsch“ zu sagen). Das war bald nach der Errichtung der ersten Eisenbahnstrecke, der nur 6 km kurzen Verbindung zwischen Nürnberg und Fürth, was ja irgendwo weit im Westen liegt. Nun also der erste Königlich-Sächsische Doppelschienenstrang. Mit dieser Eisenbahnstrecke ging es recht lange gut. Wenige Wochen jedoch bevor wir hier ankamen, am 25. Februar 1956, ereignete sich in Bornitz ein großes Unglück auf dieser Eisenbahnstrecke. Bei einer Weiche stießen ein D-Zug und ein Güterzug hart zusammen. Die Lokomotiven stürzten um, Wagen entgleisten, 43 Menschen überlebten das Unglück leider nicht und 55 weitere Personen wurden verletzt, zum Teil sehr schwer.

Am 14. Oktober 1950, also vor nicht ganz 6 Jahren, gab es wieder einen großen Brand in Borna, dem viele Häuser zum Opfer fielen. Deshalb wurde zum Beispiel an der Oschatzer Straße eine Neubau(ern)siedlung errichtet, an der auch wir vorbeigehen und mal gucken.


Vorhaben in den Tagesabläufen der jungen Gäste des Kindererholungsheims

Gleich nebenan in Schönnewitz können wir die Wassermühle besichtigen. Auf der etwa 200 m breiten Dorfaue war es in früheren Zeiten im Frühjahr oft nicht möglich, von einem Haus zum anderen zu gehen, wenn die Döllnitz das Schmelzwasser nicht mehr fassen konnte und die Fluten über die Ufer traten.

Auf dem Liebschützberg steht eine Windmühle, die sich besichtigen lässt. Dort trat noch nie ein Wasserstau auf. Auch in Wadewitz ist eine Mühle zu betrachten.

Tonlagerstätten, Brauneisenstein und verkieseltes (versteinertes) Holz gibt es bei Zaußwitz. Hier steht eine prächtige Holländer-Windmühle. Am Ort führt auch eine Kleinbahnlinie vorbei.


Über den täglichen Ablauf notiere ich hier nichts weiter, denn das schrieb ich ja schon nach Hause. Und Ihr wisst ja sowieso wie das geht: Man steht am Morgen auf, wäscht sich, macht das Bett, man frühstückt, geht Spazieren, man isst auch Mittag, ruht anschließend, trinkt den guten Milchkaffee, spielt oder schreibt auch mal, isst die Abendbrotschnitten und trinkt dazu den Kräutertee und beschäftigt sich nach dem Waschen noch etwas still – bis die Erzieherinnen müde sind. So wiederholt sich das in interessanter Abwechslung.

Zu unseren vielseitigen Freizeitbeschäftigungen in diesen Tagen gehört das Schnitzen von Booten aus der dicken Borke der Kiefern. Beliebt ist deren Ausstattung mit Blattsegeln vom Gummibaum. Sobald diese Blätter ein bisschen gelb werden, und der Baum sie also nicht mehr dringend zum Atmen braucht, dürfen wir sie ernten. Manchmal sind sie aber auch noch etwas sehr grünlich. Der Bedarf ist größer, als das Wachstum schnell. Die Mädchen unternehmen zeitweilig aber ganz andere Spielereien. Sie sind keine begeisterten Schnitzerinnen.

Für die Zeit, wenn der Himmel mal voller Wolken hängt und Wasser ablässt, haben wir eine große Bibliothek. Ich las gerade das Indianerbuch „Blauvogel“ von Anna Jürgen (das ist in Wirklichkeit Anna Müller-Tannewitz (1899–1988). Jürgen ist nicht etwa ihr Bruder, sondern es ist ihr Künstlerinnen-Name und das Buch ist somit auch Kunst). Sie hat den Inhalt ihres Buches nicht nur erdacht, wie es beispielsweise Karl May ganz meisterhaft verstand, – sie war sogar in Nordamerika bei den Indianern, um deren Geschichte, Sitten und Gebräuche etwas kennenzulernen, bevor sie etwas darüber schrieb. So weit reisen – bis nach Amerika – müssen wir Menschen der DDR nicht! Das Buch handelt von den weißen Männern, die immer mehr Indianerland rauben, von dem neunjährigen Jungen Georg Ruster, der nach der Entführung Blauvogel heißt. Später wird er aus seiner indianischen Umgebung „befreit“, findet sich aber in der groben lauten Welt der Weißen nicht mehr zurecht. Er ist dort zutiefst unglücklich. Es gelingt ihm aber die Flucht und Rückkehr in seine wahre indianische Heimat. – Als nächstes lese ich ein Buch über den Ferienlageraufenthalt einer Gruppe sowjetischer Pioniere im Ferienlager Artek bei Sewastopol auf der Halbinsel Krim. Von (gespielten) Admiralen und deren Adjutanten (also, das sind komischer Weise auch männliche Jungen). Von der gesamten Schiffsmannschaft und den Abenteuern, die sie zu bestehen haben, erzählt diese Geschichte.

Sewastopol war im vorigen Krieg von den deutschen Soldaten fast völlig zerstört worden und trotzdem können sich auch dort schon wieder Kinder erholen. Die sowjetischen Menschen bauen sehr schnell. Wir wollen das auch noch lernen.


Ich nehme an dem angebotenen Lehrgang für „Junge Sanitäter“ teil. Das passt zum Buch und zu meinem Kopf vom ersten Tag und außerdem ist es interessant und wichtig.


Wir erzählen uns auch alle von zu Hause, wie wir leben, was wir schon alles für bedeutende Erlebnisse hatten. Der Sascha ärgerte dabei Ingelore sehr – ohne einen Grund, so dass ich ihm ernst die Meinung sagen musste, weil ich sie einfach beschützen wollte, denn Ingelore guckte nur traurig, sagte aber gar nichts dazu. Vielleicht braucht sie etwas mehr Mut. Sie ist so zart und lieb und überhaupt nicht zickig und komisch, wie andere Mädchen es manchmal so an sich haben.


Mehrere neue Lieder lernen wir. Es gehören dazu auch ein Cowboylied und ein altes Seemannslied – und das hier mitten im sächsischen Land. Ich schreibe diese mal auf:


Im Kanton bin ich geboren


Im Kanton bin ich geboren

bin als Cowboy ausgezogen

nach dem Süden.

Hab mein Lasso ausgeschwungen,

und ein Liebeslied gesungen,

Seniorina.


Refrain oder Kehrreim:

Hab an dich gedacht

bei Tag und auch bei Nacht,

denn ich bin ja nur ein Reiter

und die Sehnsucht treibt mich weiter

nach dem Süden hin.


In der Schenke der Seniore'

saßen wir an langen Tischen

tranken Whisky.

Tranken Schnaps und sangen Lieder,

diese Zeit kehrt niemals wieder,

Seniorina.


Fern im Süden will ich sterben,

denn ich hab ja keine Erben,

Seniorina.

Sie allein nur konnt' ich lieben

sonst ist mir nichts geblieben,

als die Sehnsucht.


Winde wehn, Schiffe gehn


Winde weh'n, Schiffe geh'n

weit in fremde Land'.

I: Nur des Matrosen allerliebster Schatz

bleibt weinend steh'n am Strand. :I



Weine nicht, lieb' Gesicht,

wisch die Tränen ab!

I: Und denk an mich und an die schöne Zeit,

bis ich dich wiederhab'. :I



Silber, Gold – Kisten voll,

bring ich dann mit mir.

I: Ich bringe Seide, schönes Sammetzeug,

und alles schenk ich dir. :I






Volkslied der in Finnland lebenden Schweden. Deutsch um 1925 von Erich Spohr

und Hermann Gumbel.


Wieso kommt mir eigentlich bei dem Lied „Winde weh'n“ immer wieder ein Mädchen in den Sinn? Ich bin zwar kein Seemann ... aber mit einem kleinen Floß auf einer Insel mit Hütte, zu zweit – das wäre schon schön. Ein bisschen Sorge hätte ich aber doch schon. Was soll man einem Mädchen in der langen Zeit immer wieder Neues und Interessantes erzählen, um sie am Lachen und bei guter Laune zu halten? Das wird schwierig sein. Wenn meine Schwester ihre Schulkameradinnen Kar. und Ang. bei uns zu Hause hat, da kann ich als Gast in meinem Zuhause schon mal einige Wörtchen einwerfen. Das geht ganz leicht, denn die drei Mädchen erzählen nach ein paar Stichworten dann immer selbst sehr viel und sie sind ja auch bereits älter.

Ja, und bei diesen Erlebnissen und solchen schwer wiegenden Gedanken vergehen diese Wochen wie im Fluge. Bald schon werden wir wieder nach Hause fahren. Nun gut, auch das ist schön.


Später, in Potsdam-Babelsberg:

Die alte Heimat ist in den ersten Minuten ungewohnt, etwas fremd geworden, sehr geschäftig. Der Laden der Eltern ist geöffnet, Kunden kommen und gehen und die Eltern haben im Alltag viel zu tun. Nach der Begrüßung fühle ich mich deshalb ein bisschen als Nebensache, fast überflüssig. Das ist beinahe so ein „Blauvogel-Gefühl“ – aber unser Struppi ist „ganz aufgedreht“ und Mutti hat schon ein schönes Begrüßungsabendessen vorbereitet.


Anmerkung. Den aktualisierten Beitrag über Borna findet ihr im Abschnitt „Orte“ auf der gleichen Internetseite. Dort gibt es auch mehr Bilder und Beiträge von Lesern.


Ende April 56 – Vorbereitung unseres Frühlingsfestes

Zum großen runden 30-jährigen Geschäftsjubiläum der Eltern (1926 bis 1956), soll wieder ein Familienbild entstehen, damit Interessierte unser Wachsen besser verfolgen können und später auch das Altern. Wurden zum kurzzeitigen Erhellen unseres Wohnzimmers vom Photographen vor fünf Jahren auf einem Teller die sehr orientalisch anmutenden Magnesiumoxidbeutel abgebrannt, obwohl nun wirklich nicht Silvester war, also ein Flambeau veranstaltet, um uns ins rechte Licht zu rücken, so ist bei ihm inzwischen ein neuzeitlicher Stand moderner Beleuchtungs-Technik eingezogen. Er setzt in diesem Jahr eine große ekelhaft blendende elektrische Dauer-Lampe mit blankem Reflektorschirm ein. Der Photo-Künstler platziert dieses neue heiße Eisen abstützend auf Muttis Nähkasten. Dann rückt er Köpfe und Ohren von uns Abzubildenden in die angeblich einzig richtige Position – das dauert eine Weile – und bevor er endlich auf den Auslöser drückt, riecht es schon recht brenzlig – und die Ölfarbe von Muttis Nähkasten (milchkaffeefarben) hat sich stellenweise zu einem kross-schwarzbraunen Röstprodukt erhoben. Opfer müssen gebracht werden, will man ein hehres Ziel erreichen. Ein ewiges Andenken an diesen schönen Tag. Abgebrannt ist das Haus für das Foto aber nicht und den Namen des Fotografen verpetze ich nicht an euch! Vielleicht sollte er aber für ein Lampen-Stativ sparen. Das wäre gut für alle seine Kunden.


Maifreuden

Erster Mai, erster Mai, alle Menschen werden frei – puh, war die erste Hälfte des Tages wieder schrecklich. Morgens trafen wir uns in der Schule (Schulstraße) und nach langer Wartezeit ging die machtvolle Demonstration der werktätigen Schüler langsam voran. Langsam! Immer wieder Stau und Stehen und warten und Geduld haben. Dabei nicht enden sollender Kampfgeist und knurrender Magen. Am schlimmsten ist es am Leipziger Dreieck, weil von links, aus der Heinrich-Mann-Allee, viele Schüler und Erwachsene strömen, wir aus der Friedrich-Engels-Straße kommen und kein Ordner irgendwie ermessen kann, wie man einen Reissverschluss zweier Menschenströme harmonisch zu zieht. Ob ich auch mal mit wichtig-ernst-verzerrtem Gesicht so blöd und hilflos bin, sinnlos aufgeregt mit den Armen herumfuchtele, wenn ich erst erwachsen sein werde? Wollen wir's nicht hoffen.

Dabei scheint es so einfach aus jeder Straße schön abwechselnd jeweils einen Block von vielleicht 100 Demonstrationsfreudigen durchzulassen. Die Ordner beider Straßen können sich an dieser Stelle sogar sehen. Gut ist es, dass aus der Leipziger Straße nur wenige Menschen kommen. An der Tribüne, am Platz der Nationen angekommen, jubeln wir dann alle plötzlich ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger.


Es ist gut, dass Walter Ulbricht uns die Richtung weist. So spricht er beispielsweise: „Bei uns hat das arbeitende Volk ein gesichertes Leben. Die Arbeiterklasse und die anderen Werktätigen haben hier jetzt ein Vaterland, für das es sich lohnt, alle Kräfte einzusetzen, für das es sich lohnt, zu lernen und zu schaffen wie nie zuvor, ja?“. – Das sind wirklich schöne Worte.


Ich bin in Gedanken schon am festlich gedeckten Mittagstisch, denn heute findet ja zu Hause wieder das Betriebsjubiläum statt. Das Dreißigste. Kotelett gibt es, mit Kartoffeln und Mischgemüse.

Vati hat dazu wieder eine Festschrift als Andenken gestaltet und es gibt auch einen neuen Geschäfts-Schmuck-Stempel mit „30 Jahre“. Natürlich auch die neuen Fotos für die wir neulich so lange still saßen.

Bald aber beginnt unser Abschied von der Wohnung in der Rudolf-Breitscheid-Straße 46.


Die neue Wohnung

Zehn Jahre, vom Januar 1946 bis zum Frühjahr 1956, eine lange Kinderzeit, lebten wir gemeinsam in der Rudolf-Breitscheid-Straße 46 – meine Eltern aber schon fünf Jahre eher. An dieser Stelle lebten vor langer Zeit Leute von Muttis Vorfahren, als hier, vor 1874, noch so ein ortstypisches Kolonistenhaus stand in dem sie wohnten. Lindenstraße 39 hieß es damals. Das jetzige größere Gebäude ist sozusagen mein Elternhaus, auch wenn es nicht das Haus meiner Eltern ist, denn wir alle (zwei Mietparteien, Schuberts und wir) sind ja bloß Mieter.

Es gelang den Eltern irgendwie, eine neue, eine bessere Wohnung zu mieten. Das war kein rein eigenes Verdienst. Auch war es „geistig“ eher so, dass die Hauseigentümer uns gesucht hatten. Sie wollten nicht jeden beliebigen Mieter. Dazu muss ich erläutern, dass der Wohnraum (an sich, also allumfassend) staatlich bewirtschaftet und die Wohnungsvergabe demzufolge allein staatlich gelenkt wird. Als Hauseigentümer bekommt man also in eine frei gewordene Wohnung den Mieter hineingesetzt, den der Staat, mit seinem Rat der Stadt, Abt. Wohnraumwirtschaft, für richtig hält.

Eine Wahlfreiheit, wen er aufnehmen möchte, gibt es für den Besitzer des Hauses kaum.


Die neue Wohnung befindet sich keine 200 m von der bisherigen entfernt, in der Wattstraße 12, Hochparterre. „Watt" ist hier kein Fragefürwort in Berliner Mundart, sondern der Familienname des englischen James, des guten Physikers. Es steht auf dem Sockel jeder Glühlampe –beispielsweise: 220 Volt, 40 Watt.

Die Eigentümer und Hauswirtsleute sind Herr Karl Klawon und seine Frau Martha, beide im Rentenalter. Herr Klawon verdiente früher das Geld für seine täglichen Brötchen mit der Arbeit als „Oberpostschaffner“. Das ist eine Dienstpostenbezeichnung, mit der sein Aufgabenbereich beschrieben wird und die gleichfalls der Einstufung der finanziellen Vergütung seiner Tätigkeit (Alimentation) als Beamter diente. Er hatte also eine wichtige Arbeit im Briefverteilungsdienst bei der Post. Herr Klawon ist inzwischen schwer gehbehindert und hochgradig schwerhörig. Als Hörhilfe benutzt er manchmal die Hörtüten, wie wir sie sehr ähnlich als Lampenschirme finden, bei ihm an einem federnden Kopfbügel befestigt. Es sind also richtige Kopfhörer. Auch besitzt er einen Hut mit „Gamsbart", so etwa nach süddeutscher Gutsherrenart. Frau Klawon ist freundlich, sieht recht verhärmt aus und quält sich mit ihrem Mann redlich herum. Sie ist nicht zu beneiden. Bald schon ist klar: Sie ist es, die im Wesentlichen die Geschäfte dieses Rentnerzweiergespanns führt. –

Unser Wohnungsumzug wird aber kein völliger Bruch mit dem Bisherigen, denn das Geschäft befindet sich ja noch dort am alten Wohnsitz. Die Eltern haben vorerst nur das Schlafzimmer im Obergeschoss an den Hauseigentümer zurückgegeben.

Den beißenden Ammoniakgeruch von der Lichtpausanlage haben wir also einige Stunden weniger in den Lungen – wir werden diesen aber nicht vermissen müssen, denn der bleibt uns ja in den Geschäftsräumen erhalten.


Hier in der Wattstraße 12 ist alles so aufregend neu. Ganz toll.

Wir ziehen erst mal in die von uns gründlich gereinigte Wohnung ein. Raumdecken und Wände müssen nicht gleich gemalert werden. Zeit und Geld sind knapp.

Einen großen Teil des Umzuges, mit den nicht enden wollenden Utensilien, erledigen wir mit vielen Fahrten unseres großen Handwagens. Mehrere Fuhren unternimmt auch Herr Walter Brendler mit seinem zweirädrig-großrädrigem Tischler-Plattenkarren. Ein fremdes Lastauto benötigen wir dann nur noch für die wenigen großen Möbelstücke.

Herr Brendler ist es auch, der mit großem handwerklichen Geschick und einer Engelsgeduld die vielen Einbauten erledigt, z. B. die Hütte für Vatis Selbstfahrer (Rollstuhl) im Vorgarten. Erst viel später, als auch die Geschäftsräume in der Rudolf-Breitscheid-Straße 46 aufgegeben werden, nimmt Herr Brendler den Einbau der Ammoniak-Kästen für das Entwickeln der Lichtpausen, das Einfügen eines stabilen Zwischenbodens im Korridor (in der Art einer abgehängten Decke) und den Einbau einer weiteren Tür vor. Der Elektriker aus der Kreuzstraße, Herr Buse, der täglich aus Wildenbruch mit dem Fahrrad zur Arbeit nach Babelsberg kommt, baut dann einen großen Ventilator zum Abziehen der Ammoniakdämpfe aus der Wohnung ein.

Wohin wir unser Kellergut einlagern sollen, ist nicht zu übersehen, denn außen an der Hauswand weisen noch aus der Kriegszeit die schrägen weißen Pfeile auf den Luftschutzraum hin. Ob man die Räume auch heute noch für Notfälle freihalten muss? Wir leben momentan im „Kalten Krieg“.


Nun ein gemeinsamer Rundgang durch die neue Wohnung:

Wir betreten zuerst den Wohnungskorridor. Links von diesem liegen das schmale Kinderzimmer, das Wohnzimmer und das Schlafzimmer. Geradezu geht es zur Küche, mit der Speisekammer und dem dahinter liegenden Bad. Nach rechts gehen vom Korridor die Türen zum Büro und zur Toilette ab. Viele Räume also, fast so, wie in einem Schloss.

Das Wohnzimmer liegt zwischen Kinderzimmer und dem kombinierten Schlaf-/ und Arbeitszimmer. Wegen dieser Lage wird es auch das Mittelzimmer genannt. Gegen das Schlafzimmer ist es mit einer hohen, zweiflügeligen Tür getrennt, die mit geschwungenen Glasscheiben ausgestattet ist, deren geschliffene Kanten das gelbweiße Sonnenlicht in seine bunten Spektralfarben zerlegt. „Genau wie in Sanssouci“ sagen unsere Eltern gleich. Diese Tür hatten Klawons für sich anfertigen lassen, als sie früher selbst diese Räume bewohnten. Das ist schon lange her.

Zur Zeit des Umzuges hat Muttis altes Sofa, das aus der „Priesterstraße“, Urlaub. Diese Couch bekommt einen schönen neuen, lindgrünen Stoffbezug und wird danach im Mittelzimmer vor dem Fenster aufgestellt, zieht also etwas später ein. Urlaub haben auch unsere „Kinderbetten“ aus weißem Stahlrohr. Deren „Wangen“, also die hohen Kopf- und Fußenden der Stahlrohr-Betten dürfen zu Herrn Schlosser-Meister Quast, der sie bearbeitet. Als sie wiederkommen, sind sie in ihrer Höhe gekürzt, um nicht zu sagen „erniedrigt“ worden. Sie erinnern nun nicht mehr an Krankenhausbetten, nein, wir haben jetzt moderne flache Liegen. Man könnte auch sagen: Wir besitzen eine Ruhelandschaft.


Beim Einzug, beim Aufstellen der Möbel, hat unser kleiner Bruder nicht viel zu tun, obwohl er schon könnte – er wird ja bald zwei Jahre alt. Er vertreibt sich die Zeit ein bisschen und erforscht so manches. So prüfte er im Wohnzimmer gerade die Steckdosenbuchsen mit Muttis Haarnadel und obwohl es in der Wohnung schlagartig dunkel wird, sieht er helle Sterne, zeitgleich gibt es eine Knall-Stichflamme, einen Aufschrei aber bis auf die elektrische Schmelz-Sicherung haben es alle anderen Anwesenden überlebt. Ja, das Erziehen solch kleiner Kinder ist eine schwere Aufgabe.


Zum Kinderzimmer der beiden Großen gelangen wir durch das Wohnzimmer. Es ist somit „ein gefangener Raum“. Meine Schwester und ich, wohnen nun erstmals in einem eigenen gemeinsamen Kinderzimmer, in dem die beiden neuen Liegen, ein Kleiderschrank, die schwesterliche Aussteuerkiste (mit Sammeltassen, Bettwäsche, Handtüchern, selbstgearbeiteten Topflappen und gar manchem mehr) stehen. Ein kleiner Korbtisch mit zwei Sesseln und der Ofen finden gerade so Platz. Es ist unbeschreiblich schön, wenn draußen die Sonne scheint und dieses Licht gedämpft durch die schräg gestellten grünlichen Lamellen der heruntergelassenen Splittjalousie fällt.


Das Schlafzimmer der Eltern gilt gleichzeitig noch als Arbeitsraum, zumal es groß genug ist. Hierin ruht auch unser kleiner Bruder.


Die Küche – ist einer der wichtigsten Räume.

Hierin stehen der Waschtisch für Geschirr und die Körperreinigung (also in diesen Nutzungs-Arten nacheinander anzuwenden). Das ist ein Tisch mit einem herausrollbaren Gestell, das zwei weiß emaillierte Schüsseln aufnimmt. Ein Fensterschränkchen ist unter dem Fenster fest eingebaut. Über dem halbrunden gusseisernem Ausgussbecken haben die Eltern einen „Aquatherm-Heißwasserspeicher“ installieren lassen. Das ist ein Tauchsieder in einem Glasbehälter, der an der Wand hängt. Man kann also gut zusehen wie das Wasser erwärmt wird. Zwischen Fensterschrank und dem Ausgussbecken befindet sich die Tür zur Speisekammer. Ansonsten haben noch der Kochherd und der Küchenschrank Platz. An der Tür zum Korridor ist die Kaffeemühle angeschraubt. Ein Wandmodell also, das nicht häufig benutzt wird. Kaffeebohnen sind knapp und teuer.

Eine Heizung gibt es für die Küche nicht. Bei der Körperwäsche nutzen wir im Winterhalbjahr während der Reinigungszeit eine elektrische „Heizsonne“ mit kreisrundem Aluminium-Reflektor. Viel später werden wir dann einen kleinen weißen Küchenofen mit Kochplatte vom Typ „Glutos“, für Holz und Braunkohle als Brennmaterial haben. Glutos hört sich so nach warmem Griechenland an, finde ich. Na ja, etwas lauwarm wird es im Raum – wenn die Platte lange glühend heiß ist.


Von der Küche aus geht es ins Bad. Dort stehen im Wesentlichen nur die Wanne und der Kohlebadeofen. Zum ersten mal im Leben ein Bad! – Aber nicht lange, dann nimmt dieser Raum die Dunkelkammer-Einrichtung für die Fotokopierarbeiten auf. Nur eben sonnabends wird gebadet – aber in der Woche steht der Raum nicht leer, wird fleißig genutzt, sinnvoll ausgelastet.

Für Leute, die so wie wir bisher kein Bad haben, gibt es im Ort im Hause der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) die Warmbadeanstalt. Schwimmen kann man dort nicht. Man mietet zu besonderen Anlässen eben für eine halbe Stunde eine Badewanne mit dem warmen Wasser. Ein seltener Luxus.


Mitbewohner im Haus Babelsberg, Wattstraße 12

Schon recht schnell lernen wir die alteingesessenen Hausbewohner kennen. Unten im Hausflur hängt „der stille Portier“, eine Tafel, ein ausgedientes, schwarz gestrichenes Zeichenbrett mit den Namen der Hausbewohner. Darauf stehen vermerkt:



Was man bisher in persönlicher Absprache und bei kleinem sozial verbindenden Schwatz geregelt hatte – in diesem großen Mietshaus mit 15 Mietparteien, gibt es jetzt die Hausflurreinigungskarte, die unter den Mietern einer Etage wandert und eine Waschküchenanmeldeliste, in Zusammenhang mit einer Dachbodennutzungsliste für das anschließende Trocknen der Wäsche. Mal seh'n, was nun als nächstes bürotechnisch geregelt wird.


Heute, zu Pfingsten, im Juni '56 besuchen wir wieder Krankenschwester Renate Zaulek in Berlin-Steglitz. Dieses Haus in der Schloss-Straße 41a hatte 1903 der Herr Walter Kern gebaut. Seitdem steht es hier, ganz in der Nähe von Bahnhof und Rathaus.

Draußen regnet es. Die Gespräche der Erwachsenen erscheinen uns langweilig, höchst fruchtarm und ich spiele mit meiner Schwester in der Wohnung ein bisschen „Ankriegezeck“ oder „Einkriegezeck“, selbstredend ohne einen Krieg. „Fangen“ oder „Haschen“, sagt man in anderen Gegenden dazu. Oh, das war wohl soeben etwas zu laut, denn die Wände sind dünn und der Nachbar klopft an die Wand. Es ist mir, als offenbar den Hausfrieden störenden Gast unangenehm, als es anschließend sogar klingelt und mich dieser alte Herr Nachbar in seine Klause einlädt. Jedoch bittet er mich nicht in sein Reich, um mit mir zu schimpfen, sondern ich darf mir aus einer großen Anzahl von Stapeln alter und neuer Bücher ein völlig neues Buch aussuchen. Als ein Geschenk. Überrascht wähle ich ein schwarz-gelbes Buch mit Lackeinband – eine Aufmachung, wie ich sie noch nie gesehen habe. „Jan stellt 20 Fragen“, so lautet der Titel. Es ist ein dänischer Kinderkrimi der beiden Schriftsteller Knud Meister und Carlo Andersen, den der alte, gütige Herr Dr. Karl Hellwig, wie er es mit vielen anderen Geschichten auch schon getan hat, von der dänischen Schrift ins Deutsche übersetzte. Herr Dr. Hellwig schrieb Chris, dem kleinen Ruhestörer, auch eine persönliche handschriftliche Widmung hinein. Wen wird es also wundern, dass dieses Buch auch noch, nach 60 Jahren, in einem meiner Bücherregale stehen wird, bis ich es eines Tages weiter verschenke.


Geburtstage (der anderen) bringen vorerst Sorgen

Mutti hat bald Geburtstag. Als Aufmerksamkeit „schwebt mir“ ein kleiner selbstgefertigter und auch selbst stehender Bilderrahmen vor. Mutig gehe ich den nur kurzen Weg zu unserem schon etwas entfernten Verwandten, dem Sarg- und Möbel-Tischler Otto Gericke in der Karl-Liebknecht Straße 24. Genau gegenüber auf der anderen Straßenseite war Mutti in der Priesterstraße 68 aufgewachsen. So bat ich Otto Gericke um Unterstützung an Material, um guten Rat und einen Arbeitsplatz, weil der erste Versuch in unserem Keller nicht ansehnlich ausgefallen war. In der Tischlerei waren alle sehr freundlich zu mir. Das Kniffligste war das genaue parallele Sägen der Nute für die Doppel-Glasscheibe und das künftige Bild dazwischen sowie das vorsichtige Ausstemmen der Nute. Es ging nach dem nächsten schwierigen Übungsmodell letztlich aber leidlich und zum Schluss wurde das gute Stück ebenso wie die hier hergestellten Erdmöbel, auch noch dunkel gebeizt und lackiert. Die kleine Doppelglasscheibe für das Bildchen fertigte ich aber nicht an – das ritzte, brach und schliff dann ein alter Glaser so mehr aus junger Freundschaft zu mir.

Ferienspiele

In den Ferienspielen, im Volkspark Babelsberg – dem früheren Schlosspark des Kaisers, ist es immer schön. Ich habe für alle Fälle und für alle Kinder stets die Sanitätstasche der Schule mit dabei. Heute aber hatten wir einen ganz besonderen Ausflug. Wir waren in Phöben. Hin fuhren wir mit dem Bus durch Werder an der Havel. In Phöben badeten wir am Sandhang, betätigten uns mit sportlichen Spielen, wie Zielwerfen und Tauziehen. Direkt an der Anlegestelle der „Weißen Flotte“ in Phöben befindet sich das Gasthaus „Alter Krug“ (an der Hauptstraße), in dem wir gegen den übermächtigen Durst für 12 Pfennige eine köstliche Fassbrause tranken. Am Nachmittag ging es dann mit dem kleinen Fährschiff „Nedlitz“, das nah der Badestelle abfuhr, wieder zurück nach Potsdam und von dort nach Babelsberg.


Alter Krug

Klubhaus des

VEB Schaltgerätewerk Werder

- Öffentliche Gaststätte -


Neulich sahen wir im „Thalia-Theater“ den französisch-schwedischen Film „Die blonde Hexe“ von André Michels. In der Hauptrolle die französische Schauspielerin Marina Vlady. Es ist ein trauriger Film über die Liebe eines Bauingenieurs zu einem Waldmädchen, das bei ihrer Großmutter im tiefen schwedischen Wald lebt. Beide Frauen werden von der Dorfbevölkerung als Hexen beschimpft, obwohl sie nur scheu, sensibel, leise, kräuterkundig und sehr tierlieb sind, viel besser, als die garstigen Frauen des Dorfes. Traurig war es, weil der Bauingenieur, der sagt, dass er sie liebt, mit ihr oft laut, sie anherrschend spricht und weil sie, die junge „Ina“, die niemandem etwas Böses getan hat, von der Dorfbevölkerung verprügelt und zum Schluss mit einem Steinwurf erschlagen wird.

Die Ina, die Marina Vlady, ist sehr schön. Sie hat ganz tolle Augen in einem typisch runden slawischen Gesicht – auch wenn sie in Clichy bei Paris am 10. Mai 1838 geboren wurde und der Film in Schweden spielt. Eigentlich, und daher auch ihr slawisches Aussehen, heißt sie ja ursprünglich Marina Catherina Poliakoff-Baidaroff – aber Vlady ist als Künstlerinnen-Name moderner und für uns leichter zu merken.


Zaunkönig

Gut Holz“, wünschen wir uns. Puh, ist das eine Hitze und viel gibt es zu tun in den Ferien. Onkel Christlieb Albrecht, der Küster, Organist und Kantor der Friedrichskirche, arbeitet in diesen Tagen als Handwerker. Und ich helfe ein bisschen dabei. Sein Sohn, Michael, ist ja noch zu klein. Die Familie wohnt in der Karl-Liebknecht-Straße 27 (bis 1945 hatte das Haus die Bezeichnung: Priesterstraße 22). Dieses Eckhaus war die erste böhmische Schule von Nowawes, erbaut im Jahre 1752 auf der ursprünglichen Parzelle Nowawes 64 (damals gab es noch keine Hausnummern). Der Garten hinter dem Grundstück erstreckt sich parallel zur Lutherstraße, vielleicht 40 m lang. Gegen den Fußweg der Straße ist das Grundstück mittels eines Zaunes begrenzt. Es ist ein geschlossener Bretterzaun nach böhmischer Art, wie sie hier im alten Nowawes ursprünglich alle waren. Hoch und ohne Bretter-Abstände, ohne gewollte Ritzen. Selten ein Astloch zum „Hindurchlinsen oder auch lunschen“. Dieser alte Bretterzaun ist aber sehr morsch. Und heute ist der Tag heran gekommen, da dessen Erneuerung ansteht. Wo mag bloß Onkel Christlieb so große Stapel schöner, nach Holz und Harz duftender Bretter erworben haben? Und die Schrauben- und Nagelpakete? Also, hier gibt es keinen Laden dafür. Der einzige und beste Betrieb am Ort ist unser beliebter „Leisten-Fischer“, der so manches bietet oder anfertigt – in den Größenordnungen von Streichhölzern bis Gardinenstangen – aber Bretter in solcher Menge, nein – habe ich noch nie auf einem Stapel gesehen.

Wir fangen an. Meine Arbeit besteht im lernenden Zuschauen und in verschiedenen Handreichungen. Es muss immer genügend Material in greifbarer Nähe vorrätig gehalten werden. Der alte Zaun wird vorerst stückweise abgebaut, neue Pfosten in Karboleneum getaucht, eingesetzt, das Erdreich verdichtet, waagerechte Haltelatten montiert und gestrichen, die Konstruktion nach hinten zum Garten haltbar „verschwertet“ wie Onkel Christlieb es nennt, und dann die neuen Bretter aufgenagelt. Wie viele mögen das gewesen sein? Die Bretter sind etwa 12 bis 14 cm breit. Da braucht man für die 40 m schon mal mindestens 308 Bretter und für diese dann 1.850 Nägel und den Ersatz für einige versehentlich krumm gehauene. Dabei darf man schon mal ins Schwitzen kommen. Das gesamte Werk ist natürlich nicht an einem Tag erledigt – aber Onkel Christlieb hat viel anderes zu tun – lange kann er sich damit nicht aufhalten. Noch ein Karbolineum-Anstrich und schon ist das Ganze fertig. 1,90 m hoch, so wie es in Böhmen von alters her Sitte war – das Private den fremden Blicken entzogen. Höchstens der übergroß gewachsene Berggeist „Rübezahl“ aus dem Riesengebirge im Sudetenland würde noch darüber schauen können. Er war wohl ein guter Bekannter des böhmischen Erzvaters Tschech.

Onkel Christlieb kann tatsächlich viel mehr, als „nur“ hervorragend die Orgel spielen. Für mich blieb allerdings kein Zaunstück übrig, an dem ich meine Lerninhalte hätte darstellen können. Wir alle werden älter: Der nächste gleichartige Zaun wird an dieser Stelle etwa im Jahr 2003 gesetzt, also dürfen wir mit einer „Lebensdauer“ von rund 47 Jahren rechnen.


Scharfe Dienstleistung

Alle paar Wochen zieht ein mobiler Scheren- und Messerschleifer durch unsere Straße, der ähnlich wie der Schornsteinfeger, mit lautem Ruf auf sein ambulantes Dienstleistungs-Gewerbchen aufmerksam macht – nur mit anderer Absicht: Zum Scherenschleifer sollen die Leute mit ihren stumpfen Schneidwerkzeugen auf die Straße eilen. Wenn der Schornsteinfeger seinen langgezogenen Ruf durch die Treppenhäuser hallen lässt, sollen die Leute vorsichtshalber Drosselklappen und Ofentüren schließen.

Irgendwie erinnert mich der Schleifer an das Märchen vom „Hans im Glück“. Viele Vergleiche mögen etwas hinken, denn eine Maschine hatte jener ja früher nicht. Das Maschinchen unseres Herrn Schleifers war sogar einst in einer richtigen Fabrik entstanden. Der Grundkörper besteht nämlich aus einer betagten Singer-Nähmaschine aber auf größeren Rädern. Ein Stromanschluss ist nicht erforderlich. Die Maschinerie funktioniert immer - per Fußantrieb.

Er kam solange es ihm möglich war – und eben eines für ihn unguten Tages, dann nicht mehr. Einen Nachfolger für ihn gab es nicht.


1. September: Das neue, das fünfte Schuljahr beginnt

Es ist Weltfriedenstag. Alles ist friedlich. Das neue Schuljahr beginnt mit Erwartungsspannung.

Wir haben es leicht. Die Lehrer dagegen arbeiteten bereits schwer und erhielten schon in der Vorbereitungswoche ihren frischen Schliff.

Der erste Schultag nach langen acht Wochen Ferien beginnt mit einem Fahnenappell und mit einer Darstellung der Schulleitung, die man zwischen Gelöbnis und Weissagung ansiedeln könnte. Es geht darum, diese kurze aktuell politische Stunde von nun an wirklich jeden Montag auf Kosten der ersten Unterrichtsstunde durchführen, durchstehen zu wollen. Und tatsächlich, einige Wochen gelingt das auch. Nun werden wir unter anderem damit bekannt gemacht, dass eine ZSGL gebildet wird. Das wird eine „Zentrale Schulgruppenleitung“ sein, die das fröhliche Lernen, die Disziplin und die außerschulischen gesellschaftlichen Aktivitäten der Schüler noch besser aktiviert, koordiniert, darstellt und abrechnet. Vielleicht war noch mehr an Aufgaben dabei. Ich war ja in der ZSGL nicht dabei, so dass mir der genaue Überblick von innen fehlt.

Die ZSGL setzt sich aus den Gruppenratsvorsitzenden aller Schulklassen zusammen. Es steuern, koordinieren also auch FDJ-ler mit und ausgewählte Lehrer natürlich ebenso, damit alles in richtiger Bahn läuft. Im Prinzip wissen wir, welche Ziele anzupeilen sind, so dass eine potenzielle Planung und Abrechnung aller Initiativen leicht fällt.


An Schulfächern bekommen wir nun Geschichte und Russisch hinzu. Heimatkunde wird von Erdkunde abgelöst. Dazu gehört auch ein Atlas mit dem Abschnitt: „Vom Bild zur Karte“. Geschichte bekommen wir vom stellvertretenden Direktor gelehrt. Herr Lüders sieht von der Statur so aus, wie ich mir einen alten Germanen vorstelle. Groß, breitschultrig, mittelblondes gewelltes Haar, helle Augen. Es sind interessante Geschichten die er über die Urgemeinschaft, über Jäger und Sammler erzählt. Bald folgt die Sklavenhalter-Gesellschaft, dann der Feudalismus – da wird es allemal ungemütlicher. Trotzdem gibt es immer wieder Jungen, die nicht ruhig zuhören wollen oder können. Nach fruchtlosen Ermahnungen, kurz bevor „seine Nerven am Ende sind“ arbeitet Herr Lüders dann zeitweilig effektiv mit „Ohrendrehern“ und „Rippentrillern“, wie er es nennt. Das macht seinem Herzen Luft und beruhigt die Nerven, denn beispielsweise eine „Ohrfeige“, die flache Hand, darf nicht eingesetzt werden, „Schläge“ sind ja schließlich verboten. Wenn man aufnahmewillig mitarbeitet, besteht bestes Einvernehmen und alles ist recht spannend.

Und natürlich Russisch haben wir auch die ersten Stunden: „Nina, Nina tam Kartina, eto Traktor i Motor“. Fast mehr deutsch als russisch oder zumindest internationalism könnte man am Anfang meinen – aber natürlich in kyrillischer Schrift.

Die Überzahl der Schulbücher ist kostenlos, sind so genannte Freiexemplare. Pfleglich behandeln! Nach der Rückgabe bekommen die Schüler der nachrückenden Klasse diese Bücher.


Na Hilfe!

In den Ferien habe ich mich als Ergänzung zu dem schon in Borna Gelernten in Büchern von Tante Käte weiter mit der Ersten medizinischen Hilfe beschäftigt und sie um ihre Meinung gefragt. Sie war ja im Krieg auch als DRK-Schwester eingesetzt. Verschiedenes weiß sie von den Erzählungen meines Opas, ihres Vaters, aus seiner Zeit als Pferde-Betreuer. Sie selber ist eine große Anwenderin der Hahnemann'schen Homöopathie. Samuel hieß der Entwickler dieser Heilmethode.

Ich rege bei der Schulleitung an, für untere Klassen, eine Arbeitsgemeinschaft oder einen Lehrgang für „Erste Hilfe“ einzurichten. So als gesellschaftlich nützlichen Punkt für die Abrechnung der schulischen Aktivitäten. Die Lehrer beraten ernsthaft darüber – und es soll so sein. Eine Arbeitsgemeinschaft „Junge Sanitäter“ wird gebildet. Die Leitung der Ausbildung soll ein heranzubildener verständiger FDJ-ler oder ein älterer Pionier übernehmen, denn es ist bekannt: ich bin vom Elternhaus, also der sozialen Herkunft, noch nicht gefestigt genug und von dem Verlauf meiner Tage liest man ab, dass ich noch nicht recht die wirklich konforme rote Nelken-Blüte als günstigstes Ausstellungsstück bin. Außerdem gehöre ich noch zu den Jüngeren. – Immer wieder mal, egal aus welcher Richtung, wird mir gesagt: „Du denkst zu viel eigenes. Du träumst, planst und machst immer wieder was ganz alleine. Nicht abgestimmt in der Gruppe, mit dem Kollektiv“. Also das meinen manche Erwachsenen, denn die Mitschüler interessiert das einen feuchten Kehricht. Ach, ist das schön! – denke ich und fühle mich wohl dabei.

Nun, die Schulleitung findet niemanden als freiwilligen Leiter für die „Jungen Sanitäter“ und einen geschulten schon gar nicht. So mache ich das, (nun schon wieder – mit Auftrag – alleine), obwohl ich bloß ein einfacher Schüler bin. Es macht uns allen großen Spaß – einer Kindergruppe, aus mehreren Klassen „zusammengewürfelt“. – Und schon wieder: Ach, ist das schön.


Kleine Sozialbetreuung mit freundlichem Ergebnis

Unser Herr Mathe-Schulz ist erkrankt. Aber es ist keine ansteckende Erkrankung, so dass wir ihm unsere Grüße hinbringen können. Mein Klassenkamerad Harald und ich gehen und fahren zu ihm, denn er wohnt draußen in Potsdam-West, in der Gontardstraße. Ein alter königlicher Baumeister war deren Namensträger. Der Straßenname durfte trotzdem bleiben, denn zum Anfang seiner Laufbahn hat Gontard wohl gemauert. Er ist somit einer von uns. Wir nehmen eine Packung Kekse für Herrn Schulz mit, die er hoffentlich später in Ruhe knabbern wird wenn wir wieder fort sind. Das ist aber wirklich keine Bestechung, sondern nur eine kleine Aufmerksamkeit. Unsere Besuchszeit vergeht ganz harmonisch. Herr Schulz ist nicht in der Art erkrankt, dass er nicht mit uns sprechen könnte. Er liegt auch nicht im Bett. So erzählen wir Drei unbefangen aus unseren Leben – keine Erzählung vom Krieg – und siehe – er ist ein ganz anderer, als in der Schule. Wir erleben den Strengen nun von einer für uns völlig neuen Seite: so sehr leutselig, so was von gutherzig.


Literatur in Film und Buch

Wir sehen den schönen aber mich auch wieder ein bisschen traurig stimmenden Film: „Ich denke oft an Piroschka“, der in einem ungarischen Dorf mit einem überlangen, für uns kaum aussprechbaren Namen spielt. Den Namen der weiblichen Hauptperson kann man dagegen gut aussprechen und sich merken. Man kann diesen nicht mehr vergessen. Es ist Liselotte Pulver. Bloß, dass es für Verliebte oft so traurig ausgeht, dass sie nicht dauerhaft zusammenbleiben können ...


Mein neues Buch „Jan stellt 20 Fragen“ hatte ich natürlich bald ausgelesen. Ich nehme es mit in die Schule, weil wir dort gern unsere Bücher tauschen, damit mehrere Schüler sie lesen und neues Wissen erlangen können, Spaß und Freude am Lesen haben. Ich nehme das Buch also mit, um es einem meiner Schulkameraden auszuleihen. Dieser aber kann sich nicht zurückhalten und liest darin leider bereits während des Unterrichts. Es dauert nur wenige Augenblicke und sein Entrückt-Sein zieht die Aufmerksamkeit unserer Deutschlehrerin, Frau Wieland, auf sich. Das wäre an sich nicht weiter schlimm gewesen, wäre es doch beispielsweise ein schönes Buch über die Geschichte der Arbeiterbewegung oder zumindest über einen der jüngeren Kriege, von einem gut gewählten Autor gewesen. Eine kurze Ermahnung hätte die kleine Studier-Sünde bereinigt. – Dachte ich. Aber dem ist in diesem Beispiel nicht so. Hier liegt der Fall erheblich anders. Eine kleine Ermahnung des Lesers erübrigte sich ganz und gar. Und wieso denn kleine Sünde – es trifft ja überhaupt nicht den lesenden Schüler, sondern den Bucheigentümer, der schnell ermittelt wird. Frau Wieland erkennt es mit geübtem Blick, schon von Weitem lacht ihr der fremdartige Lackeinband entgegen, dass es sich um ein (dänisches) Westbuch kapitalistischer Prägung handelt, das also somit, unabhängig vom Inhalt, der „Schund- und Schmutzliteratur“ zuzurechnen sei. (Dieser Kinder-Krimi schult Aufmerksamkeit und regt kombinatorische Fähigkeiten an. Er enthält keinerlei politische Äußerungen, hat auch weder Mord noch Totschlag zum Inhalt).

Die allmächtige Lehrkräftin zieht also mein neues Buch schweigend ein, eisig. Kein Wort mehr darüber. Kein Versuch eines pädagogisch wertvollen Gesprächs zwischen Lehrerin und Schüler. Letztendlich ist es doch gut, dass an ausgewählten Beispielen, die sozialistischen Sitten und die Bräuche streng beachtet werden, ein Exempel statuiert wird, damit solche Tendenzen nicht Fuß fassen. Aber letztendlich konnte die Chefin ja nichts dafür – sie marschierte lediglich stramm auf der von ihr gewählten und von ihr kritiklos akzeptierten Linie entlang, der sie sich zu unbedingter Treue verpflichtet hatte. Einen eigenen Kopf brauchte sie wohl nicht mehr so dringend.

So sehr viele Menschen verlassen täglich dieses Land, gehen in den Westen, so viele Lehrer, so viele SED-Genossen verlassen uns, so viele Weitere – was so sehr schwer wiegt. Dagegen kann auch eine Frau Wieland so gar nichts tun. Sie ist schier hilf- und ratlos. Jedoch gegenüber einem harmlosen Buch, gegen einen Schüler (der immer noch hier ist), hat sie eine uneingeschränkte Machtfülle und kann diese leicht ausspielen. Kleinlich, engherzig, arrogant und verblendet. Das stärkt. Das befriedigt solche Leute.

Mein geistiges Auge wähnt also das neue Buch bald auf dem hohen Scheiterhaufen der sehr harmlosen Literatur, die sie kraft ihrer Macht, auf den Index setzte. Das aber, ich gestehe es freimütig, war nicht der Fall, ich sah zu schwarz in helle Flammen. Ich greife hier zeitlich vor, damit uns der „Faden“ nicht verloren geht: In sechs Jahren (!), zum Ende der Zeit in dieser Schule, erhalte ich dieses Literatur-Werk zurück. Als „Kompott“ zum Schulabgangs-Zeugnis. Ohne Kommentar, eisig schweigend. Ich werde wortlos, weil verblüfft, eine leichte Verbeugung, einen „Diener“ andeuten, als meinen verbindlichen Dank, denn es ist ja für mich völlig überraschend, wie ein unerwartetes nochmaliges Geschenk. Zwar ist das Buch nicht mehr neu, sechs Jahre älter, zeigt durchaus die Spuren der Nutzung – aber immerhin, alle Achtung! Welch eine Größe, welch eine Gnade und welch eine unerwartete Freude des Wiedersehens. Und vielleicht hat es ja in der Zwischenzeit einer Reihe von Lesern aus dem Umfeld unserer Lehrerin Freude und Unterhaltung gebracht, Wissen vermittelt. So zumindest sieht es aus. – Vielleicht aber grabbelten auch nur die ungewaschenen Finger fremder Prüfer darin herum, um Schmutz und Schund zu suchen und nicht zu finden. In meinem Eigentum. Ein unappetitlich anmutender Gedanke. Wie es auch sei – Ich habe es gründlich gereinigt und gleich erneut gelesen. Es sind noch alle Seiten drin. Der Vorgang hat mir nicht geschadet – mich eher gestärkt und etwas abgehärtet. Die Lehrerin und spätere Schuldirektorin ist (später) verstorben, das Buch aber lebt und wird gehütet und geachtet und gelesen.

Nun aber wieder zurück in das Jahr 1956!


Das Bock“

Unser Mitschüler A. hat es im Leben nicht leicht.

Heute früh hielt gerade der Wagen der Brauerei mit den schweren „belgischen“ Kaltblutpferden vor dem Eisenbahn-Hotel in der Karl-Liebknecht-Straße. Die Männer mit den Ledermützen und Lederschürzen hatten gerade die Bierfässer an den Hakenstangen in den Kellerfenster-Schacht hinunter gelassen, wo sie unten an der Schachtsohle angekommen, dumpf auf das Lederkissen plumpsten. Auf dem nun eben unbewachten Wagen standen neben den Eichenholzfässern, hoch aufgetürmt auch die Kästen mit dem Flaschenbier. Gerade in diesem Moment kommt A. auf dem Schulweg an diesem Wagen vorbei – na, nicht ganz vorbei, denn es dürstet ihn eben gar schrecklich. So stibitzt eine sich Flasche Bockbier. Und die Pferde haben nicht richtig aufgepasst. Bei einem echten Wachhund wäre das nicht durchgegangen. Es war zudem sowieso kein Klau, er ist kein notorischer Dieb, es war ein nichtiger Mundraub, um den übermächtigen Durst zu stillen. Er trank diese Schlucke auf dem kurzen Wege bis zu unserer Schule. Der praktische Kipphebelverschluss begünstigte den Vorgang erheblich. In der Schule traf er bereits laut froh singend, schon ein wenig lallend, ein. Diese Leistung wurde jedoch nicht mit einer Fachnote gewürdigt. Wir, drei Schüler, wurden gebeten, das Sorgerecht für ihn wahrzunehmen. So brachten wir ihn nach Hause zur Bettruhe, zum verdienten Vormittags-Schlaf und vergaßen auch nicht, den Eimer sorgsam bereitzustellen. Schwamm drüber. Weitere Erste Hilfe war nicht zu leisten. Als wir wieder in der Schule eintrafen, war die Mathestunde vorbei.


Radiosendungen als Zeugen der Zeit

Im Herbst hören wir die bedrohlich wirkenden Nachrichten über den Volksaufstand in Ungarn und seine Niederschlagung mit Hilfe sowjetischer Panzerbesatzungen, die von den Westsendern übertragen und völlig anders kommentiert werden, als in unserer Zeitung oder auf unserem Radiosender. Das erinnert an die Ereignisse in unserem Land vor drei Jahren. Das Leben ist bunt und alle möchten mitten im kalten Krieg sehr heiß und farbig die einzige Wahrheit verkünden. Trotzdem bleiben wohl mehr Grauzonen, als ich mir denken kann. –

Zu den größten mobilen Neuerungen in unserer Familie gehört eine größeres Radio, das wesentlich mehr Sender empfangen kann,

als das kleine alte mit der langen breiten Drahtgazeband-Antenne, die immer hinter dem Wohnzimmerschrank hängt und deren Ränder mit Heftpflaster (Hansaplast / Leukoplast / Wirgoplast / Gothaplast oder Ankerplast) eingefasst sind, damit man sich daran nicht die Haut oder den Pullover aufreißt.

Ja, das neue Radio. Viel größer und das tollste: „Das magische Auge“, das optisch in grün die Schärfeneinstellung des Tons anzeigt, besonders günstig also für die Leute, die die Radiosendungen nicht hören können.


Besuche von Klassenkameraden bei unserer Familie

Mein Vater Alfred Richard, also Tante Kätes Bruder, benutzt nie solche lockeren „schnoddrigen“ Aussprüche wie seine ältere Schwester, obwohl sie doch aus der gleichen Familie kommen. Er spricht nie „nachlässig“ in der Mundart von Berlin und Umgebung, sondern pflegt ein korrektes, deutlich artikuliertes Hochdeutsch. Er kann ja schließlich auch nicht bei seiner Kunstschrift-Arbeit „im Jargon“ schreiben. Eines ergibt das andere.

Wenn Klassenkameraden bei uns zu Besuch sind, neigt mein Vater bei deren eventuell undeutlicher Aussprache, bei deren „Kraftausdrücken“, grammatikalischen „Tritten ins Fettnäpfchen“ oder dergleichen, eher dazu, erst nochmals nachzufragen ob er richtig verstanden habe oder beginnt zu korrigieren, was mir stets recht peinlich ist – denn wie unrichtig auch gesprochen wird – den gemeinten Sinn erfasst jeder. Die Kinder hatten es in ihrem Elternhaus nicht anders gehört, man nimmt sich nicht alles von anderen an, besonders dann nicht, wenn man nicht genau weiß, was nun richtig oder falsch ist. Erst in der Schule damit anfangen wollen es zu lernen, ist dann eher ein viel „härteres Brot“, als wenn man es von Kleinauf, „mit der Muttermilch“ mitbekommt. Wir haben es nicht nur schön, sondern auch leichter.

Genauso kritisch hält es mein Vater aber auch mit schwarzen Fingernagelrändern von Mitschülern, wenn mal jemand zum Essen hier bleibt – so etwas geht gar nicht – aber Wasser, Seife und Bürste werden angeboten.


Einige Bewohner der Babelsberger Wattstraße, in unserer nahesten Wohnumgebung

Bekannte Menschen aus der etwas erweiterten Umgebung

Mit dem Umzug, wenn auch die Entfernung von der Rudolf-Breitscheid-Straße 46 bis zur Wattstraße 12 nur etwa 200 m beträgt, ändern sich auch Feinheiten im Einkaufsverhalten. So gehört jetzt die Fultonstraße mit zu meiner Einkaufsstrecke: In der Fultonstraße sind mir bekannt:

Der Milchkauf

SiemensstraßeEcke Fultonstraße 8, die „Brauerecke“. Bei Herrn Brauer kaufen wir kein Bier, sondern stets 2 Liter der guten Vollmilch. Er verkaufte auch entrahmte Frischmilch – im Volksmund ist dafür aber nur die alte Bezeichnung „Magermilch“ geläufig. Anfangs wurde das weiße fettreduzierte Gemelk mittels des Schöpfmaßes von der großen Kanne in die kleine Kanne des Kunden transferiert. Zu späterer Zeit wird es stattdessen einen „Syphon“ geben: Das weiße flüssige Gold pumpt Herr Brauer dann aus der Transportkanne in einen gläsernen Standbehälter hoch, wo jeder Kaufwillige den Füllstand mit seinen eigenen Augen ablesen kann. Die Milch läuft dann, der Schwerkraft gehorchend, durch einen Auslaufhahn in das vom Kunden mitgebrachte Gefäß. Den bekannten Preis für 2 Liter weist Herr Brauer in bärentiefer Stimme mit „Einsfuffzich“ aus. Mit diesem sonoren Bass agiert Herr Brauer abends auch als Komparse = Kleindarsteller im Potsdamer Hans-Otto-Theater, um anderen Menschen Freude zu bringen und ein „Zubrot“ zu verdienen. Dort sah ich ihn neulich im Bühnenhintergrund als Schmied in dem Stück „Der Zigeunerbaron“ das Eisen im rechten Takt schmieden, solange es noch warm war.

Ja, der Milchkauf. Es gehört zu den sehr kleinen Kunststücken meines Einkaufslebens, die volle Milchkanne aus Aluminium ähnlich einer Riesenradgondel am ausgestreckten Arm zu schleudern, ohne dass auch nur ein Tröpfchen der Milch das Behältnis verlässt. Die Fliehkraft, die Zentrifugalkraft, macht's möglich. Zu dieser Zeit wird aus irgendeinem dringenden Grunde eine neue Milchkanne angeschafft. Eine hellgelbe Plastekanne mit schwarzem Tragehenkel und eingepasstem Deckel. Plastekanne? „Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit“ und eben auch Plastekannen für den Garten und für die Milch. Es gehört auch zu meinen kleinen Pflichten, beim Abwaschen des Geschirrs zu helfen. So fülle ich auch diese Kanne mit heißem Wasser und unternehme mit dem gut eingepassten Deckel Kompressionsversuche mit dem Wasserdampf. Lebendige Physik. Das Ergebnis war, dass die Kanne, die vorher modern etwas nach unten verjüngt, nunmehr recht bauchig aussieht, wie eine „gemütliche“ Vase – nur, dass Jedermann wusste: Es ist keine Vase. Und es passen nun auch gut 2½ Liter hinein. Es wurde nicht etwa eine andere Kanne gekauft, sondern ich habe fürderhin zu meiner Schande, zur Belustigung anderer Leute, mit diesem „Ballon“ einkaufen zu gehen. Fast immer habe ich sie nun in einen Beutel gestellt. Selbst verursachtes Glück.

Ansonsten nutzen wir für die größeren Einkäufe die Einkaufstasche, einen Korb und / oder ein Netz. Das Wort oder den Gegenstand „Plastetüte / Tragetasche aus Plaste“ (im Osten) oder „Plastictüte“ (im Westen), gibt es bei uns nicht. Solch ein Gegenstand ist noch unbekannt. Wird auch wohl nicht benötigt.


Hauswirtschaftliches

Was gibt es da Beachtenswertes, was später vielleicht wieder aus der Mode kommen wird und es deshalb gedanklich aufbewahrt und hier erwähnt werden sollte? Ich denke momentan an


Getränkeliste. Was wir Kinder am Tage so weg tranken

Und mal zum Sättigen für zwischendurch: Schnitte mit Sirup aus Finkenheerd im Oderland. Der Rüben-Sirup aus dem gewachsten Pappbecher, später dann aus dem „Marmeladen“-Glas.


Gesammelte Kurzmeldungen des Jahres

Im Werkunterricht feilen wir gerade ein Boot aus einem Holzquader heraus. Das wird noch eine Weile dauern. Ich möchte es je nach Witterungsbedingungen gern mit einem Segel und mit einem Wärmemotor (Kerzenantrieb oder Spiritustabletten) ausstatten. Auch mit Batterie und einer Propellerschraube wäre es gut denkbar. Für eine große 4,5 V-Flachbatterie wäre das Boot aber zu klein.


Am Abend lese ich „Mädchen von Siebzehneinhalb“. Ich darf es nur nebenbei lesen, denn meine große Schwester ist die Hauptleserin. Sie hat es sich von einer Schulkameradin ausgeliehen.


Nebenan, bei Freund Hartwig, hören wir ab und zu Schellack-Schallplatten im 78-er Rotationstempo. Gesangsstücke von Joseph Schmidt, Richard Tauber oder kurze Konzertausschnitte. Im dortigen Haushalt steht nämlich ein Elektrola-Grammophonschrank mit Trichter. Vorkriegsmodell. Mit einer Handkurbel kann man das „Uhrwerk“ aufziehen, und die Federspannung hält eine Schallplatten-Vorstellung lang den Drehteller in gleichmäßigem Schwung.


Gegenüber von uns liefert gerade „Eis-Fix“ aus der Wiesenstraße 28–32 das Stangeneis für die Eis-Schränke an, denn die Lebensmittel sollen lange frisch bleiben. Bei diesem Geschäft muss er sich tatsächlich immer beeilen, fix sein – aber der Firmeninhaber heißt auch wirklich so: Paul Fix. Eine Stange Wasser kostet 1,10 D-Mark. Die Querschnittkantenlänge der Stange beträgt vielleicht 25 bis 30 cm, die gesamte Stangenlänge etwa 100 cm. Ich habe nie mit dem Zentimetermaß (andere sagen immer noch: mit dem Zollstock) daneben gestanden und gemessen, sondern nur mal grob geschätzt – deshalb meine ungenauen Zahlenangaben zum Eis.

Herangefahren werden die Stangen mit einem weißen wärmegedämmten „Koffer“-Transporter vom Typ „Opel-Blitz“ mit einer halben Tonne Traglast. Auch dieser ist ein Vorkriegsmodell, denn neuere Opel gibt es nur in Rüsselsheim und dort kann kein DDR-Bürger etwas kaufen. Mit Haken werden die Eisstangen „angepickt“ und aus dem Wagen heraus gezogen. Der Eis-Mann trägt eine derbe weiße Latzschürze, ein ebensolches aber gepolstertes Schulterleder, Handschuhe und eine Mütze – alles aus weißem Wachstuch. Halbe oder ganze Stangen trägt der fixe Eismann auf der Schulter in die Haushalte. Auf Wunsch werden die Stangen geteilt, denn nicht jeder Haushalt hat einen großen Eisschrank, sondern einen geringeren Bedarf. Kleine Stücke, die von der Stange abgehackt werden, holen sich die Leute in Schüsseln vom Fahrzeug ab. In den Eisschränken hält sich das Eis etwa 3-5 Tage, bis es zu Wasser zerläuft.

Wir haben keinen Eisschrank. Karten-Lebensmittel kann man sowieso nicht lange bevorraten, Gemüse wird frisch gekauft. Streichfette kommen im Sommer in ein sauberes Kästchen und dann in das Ofenloch, in die kühle Zugluft. Marmelade bedarf des Kühlens nicht. Der Fixe-Eisbetrieb wurde im Jahre 1897 gegründet, gerade zu der Zeit, in der meine Tante Käte geboren wurde.


Am Wochenende fand im Park Babelsberg das Pressefest der „Märkischen Volksstimme“ statt.

Der Marine-Stützpunkt der GST, das ist die Gesellschaft für Sport und Technik zur vormilitärischen Ausbildung, bot auch das Kutter-Rudern an. Ich ruderte eine Runde mit über den „Tiefen See“ der Havel. Den Nachmittag beendete ich mit einem Bad an der Steintreppe, unterhalb des Matrosenhauses.


In Mode sind bei uns stets Schreibspiele wie „Stadt-Land-Fluss“, „Onkel Otto plätschert lustig in der Badewanne“ aber auch „Käsekästchen“ oder „Schiffe versenken“ sowie „Misthaufen“.


Zu meinen Kopfhörern soll sich noch ein Kristalldetektor gesellen, dann habe ich ein ganz eigenes Radio. Bei meinem Vater war es in dessen Kinderzeit so, dass der Detektor in eine größere Blechschüssel gelegt wurde, die dann als ein schallverstärkender Trichter diente, so dass die gesamte Familie ein wenig Gequake hören konnte.


Ich bin auch an ungemein wichtigen Dingen tätig, wie zum Beispiel eine Geheimsprache zu entwickeln und zu üben – es fehlen nur noch die zuverlässigen Gesprächs- oder besser: geeignete Brief-Partner. Eine unlesbare Geheimschrift mit Essigwasser ausgeführt, nutze ich ab und zu, besonders im Winterhalbjahr, da sie dann gut lesbar wird, wenn das ganz geheime weiße Blatt einen Moment in der Wärmeröhre des Kachelofens neben den Bratäpfeln liegt. Für später Geborene: Die Wärmeröhre ist kein „Rohr“, sondern ein quaderförmiger fest eingebauter Blechkasten innerhalb des Ofens mit einer Tür oder mit sogar zwei Öffnungen.


Unser Hausbesitzer Kalle, Herr Karl Klawon, wollte mir sein Fahrrad günstig verkaufen – es ist so ein Modell – ich schätze mal, vielleicht von 1910? Vollballonreifen, 26", mit denen kann man getrost durch tiefen Wüstensand fahren, falls die Beinkraft dafür ausreicht. Herr Klawon spricht, wie ihr wisst, in einer hier unüblichen Mundart: „Kriestof, noch Friedensware, nich so ein Tinneff wie heute“, tönt mir noch heute das Angebot nach. Ich weiß, ich weiß. Der Stahlrahmen war erst verkupfert, dann im Zinkbad, bevor Farb- und Lackschicht drauf kamen. Mir aber erscheint es bereits ohne Tiefenprüfung, also rein optisch, als schrottreif. Ein Kaufabschluss kommt nicht zustande. Und unsere DDR-Fahrräder? Mifa, meine eingeschränkte Erfahrung: na ja, gut. Diamant: Sehr gut! Stahlrahmen in Chrom-Vanadium-Legierung. So etwas kann ich mir aber nicht leisten. Woher sollte ich das Geld nehmen? Vom Altflaschen- oder Alt-Zeitungs-Sammeln und deren Verkauf? Darüber würde ich genauso wie das Sammelgut: eben alt. Doch einen für mich gangbaren, befahrbaren Weg werde ich finden! Verlasst euch nur schon mal daraufaber nur wenn ihr wollt – ihr müsst ja nicht alles glauben!


1957 – Mein 12. Lebensjahr, 5. / 6. Schuljahr.

In diesem Frühjahr wird meine Schwester in den Kreis der Erwachsenen-Gemeinschaft aufgenommen. Ihre Konfirmation steht bevor. Sie eilt mir immer einige Jahre voraus. Ich könnte das genauer ausführen aber bei jungen Damen spricht man kaum darüber. Bei älteren gar nicht.

Zu diesem Anlass soll das Wohnzimmer neu tapeziert werden und die Küche benötigt einen frischen Farbanstrich. (Was sind nur das für lange Umschreibungen? Damals, 1955 in Grünheide, hätten meine sächsischen Kumpels aus Leipzsch kurz gesagt: „Mer misse vorrichtn.“ Fertsch!)

Für mich ist es das erste Mal, mich mit solchen Arbeiten zu befassen. Allein. Ihr wisst ja, wie man das macht – oder –? (Also in dieser Zeit, denn alles ist dem Wandel unterworfen).


Vorbereitung der Malerarbeiten. Man nehme – mein Rezept:

Werkzeuge: Sieb, Quirl, Rührholz, Lappen, Eimer, Schüssel, Bürste, Geschirrspülmittel, Streichbürste, (erst später wird es leichter, wenn die Farbrolle erfunden sein wird), Pinsel für Ecken, Kanten und verborgene Stellen. Alle Pinsel / Streichbürsten vor der Arbeit in Wasser stellen, damit beim Arbeiten keine Borsten „herausgezogen“ werden!


Und nun das Tapezieren:

Werkzeuge und Materialien: Bleistift, Winkel, Metermaß, Hämmerchen, Kneifzange, gerußte Schlagschnur mit Gewicht, Messer, Spachtel.

Tapeten-Zell-Leim (wie vorher zubereitet), Tapete (gemessene Menge plus Rand- und Rapportzugabe + Reparaturstücke (für später), Bürste, Andrückrolle für die Nähte, Tapetenleiste und Drahtstifte.

Die erforderlichen Materialien hole ich aus dem Kellerladen der Drogerie Schukat in der Potsdamer Bauhofstraße (frühere Priesterstraße). Er hat wohl so ziemlich alles, was man benötigt. – Wenn ich die Gebrauchsanweisung eben auch so scheinbar schlau schrieb, will ich freimütig gestehen: Beim Versuch des Klebebeginns der ersten Bahn habe ich mich dann, oben auf der Leiter stehend, in die Tapetenbahn beinahe eingewickelt. Sie klebt auch schnell an sich selbst fest zusammen. So ist das Leben. Man soll sie trotz aller gebotenen Sparsamkeit tatsächlich nicht zu knapp einkaufen.

Nach kurzer Erholung kam die Küche dran. Oben Leimfarbe (hellblau) – den Farbton mögen Fliegen nicht, unten Ölfarbe. Es sieht frisch und kühl aus. Geschafft. Ich bin froh, obwohl ich weiß: ein richtiger Meister hätte hier und da gemäkelt, vielleicht alles noch einmal besser gemacht.


Nach abermaliger Erholung:

19. Mai 57. Die Konfirmation meiner Schwester

Zu den Gästen zählen auch Inge Kramer mit Tochter, Charlotte Dyck, Liesel Hasait aus Potsdam, also die Cousine von Opa Max Sommer, Friedel Liebnow aus Pankow-Heinersdorf und Muttis Jugendfreundin Gretel Baensch, die Patentante meiner Schwester, dann Frau Krüger, Tante Elfi und Christlieb Albrecht, der auch ein Patenonkel meiner Schwester ist, Tante Luzie und Erich Kaiser, Anna Kirchhoff. Wolfgang Iskraut, das ist ihr Konfirmationspfarrer und Dorothea, seine Ehefrau. – Ein festlicher Tag für alle.


12. Juni. Ehrentag aller Lehrerinnen und Lehrer, Hortnerinnen und Hortner, Kindergärtnerinnen und Kindergärtner.

Heute haben wir schon wieder einen Feiertag! Es ist Lehrertag. Morgens Fahnenappell mit dem Üblichen, geleitet von den Zeremonienmeistern: Schuldirektor und Pionierleiter. Es gab ein zu Herzen gehendes Gedicht zum Lehrertag und Blumensträuße. Danach geht es in die Klassenräume. Unser beliebter Klassenlehrer ist Herr Ignor. Weil wir eine „reine“ Jungenschule sind und demzufolge auch unsere Klasse ausschließlich aus Jungen besteht, ist der Lehrertisch nicht so geschmückt, sind die Aufmerksamkeiten nicht so ausgesucht, als wenn da noch eine weibliche Komponente für einen Lieblingslehrer etwas ausgesucht und „drapiert“ hätte. Für unsere Verhältnisse aber gut.

Also, Herr Dieter Ignor ist ein Mann des Sports. Genauer: Er ist ein großer Anhänger der berühmten Fußballmannschaft Brieske-Senftenberg. Das kommt daher, weil er dort in der Nähe mal gewohnt hat. Er selber ist einem persönlich aktiv betriebenen Fußballspiel auch nicht abgeneigt. Aber er raucht auch sehr gerne und viel. So sieht er seinen Lehrertisch mit einem Blumenstrauß geschmückt, umgeben von einem größeren bunten Kranz der Zigarettenschachteln (neu, voll) aller erdenklichen Marken, die der Einzelhandel so anbietet. Welch ein schönes Bild. Was gab es da alles zu sehen? Karo, Turf, Muck, Juwel, Real, Ernte 23, Orient – waren wohl dabei (F6 kam erst später, Papirossi lag nicht auf dem Tisch).

Wenn man von einer Gegenleistung dafür sprechen möchte, kann man sagen, dass wir bei allen festlich gestimmten Lehrern einen sehr harmonischen Geschichten-Vorlese-Vormittag hatten.

Über sein weiteres Leben kann ich nichts anmerken. Er ging uns verloren – wir verloren ihn aus den Augen. ... aber ein nochmaliger Kontakt im Mai 2017 – wurde durchs Internet begünstigt.


Ich habe es besonders gut, denn bald darf ich schon wieder fort von hier – weil...

Mein Aufenthalt im Kindersanatorium in Bad Frankenhausen, im Sommer 1957.

Die Einladung zum Verreisen kam wieder von der Sozialversicherungskasse. Sie kam, weil ich angeblich zu dünn und recht lang gewachsen sei und außerdem in dem elterlichen Geschäftshaushalt ständig die „beißende Ammoniak-Luft“ einatmen muss. Die SVK hatte vom Kinderarzt aus der Kinder- und Jugendfürsorgestelle in der Babelsberger Karl-Liebknecht-Straße 113 den Bescheid über die Zweckmäßigkeit einer solchen Kur für mich bekommen.

Eine sechswöchige Erholungskur im Kindersanatorium „Helmut Just“, im Solbad

Bad Frankenhausen am Südhang des Kyffhäuser-Gebirges, das in der Diamantenen Aue liegt. Das also steht also für mich ganz oben auf dem Plan. Es hört sich doch schon sehr gut an. Ein Teil der Zeit wird in den großen Sommerferien liegen, so versäume ich nicht zu viel vom Unterrichtsstoff in der Schule. Wäre es aber anders, würde ich das ebenfalls gerade so aushalten.


Ankunft und Begrüßung

Nach langer Busfahrt, denn das kleine Kyffhäusergebirge liegt zwischen dem Harz und dem thüringischen Mittelgebirge, kommen wir in Bad Frankenhausen an. Der Bus bringt uns direkt bis vor das Heim in der Thomas-Müntzer-Straße. Am Treppenaufgang zum Haus stehen kräftige Fliederbüsche, die vor einiger Zeit noch süß-aromatisch geduftet haben sollen. Wir kennen das.

Das Kurhaus ist ein riesiges Gebäude. Etwa 100 Kinder können sich hier in jedem Durchgang erholen und jene, die ernsthaft krank sind, sollen auch möglichst wieder gesund werden. Das Haus steht am „Weinberg“. Wein sehen wir momentan nicht so recht, vielleicht wird er eben gerade deshalb auch noch Fliederberg genannt. Direkt rechts neben dem Grundstück, wenn man von der Straße aus auf den Hang sieht, befindet sich der „Schlachtberg“. Keine schöne Bezeichnung. Der Berg erhielt diesen Namen zum Gedenken an die kurzen, grausigen Kämpfe am Ende der Zeit des Bauernkrieges 1524 / '25.

Gleich nach dem Aussteigen aus dem Bus werden wir freundlich von der Leiterin des Sanatoriums begrüßt. Es ist Frau Ruth Liesegang. Sie schaut schon auf eine Reihe von Jahren ihrer Leitung dieses Sanatoriums zurück. Man kann also sagen, alles ist ihr hier sehr vertraut, nur wir sind für sie im Moment neu. Nun werden wir nach Altersstufen in Gruppen aufgeteilt.

Zu unserer Gruppe gehören neben der Erzieherin, die wir ja zuerst nennen möchten, 26 Jungen. Zu den größeren, aber eben besonders zu den längeren, gehöre auch ich. Zu dieser jetzigen Zeit bin ich elfeinhalb Jahre alt und habe etwa die gleiche Größe wie unsere nette Erzieherin, Fräulein Jödicke, die aber auch Regina heißt. Die Erzieherinnen tragen eine Art Berufsbekleidung: Wir sehen sie stets mit weißen, gestärkten Schürzen in Haus, Hof und Garten – beim Wandern aber nicht. Acht Erzieherinnen sind im Sanatorium tätig, zwei Krankenschwestern und ein Arzt. In meiner Gruppe sehen die Jungen allerdings nicht besonders krank oder schwächlich aus. Alles fröhliche Kumpel – so ist mein Eindruck.


Einige Worte zum Haus und zur Kur

Seit 1818 wird diese Art von Heilkunst in Frankenhausen schon gepflegt. In diesem Sanatorium aber noch nicht solange, denn fas Gebäude ist bedeutend jünger. Das erste Kinderkurheim richtete Frau Minna Hankel im Jahre 1879 an der Wipper ein, an dem kleinen Flüsschen, das sich seinen Weg durch Frankenhausen bahnt. Der Minna Hankel zu Ehren trägt eine kleine Straße ihren großen Namen. Der Bau „unseres“ Erholungsheimes wurde vom Gewerkschaftsbund der Angestellten unter dem Vorsitz des Herrn Hermann Hedrich (1853 bis 1927) in Auftrag gegeben und in den Jahren 1926 und 1927 errichtet. So schnell ging das damals. Und im gleichen Jahr 1927 wurde der Stadt auch der Titel „Bad Frankenhausen“ verliehen. – und das nicht nur leihweise. Vor jener Zeit leitete dieser Herr Hedrich in Hamburg auch eine große Krankenkasse für weibliche Angestellte. Das Haus ist also seinem Bemühen und seinen Geldquellen zu verdanken. Der Architekt des Hauses war der Leipziger Herr Georg Wünschmann (er lebte von 1868 bis 1937). Errichtet hat die „MIMA“ das Gebäude, das war die Mitteldeutsche Massiv-Sparbau GmbH aus Frankenhausen, unter der Führung des Herrn Carl Boettger, der zum Bau noch weitere Auftragnehmer einbezog. Das Bauwerk besteht im Wesentlichen aus dem heimischen Muschelkalksandstein. Meeresmuscheln in höheren Mittelgebirgslagen! – wer hätte das als Laie schon gedacht? Ein Haus aus versteinerten Schnecken und doch kein Schneckenhaus. Ja, ich würde gern auch ein Architekt oder Bauingenieur werden und solche schönen Bauten entwerfen.

So, nun wissen wir es: Das von Natur aus schneeweiße Gebäude ist gerade 30 Jahre jung, kein großes Alter für ein Haus. Und gut gepflegt. Deshalb sieht es ja auch noch ziemlich neu aus.

Im Jahre 1929 erhielt das Kurhaus, das „Hermann-Hedrich-Heim“, wie es hieß, eine eigene Solewasserleitung für die Kuranwendungen gelegt. Herr Hedrich brachte auch die Oberin (die Vorsteherin, die Leiterin) für das Haus und außerdem die ersten betreuenden Krankenschwestern aus Hamburg mit. In den folgenden Jahren erholten sich deshalb hier auch besonders viele kranke und schwache Kinder aus dem Raum Hamburg. Im Jahre 1935 erfolgte dann links am Haus der Anbau einer Salzwasser-Schwimmhalle.

Als leider schon bald im Zweiten Weltkrieg (1939 bis 1945) erste Bomben auf Bad Frankenhausen abgeworfen wurden, schloss man das Erholungsheim, und es wurde wohl erst um 1949 wieder eröffnet.

Vor wenigen Jahren bekam das Sanatorium einen neuen Namen, obwohl der Herr Hedrich, der das Heim bauen ließ, ein sehr guter und sozial denkender Mensch war, wie man hört. –

Das Sanatorium heißt jetzt „Helmut Just“. Dieser Helmut Just hat mit dem Gebäude überhaupt nichts zu tun. Er war wohl auch noch nie in Bad Frankenhausen zu Besuch. Das Hedrich-Heim erhielt diesen neuen Namen zur Erinnerung an ihn: Der Helmut Just war ein junger DDR-Berliner Grenzpolizist. In Berlin am 02. Juli 1933 geboren – er war also gerade nur ein Jahrzehnt älter als die Ältesten von uns. Er hatte den Beruf eines Malers gelernt, diente anschließend in Berlin bei der Grenzpolizei. Bei diesem Dienst wurde er am 30. Dezember 1952 bei kurzem Schusswechsel von der Kugel eines illegalen Grenzgängers tödlich getroffen. Er war noch nicht einmal 20 Jahre alt. Diese Geschichte ist für seine Familie und auch für uns furchtbar traurig. Es hätte genauso schlecht auch umgekehrt geschehen können, denn das Überschreiten der Grenze ohne Genehmigung ist streng untersagt. Es ist unter Lebensgefahr verboten, sich auszusuchen, wo man gerne wohnen möchte. Die meisten der Republikflüchtigen besitzen aber wohl keine Waffen und bei uns kann man auch keine im Laden kaufen. Das ist gut so.

Wir hatten gerade noch im Mai vor dem Ende des Schuljahres die Schul-Wandzeitung unter dem Motto fertig gestellt: „Wir steh'n im Kampfe Tag und Nacht – der Grenzschutz unser Land bewacht“. Es gibt immer wieder schreckliche Nachrichten über schlimme Vorkommnisse.–

Doch nun zurück in unsere Gegenwart

Wir wohnen in freundlichen hellen Zimmern. Das gesamte Haus ist sehr sauber, gepflegt und es riecht überall ein wenig ähnlich wie in der Schwimmhalle. Aber es ist kein Chlor. Einen ganz treffenden Geruchsvergleich habe ich nicht. Das macht die Sole ohne „h“, der Salzwassergeruch, der von den Behandlungsräumen, die im Keller liegen, auch nach oben dringt.


Bald nach der Ankunft werden wir gemessen, gewogen und ärztlich beäugt.

Die medizinische Behandlung für uns alle bezieht sich im Wesentlichen auf das Baden in den großen Holzwannen, die mit dem warmen, fünfprozentigen Salzwasser gefüllt sind. Es ist also ein halbstündiges Herumliegen oder Aalen, dabei die Seele baumeln lassen oder auch mal etwas schwatzen, zweimal in der Woche. Das ist wohl das Wesentliche der Kur in dem Kurheim.


Je nachdem, was der Arzt des Heimes so für günstig hält, bekommen mehrere Kinder auch noch zusätzliche Einzelbehandlungen, zum Beispiel Hautkurbehandlungen, weitere Inhalationen oder auch die künstliche Höhensonne, die wieder ganz anders riecht: nach Ozon, nach besonderem Höhensauerstoff, der mit drei „O“ geschrieben wird.


Aber es gibt auch einen Raum, in dem zweiprozentige Sole in der Raumluft vernebelt wird. Darin halten sich vorwiegend die Kinder auf, die mit erkrankten Lungen oder Bronchien anreisten. So ähnlich wie die Kapuziner-Mönche sehen sie in dem weißen Igelitumhang inmitten des „Waschküchennebels“ aus und atmen und atmen eine halbe Stunde lang tief durch. Alle Bronchienverästelungen und auch die Lungenflügel mit den kleinen Lungenbläschen nehmen den Sole-Nebel auf, der dort seine gute, heilsame Wirkung beginnt.

Salzig ist das Wasser deshalb, weil darin viel Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium, aber auch Fluoride, Sulfate und Chloride gelöst sind. Alles also, was sich so im Frankenhäuser Untergrund an Salzablagerungen befindet.


Die ganze Welt scheint inzwischen davon zu wissen, denn sogar der amerikanische Elvis Presley singt das italienische Lied: „O sole mio“. Der Elvis ist, wie wir wissen, noch nicht so sehr lange in den USA beheimatet, denn seine Vorfahren, die Familie Pressler / Preßler, die hier in der Nähe, in Thüringen lebte, war nach Nordamerika, ausgewandert – aber noch vor der Gründung der DDR – deshalb war das auch gestattet. Elvis ist kein Republikflüchtiger.


Vom Grundwasser wird der Gips, das Anhydrit, aufgeweicht und es werden diese wertvollen Salze einfach aus dem Gebirge ausgewaschen. Dabei entstehen im Berg natürlich große Hohlräume. Deshalb stürzen auch obere Schichten des Gebirges von Zeit zu Zeit ein. Wohin das führen kann, sehen wir beispielsweise an der Oberkirche „Unserer lieben Frauen am Berge“, die schon schräger steht, als der „Schiefe Turm zu Pisa“ – aber trotzdem noch immer nicht ganz so berühmt ist. Wer soll das verstehen? Diese Kirche wurde wohl im Jahr 1385 gebaut. 56 Meter hoch ist sie aber wegen der zunehmenden Schrägstellung wird das natürlich weniger. Wenn das so weiter geht mit „dem-sich-Neigen“ und sie das bald nicht mehr aushält..., wird sie wohl ihre längste Zeit hinter sich haben, falls man sie nicht rettet. Von 1385 bis 1539 war es eine katholische Kirche, doch im gleichen Jahr wurde erstmals evangelisch gepredigt und das Volk konnte erstmals alles in deutscher Sprache verstehen, was der Pastor so mitzuteilen hatte.

Außer dieser Oberkirche gibt es noch die junge, 1703 erbaute Unterkirche und wieder ein Stückchen weiter südlich die Altstädter Kirche, die dem Heiligen Petrus geweiht wurde. Dieses Gebäude gilt als das zurzeit älteste Haus von Bad Frankenhausen.


Unser Tagesablauf

Für sechs Wochen dürfen wir hier sein. Da möchte man die Tage schon schön einteilen und auch manches Wissenswerte notieren, falls man es nicht behalten kann. Die Last des Einteilens nimmt uns die Heimleitung, beziehungsweise nehmen uns die Erzieherinnen ab und das geht etwa so:


Um 7.00 Uhr tut man so, als müsse man uns wecken. Für die meisten ist die Nacht schon vorher vorbei. Wir stehen nach dem Wecken mehr oder weniger flink auf, waschen uns, räumen ein wenig Krimskrams fort, machen die Betten so, dass es zum Zimmerdurchgang möglichst nur ein gelächeltes Lob gibt.

Nach dem Frühstück gehen wir entweder zu den Kur-Behandlungen oder auf eine Wanderung, schreiten zum Spielen im Freien oder bleiben auch mal im Haus.

Nach der schmackhaften Mittagsmahlzeit um 12.00 Uhr, ist dann eine Mittagsruhe angesagt.

Um 14.30 gibt es für uns eine kleine Vesper mit Milchkafé und einem Stückchen Kuchen. Ich finde dieses Wort „Vesper“, das wir zu Hause gar nicht benutzen, hört sich schon so richtig nach „knabbern“ an. Bestimmt vespern Mäuse auch ständig – wenn sie etwas haben. An Festtagen werden die Erzieherinnen vielleicht auch mal richtigen Kaffee von Bohnen trinken, falls sie nicht den guten grusinischen Tee bevorzugen, der früher hauptsächlich in Georgien wuchs.

Bis 18.00 Uhr haben wir dann erneut Freizeit für Spaziergänge oder Spiele. Nach dem Abendessen, dem Waschen und Zähneputzen wartet bereits wieder das kuschelige Bett auf jeden von uns. Bis 20.00 Uhr, also bis zum Beginn der Nachtruhe, können wir noch Erfahrungen über den zu Ende gehenden Tag austauschen oder Fräulein Jödicke liest uns eine spannende Geschichte vor oder es wird ein Abendlied gesungen. So schnell also ist ein Tag vorbei.

Nach kurzer Zeit merken wir: Wir Jungs vertragen uns eigentlich alle recht gut miteinander.


Unsere Wanderungen und Spaziergänge – Natur und Kultur (was wir so sahen und lernten)

Wir Kinder zwischen 6 und 14 Jahren sind in vier Altersgruppen eingeteilt. Jede Gruppe hat einen Gruppenraum für sich. Neben dem guten Essen und den Spielen, Regen kommt kaum mal vor, gehen wir viel in der Umgebung spazieren. Dabei erzählt uns unsere Erzieherin auch manches. So lernen wir viel Neues kennen, denn Fräulein Jödicke weiß sehr viel.


Eine recht weite Wanderung von etwa 9 Kilometern war es bis zum Kyffhäuserdenkmal. Interessantes begegnete uns: versteinertes Holz, also verkieselte Baumstümpfe und Stämme, links am Straßenrand, am Chausseestein 1.44 zum Beispiel. Diese steinernen Hölzer, die an der Landstraße zu finden sind, sollen schon 300 Millionen Jahre alt sein, in einer Zeit gelebt haben, als es noch keine Menschen gab. Das sieht man ihnen nicht an – sie sehen ziemlich frisch aus. Die längsten Stämme sind etwa 15 m lang und besitzen einen Umfang von mehr als 3 m. Zum ersten Besichtigen mussten sie damals allerdings wegen der Erdüberdeckung und des darauf stehenden Unterholzes freigelegt werden. Aus solchen Stammrollen wurde auch der wegweisende Obelisk zusammengesetzt, der an der Wegegabelung zum Kyffhäuserberg steht. Aus Stammrollen – also aus Abschnitten zusammengesetzt – deshalb, weil ein Gesamtstück, weil solch ein Baumstamm aus Stein für die heutigen Auto-Kräne viel zu schwer ist. Ja früher, bei den ägyptischen Pyramiden zum Beispiel, da ging den Arbeitern so'was leichter von der Hand.

Vorbei gingen wir am Ententeich, im Moment ohne Enten, aber mit einer guten Aussicht zum nahen Kulpenberg, der 473 m hoch ist. Beim Aufstieg zum Kyffhäuser-Denkmal besichtigten wir die ruinösen Reste der Reichsburg Kyffhausen aus dem 11. Jahrhundert mit Unterburg, Mittelburg und Oberburg. Von der Oberburg besteht noch die Ruine des Bergfrieds (Wohn-Veste und Aussichtsturm). Das ist der Barbarossa-Turm aus rotem Sandstein, der zu seiner Zeit aber mit

35 m mehr als doppelt so hoch war, als es die heutigen Reste sind. Diese damals feste Burganlage hatte eine Ausdehnung von etwa 600 x 60 Metern und befindet sich in 457 Metern über dem Meeresspiegel. Man hätte auf dieser Fläche also auch ein kleineres Dorf unterbringen können. Alles ist sehr gut anzuschauen. Von oben hat man die Möglichkeit eines ausgezeichneten Rundblicks. Zum Süden über die Wälder, in nördlicher Richtung über die Goldene Aue mit den eingestreuten Ortschaften bis hinüber zum Harz. Den Brocken können wir deutlich erkennen.

Auf dem Gelände der Burg gibt es auch einen Brunnen zur Wasserversorgung – das war eine Grundvoraussetzung dafür, dort überhaupt eine Burg zu bauen. Es handelt sich um einen Kesselbrunnen der 176 m senkrecht nach unten durch den roten Sandstein „gegraben“ wurde, bis man auf Wasser stieß. Das Wasser wurde mit einem Eimer am Seil, aufgewickelt auf einer Winde, hochgekurbelt. Man sagt uns, dass das der tiefste Burgbrunnen auf der gesamten Erde sei. Man darf die lange Zeit vom Loslassen eines Steinchens bis zu dessen Aufklatschen staunend abwartend verfolgen. Ich weiß ja nicht – dann wird die Brunnenröhre wohl bald voll sein und kein Wasser mehr fließen können?

Dann stärkten wir uns erst einmal am mitgenommenen Proviant.

Das Kyffhäuser-Denkmal ist rund 81 Meter hoch. Man baute es von 1890 bis 1896. Vor dem Denkmal sitzt der steinerne Staufer-Kaiser Friedrich I., „Barbarossa“, also der Kaiser „Rotbart“ (er lebte von 1122 bis 1190). Als Reiterstandbild sehen wir auch den Hohenzollern-Kaiser Wilhelm I. (1797 bis 1888), der in Berlin, Babelsberg und Potsdam (also direkt bei mir zu Hause) lebte, aber sogar hier verewigt wurde. Beide Kaiser lebten somit vor der Errichtung des Denkmals, hatten also nicht viel davon.

Wir erklommen die 366 Stufen des Denkmals bis zur Aussichtsplattform. Wären wir täglich nur eine Stufe vorgerückt, dann hätten wir nach einem Jahr immer noch hier gestanden. Soviel Zeit haben wir aber nicht, denn zurück nach Bad Frankenhausen fuhren wir dann bald mit dem Bus. –


An einem anderen Tag: Auf dem Weg in Richtung Rottleben gehen wir am Ende der Thomas-Müntzer-Straße am Stadtpark vorbei und nach einem Schlenker in die Rottleber oder Rottlebener Straße immer weiter geradeaus, dann durch die Wiesen, um zur Barbarossahöhle zu gelangen. Das ist eine Anhydrit-Höhlenanlage, hat also auch schon wieder etwas mit Gips und altem Kaiser zu tun. Man stieß auf die Hohlräume am 20. Dezember 1865 bei der Suche nach Kupferschiefer. Diese Entdeckung war wie ein riesiges Weihnachtsgeschenk. Die Höhlenräume bieten ihre An- und Einblicke nun schon seit 1866 „dem staunenden Publikum“. Die Menschen dürfen sie also seit rund 90 Jahren besuchen. Etwa 800 Meter der Höhle werden von den Besuchern in einer Stunde durchlaufen und sie lauschen dabei den Erklärungen des Personals, denn allein dürfen Besucher hier nicht herumstrolchen – und verlorengehen. Diese Höhle zählt zu den größten Gipsgesteinshöhlen von Europa und ist die eine von nur zwei Anhydrit-Schauhöhlen auf unserem Kontinent. Die Höhle hat Naturräume, die bis zu 30 m hoch sind. Die Höhlenausdehnung beträgt ungefähr 25.000 Quadratmeter, hat kristallklare Seen und von der Decke herabhängende Anhydritlappen aus Stein (die „Gerberei“) und ganz natürlich entstandene „Sonderformen“ an Gestein, wie Schlangen oder kuglige Gebilde aussehend.

Die Barbarossa-Höhle erinnert an die Legende um den Stauferkaiser Friedrich I., für den man hier einen Thron und einen Tisch aus dem Höhlengestein aufgeschichtet hat, damit es für ihn so richtig gemütlich ist. Denn in dieser Höhle, „seinem Schloss“, soll der alte Rotbärtige wohnen und ruhen, solange die schwarzen Raben noch um den Kyffhäuser-Berg fliegen, wird uns erzählt. Wir aber haben draußen vor allem Sperlinge, die Singspatzen beobachtet. In Wirklichkeit, so richtig wissenschaftlich, sagen andere, ist der alte Kaiser gar nicht hier, sondern auf einem Kreuzzug nach Palästina, nach „Kleinasien“, beim Baden am 10. Juni 1190 in dem Fluss Saleph ertrunken, denn stille Wasser sind manchmal tief. Seinen 69. Geburtstag hatte er vorher auf jener Reise gefeiert. Der 70. wäre bestimmt noch prächtiger begangen geworden, wenn nicht ... so wurde nichts mehr daraus. Sein toter Körper aber wurde gerettet und sein Gedärm in Tarsos bestattet, das Fleisch in Antiochia und die Knochen in Tyrus. So hatte viele ein schönes Andenken an ihn und hier sitzt er nur in Gedanken. Wie es auch sei – wir alle haben schwimmen gelernt und unser Leben ist ja nicht so sehr gefährdet wie das eines ritterlichen alten Kaisers. Und unser Leben mit der Gesundheit wird wohl auch immer besser, weil wir hier im Sanatorium sein dürfen.


Das Sole-Freibad in Bad Frankenhausen wurde in den Jahren 1936 bis 1938 von der „MIMAS“, also auch wieder von der Mitteldeutschen Massiv-Sparbau GmbH, errichtet. „MIMAS baut alles für Sie!“, so hieß es damals in der Reklame, ähnlich wie heute in der sozialistischen Werbung: „Der KONSUM hat alles“. Der leicht erscheinende Sprungturm hat eine Schwindel erregende Höhe. Sprungbretter in 1, 3, 5 und 10 m Höhe über der Wasseroberfläche. Das Becken sieht bestimmt von oben sehr klein aus. Das Schwimmbad wird auch mit Salzwasser aus dem Gebirge gespeist und ist deswegen recht kalt. Man fühlt sich fast wie am Meer. Nur musste das Becken wohl schon mehr als einmal erneuert oder zumindest abgedichtet werden, weil wegen der Hohlräume durch Auslaugung und der Verwerfungszone der Erdkruste, Risse und damit Undichtigkeiten entstehen. Klar ist: Wenn das Becken leer läuft, darf man nicht springen, dann kann man auch nicht schwimmen.


Einige Stadtrundgänge unternehmen wir. Die Ziele werden von Fräulein Jödicke hübsch aufgeteilt, damit für die nächsten Tage immer noch was Neues übrig bleibt, denn Bad Frankenhausen ist ja kleiner als beispielsweise Berlin. Das Heimatmuseum im früheren Schloss ist unser heutiges Ziel.

Wir besichtigten schon einen Betrieb der Knopfherstellung. Davon gibt es eine ganze Menge, die meisten aber sind sehr kleine Familienbetriebe.

Die Herstellung von Natur-Perlmuttknöpfen ist in Frankenhausen etwa seit dem Jahr 1700 angesiedelt. 1831 gründete dann der Herr August Zierfuß die erste größere Knopffabrik.

Viele Perlmutt-Reststücken (Stanzabfälle) von Muschelschalen, die von der Knopfherstellung übrig geblieben sind, sehen wir. Der glänzende Abfall liegt zur Befestigung auf vielen Wegen. Seit langer Zeit sind viele Schuhe darüber hinweg gelaufen oder auch geschurrt, vielleicht geschlurft. Trotzdem sind die harten Perlmutt-Oberflächen, die die Muscheltiere gemacht haben, völlig blank. Bei unseren Spaziergängen durch die Umgebung von Bad Frankenhausen denke ich deshalb immer wieder an das Märchen der Grimm-Brüder von Hänsel und Gretel, die wohl eigentlich nach ihrer Geburtsurkunde Johannes und Margarete hießen, und ich denke dabei auch an den Besuch unserer Familie in der Berliner Staatsoper vor sechs Jahren, wo wir dieses Märchen sahen und die Musik von Herrn Engelbert Humperdinck dazu hörten. Den Text der Oper kannten wir ja sowieso schon fast auswendig, so dass wir selbst die gesungenen Worte gut verstanden.

Die weißen Kieselsteine, die Hänsel auf dem Waldweg ausgestreut hatte, schimmerten im Mondenschein wie neu geschlagene Batzen und wiesen den Kindern den Weg aus dem tiefen Walde hinaus, zurück zu ihres Vaters Haus“, schrieben die beiden Brüder Grimm uns auf.

Hier, für Bad Frankenhausen, müsste das Märchen nur ein wenig umgeschrieben werden – etwa in der Art: „Die Perlmuttstückchen, die der gute Junge auf dem Weg durch den Wald vorsorglich ausgestreut hatte, glänzten im Sonnenschein, wie auch in des Mondes Licht hell in allen Farben und halfen Grete und Hans, den Rückweg aus dem Wald zu finden.“

Aber die Familie Grimm lebte eben nicht hier und deshalb erzählten sie auch 'was von Batzen.

Von diesen Perlmutt-Abfällen habe ich einige eingesammelt und sie werden dann zu Hause in einem Bilderrahmen hängen oder ich werde diese ins Fotoalbum einkleben – noch viel schöner zur Erinnerung, als ein bloß gekauftes Andenken.

Auf den Spaziergängen durch den Wald kommt mir in den Sinn:

Auf den sonnigen Wegen, gleißt der Glimmer uns entgegen“.

Zugegeben, es wäre nur eine zu kurze Zeile für ein prächtiges Lobgedicht auf die Stadt

Bad Frankenhausen und ihre Umgebung.

Wir sehen und hören hier so viel Interessantes, dass jeder Tag wie ein Feiertag scheint. Ich meine, Verschiedenes werde ich nie wieder vergessen können und wollen.


Die Bauernkriege fand in den Jahren 1524 und 1525 statt. Etwa 70.000 bis 100.00 Menschen verloren in den Kämpfen ihr Leben. An dem uns benachbarten Schlachtberg tobte der letzte große kurze Kampf, die wohl entscheidende Schlacht der Bauernkriege am 25. Mai 1525, bei der die Bauern unterlagen, auch, weil die Fürstenheere den vereinbarten Waffenstillstand brachen, sagt man. Die Bauern und Arbeiter hatten außerdem keine solch gute Aus-Rüstung, Aus-Bildung und keine so streng geordnete Führung wie die fürstlichen Landsknechte (Soldaten). Das bedeutet: Die Bauern rückten im Wesentlichen mit ihren landwirtschaftlichen Arbeitsgeräten, mit Hacken, Äxten und Mistgabeln als Waffen an. Sie kannten überhaupt nicht die fürchterliche Wirkung von Feuerwaffen, beispielsweise die der Kanonen, so dass sie zwar kampfesmutig vom Berg kamen aber angesichts der Übermacht des Gegners schnell in Richtung Stadt flüchten wollten. Die Flucht wurde ihnen jedoch vereitelt, der Weg ihnen abgeschnitten. Unter den Bauern richteten die Landsknechte ein grauenvolles Gemetzel an. Es gab hier in kürzester Zeit etwa 6.300 Tote. Die im Kampf unerfahrenen Bauern hatten ihre Kräfte völlig falsch eingeschätzt. Ein Weg zwischen dem Schlachtberg und der Stadt wird seit dieser Zeit „die Blutrinne“ genannt.

Der radikale Bauernführer und Pastor Thomas Müntzer (1489 bis 1525) hatte sich für Rechte der Bauern, für deren besseres Los in der feudalen Leibeigenschaft, für die Versorgung von Obdachlosen und für die Einrichtung von Armenspeisungen eingesetzt – für sehr gute soziale irdische Vorhaben. Er rief die unterdrückten Bauern zum Kampf auf, ohne aber zu erkennen, dass sie gegen das Berufsheer der Landsknechte eben keinerlei militärische Siegeschancen hatten, sondern einfach nur geopfert würden. Trotzdem verehren wir Thomas Müntzer heute noch sehr. Thomas Müntzer wurde in Frankenhausen gefangen. Man folterte ihn im Keller der Wasserburg Heldrungen und am 27. Mai 1525, enthauptete der Henker den gerade erst 35-jährigen.

Eine Gedenktafel hängt für ihn in der Stadt. –


Vor knapp zwei Jahren (vom 03. August bis zum 16. Dezember 1955) stellte die DEFA in meinem Heimatort, also in den Babelsberger Studios, den Film „Thomas Müntzer“ her. In den Studios entstanden sämtliche Innenaufnahmen und auch das Organisatorische wurde dort erledigt. Die Regie führte Herr Martin Hellberg, der im thüringischen Ort Bad Berka wohnt. (In genau in 30 Jahren werde ich bei ihm zu Hause Gast sein dürfen, das weiß ich aber jetzt noch nicht.) Für die künstlichen Film-Bauten wie Schänke und Bauernhaus usw., also für die Kulissen, war Herr Otto Erdmann der Chef. Die Außenaufnahmen für den Film wurden in Magdeburg, Quedlinburg, in Allstedt, in der Stadt Bad Frankenhausen und am Frankenhäuser Schlachtberg (also direkt neben unserem schönen Heim) gedreht.

Die Zeit für die Aufnahmen im Raum Bad Frankenhausen dauerte vom 25. August bis zum 15. September. Die Kinder des Sanatoriums konnten vom 8. bis 12. September das Filmen am Schlachtberg beobachten aber damals war ich ja nicht dabei.

Weiter voran ging es mit der Filmherstellung anschließend in der Ruine der Rothenburg / Kyffhausen und am Rennsteig bei Saalfeld. Ferner entstanden Aufnahmen in Mühlhausen, in Kapellendorf bei Weimar, in Meißen, bei Trebbin im Bezirk Potsdam (einer sehr beliebten Gegend für DEFA-Film-Teile), in der Nähe von / und in Meißen, im Schloss Heldrungen mit Schlossverlies und Folterkammer sowie zum Schluss in Gorma auf dem Richtplatz.


Dr. Martin Luther, auch ein Theologe und ebenfalls Mönch, der genauso die Ausbeutung und Unterdrückung der Leibeigenen erkannte, sah jedoch früher die Unterlegenheit der Bauern, riet vom bewaffneten Kampf mit unsäglichen Verlusten ab und mahnte zum Gehorsam gegen die Herrschenden. Er lehnte grundsätzlich kriegerische Gewalt ab. Der Kampf war nicht sein Thema, er wollte (nur) Reformen und diese hauptsächlich innerhalb der Kirche. Er selbst war ja auch von einem Fürsten geschützt worden (von Friedrich dem Weisen), der ihn auf die Wartburg „entführen“ ließ. Als Luthers Mahnen und Warnen nichts fruchtete, rief er sogar dazu auf, strengstens gegen die Aufständischen vorzugehen, gegen die Bauern, die sich trotzdem, nur mit Spaten, Sense und Morgenstern ausgerüstet, gegen die gut bewaffneten Feudalherren erhoben. So waren die beiden Pastoren sehr unterschiedlich in den Bauernkrieg und dessen blutigen Verlauf maßgeblich verstrickt. Beide sahen für das Volk Wege zu einem jeweils vertretbar erscheinendem Ziel und doch war keiner der beiden ohne Schuld an diesem Ausgang der Aufstände. So etwas trat nicht erstmalig auf. Vieles wiederholt sich in der Geschichte.

An Martin Luther soll deshalb in der DDR nicht so sehr gedacht werden, bloß höchstens für den kleineren Teil seines Bemühens um die deutsche Sprache, eine einheitliche Grammatik und Rechtschreibung, die er zusammenstellte, nachdem er dem Volk „aufs Maul“ geschaut hatte. Solche Sachen wie: Dass auch er das große weit über 1.000 Seiten dicke Buch, die Bibel, aus der griechischen und lateinischen Sprache in die deutsche Sprache übersetzte, damit man auch im Volk lesen lernen konnte und die Leute in der Kirche nicht immer mehr oder weniger interessiert zuhören mussten, was der Pastor da so unverstehbar gelehrt lateinisch vorlas, das spielt natürlich keine große Rolle. Bei diesen Arbeiten erfand er viele Worte, die es vorher in der deutschen Sprache gar nicht gab und führte auch neue Redewendungen ein. Aber man spricht davon, dass sein Vater eigentlich mit Namen „Luder“ geheißen habe, der Chef einer Mansfeldischen Kupfergewinnungsstätte war, womit der Dr. Martin Luther also einer Ausbeuterfamilie entstammte – das weiß ich aus der Schule. Er selber war auf der Kanzel und in der Schreibstube wohl bloß ein dicklicher Mönch, hingegen der Müntzer ein schneidiger Kämpfer für den Frieden der Arbeiter und Bauern. Auch das gilt als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal.

Dazu fällt mir das Lied „Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm“ ein, das einige große Teilerfolge der Bauern besingt, um sich selber Mut zu machen:


Text: Börries von Münchhausen Melodie: Hans Wendelmuth


Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm, der Regen durchrauschte die Straßen.

II: Und durch den Regen und durch den Sturm ertönte des Urhorns Blasen.:II


Das Büffelhorn, das so lange geruht, Veit Stoßberg nahm's aus der Lade.

II: Das alte Horn, es schrie nach Blut und wimmerte „Gott Gnade“. :II


Ja, Gnade dir Gott, du Ritterschaft! Der Bauer stand auf im Lande,

II: Und tausendjährige Bauernkraft macht Schild und Schärpe zu Schande. :II


Die Klingsburg hoch am Berge lag, sie zogen hinauf in Waffen,

II: Auf rammte der Schmied mit einem Schlag – das Tor, das er fronend geschaffen. :II


Dem Ritter fuhr ein Schlag in's Gesicht, ein Spaten zwischen die Rippen.

II: Er brachte das Schwert aus der Scheide nicht und nicht den Fluch von den Lippen.:II


Auf rauschte die Flamme mit aller Kraft, brach Balken, Bogen und Bande.

II: Ja, Gnade dir Gott, du Ritterschaft, der Bauer stand auf im Lande. :II



Solche Lieder üben wir „in unserer Bad Frankenhäuser Kulturzeit“ aber nicht. Fräulein Jödicke darf ja schließlich keinem kleinen kranken Kind andauernd 'was von Blut und Bauernfolterei erzählen oder vielleicht auch noch gar lieblich vorsingen. Wenn es sich dann grämt und davon noch kränker würde, könnte wohl der Heimarzt gewiss nur ziemlich ratlos seinen Kopf schütteln, denn er käme ja bestimmt nicht von allein auf den Gedanken, woran das liegen könnte.


Nicht weit von uns, am Fuße des Schlachtberges als Teil der Oberburg, einer Burg der Franken, besichtigten wir den Hausmannsturm, aber leider nur von außen. Innen mag er noch viel interessanter sein, doch er ist verschlossen. Auf den meisten der Ansichtskarten ist er abgebildet.

Das schlimmste, was uns Fräulein Jödicke über den Turm erzählte, war, dass einmal beim Decken des Turmdaches ein Dachdecker abstürzte und sein Leben nicht mehr gerettet werden konnte.

Ach nein, das bringe ich jetzt mit unserer eigenen Familiengeschichte durcheinander. Mein Urgroßonkel August Gericke war es, der als junger Zimmermann 1856 beim Bau des Flatow-Turmes im Babelsberger Schlosspark vom Dach abstürzte. Das ist eine ganz andere Geschichte, wenn sie sich auch ähnlich anhört.

Hier in Frankenhausen war es wohl damals so, dass der „Türmer“, also der Turmwächter- und Turmbewohner, nach einem Schuh seines lieben kleinen Kindes langte, der aus irgendeinem Grund auf dem schrägen Dach herumlag – nicht aufgeräumt – wie Kinder nun 'mal so sind. Dabei verlor er, der Vater, wohl das Gleichgewicht und stürzte hinunter in die Tiefe. Wie unsagbar traurig. Hätte er doch besser vorher gründlich nachgedacht, sich vielleicht eine Angel gebastelt oder eine Harke mit Stiel-Verlängerung genommen. Oder nur den Schuh (allein) mit einer langen Stange hinunter geschubst und unten wieder eingesammelt. Aber nein, so tat er es nicht, gab seinem Kind ein ungutes Beispiel und deshalb zählte man leider in Frankenhausen ein Waisenkind mehr als vorher.

Aber wenn es am spannendsten ist oder sehr gräuslich wird, muss Fräulein Jödicke abbrechen, damit keiner von den anfälligen Kleineren vielleicht vor Schreck einen Asthmaanfall oder einen Hautausschlag bekommt.

Die echten Eingeborenen“ – ich schreibe das mal so ganz vorsichtig, weil ich beinahe „die echten Frankenhausener“ geschrieben hätte. Die richtige Benennung darf wohl ausschließlich „die Frankenhäuser“ sein, obwohl es sich ja tatsächlich nicht um die Häuser der Franken, sondern um die Menschen selbst handelt. Es ist wohl aber trotzdem so, dass die völlig echten über sich lieber als „die Frankenhisser“ reden. Mit den Bewohnern des Nachbarortes ist man da wie's scheint nicht so streng genau zimperlich, denn im Stadtplan nennt man sie „Rottleber“ aber auf dem Straßenschild heißen sie „Rottlebener“. Mancher Nichtbetroffene mag das als gleichgültig, egal oder als spitzfindig ansehen. Aber ich habe beispielsweise noch nie eine Rott-Leber gegessen. Also, zurück zum Turm: die Frankenhäuser sagen zu diesem Turm in der thüringischen Sprache wohl „Husmannstorm“ oder so ähnlich. So gehen besonders alte Leute, die die Sprache pflegen, auch seltener „in oder auf den Hof des Hauses“, sondern „uffn Husplan nus“, wenn ich das richtig verstanden habe. Manches wird auch in verschiedenen Orten sowieso unterschiedlich gesprochen, dann wird es noch schwieriger. Ist ja klar: Wenn höhere Berge dazwischen sind, sehen sich die Leute nicht oft und sprechen nur ihre eigene Sprache oder auch de Sproch. Deshalb lohnt es sich überhaupt nicht über eine „richtige“ Aussprache zu streiten. Andere Worte könnten wir gar nicht begreifen, aber unsere Erzieherinnen sprechen einfach so mit uns, dass wir alle sie gut verstehen können – egal woher wir kommen. Auch das haben sie sehr gut gelernt.


Fräulein Jödicke erzählt uns auch etwas über andere ganz natürliche Merkwürdigkeiten aus ihrer Heimat. Zum Beispiel über die Possenwiesen in der Nähe von Sondershausen, wohin wir jetzt nicht kommen. So besitzt sie zum Beispiel hart versteinerte Kerne von früheren echten kleinen Kopffüßern. Das waren wirbellose aber umschalte Weichtiere, Tiere aus der Gruppe der Ammoniten, die sie liebevoll „Ceratites nodosus“ nennt. Diese Versteinerungen stammen aus dem Erdzeitalter des Trias und die ehemaligen Tiere sind heute mindestens 240 Millionen Jahre alt. Unvorstellbar. Ihr Durchmesser kann durchaus bis zu 20 cm betragen. Erstaunlich, dass nicht alle in dieser langen Zeit weggesammelt worden sind? Nein, man findet sie, wenn man einen Berghang glatt abschürft, mitten im Berg, also in der Tiefe, in einer ziemlich waagerechten Schicht, in einem „Leithorizont“, wie es heißt. Und nicht jeder Sammler kommt dort hin. Diese Tiere belebten damals die Fläche über dem Muschelkalk so zahlreich, dass man sie heute noch – aber eben inzwischen leider schon tot und versteinert – als eine „Leitschicht am Bodenhorizont" finden kann. Manchmal liegen sie aber auch unter den „Lesesteinen“ (das Wort kommt von Aufsammeln, Auflesen) am Rain, also zwischen Acker und Weg, und nicht jeder erkennt sie, weil die lange Zeit sie mit einer dicken Schicht aus hartem Kalk ummantelt hat.


Unser freundliches Fräulein Jödicke erzählte heute – nur als ein weiteres Beispiel – von den „Bonifatiuspfennigen“. Gut, bezahlen kann man damit heute schlecht. Es sind in den Muschelkalk eingebettete versteinerte Scheibchen mit einem Riffelrand und mit sichtbarer Stern- oder auch Rad-Oberfläche, aus denen sich der Stängel einer Seelilie zusammensetzte. Ähnlich einer Münzrolle (in verkleinerter Form) sehen sie aus, jetzt gefunden, aber aus unvorstellbar lang zurückliegender Zeit stammend, als es noch keinen Menschen auf der Erde gab. Aber eine „Blüte“ dieser Seelilie aus diesem Muschelkalkmeer konnte sie uns nicht zeigen. Das hole ich zu Hause nach, vielleicht ist sie in Meyers Lexikon abgebildet. Gewiss sollte ich noch anmerken, dass die Seelilie mit ihrer „Blüte“ in Wirklichkeit ein Tier war. Das wissen wir nun. Einige „Pfennige“ der Münzrollen-Seelilie, von Fräulein Jödicke gespendet, bewahre ich „als ewiges Andenken“ in meiner Schatzkiste auf.

Ich wette, dass Fräulein Jödicke sehr viel mehr weiß, als sie zur Beschäftigung mit Kur-Kindern unbedingt braucht. Und das ist gut so.


Zur Halbzeit haben wir ein Bergfest und auch sportliche Wettkämpfe. Es macht Spaß, sie sind keine Leistungsprüfung. Zu meinem Glück ist überhaupt kein schwieriges Geräteturnen dabei.


Wieder Schreibstunde. Ich nehme heute die farbige Ansichtskarte mit dem Weinberg-Flieder-Panoramablick und den Gebäuden: Sanatorium, Hausmannsturm und Frankenburg, dahinter ein Stück vom Schlachtberg. In der Frankenburg hat unser Fräulein Jödicke einen Teil ihrer gewiss ganz schön schweren Ausbildung zur Kindergärtnerin gehabt, bevor sie die Arbeit als Erzieherin im Sanatorium aufnahm. Sie hat also sogar zwei Berufe und das will schon 'was heißen.

Als Porto kleben wir auf eine Ansichtskarte eine 10-Pfennig-Marke. Der Brieftransport kostet 20 Pfennige oder 0,20 Mark. Wir haben zurzeit die blauen Marken mit den Arbeitern drauf und dem „Fünf-Jahresplan-Emblem“.


Weitere kulturelle Erlebnisse

Wir singen verschiedene Lieder. Schöne Volkslieder wie:

- „Kein schöner Land in dieser Zeit“, eine alte Volksweise, von W. v. Zuccamaglio

- „Im Frühtau zu Berge“, Musik aus Schweden, Text: Olof Thunman

- „Ich wandre ja so gerne“, von den Thüringern Herbert Roth und Karl Müller

- „Das Wandern ist des Müllers Lust“ von Carl Friedrich Zöllner und Wilhelm Müller

- „Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“

- und weitere Lieder.

Die Lieder kenne ich schon. Das macht alles recht leicht – man ist gleich voll mit drin. Natürlich kennt das Fräulein Jödicke noch viel mehr Lieder, auch Scherz- oder Tanzlieder, aber die kann ich nicht alle aufzählen. Sie muss ja auch für jedes Kindesalter und für die verschiedenen Jahreszeiten immer mal etwas anderes bereithalten.


Eine interessante Zauberveranstaltung ließ mich nicht in Ruhe – wie der Zauberkünstler das nur machte? Ich habe ganz genau aufgepasst und nicht gemerkt wie das ging (und dabei hat er noch so getan, als verriete er uns ganz kumpelhaft nun seine Tricks – aber auch das war eben bloß Trickserei.)


Und schon naht das Ende unserer Erholungszeit

Für das große Abschiedsfest haben die Kinder der Gruppen Beiträge eingeübt, die nun vorgetragen werden können. Wenn ich aber an den Abschied denke, ist mir gar nicht so festlich zumute. Es war doch sehr abwechslungsreich. Wir haben viel gesehen, Neues gelernt, was weitaus über einen normalen Schulunterricht hinausgeht. Die Jungen haben sich alle gut miteinander vertragen, so wie man es von unserer Schulklasse Daheim nicht durchweg kennt. Hier ist es immer ganz lustig und fröhlich – besonders vielleicht auch, weil wir in den Ferien sind, in einer anderen Gegend, zusammen mit anderen Leuten, die uns die Zeit recht schön gestalten – kein Alltag eben. Ja, alle Erwachsenen im Heim bemühen sich mit Erfolg, uns auch in der Woche Sonntage, viele Sonnentage zu bereiten.

Wie bei der Ankunft und bei der Halbzeit werden wir auch vor der Abfahrt gewogen. Trotz des guten Essens habe ich kaum messbar an Gewicht zugenommen (kleiner bin ich auch nicht geworden), sehe also ähnlich aus wie bei der Ankunft – aber das soll dann die „Nachkur“ noch im Selbstlauf verbessern. Ich fühle mich zumindest sehr wohl. Geist, Seele und Körper haben sich erholt. Das kann vom Arzt aber nicht so recht gemessen werden.

Beim Packen des Koffers wird einem nach sechs Wochen etwas schwermütig ums Herz, als das Inhaltsblatt verglichen und abgehakt wird, damit wir hier auch bloß nichts zurücklassen. Kein einziges Andenken an uns wird hier gebraucht – die nächsten Kinder kommen schon bald.

Ich dagegen nehme als Andenken viele Erinnerungen mit, die mich bestimmt lange begleiten werden: unser Gruppenbild, Ansichtskarten, einige Perlmuttabfälle, ein Stückchen vom Glimmer-Gestein aus dem Waldboden (vom versteinerten Holz konnte ich kein Stück ernten) und ein kleines Abziehbild mit der Ansicht der Stadt.

Vieles haben wir hier gesehen. Was für die Einwohner der Stadt Bad Frankenhausen das Alltägliche ist, was man möglicher Weise deshalb übersieht, scheint uns als etwas ganz Besonderes, Neues, Anregendes – was unsere Erinnerung an die schönen Tage lebhaft wach halten wird.

Wir fahren nun wieder, ich anfangs in etwas gedämpfter Stimmung. Unsere netten Erzieherinnen bekommen bald wieder ganz neue Kinder, an die sie sich gewöhnen und von denen sie ganz schnell die Namen auswendig lernen müssen. Und auch denen werden sie wieder viel zeigen und erzählen, was diese dann mit nach Hause nehmen zu den Eltern, Verwandten, Schulkameraden – und so muss Bad Frankenhausen ja bald weltberühmt werden.

Natürlich freuen wir uns aber auch schon auf unser Zuhause.



Vielen Dank für die erlebnisreichen Wochen, liebes Heimpersonal.

Vielen Dank besonders an Fräulein Jödicke und die anderen Erzieherinnen,

an Frau Liesegang und an die Damen in der Küche, an die Raumpflegerinnen,

den Hausmeister, die Schwestern und den Arzt!


Auf Wiedersehen, Diamantene und Goldene Aue, Gietenkopf und Kulpenberg.

Tschüss Hainleite, Windleite, Barbarossahöhle und Kyffhäuserdenkmal

sowie Stadt Bad Frankenhausen!


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Stunden der Fahrzeit vergehen.

Als ich Daheim ankomme, ruft meine Mutti:

Junge, hast Du aber frische Farbe bekommen – und Du quasselst ja so, wie ein

Thüringer Wasserfall rauscht.“


Sehr viel später ergänze ich:

Für viele Kinder waren die Zeiten des Aufenthaltes im Sanatorium „ein Segen“, für das betreuende pädagogische und medizinische Personal oft eine Lebensaufgabe, an der viel Liebe und Herzblut hing. Eine große Leistung der Sozialversicherung des Landes in Verbindung mit dem staatlichen Gesundheitswesen der DDR. Von ihnen und mit den geschaffenen Werten vieler fleißiger Menschen, konnte auch dieser Aufenthalt ermöglicht werden. Ein Grund, dafür dankbar zu sein!


Anmerkung. Den aktualisierten Beitrag über Bad Frankenhausen findet ihr im Abschnitt „Orte“

auf der gleichen Internetseite. Dort gibt es auch mehr Bilder und Beiträge von Lesern.


Nun wieder weiter im Babelsberger Alltag:

Statt scheckiger Fahrradteile ein schwarzes Ganzes

Der Gedanke an ein Fahrrad ist mir inzwischen nicht abhanden gekommen. Ich habe nur mit dem Erzählen eine Pause machen müssen, weil sich so sehr vieles ereignet. Aber gesammelt habe ich inzwischen durchaus. Oder von Anfang an: Aus gebrauchten aber ordentlichen Teilen baue ich mir ein Fahrrad zusammen. Eine gute Unterstützung bei der späteren Montage erhoffe ich mir in unserem erfahrenen Nachbarn Hartwig. Einige Teile konnte ich in Kellern und auf Dachböden bei unseren Altstoffsammlungen erwerben. Anderes finde ich auf dem Schrott-Zwischenlagerplatz an der Wetzlarer Straße hinter dem Bahnhof Drewitz, zu dem auch das Anschlussgleis des Karl-Marx-Werkes führt. Dort wird der Metallschrott zum Abtransport mittels Güterzügen bereit gestellt. Bestimmt ist der Schrott für „Martin“, den Siemens-Martin-Hochofen. Man muss nur aufpassen wegen scharfkantiger Bleche und scharfer spiraliger Langspäne von den Drehmaschinen der Lokomotivbaufirma, damit man sich nicht verletzt. Bei einer Schlagaderblutung wäre man hier ziemlich rettungslos verloren.

Bei meinem Bemühen handelt es sich um eine länger anhaltende Sammelaktion, weil nicht alles Benötigte zur gleichen Zeit als Angebot bereit liegt – doch es kommt ja stets frische Ware herein. Man muss nur immer mal wieder nachschauen und vor den Mit-Interessenten da sein, was ja kaum jedesmal gelingen kann.

Vieles des dort Abgelegten regt zum Basteln an, zum kreativen Gestalten. Dazu gehören Kupferdrahtspulen für den Katapultbau (Zwille), genauso wie Magnete aus Autowinkern (die Vorgänger späterer Blinkleuchten), auch ein Unfall-Motorrad – davon passt für ein Fahrrad nichts, Glühlampen aus Autorückleuchten und vieles andere mehr. Man muss schon immer einen Sack mitführen, der sich auch gut tragen lässt – noch habe ich kein Fahrrad, sondern gehe zu Fuß. Manchmal fahre ich auch mit dem O-Bus bis in die Nähe des Schrottplatzes, bis zum Bahnhof Drewitz.

Eines sehr erfreulichen Tages ist mein Gemischtwaren-Schatzlager so gefüllt, dass ich an den Beginn des Montierens denken kann. Es fehlen noch: Eine Bowdenzug-Vorderrad-Felgenbremse, wenige Kugellager, 1 Reifen 26 x 1,75 x 2, das Rücklicht und die Klingel, sowie der Lenker. Also Lenker gab es mit Farbe oder auch rostig mehrere aber es sollte möglichst ein sauberer, ein blank-chromiger Ochsenkopflenker sein und einen solchen gab es bisher nicht auf dem Schrottplatz, sondern nur in den Läden, in Berlin-West. Ähnlich verhielt es sich mit der gewünschten Modequalität der Rückleuchte. Es gibt solche auch in Vollplastik, die ohne Blechgehäuse wie eine leuchtende Halbkugel nach fast allen Seiten strahlen. Aber eben: Es gibt sie dort und nicht hier.

Doch diese mühsam zusammengesuchten Teile bilden bald einen Fundus für Schenkungen.

Ich hätte einen Soli-Basar aufmachen können. Wie das – und warum, fragt ihr? Ganz einfach!

Als ich nun fast fertig war mit dieser angenehmen Quälerei, eröffnet mir mein Vater feierlich, dass ich, als Auszeichnung für meine intensiven Bemühungen, sein Fahrrad haben könne, da er es ja ohnehin nicht mehr nutzen kann. Es hängt so lange ich mich erinnern kann in der „Werkstatt“ an der Wand und sieht schwarz aus – nicht so kunterbunt, wie meine Einzelteile, die ich nun verschenken kann. Es ist ein ganz besonderes Fahrrad aus den Adlerwerken in Frankfurt am Main, Vorkriegsmodell, mit einer Drei-Gang-Schaltung im Tretlager. So etwas hat hier noch kein Mensch meiner Altersgruppe gesehen. Und Laufräder mit Trommelbremsen. Die Attraktion!


Viele, viele Jahre hatte Vatis Fahrrad ungenutzt in der sogenannten „Werkstatt“ an der Wand gehangen. Für mich unerreichbar.

Wieso eigentlich besaßen meine Eltern nach dem Krieg denn noch ein älteres Fahrrad?

Meine Mutter ist in ihrer Jugendzeit, viel gelaufen, gewandert, viel mehr, als heute im Durchschnitt üblich. Mein Vater ist gehbehindert und nutzte daher gern sein Fahrrad. So wurde während ihrer Verlobungszeit für ein zweites Fahrzeug, für meine Mutter, gespart und gemeinsam unternahmen sie gar manche Ausflugstour. Bis in die Zeit des zweiten Weltkrieges hinein.

Nachdem im April und Mai 1945 die sowjetischen Kampftruppen der Roten Armee auch hier, noch für beide Seiten verlustreich, durch Potsdam und Umgebung gezogen waren, hatten die nachfolgenden Dienste mehr Zeit und Muße, sich mit dem Hab und Gut der Leute zu befassen.

Das Fahrrad meiner Mutter wurde in der Stunde des Entdeckens mitgenommen. Das teurere meines Vaters, das mit der Gangschaltung innerhalb des Tretlagers, befand sich auch bereits in den Händen eines Rotarmisten. Wir, also meine Mutter, mit mir in ihrem Bauch, konnten es von dem russischen Freund wieder „entgegennehmen“ – es hätte dies eine lebensgefährdende Situation werden können. Der Rotarmist, der sich auf das Rad geschwungen hatte, ließ die Beute aber fallen, weil er meinte, sie sei kaputt., unbrauchbar. Der Handschalthebel war in seiner „Kulisse“ momentan nicht in einem der Gänge eingerastet, sondern auf Leerlauf eingestellt und so konnte er damit nicht fahren, trat schwungvoll in die Pedale aber damit gleichsam ins – Leere. Das wird möglicher Weise bei ihm in Nähe der Sattelnase kräftige Schmerzen verursacht haben. Die Pedalarme dreht sich im Leerlauf wie die Windmühlenflügel aber das Kettenblatt rührt sich nicht und damit verharren naturgegeben auch Kette und Hinterrad im Zustand der Ruhe und das gesamte Fahrrad kommt nicht vom Fleck. Nur deshalb war eben ein Fahrrad, dieses „unbrauchbare“ Fahrrad noch bei uns. Das hatte nun ich bekommen. Na dann los.


Ganz behutsam, Stück für Stück wird das Fahrrad modernisiert, so dass es den dieses Treiben aufmerksam beobachtenden Erblasser nicht schmerzt und der Umbau auch mit meinen Finanzierungsmöglichkeiten vereinbar ist. Zuerst ein moderner Sport-Sattel, dann der große Flachbatterie-Scheinwerfer gegen eine stromlinienförmige Lampe getauscht und zum Schluss kommt der altmodische Gesundheitslenker aus den 1930-er Jahren wieder zurück in die Werkstatt.

Für die Ausflüge erhielt ich von den Eltern die Karte „Potsdam und Umgebung“ die heute noch existiert, in einer ledernen Kartentasche mit großem Sichtfenster.

Sorgen hatte ich auf den Ausflügen mitunter um das Fahrrad, weil jeder Junge, wo ich auch anhielt, gern damit eine Runde fahren wollte, weil es eben, wegen des Gangschalt-Tretlagers mit dem Gestänge für die Handschaltung, einen gut sichtbaren Seltenheitswert besaß.

So unternahm ich eine Anzahl von Ausflügen, z. B. Nach Saarmund (Gaststättenbrause 0,12 M), nach Kähnsdorf, Fresdorf, Wildenbruch, natürlich auch Caputh, Ferch, und Geltow, ... .

Schon recht schön ist unser Radrenn-Oval im nahen Birkenwäldchen aber noch viel besser das stark hügelig-baumbestandene Gelände in der Nähe des Jagdschlosses Am Stern. Das macht „Lunte“ (gute Laune). Aber auch sonst erweitert sich mein Aktionsradius mit dem Fahrrad ganz gewaltig.


Es gibt nicht nur Fahrräder!

Für meinen kleinen Bruder, er wird drei Jahre alt, baue ich zum Geburtstag eine klappbare Autorennbahn mit Mitteltrennung, damit zwar Wettfahrten möglich sind, aber ohne Karambolagen. Aber auch solche „mit“ sind gewährleistet, wenn man die Rennwagen auf einer gemeinsamen Fahrbahn startet. Die Querfuge am Klappscharnier lässt die leichtesten Autos mit den kleinsten Rädern tolle Sprünge vollführen. So wie es manchmal unerwünscht im richtigen Leben vorkommt.

Für Weihnachten und dann „für lange Winterabende“ bastele ich für denselben nahen Verwandten einen Rahmen (und dazu einen Ständer), in den ich Zeichenblätter im Format DIN A 4 schnell auswechselbar stecken kann, dahinter steht eine Lampe.

Das wird also eine Art Kasperletheater ohne Puppen. Oder ein Kino-Bilderbuch ohne Bucheinband und Schrift, denn die Texte werden ja von mir gesprochen. Nun muss ich nur noch Märchenbilder zeichnen und dann kann ich, wenn ich Märchen erzähle, ihn dabei auch mit den hinterleuchteten Märchenbildern erfreuen. Mein Heimkino. Mit den Eltern habe ich in die Vorbereitung dieser Überraschung besprochen, sie also eingeweiht.


August 57

Eine erschütternde Nachricht geht um die Welt: Die riesige Viermastbark „Pamir“, ein westdeutscher Großsegler, ein Segelschulschiff, ein Handelsfrachter, ist im Atlantik während eines Orkans gesunken.

Das Schiff wurde 1905 bei Blohm und Voss in Hamburg gebaut. Die Namen sind niederdeutsch und bedeuten „Blume“ und „Fuchs“. Der Heimathafen diese Schiffes war Lübeck. Nun liegt es im Atlantik bei den Azoren auf dem Meeresboden.

Nach vier Tagen der Suche konnten nur noch fünf Seeleute aus einem stark beschädigten Beiboot gerettet werden. 80 Matrosen ertranken. (Näheres in der Rubrik „Zeitgeschichte 1901–2000“ auf dieser Internetseite).

Das Schiff hatte eine Länge von über 100 Metern bei einer Wasserverdrängung von mehr als 3.000 Brutto-Register-Tonnen. Es handelte sich um ein Schiff mit 86 Mann Besatzung, darunter 16 Kadetten, die ihre erste Fahrt der Ausbildung zu späteren Offizieren der Handelsmarine absolvierten. Sie befanden sich auf der Rückfahrt von Buenos Aires (Argentinien) und hatten Getreide geladen. Die Hafenarbeiter streikten gerade und so wurde das Schiff von der argentinischen Armee und der Schiffsbesatzung beladen.

Das Schiff kenterte wegen des Verrutschens der Ladung im Hurrikan „Carry“, da selbst die Ballastwassertanks, die der Schiffsstabilisierung dienen, widerrechtlich aus Profitgründen und gegen alle Regeln der Technik mit Getreide gefüllt wurden. Der Erste Offizier und der Bootsmann wollten den Kapitän, noch vorher im Hafen, zum teilweisen Wieder-Entladen bewegen, wurden vom Kapitän jedoch mit Waffengewalt zum Stillschweigen gezwungen, bzw. wären wegen Meuterei angeklagt worden. Es hätte auch durchaus die Möglichkeit gegeben, nach den Orkan-Warnungen dem Hurrikan auszuweichen aber der Kapitän setzte aus Zeit- und damit aus Geldgründen im Sinne des Reeders das Beibehalten der Route und somit den gefährlichen Kurs der Kollision mit dem Hurrikan fort. Das Schiff erlitt durch das verrutschende Getreide immer mehr an Schräglage, bis es vollends umschlug und sank. Den SOS-Ruf des sinkenden Seglers hörten mehrere Schiffe, diese waren aber viel zu weit entfernt, um noch rechtzeitig die verunglückte Besatzung aufnehmen zu können. An der Suche nach den Schiffbrüchigen waren etwa 60 Schiffe und 20 Flugzeuge beteiligt. Am neunten Tag nach dem Unglück wurde die Suche nach weiteren Überlebenden eingestellt. Auch das zweite Rettungsboot wurde nie gefunden.

Nur sechs Überlebende gab es: einen Seemann, der vom Schiffsarzt auf der Hinreise auf hoher See operiert worden war und bereits in Buenos Aires ins Krankenhaus gekommen war, ferner der Bootsmann und vier Kadetten, die sich in ein stark beschädigtes, fast voll Wasser gelaufenes Rettungsboot retten konnten. Vier Tage trieben sie in der rauen See ohne Versorgung bis sie gefunden wurden. Ursprünglich waren es drei Gerettete mehr, von denen einer jedoch im Rettungsboot starb, zwei weitere das Rettungsboot geistesverwirrt unter Halluzinationen verließen und auch ertranken. Diese vielen Details erfuhren wir zu jener Zeit allerdings nicht, sondern erst etwa 50 Jahre später, als der Film „Pamir“ gezeigt wurde.


Die DDR besitzt zu dieser Zeit das kleinere Dreimast-Segelschulschiff „Wilhelm Pieck“.


September – das Ritual am Weltfriedenstag

Nach den großen Ferien ist jetzt wieder angesetzt, jeden Montag auf dem Schulhof einen Fahnenappell mit langem Anstehen zu vollziehen. Dazu gehören Vollzähligkeitsmeldungen der einzelnen Gruppenratsvorsitzenden (also jeder der etwa 20 Klassen) an den Freundschaftsratsvorsitzenden und anschließend dieser an den „Pi-lei“, den Pionierleiter. So hört sich das dann etwa an: Vorn ertönt das militärische Kommando „Stüll-stann", hinten wird noch geschwatzt und gelacht, diesmal ohne rügende Unterbrechung der Veranstaltung – „zur Meldung an den Pionierleiter dieee Auuugen links!“ – also jetzt alle auf die interessante Mauer gucken, und jener meldet dann an den Pilei und dieser an den Schuldirektor mit dessen huldvoller Entgegennahme „Herr Soundso, ich melde, die Pioniere und Schüler der Schule 17 sind (mehr oder weniger vollzählig) mit 344 von 372 Schülern zum Fahnenappell angetreten“ (die Zahlen sind hier nur beispielhaft). Wem und wofür diese mündlich aufwendige Schülerzählung und Weitermeldung etwas nutzt, bleibt im Dunkeln der sozialistischen Schulgeschichte, denn die richtigen Zahlen stehen von der täglichen Anwesenheitskontrolle ja in jedem der Klassenbücher. Nach dieser Meldung und vor dem Hissen (Hochziehen) der Pionier- und der FDJ-Fahne an ihrem Mast, kommt das Kommando: „Dieee Auuugen geradeaus!“ Also auf die Fahne geheftet und dann, nach der befehlenden Aufforderung: „Heißt Flagge“ wird die Fahne am Mast geheißt, oder auch gehisst, also hochgezogen, begleitet von einem Trommelwirbel. Hiernach ertönt das Kommando: „Rührt euch!“ Einige rühren ganz erheblich, schütteln betont alle möglichen Glieder zur lockernden Entspannung aus. Dann folgen das Aufsagen / Anhören von Partei-Sprüchen, die Rezitation eines Gedichts, Absingen eines Liedes, zum Beispiel: „Von all’ unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut, wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut...“. usw. Darauf folgen Belobigungen und / oder Rügen wie auch andere wichtige Mitteilungen des Lehrkörpers. – Alles wohl so etwa nach sowjetischem Vorbild oder besser noch – noch etwas besser, ähnlich also wie es bei Bestschülern üblich ist.

Also, ich hätte ja auch zusammenfassen und kürzer schreiben können: „Fröhlich sein und singen".

Dieses Appell-Verfahren hält man im Allgemeinen nach den Großen Ferien bis zum ersten Regen durch, in dem es aufgeweicht wird und es schläft dann ein, bis es „von außen“ wieder erweckt wird. Meist zu hohen Staatsfeiertagen. Ich habe nicht bemerken können, ob und welche Dissonanzen es sehr vielleicht, halboffen oder versteckt innerhalb der Glieder des Lehrkörpers gegenüber diesem Ritual gegeben haben mag.

Eine kurze Zeit wird uns auch vorgegeben zur tieferen Entspannung in den Großen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, bei gleichzeitiger Erhöhung der Disziplin, das im „Gänsemarsch-Gehen“ im Kreise zu üben – aber das schlief zum großem Glück aller, noch schneller ein. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass es auf Gefängnishöfen durchgehalten wird. Deshalb steht es hier.


Unsere neueste Errungenschaft: Ein Toilettenpalast.

Wir haben jetzt zwei kleinere Schulhöfe. Der vormals große Schulhof wird nun von einem herrlichen Lang-Neubau in seiner vollen Ausdehnung geteilt. Darin finden Platz: Die Toiletten, ein Speiseraum und ein Turnraum, ein Waschraum , ein Werkraum und mehrere „Nebengelasse“. Wir nennen das Gebäude gleich den „Toilettenpalast“. Ich weihe diesen auch mit einer Funktion ein – ich bin in den Pausen Milchgeld- und Essengeld-Kassierer. Eine gesellschaftlich nützliche und wichtige Aufgabe mit Bestellannahme, Kassierung, Kartenausgabe (als Quittung und Berechtigungsschein), Abschneiden dieser innerschulischen Lebensmittelmarken, in dem Moment, bevor diese „abgegessen“ werden. Man darf diese Mittagessen-Wochenkarte auf keinen Fall verlieren – außer wenn man gerade abnehmen möchte. Mit diesen Arbeiten sind meine Erholungspausen gefüllt. Wir erhalten je nach Wunsch- Bestellung täglich jeweils eine Viertel-Liter-Glasflache mit weißer Vollmilch, rosa Fruchtmilch, sogar Kakaomilch oder eine kürzere Zeit auch mit Vanille-Geschmack. Als Lohn für das aufwendige Kassieren bin ich dann ein „Freiesser“.

Es gab immer mal was „zeitweilig" – so wie zum Beispiel den Vanille-Geschmack. Auch außerhalb der Schulspeisung. So die begehrte Margarinesorte „Mohrle“, die man auch gut ohne Brot essen konnte. Sie verschwand bald wieder vom Ladentisch, denn für die Beschaffung der ausländischen Rohstoffe (Kakao) benötigte man „Valuta“ „Devisen“, eine harte Währung, die auf dem Weltmarkt etwas galt. Deshalb war dieses Lebensmittel für uns besser entbehrlich. Andere Margarinewürfel wie Sahna und Vita als Brotaufstrich – Sonja und Marina dagegen zum Kochen und Braten, gab es ständig. Problemlos.


Der Turnraum im neuen Toilettenpalast, ist wie eine kleine Halle, nur nicht so hoch und weniger lang, wie auch nicht zu breit, muss aber bald gesperrt werden, weil sich das zu frische Parkettholz dehnt und „aufwirft“, höhere Wellen und Täler bildet, weil es nicht weiß, wohin es in seinem Quell-Zustand soll. Die Zukunft weiß, dass er auch nicht repariert wird, um den Raum wieder nutzen zu können.Wir verwenden ihn als Raum, um die Unmengen der von uns im Herbst in der Stadt für die Tiere des Waldes gesammelten Eicheln und Kastanien zu lagern, die der Staatliche Forstwirtschaftsbetrieb als schmackhafte Winterzusatzkost irgendwann abholen soll und anbieten will. Diese müssen stets gewendet und damit belüftet werden, damit sie nicht zu sehr schimmeln. Erstaunlich ist es, wie viele Maden in den Eicheln wohnen. Von dieser Aktion hat das Holz und die Luft des Raumes einen „recht arteigenen“ Geruch angenommen, der für immer darinnen bleiben wird. Nun – was bedeutet für immer? So lange wird der nagelfrische Toilettenpalast ja nicht stehen bleiben – wir wissen jetzt noch nicht, dass es etwa 4 Jahrzehnte sein werden – etwa genauso lange, wie die DDR bestehen bleiben wird. Auch das wissen wir jetzt noch nicht.


Für mich mit meinen langen Extremitäten ist die Gerätearbeit (Bock und Barren, Pferd und Kasten sowie Reck) nicht so freudbetont und erfolgreich, als dass es bei mir den Begriff „Turnen“ wirklich verdient hätte. Um da aber nicht immer nur einmal in der Woche in der Leistungskontrolle zu schwitzen, um ein bisschen freudvoller üben zu können, ohne mit Schuldruck „diesem Interesse“ nachgehen zu können, habe ich mich bei „Motor Babelsberg“, Betriebssport-Gemeinschaft des Karl-Marx-Werks (Motorsporthalle), also der Lokomotivbaufabrik, im Konsumhof 5 (Straßenschild), eingeschrieben. Richtig mit braunem Klappausweis und Foto, wie auch kleinem Mitgliedsbeitrag. Das macht dort mehr Spaß – aber sehr „relativ“ bleiben meine Geräteturn-Künste trotzdem. Bei der Rolle auf dem Barren, mit Hilfestellung denkbar, wusste ich in dieser Sekunde nie, wo oben oder unten ist oder ob ich mit „meinem breiten Kreuz“ bereits zwischen den Holmen, am Durchfallen war.


Wir bekommen neue Küchen-Gardinen

Die Eltern haben sich eine Waschmaschine zusammengespart, denn Mutti ist zu stark belastet. Es handelt sich um das neueste Modell WM 60, also die Waschmaschine vom Typ des Jahres 1960, aus dem VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg im Erzgebirge. Ein Erzeugnis mit der mechanisch waschaktiven Komponente „Wellrad“. Das ist viel besser als die aus der befreundeten CSR, die mit der rotierenden Schnecke, um die sich die Wäsche fest wickelt oder die ältere Thurm-Perle, deren mechanischer Arm die Wäsche im Holzbottich im Halbkreis hin- und herschwenkt, angetrieben von dem mächtigen Motor, der hoch oben über dem Holzfass „sitzt“. Außen hat unsere moderne eine graue Farbgebung, einen weißen Deckel, innen ist der Waschbehälter schwarz-weiß-geflockt emailliert. Die Maschine löst nun das bisherige sehr aufwendige, kräftezehrende Verfahren in der Waschküche mit Einweichen, Kochen, Schrubben, Spülen ... spielend ab. Sie kann es in Windeseile. Die maximale Dauer für den Waschvorgang ist mit der mechanischen Zeitschaltuhr auf acht Minuten begrenzt. Dann nur noch die Spülbäder in den Wannen, Wasser auswringen, aufhängen und trocknen – alle Behälter dann wieder ausschöpfen, damit die Pflanzen im Vorgarten gießen, das ist dann schon alles.

Die ersten Testobjekte sind die geblümten Küchengardinen, nicht mehr ganz neu. Och, wie kräftig das Wellrad den Stoff unter die Wasseroberfläche zieht, wie das aber wirbelt, strudelt und saugt! Das wird nicht nur sauber werden, sondern rein! (sinngemäß aus einem BRD-Werbeslogan). Nach vier Minuten ist alles fertig. Deckel wieder auf – aber ach, oh Schreck: Viele Blumen der Gardine schwimmen einzeln im Wasser, das textile Flächengebilde ist in Streifen zerlegt. Ja, man soll nichts älteres, „mürbes“ mehr waschen, sondern eher weniger. Strapazierfähige Wäsche sollen die Leute verwenden! Man hätte nur eine Minute statt derer vier einstellen brauchen – vielleicht hätte alles geklappt und für was Kleines, was ganz Empfindlich-Feines wurde ein kleineres Einkaufsnetz mitgeliefert, in das natürlich keine Gardine hinein geknautscht werden kann.

Ich denke so in meinem jugendlichen Leichtsinn: Vielleicht hätte man auch einfach einen Zwischenboden, also eine Lochplatte oder ein flächiges quadratisches Siebgebilde vorsehen, mit anbieten können, um den Direktkontakt zum Wellrad, um die gewaltige Kraft, wahlweise bei Bedarf, vertragbar zu gestalten. Na ja, ich bin bloß ein Schüler und kein erfahrener Wama-Konstrukteur. Die wissen doch bestimmt alles Erforderliche – schon – vielleicht.

Waschen ist im Prinzip schon ganz gut. Die Zukunft aber wird zeigen, dass es sich um ein Unikum, ein Universalgerät handelt, so auch das noch beliebtere Nachfolgemodell WM 66. Die Maschine ist beispielsweise unschlagbar als portabiler Würstchen-Erwärmer – man braucht nicht unbedingt die Gulaschkanone auffahren und dieser erst Feuer unterm ... . Reparaturwerkstätten nehmen sie sehr gerne zur Intensivreinigung verschmutzter Maschinenbauteile, Bereitung von Badewasser für Kleinkinder? Kein Problem mehr! und und und.

Diese Gardinen brauchen wir also nicht mehr zum Trocknen auf die Leine hängen. Ansonsten trocknen wir die Wäsche im Sommerhalbjahr auf dem Hof. Im Winter nutzen wir den Dachboden, wo die Wäsche schnell hart gefriert. Von der Leine abnehmen dürfen wir sie erst dann, wenn die Feuchtigkeit völlig von der Luft aufgenommen wurde, lyophilisiert ist und sie wieder weich ist, weil sonst die Gewebe-Fasern brechen würden.


Roter Oktober – der erste Start ins Weltall

Tante Helene Runge, die Mutter von Onkel Hellmut, musste ja leider schon vor längerer Zeit in das Pflegeheim. Ich besuche sie dort von Zeit zu Zeit. Es ist das erste Haus der Holzmarktstraße auf dieser Straßenseite. Seit dem Kriegsende beginnt die Straße auf dieser Seite mit der Haus-Nr. 5. –

Das Zimmer in dem Tante Helene wohnt, liegt im Hochparterre gleich neben dem Eingang.

Ich erzähle ihr von dem ersten künstlichem Weltraumflugkörper der modernen Menschheit, „Sputnik 1“, der seit dem 4. Oktober die Erde umkreist und bringe ihr auch ein Bild aus der Zeitung mit. Sie kann es kaum glauben, dass es so einen „Spudding“ gibt, wie sie es leichter auszusprechen vermag. Ach, so 'was wie ein ganz kleiner selbst gemachter Mond?

Der Satellit, der in einer Rakete steckend von Baikonur aus gestartet wurde, ist eine auf Hochglanz polierte Kugel aus 2 mm dickem Aluminium-Blech, 84 kg schwer, bei einem Durchmesser von etwa 58 cm. Diese Kugel trägt vier Antennen mit Längen von 2,4 bis 2,9 Metern. Ihr Inhalt besteht aus Stickstoff, Funksendern die einen Piepton abgeben, Batterien und vielleicht weiteren gewichtigen Bauteilen, die ja nicht gleich bekannt gegeben werden müssen. Die maximale Geschwindigkeit des Begleiters der Erde beträgt 29.000 km je Stunde. Für eine Erdumrundung benötigt der Satellit etwa 96 Minuten, wenn ihm nichts in den Weg kommt.

Die Sowjetunion hat also den Wettlauf, wer das Weltall als erster erreichen und dort einen künstlichen Erdtrabanten aussetzen wird, gegen die USA mit mehr als einem Jahr Vorsprung gewonnen. Das scheint „im Kalten Krieg“ unheimlich wichtig zu sein. Ein Schock für die Weltraumexperten der USA. –

Vom Pflegeheim sind es nur wenige Schritte bis zum Straßenbahndepot. Ein schöner Anblick, wenn morgens dort die Straßenbahnen nebeneinander aufgereiht zur Ausfahrt bereitstehen. Ich mache also ab und zu auch Kombinationsbesuche.


Meine Tante Käte bekommt zu ihrem Geburtstag ganz neues Geld –

verschiedene Leute sind darüber wie vom Blitz getroffen.

Heute sind wir am Nachmittag bei Tante Käte. An diesem Tag wurde sie geboren. Allerdings 1897. Es ist also ein schöner runder Geburtstag, etwa so, wie die Torte sein wird. – Ich kenne ihre junge Mamá nur vom Bild – das ist schon lange her. Auf jenem Foto sieht sie überhaupt nicht wie (m)eine Großmutter aus.

Außerdem findet heute, am 13. Oktober 1957 die „Aktion Blitz“ unserer Regierung statt. Das gute Papiergeld aus dem Jahre 1948 wurde zu alt. Es wird schlagartig ungültig. Es ist umzutauschen in ganz neues unzerknittertes Geld. Das wurde gestern angekündigt und heute zwischen 12.00 und 22.00 Uhr kann man umtauschen. Man muss nicht. Möglich ist das bis zu einem Barvermögen von 300,-- DM (Deutsche Mark der DDR). Och, Reichtum! Besitzt jemand mehr, so kann er sich melden und diesen Altbarbestand heute auf sein Konto einzahlen, um von den „Staatsorganen“ prüfen zu lassen, aus welcher – doch hoffentlich rechtmäßigen – Quelle es stammen könnte. Viele ärmere Leute finden binnen weniger Stunden viele Freunde, die ihnen vertrauensvoll für wenige Stunden ihre Sparstrumpf-Inhalte anbieten, zum Umtausch mitgeben, ja geradezu aufdrängen wollen. Das ist verständlich. Zu arge Höhenunterschiede der Barschaft könnte man ein wenig nivellieren. Insgesamt werden aber größere Verluste in der Bevölkerung vermutet und von der Regierung gern hingenommen. Die neuen Scheine sind schon älter. Sie tragen als Druck- bzw. Ausgabezeitraum die Jahreszahl 1955. Aha, da hat sich bei langer Vorbereitung die Ausgabe ein wenig verzögert.

Bloß gut, dass meine Eltern unsere schöne Waschmaschine schon vorher gekauft hatten. Sonst hätten hier im Schrank ja weit über 300,- Deutsche Mark gelegen, liegen müssen. Wie hätten sie dann bloß nachweisen sollen wie lange schon, aus welchen Gründen, zu welchem wirklichen Zweck und aus welcher Herkunft dieser bar angehäufte Betrag stammt? Na? Hinterher ist alles einfacher. Da hat man ja den Kauf-Kassenzettel als Quittung. Aber nach diesem fragt ja niemand.


Verschiedenes aus diesem Jahr

Unser Kinderzimmer hat eine kalte Außenwand zum Treppenhaus. Deshalb ist sie von innen (unter der Tapete) mit einer Korkschicht versehen, damit die Wärme besser im Raum gehalten wird. Das ist praktisch für unsere innerfamiliäre „Wandzeitungsgestaltung“. Es hängen dort Schauspielerbilder, die meine Schwester aus Illustrierten ergattern konnte. Darunter auch die italienische Schauspielerin Gina Lollobridgida, die jetzt am 4. Juli zwar schon 30 Jahre alt wird – aber immerhin. Sie spielte in „Die Schönen der Nacht“ und „Der Glöckner von Notre Dame“. Nein, nicht den Glöckner Quasimodo. Auch Conny Froboess und Peter Kraus hängen dort an unserer Wand. Sie in roter Bluse, er mit blauem Hemd. Rücken an Rücken. Die Bilder sind untergebracht auf unterschiedlichen geometrischen Flächen, deren Begrenzungen mit Rohrkolbenstängeln realisiert wurden. Natürlich sind auch die Kolben (genannt: Bumskeulen oder Schmackeduzien) noch dran. Wir haben sie mit „Fixativ“ behandelt, weil sie sonst „ausflocken“, was sehr staubend ist.


Wir halten uns auch mal im Palast auf.

Die Firma der Eltern verkauft neben den Karten für die Theater auch Karten für das Varieté, für den Friedrichstadtpalast in Berlin. Und nicht nur die Karten, sondern auch die bebilderten Programme. Die duften schon nach besonderen Druckfarben auf dem neuen Hochglanzpapier. Manchmal. Und eine Artistin, ach sieht die süß aus. Schon auf dem Foto und dann begab es sich gerade zu dieser Zeit, dass wir eine Vorstellung in der sie auftrat, besuchen durften. Ich war hin und weg – so ein besonders „kameradschaftlich wirkenderTyp“. In der gleichen Veranstaltung hatte Nicole Felix aus Paris „Ciao, ciao Bambina“ dargeboten – aber davon bekam ich dann nicht mehr ganz so viel mit.


Von diesen Jahr an besuche ich an jedem zweiten Sonnabend die evangelische Jungschar im Hofgebäude der Karl-Liebknecht-Straße 23, oder wie Mutti immer noch sagt: In der Priester-18 – das ist exakt das gleiche Haus. Das ist recht inhaltsreich und schön. Wir singen Lieder und hören Geschichten. Es treffen sich bis zu 200 Jungen im Saal. Erst später werde ich wissen, dass dieses Grundstück seit etwa 1761 im Besitz unserer Verwandtschaft war, bevor es an die Kirche überging.


Kleine Unstimmigkeit in der Schule: Siegbert erwähnt im Deutschunterricht beiläufig in einer sonst richtigen Antwort einen völlig falschen Begriff: die „Russen“. Sofort wird er etwas geschärft zurechtgewiesen. Künftig wird er sich des Wortes: die „Sowjetmenschen“ bedienen. Im Russischunterricht erwähnt ein Schüler vorsichtshalber, dass wir die sowjetische Sprache erlernen. Da kann der Lehrer nur verständnislos mit dem Kopf schütteln: Sowjetische Sprache ist blanker Unsinn. So etwas gibt es nicht. Wir lernen Russisch! – Das Leben stellt hohe Anforderungen an uns.


Von der Schule aus, also zum Schulunterricht gehörend, sahen wir irgendwann die Filmwerke


Wenn der Haarwirbel nicht liegen will oder eine Enten-Frisur gestaltet werden soll oder eine nach vorn gedrückte „Tolle“, so wie bei Bill Haley), gab es früher „Brillantine“, eine „Pomade“ (na ihh}. Heutzutage heißt unser Erzeugnis „Glätt“, die grün bedruckte Tube für normales Haar, die braune Variante für fettiges Haar. Auch gibt es „Fixativ“ für den gleichen Zweck aber nicht fettend. So etwas benutzen gern Verkäuferinnen für Fleisch- und Backwaren, die sich mit Haarnetz nicht chic oder schick genug finden, als Ausrede und als „flüssiges Haarnetz“.


Dezember

Zu Weihnachten bekommen wir von den Eltern einen Dia-Projektor, auch gern genannt „Bildwerfer“, namens „Laterna Magica“ von der Fa. Karl Pouva aus Freital bei Dresden und einige ganz bezaubernd gezeichnete Märchenfilme von „ASCOP“. Filme sind in diesem Falle Dias auf Filmmaterial. Stehende Einzelbilder, eben wie im Bilderbuch aber leuchtend und groß an der Wand zu sehen. Das ist 'was! So prächtig hätte ich das mit meinem Heimkino ja nie hinbekommen. Dagegen verblassen natürlich meine ersten schlichten Zeichnungen – und ohne dass ich darüber etwa eifersüchtig werde oder mich in Trauer kehre, schließe ich die Bearbeitung meiner Sommer-Idee, meinen kleinen Bruder mit einem selbstgestalteten Heimkino zu erfreuen, einfach ab. Baue es ab, zerlege es. Es ist eben einfach alles schön und gut – so wie es nun ist.


1958 – ich bin jetzt 12 Jahre alt. 6. / 7. Schuljahr

Januar – Hartung – Jänner

Es ist sehr kalt. Es liegt viel Schnee. Und unsere Volkswirtschaft kann es nicht anders, als eine Pause bei der Versorgung mit dem schwarzen Gold einzulegen, denn die Braunkohlen-Tagebaue bei Cottbus und Leipzig sind auch eingefroren.

Von Hartwig habe ich ein paar Schlittschuhe geerbt, die ich jetzt probeweise unter meine Skistiefel schnalle. Vorne mit Lederriemen zu befestigen, hinten mit Zwinge und scharfen Klemmbacken, die sich seitlich in die Stiefelabsätze einkrallen, wenn sie mit der Kurbel festgezogen werden. Er hatte mich gewarnt – es seien die alten „Hackenabreißer“ und noch ohne Hohlschliff. Na ja, ein paar Mal habe ich das wacklige Laufen an der Horstbrücke auf den überschwemmten Nuthewiesen geübt, dort wo später das Neubaugebiet „Schlaatz“ entstehen wird. Davon aber ahnen wir noch nichts. –

In der Winterzeit wird die schwarze, wärmespendende Kohle knapp. Zuhause haben wir die hoch veredelten Briketts namens „Record“, in der Schule unter dem Schnee die Haufen aus Klumpen gefrorener Rohbraunkohle. Bei der Anlieferung im Sommer waren es Riesenhaufen, die einen Teil des Schulhofes einnahmen und nun ist es nur noch ein Häufchen, mit Regenwasser vollgesaugt oder vollgesogen aber nun gefroren, ein Rest, der täglich „weiter schmilzt“. Dass der Hausmeister diese „Blumenerde“ überhaupt noch zum Anbrennen bekommt – darf als achtes Weltwunder gelten. Aber so geht es eben nicht weiter. Die Schule fällt aus und wir holen uns an jedem der Tage nur noch die Hausaufgaben von der Schule und geben unsere Selbststudienergebnisse des Vortages ab. Auch nicht schlecht. Es grämt uns nicht wirklich.


Unserem Haus etwa gegenüber in der Siemensstraße 1, hat Herr Fritz Jahn sein immer noch privates Fuhrunternehmen. Er betreibt es mit Vorkriegs-Traktoren der Firma Lanz-Bulldog und mehreren Anhängern. Morgens dauert es bei der Kälte länger als gewöhnlich, wenn er die Diesel-Motoren von außen mit den feurig fauchenden Lötlampen eine Weile vorheizt bis das ebenfalls vorgewärmte Dieselöl zündwillig auf die Glühkopfkerzen reagiert, wenn die Kurbelwelle und die Kolben mit der Handkurbel in erste Bewegungen versetzt werden, die Ungetüme dann losbullern und bereit sind, die Anhänger hinter sich her zu ziehen.


Brennstoffprobleme gibt es auch mit manchem Lkw. Vor unserem Haus steht gerade einer mit „Panne“. Der Besitzer hatte sich von der knappen Benzin-Versorgung störfrei machen wollen und hat auf der Ladefläche den Holzgaserzeuger installiert. Irgendwie ging aber auch ihm sein Brennstoff-Vorrat und der Ofen aus. Dagegen hilft überhaupt kein Jammern. Nun muss er Anwohner erstmal um Holz bitten und vielleicht eine Runde hacken, bis seine Anlage wieder in Schwung kommt.


Wir selber heizen ziemlich gleichmäßig auf „Sparflamme“ und kommen so gut durch den Winter.


Alle Schüler sollen ein neues Antlitz bekommen

Im Februar ordnet die Regierung an: „Wir stehen am Beginn der Entwicklung von der bisherigen demokratischen Schule, zu der künftigen sozialistischen Schule. Das bedeutet: auch der Schüler will künftig nunmehr das tun, was er tun soll“.


Da liegt Musike drin!

Hurra! Wir haben wieder einen neuen Musiklehrer. Ein junger, mit dunklem gewellten Haar. Er kam jetzt gradwegs aus Thüringen hierher gezogen, mit Gitarre und folkloristisch geblümt besticktem Umhängeband für das Instrument. In diesem Jahr haben wir den Musikunterricht oben in dem Raum im Dachgeschoss, zu dem die eiserne „Feuer-Treppe“ führt. Wir finden schnell miteinander einen guten Kontakt. Unser neuer sehr freundlicher Lehrer textet und komponiert selber. Er singt uns seine neuen Lieder vor und begleitet dabei seinen Gesang mit seiner Gitarre. Nach ein-, zweimal Zuhören versuchen wir es, seine Lieder mitzusingen. Hier eine „Kostprobe“:



Kennt ihr Tante Emma mit dem blanken Klemmer?

Wenn die in die Tasten haut, alle Welt verwundert schaut.

Singt der Sänger tief und schwer, summt sie leise hinterher.

Ja, das klingt, und ein Jeder gerne singt:

Tante Emma, du Seele vom Abend, dich zu sehen das ist so erlabend.

Dich zu hören, dass ist ein Genuss. Ach, Tante Emma, du kriegst einen Kuss.“



(so oder sehr ähnlich war der Text).

Wir hören und singen aber auch das Lied bei ihm:



Ein Rollmops namens Bubi schneuzt, vor Heimweh nach der See.

Per Pitty* rast er los und kreuzt die Hauptstadt an der Spree.

Am Alex, Alex, Alex, ja da ist Kreisverkehr und weil er das nicht weiß,

so fährt der Arme statt zum Meer, seit Wochen schon im Kreis.“


* ein Motorroller aus Ludwigsfelde Text und Musik: Richard Hambach



Ich gestehe es: Der Name dieses freundlichen Musiklehrers ist meinem Gedächtnis entfallen. Das gilt schon als etwas ungewöhnlich, doch ich finde eine leichte Erklärung für diesen schwerwiegenden Umstand: Er weilte leider nur sehr kurze Zeit bei uns und ging dann auch – fuhr also erst mal ein Stückchen in Richtung Nordosten nach Berlin, also in den Westen. Ich glaube mit großer Sicherheit sagen zu dürfen, dass viele Lehrer und auch Vertreter anderer Berufszweige, völlig egal welcher politischen Partei, hier eine Anstellung aufnahmen, nur um eine aktuelle Wohnanschrift der Berliner Umgebung in den Personalausweis zu bekommen. Es ist so, dass man als Potsdamer nach Ost-Berlin zwangsläufig durch West-Berlin fahren muss. (Das wird sich erst in ein paar Jahren ändern). Für jemanden, der in seinem Ausweis beispielsweise aber Rostock oder Erfurt als Wohn-Anschrift stehen hat, ist dies bei der Ausweiskontrolle im Zug an der Zonen-Grenze bereits recht verdächtig und hätte zur zwangsweisen Fahrtunterbrechung mit der „Klärung eines Sachverhaltes“ führen können. Ja, hätte unser Musiker länger hier verweilt, hätte ich seinen Namen nicht vergessen und mehr Lieder von ihm präsentiert. So aber ... Vielleicht lesen ja seine Kinder oder Enkel meinen Bericht und melden sich mal hier nahe seiner alten Wirkungsstätte.


Wir machen Kino

Im März sind wir bei der DEFA die großen Akteure. Dazu wurde unsere Schulklasse von den Filmleuten ausgewählt. Gedreht wird der Film „Der Lotterieschwede“. Das wird ein Filmwerk der Erich-Albrecht-Produktion. Die Regie führt Joachim Kunert, die Kamera hält Otto Merz und für die Bauten trägt Gerhard Helwig die Verantwortung. Gedreht wird der Film in einem Steinbruch, am Strand von Kap Arkona auf Rügen, in der Stadt (Krämerladen und Gaststätte) und natürlich in den Studios – „im Tonkreuz“ in dem wir jetzt gerade stehen. Geplant sind 60 Drehtage (30 für Innen-, 30 für Außenaufnahmen), zwischen dem 29. Januar und dem 30. April 1958. Also für uns aber nur ein Tag so am Rande des Geschehens. Zu den Schauspieler-Stars, also zu gut deutsch: den Sternen am Filmhimmel, gehören Erwin Geschonneck, Sonja Suttner und Günter Simon aber auch viele andere ... auch Kinder und Tiere als Kleindarsteller. Ich weiß das so genau, weil mein Vater die Entwürfe der Drehpläne zu den Filmen sauber schreibt und vervielfältigend lichtpaust. Er schreibt also nicht die Drehbücher, sondern die Pläne, die Anweisungen ab, was, wo und mit wem an jedem der Tage gefilmt wird.

Die DEFA suchte für den Film einen Chor jugendlicher Bergleute, der das Lied „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt“ singen kann. Wieso man bei der Suche ausgerechnet auf unsere Schule, auf unsere Klasse kam? Egal – ich könnte mir vieles denken aber eine wirklich zutreffende Antwort hierauf weiß ich nicht. Wichtig ist, dass die DEFA -Leute den Reiseaufwand für einen echten erzgebirgischen Bergmann-Chor in richtiger Bergmanns-Festkleidung scheute und sparte. Sonst hätten sie nach Freiberg, Herzogenrath, Zwickau, Sonneberg oder sonst wohin fahren müssen.

Die Sache mit unserer fehlenden Bergmanns-Festkleidung war für den Film auch nicht schlimm, war kein Problem, denn wir Menschen wurden ja nicht gefilmt, sondern nur unsere Stimmen. Wurde auch sonst im Musikunterricht leider viel Unsinn gemacht, das Fach nicht so ernst genommen, hier konnten wir es plötzlich hinreichend – das Einstudieren nach dem Gehör. Noten hätten wir nur verständnislos angeschaut, denn wegen des häufigen Lehrerwechsels (Republikflucht und andere Gründe) wurden uns keine Noten gelehrt. Lediglich Jörg-Peter wurde bei den Übungen von der Regie als Brummer ausgesondert (einen Bass hätten sie noch gerne akzeptiert). Und es lief ansonsten ganz gut. Herr Donath, unser Lehrer, hat uns begleitet, umsichtig geleitet. Wir haben für diesen Tag schulfrei bekommen. Aber wir hatten nicht viel davon, denn mit dem Üben und den wiederholten Aufnahmen war der Schultag mehr als verbraucht. Immerhin haben wir einen Beitrag für unsere Klassenkasse bekommen. Die DEFA war da nicht zimperlich und auch nicht so geizig wie bei den echten Bergleuten. Nur – habe ich diesen Film mit unseren schönen Stimmen niemals gesehen. Vielleicht sollte ich mal ins Archiv. Für diesem Film, der nach der Novelle von Martin Andersen Nexö im Jahre 1880 spielt, hat man als Ort – als Land der Handlung, wohl Schweden ausgewählt. Es geht darum: Ein Steinbrucharbeiter hat mit seiner Familie ein sehr hartes, karges, ein armes Leben. Man kann nicht davon reden, dass es arm+selig gewesen sei. Von seinem Lohn erwirbt er jedesmal ein Lotterie-Los, um das Leben etwas zu verbessern. Er hofft stets erneut auf einen Gewinn, der aber nicht eintrifft. Wir hätten ihm mehr „Glück auf“ gewünscht. Vor Kummer gibt er auch noch Geld in der Kneipe aus, um diesen Gram zu ersäufen. Und er setzt dann auch auf das Würfelspiel, doch er verliert wiederum, bis sein Geld völlig alle ist. So gibt er dabei als Pfand sein letztes Los her – das Letzte was er besaß – und einige Tage später gewinnt dieses Los eine große Summe Geldes – aber das Los gehörte ja nicht mehr ihm. Er sieht keinen Ausweg mehr und nimmt sich das Leben. Seiner Familie hilft das allerdings überhaupt nicht. Erst sein Sohn wird erkennen, dass das Glücksspiel keine Lösung für die täglichen Probleme ist ..., dass nur die Arbeiterklasse gemeinsam einen erfolgreichen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, gegen menschenunwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen führen kann. – Ja und wir also in diesem problembeladenen Stück mit dem Bergmannslied irgendwo dazwischen.


Ansonsten sehen wir in diesem Jahr den Kino-Farbfilm „Unternehmen Xarifa“, eine spannende Meeres-Tauchexpedition von und mit Hans und Marianne Hass. Sie sind aber sehr freundlich.

Nicht vergessen werden darf der schöne Film „Das Wirtshaus im Spessart“ nach der Geschichte von Wilhelm Hauff. In der Oberhauptrolle: Schon wieder Liselotte Pulver aus den Schweizer Bergen.


Wir begehen einen Geburtstag – der Flatow-Turm im Park Babelsberg wird 100 Jahre alt!

Der Flatow-Turm im Babelsberger Park ist ruinös, obwohl er für ein Haus noch nicht so sehr alt ist. Die eigentliche Tür ist zugemauert. Im Turm war ich heute mit Hartwig drin, weil die Abenteuerlust, also schon Größerer vor uns, dort zu sehr und erfolgreich löchernd an die zugemauerte Tür geklopft hatte. Wir haben im Interesse der äußeren Sicherheit dafür die Zeit der Dämmerung abgewartet. Das war etwas unheimlich, da die steinerne Wendeltreppe wegen des auf den Stufen liegenden Bauschutts eigentlich fast schon eine „spiralige geneigte Ebene“ darstellt und es stets an den offenen Fenstern vorbei geht, durch die der Wind pfeift. Wir besichtigen alles, was es da an Verwahrlosung und Zerstörung zu sehen gibt. Einzig, der Ausblick würde sich lohnen ... wenn es hell genug gewesen wäre. War es aber nicht. Wohlbehalten kommen wir später am Ende dieses windigen Kriminalstücks wieder unten an. Zu unserem Glück hat in der Zwischenzeit unten niemand den engen Zugang erneut zugemauert, sonst hätte ich diesen Bericht nicht mehr schreiben können. Mit kalten Händen, eingestaubt, mit neuen Eindrücken vom Heimatkunde-Unterricht der anderen Art, geht es nach Hause. Als der Turm ganz neu, noch unfertig war, hat darin unser Vorfahre August Gericke als junger Zimmermann gearbeitet und seinen schrecklichen Absturz-Unfall erlitten, ja, der Großvater von dem Gericke, in dessen Tischlerei ich den kleinen Bilderrahmen bastelte. Seinen Namen hat der Flatow-Turm nur daher, weil die hellgelben Steine von den Prinzengütern Flatow und Krojanke stammten, die heute in der Volksrepublik Polen liegen.

Ich erwähne das nur, weil ein Mitschüler von mir immer „Flatterturm“ sagt und gar nicht weiß, warum er es so sagt – und die wahre Bedeutung nicht kennt.

Die armen Pferde, die die überschweren steinbeladenen Wagen bis hierher ziehen mussten – als wenn es hier bei uns nicht auch genügend Ton- und Lehmgruben gäbe ... aber die Regierenden werden sich schon irgendetwas dabei gedacht haben, sagt man immer wieder.


Die dem Turm benachbarte Gerichtslaube: Gern möchte ich ins Obergeschoss, aber die eiserne Wendeltreppe ist ja vorsichtshalber abmontiert und der „olle Kaak“ über dem Prangerpfeiler grinst bloß blöd über diesen meinen Herzenswunsch. Später träume ich davon – ungeachtet der schwierigen Wasser- und Energieversorgungsprobleme, – dort droben zu wohnen. Romantik pur.


Nähers auch zu diesen Bauten: Flatow-Turm und Gerichtslaube auf der gleichen Internetseite in der Rubrik „Ortsgeschichte“ => „Park Babelsberg“.


Ein fröhlicher Nachsatz: Beide Gebäude – Turm und Laube werden nach der „Politischen Wende 1989“ wieder sehr fein herausgeputzt, grundlegend saniert, sehen wie neu aus! ... und bei weitem nicht nur diese Bauten. Ein Besuch kann sich sehr lohnen!


1. Mai, Kampf- und Feiertag aller Werktätigen

Zum Festtag sind Ideen gefragt. Einige Schüler fertigen eine Wandzeitung, andere schmücken die Fenster des Klassenraumes. Harald und ich, wir geben die Verpflichtung ab, ein größeres, prächtiges Demonstrations-Transparent mit Sinnspruch anzufertigen und dieses bei der machtvollen Demonstration zu tragen. Wir reichen wir diesen Vorschlag als Ehrenaufgabe ein, den wir auch mit Bestätigung gleich rück-übertragen bekommen. Fahnen und Transparente trägt ja, weil unhandlich, eigentlich niemand sehr gerne kilometerweit, da sie zwangsläufig die Eigenheit aufweisen, einen zügigen Heimweg zu erschweren. Eine zweckmäßige angemessene Gestaltung lag nun aber in unseren zuverlässigen Händen. Wir sind unseres Glückes eigene Schmiede. Und gelungene eigene Schöpfungen trägt man doch sowieso eher gerne mal zur Schau.

Zuerst beschaffte ich geeignete Holzlatten von Herrn Paulus Fischer und seiner Frau Christa, Fa. Leisten-Fischer, für ein nicht allzu großes Transparent. Dorthin gehe ich nicht zu häufig aber sehr gerne einkaufen. Das Ganze wird ein flächiges Gestell mit senkrechten Handhaltestangen. Diese sind mit Flügelschrauben so gestaltet, dass man das Ganze nach Gebrauch des Transplakates sehr transportfreundlich zusammenklappen kann, die Flächenausdehnung „also nicht ausufernd, sondern sozial verträglich“ ist. Das langgestreckte Lattenrechteck wurde mit Zeichenkarton bezogen, auf dem ein unkonventionell fröhlicher Gruß-Spruch aus eigener Handarbeit Platz fand.

Der Haupt-Clou unseres Gerätes besteht aber darin, dass wir den Holz-Rahmen des Spruchbandes mit vielen kleinen farbigen Lämpchen in Porzellanfassungen aus dem Erbgut meines mütterlichen Elektro-Techniker-Großvaters Max Sommer versehen, die unser Spruchwerk gleichsam leuchtend einrahmen. Die Batterien mit Schalter befinden sich an den beiden Tragestangen.

Besonders heroische oder markige Sprüche werden ja vom Tribünensprecher beim Defilee an der Tribüne über Mikrofon und Lautsprecher abgelesen, quasi vom „Herold“ ausgerufen. Gewohnter Weise waren über die „Presse“, in den Zeitungen, vorher eine größere Anzahl liebsamer Losungen beispielhaft vorgegeben, die dann gebetsmühlenartig auf den Transparenten und über den Lautsprecher ständig wiederholt wurden – wir rangen und mühten uns dagegen vorher erfolgreich um eigene Worte für unser Spruchband. Unser Spruch war beim Vorlesen über den Lautsprecher dann nicht dabei. Vom Sprecher wird auch manch wichtiger Berufsstand und Betriebsname der vorbei schreitenden werktätigen Massen angesprochen, wie auch immer wieder die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion besiegelt. Eine unzerbrechliche Freundschaft scheint mir derzeitig noch eingängiger und es drängte sich mir in abschweifender Weise der Gedanke an den unverbrüchlichen Kunststoff „Bakelit“ auf.–

Wauuu, det hat ja 'n Würker jemacht“, hörten wir anschließend von Klassenkameraden als Anerkennung – das schönste Lob für uns. Es gab wohl keine zweite beleuchtete machtvolle Kampflosung an diesem Mai-Feiertag in Potsdam, wahrscheinlich auch in der gesamten Republik nur einmalig, denke ich. Während des Bauens war das Ganze im halbdunklen Keller wirklich wunderschön feierlich leuchtend. Leider aber fand die Haupt-Kampfdemonstration für Frieden und Sozialismus auch in diesem Jahr wieder am Tage statt. In den Augenblicken, an denen die Sonne schien, wird man von Weitem von der Gesamtpracht unserer Beleuchtung also nicht alles erkannt haben aber uns blieb das erhebende Gefühl wieder etwas Gutes für den weiteren Aufbau der Republik, zumindest für „das Ansehen“ vollbracht zu haben. Die Mühe hatte indessen eine kurze Lebensdauer. Den Vergleich mit einer Eintagsfliege brauchen wir aber nicht zu scheuen. Das wieder zerlegte Material hat noch einigen weiteren guten Zwecken gedient.


Lebensmittelkarten adé – das tut nicht weh. Habt nur Mut, uns geht es allen so sehr gut.

Ende des Monats Mai geht es der Bevölkerung so gut, dass die Lebensmittel-Rationierungskarten abgeschafft werden. Jetzt ist es so, dass für ausgewählte Lebensmittel das „Anschreiben“ in der Stammverkaufsstelle eingeführt wird. Die Verkäuferin muss also eine irrsinnig lange Namens-Liste aller ihrer Kunden führen und in dieser vermerken, was die einzelne Familie einkaufte und darauf achten, dass je Zeiteinheit nicht mehr als zulässig ge- und verkauft wurde. Jeder Einkauf dauert und dauert ... Der Einkaufende erhält den Artikel aber auch nur in seiner Stamm-Verkaufsstelle – eben dort, wo sein Name in der Liste steht, eingetragen unter Vorlage des Personalausweises.

Zu den Mangel-Lebensmitteln gehören: Zucker, Butter, Milch, Fisch und Fleisch.


Schwimmende Probleme

Ein, zwei Tage nach unserer Prüfung des Fahrten-Schwimmens ist nun auch unser Sportlehrer in den Westen gefahren und lieber nicht zurück gekehrt. Diesen Umstand hatte ich an anderer Stelle (ein Zeitvorgriff im Jahre 1955) bereits kurz erwähnt.

Vorher waren die Doppelzeugnisblätter (DIN A 4, Querformat, links das Freischwimmer-Zeugnis, rechts der noch freie Vordruck für den Fahrtenschwimmer-Eintrag) eingesammelt worden.

Unsere Zeugnisse finden sich aber nicht in der Schule. Es mögen für zwei Klassen etwa 50 bis 60 Dokumente sein. Vielleicht warten sie im verlassenen Zuhause des Herrn Freydank? Die Staatssicherheit und die Volkspolizei (also unsere Freunde und Helfer) prüfen auch diese Wohnung gründlich und veranlassen die Auflösung des Wohninhalts. Aber es würde selbstverständlich nicht zu ihren Aufgaben gehören, Massen gültiger Zeugnisse an junge Schüler zu verteilen oder an deren Schule zu geben. Andererseits sollte man dem flüchtigen Lehrer nicht die Vermutung anlasten, dass er auf seiner Flucht mit kleiner Aktentasche etwa ein halbes Hundert Schülerzeugnisse mit in den Westen geschmuggelt habe. Naheliegend wäre dagegen, dass Herr Freydank unsere Zeugnisse an den VEB Badeanstalten, in der Hegelallee (im „Werner-Alfred-Bad“) zum Eintragen der bestandenen Prüfung abgegeben hatte, so dass sie von dort nur noch von einem Lehrer oder anderem Beauftragten zurückgeholt werden brauchten.

So etwas wie meine komischen Gedanken gehört allerdings nicht zum aktuell politischen Interesse im Lehrkörper-Wirrwarr, im Zeitrahmen dieser offiziell verbrecherischen, für uns aber eher alltäglichen Republikflucht und deren „wissenschaftlicher Auswertung und Aufarbeitung“– es gibt jetzt wohl weitaus Wichtigeres zu bedenken.

So sind unsere Freischwimmer-Zeugnisse fort, gelten als für immer verloren und die neuen Fahrtenschwimmer-Zeugnisse haben wir ebenfalls nicht erhalten. Wir dürfen dieses Thema vergessen. Diese sehr eigenartige Verfahrensweise unserer unmittelbaren Oberen, unserer leuchtenden Vorbilder, bedrückt mich bald nicht mehr, ist diese doch nicht untypisch. Aber vergesslich bin ich eben auch nicht. Und dafür bin ich dankbar.

Es geht auf und ab in der Gefühlswelt:


Schon wieder: Drei herrliche Wochen des Aufenthalts in einem Kindererholungsheim.

Diesmal: Schellerhau im Ost-Erzgebirge, 05. Juni bis 25. Juni 1958

Die maßgeblichen der Beschäftigten in der Kinder- und Jugendfürsorge in Potsdam-Babelsberg hatten bei der ärztlichen Untersuchung empfohlen, dass ich besser erneut in ein Kindererholungs-heim fahren solle. Alle Jahre wieder hatten sie so ein ähnliches Empfinden. Immer wieder gibt es an mir 'was auszusetzen. Ist das nicht toll? Der Zeitraum liegt in der Schulzeit vor den Großen Ferien. Deshalb bin ich auf dem Klassen-Foto vom Ende des Schuljahres wieder nicht zu sehen. Anschließend werde ich entweder „für die Schule“ oder für mein Leben etwas nachzuarbeiten haben – das aber wird so aufwendig nicht sein. Es sind ja dann die Kern-Aufgaben; nicht die gesamte lange Unterrichtszeit. Die Vorfreude auf die verlängerten Großen Ferien überwiegt schon deshalb natürlich. Es soll „wegen des verordneten milden Reizklimas“ in das östliche Erzgebirge gehen. Fein. Dort war ich bisher noch nie.

Wir sammeln uns zur gemeinsamen Abfahrt in Berlin. Wir, das sind einige Jungen, wohl aus den Bezirken Rostock, Schwerin und Potsdam. Mit dem Zug fahren wir vorerst nach Dresden = Dräsdn und etwas darüber hinaus. In Freital steigen wir mit vielen anderen Kindern, die im Raum Leipzig = Leipzsch zu Hause sind, in einen kleineren Zug, der uns nach Kipsdorf bringt. Es ist eine Kleinbahn mit einer Spurweite von 750 mm, wie man sie beispielsweise ebenso im Harz-Gebirge findet oder auch an der Ostsee zwischen Bad Doberan und Heiligendamm. Von hier an, also von Kipsdorf aus, brauchen wir nicht mehr auf unseren Koffer aufpassen, denn ein Pferdefuhrwerk mit zwei sehr treu aussehenden Braunen, schleppt diese Last bis zu unserem Ziel. Wir Kinder aber rollen von Kipsdorf aus die letzten sechs Kilometer mit dem Bus über die Landstraße nach Schellerhau. Bis vor die Haustür. Insgesamt wieder eine weite Reise.


Anmerkung:

Ihr, die Leser dieser Zeilen, begleitet mich nun durch jene drei Wochen des Erholens vom Alltag, indem ihr mal so in meine Notizen hineinschauen dürft, aus denen ich nach Hause zu meiner Familie denke, meine Erlebnisse zum Teil auch schon aufschreibe. Außerdem besitze ich von Schellerhau und der Umgebung eine Menge an Bildern (die hier, in diesem Dokument, aber nicht zu sehen sind). Nun geht es richtig los:


Liebe Eltern, liebe Geschwister und lieber Struppi (spitze bitte sehr schön Deine Terrier-Ohren)!


Mittwoch, 05. Juni. Reise und Ankunft.

Unsere Fahrt hierher nach Schellerhau verlief gut. Der Bus hielt in der Dorfstraße vor einem weißen Gebäude mit der Hausnummer 38. Das Oberteil des Hauses ist aber mit schwarzbraunen Holzbrettern verkleidet, also befindet sich vielleicht ein Fachwerk dahinter versteckt. So ähnlich wie dieses Gebäude, sehen hier viele der Häuser aus. Das Haus steht nahe der Dorfstraße aber wie es scheint, ist es trotzdem recht ruhig. Das also ist unser Erholungsheim.

Der Busfahrer wünscht uns einen guten Aufenthalt und fährt wieder los. Da stehen wir nun in einer Schlange. Die Leiterin des Heimes, Schwester Marie, begrüßt uns recht freundlich. Sie stellt uns alle Erzieherinnen, das Küchenpersonal, die Raumpflegerinnen und den Hausmeister sowie sich selber vor, damit wir uns schnell kennen lernen. Also, sie heißt Frau Marie Badstübner, ist aber weder eine katholische Nonnenschwester noch eine evangelische Diakonisse. Sie läuft „zivil“ daher. Vielleicht hat sie also früher zuerst Krankenschwester gelernt, bevor sie Heimleiterin wurde? Erzählt hat sie es uns noch nicht. Ein bisschen seltsam ist es aber schon: Die höchste Dame sollen wir mit Ehrentitel und ihrem Vornamen anreden, zu den anderen, den jüngeren, die uns also viel näher stehen, müssen wir dagegen Frau oder Frollein sagen und dazu aber deren Nachnamen. Die Erzieherinnen heißen: Fräulein Maiwald I, Fräulein Maiwald II, Frau Münzer und Fräulein Walter. Natürlich erst viel später bekommen wir so nebenbei mit, dass Frau Münzer auch Anita heißt und Fräulein Walter den schönen Vornamen Renate trägt. Im Büro arbeitet Frau Berger, die in unsere Versicherten-Ausweiskarten unter „Diagnose“ einträgt, dass wir hier zur Erholungskur pünktlich eingetroffen sind. Der umsichtige Meister für die Technik des Hauses ist Herr Horst Klammer. Schon sein Name lässt mich vermuten, dass er hier alles fest im Griff hat.


Weil ich schon 12½ Jahre alt bin, werde ich der Gruppe der großen Jungen zugeordnet. In der gleichen Gruppe wie ich sind Bernd, Eberhard, Günter, Hartwig, Henri, Holmer, Jürgen, Karl-Heinz, Karl-Otto, Manfred, Walter und noch einige andere, deren Namen ich mir noch nicht merken konnte. Wir wählen uns im Schlafsaal unsere Betten und packen die Koffer aus. Unsere Erzieherin, also das Fräulein Maiwald I, scheint recht nett zu sein. Ich kann schon sagen, dass uns das Heim gut gefällt. Doch haben wir noch nicht viel erlebt, worüber ich schon berichten könnte.


Donnerstag, 06. Juni:

Gleich heute haben wir eine Schreibstunde, um die Eltern wissen zu lassen, dass wir gut angekommen sind. Es wird auch geprüft, dass keiner nur so tut als ob – denn alle Eltern sollen ja beruhigt sein und auch wir wollen ja gerne Post von zu Hause bekommen. Unser Absender ist ganz einfach, denn das Erholungsheim hat keinen schwierigen Namen – oder richtiger: das Heim hat überhaupt keinen Namen. Niemandem ist dazu 'was hübsches eingefallen und dabei gibt es doch so viele Namen zwischen „A und Z“, wie zum Beispiel „Kinderland“, „Sonnenblume“ oder „Zaunkönigsnest“. Auch „Erster Mai“ oder „Roter Oktober“ werden wohl recht gern genutzt. Nein, unsere Erholungsstätte heißt schlicht und einfach nur „FDGB-Heim“. (Das heißt: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Also, die Frau Münzer schreibt aber als Absender: FDGB-Kindererholungsheim, Schellerhau über Dippoldiswalde, weil das die bekanntere Kreisstadt ist. Und die Post stempelt so: Schellerhau über Kipsdorf, weil das der übliche Postweg ist. Eine Straße sollen wir nicht extra angeben. Die Post käme auch ohne an, so sehr berühmt ist hier das Kindererholungsheim. Aber ich verrate es Euch trotzdem: Das Heim steht auf dem Grundstück Dorfstraße Nr. 38 – und das ist auch die Hauptstraße.

Ein Blick in die von mir geprüfte Zukunft: Ein halbes Jahrhundert später wird das gleiche Grundstück die Hauptstraße 95 sein, obwohl die meisten Häuser noch an der gleichen Stelle stehen. Dieses Haus wird es dann aber auf dem Grund und Boden nicht mehr geben.

Ach, fast hätte ich es vergessen: Wichtig war, dass wir am Vormittag alle auf die Waage kamen – also zwar alle, aber einzeln, nacheinander. Das Gleiche wird sich dann kurz vor der Abfahrt wiederholen. Und dabei kommt für das Heimpersonal das spannende Vergleichen der Zahlen. Daran lesen sie vielleicht ab, ob die Küchenfrauen eine Prämie verdient haben. Die Kinder sind aus verschiedenen gesundheitlichen Gründen hier, doch der Erfolg des Erholens wird dann wohl hauptsächlich mit der Gewichtszunahme bestimmt, denn die schönen Erlebnisse und die frische Luft, lassen sich ja schlechter messen und dem Heimatarzt mitteilen. Doch ich weiß nicht so recht – ich habe auch zu Hause schon ganz gut gegessen. Hoffentlich kann man dann in drei Wochen trotzdem einen schönen Unterschied feststellen. Und wenn nicht – dann darf ich ja vielleicht noch einmal irgendwohin fahren. Wir alle kennen das ja noch deutlich vom Hänsel. Die Hexe wollte ihn im Stall mästen, aber es war auch ihr schon damals ein nur sehr mäßiger Erfolg beschieden – und die Zeit war auch recht kurz, weil ja die gute Gretel ... aber lassen wir das hier mal.

Hinter dem Haus, am Berghang, befindet sich – aber auf einer geraden Fläche – unser Spielplatz.

Am Nachmittag unternehmen wir den ersten Spaziergang in die schöne Umgebung, um ganz tief die frische Erz-Luft dieses Gebirges einzuatmen. Sparsam werde ich von den schönsten Motiven auch einige Bilder mit dem „Pouva-Start“-Fotoapparat knipsen, den ich zum Weihnachtsfest geschenkt bekam. (Psst. Geheim: 16,50 Deutsche Mark der DDR). 12 Stück 6 x 6 cm große Bilder haben auf dem schwarz/weiß-Rollfilm Platz.


Freitag, 07. Juni, unser Tagesablauf:

Morgens nach dem Wecken geht es schnell zum Waschen und Zähneputzen. Fast alle liegen ja zu dieser Stunde bereits munter in den „Startlöchern“. Im Heim haben wir sechs Toiletten. Auf dem Hof am Haus findet dann auch die Morgengymnastik statt.

Dann werden die Betten gemacht und die Zimmer aufgeräumt. Die Betten müssen immer ganz ordentlich aussehen, so dass wir auch mal helfen, damit beim Zimmerdurchgang kein Stirnrunzeln bei unserem Fräulein Maiwald auftritt. Helfen ja – aber nur in unserem Zimmer. Bei den kleineren Jungen, in den anderen Räumen, unterstützen wohl auch mal die Erzieherinnen.

Zum Frühstück gibt es Brot, köstliche Butter in Sternchen-Portionen, oft noch mit „Tautropfen“ drauf, denn vorher waren sie im Wassertopf damit sie nicht zusammenkleben. Dazu verschiedene Marmeladen und Milchkafé (ich schreibe das Wort extra so, damit man sieht, dass nicht etwa teure und aufregende Bohnen dabei sind, sondern vielmehr gesundes Getreide und Malz und so 'was).

Nach dem Zimmerdurchgang geht es dann zum Spielen, zu Spaziergängen oder zu größeren Wanderungen, die bis auf wenige Ausnahmen, so eingeteilt werden, dass wir gegen 12.00 Uhr wieder zurück sind, um uns an den Mittagstisch zu setzen. Das Essen ist recht schmackhaft und reichlich.

Anschließend folgt eine Mittagsruhezeit. Wir müssen nicht unbedingt sehr fest schlafen, uns aber zumindest ruhig ruhend auf oder in den Betten verhalten. Anschließend die Nachmittagsmahlzeit, Vesper genannt, mit Brötchen, Butter und Marmelade. Am Wochenende soll es sogar Kuchen geben.

Zum Abendessen um 18.00 Uhr stehen wir wieder zu zweit nebeneinander angestellt vor der Glastür des Speisesaales. Zur Abendmahlzeit gibt es dann Brot, Butter, Käse und Wurstscheiben verschiedener Sorten und den guten Tee, der bestimmt mit für den Erholungserfolg verantwortlich gemacht wird. Ich vermute, er besteht aus einer Vielzahl von typisch erzgebirgischen Heil- und sonstigen Kräutern.

Wir Großen haben einen Schlafraum für uns. In den Zimmern stehen 6 Betten. In einem Durchgang sind 42 Jungen hier. Es kommen auch viele erholungsbedürftige Mädchen ins Haus, vorsichtshalber aber nie vermischt mit den Jungen, sondern in einem anderen „Durchgang“. Das ist ein bisschen schade. Zwischen dem Zubettgehen und dem Beginn der Nachtruhe um 20.00 Uhr, singt der Chor der Erzieherinnen mit glockenreinen Stimmen auf dem Gang schöne Volkslieder und in dieser Zeit bleiben die Schlafraumtüren geöffnet. Die meisten Lieder, die in diesen Tagen gesungen werden, sind mir vom Elternhaus vertraut. Neu ist für mich das kurze, den Schlaf fördernde Lied:

Das passt auch gerade zu Schellerhau. Die so wahren Worte wurden von dem Romantiker Joseph v. Eichendorff gereimt, der leider in einer nicht sehr friedlichen Zeit lebte. Der es nicht immer so gut hatte wie wir hier.

Auf der Gitarre spielen auch ab und zu Schwester Marie und Frau Münzer.

Das alles zeigt sich recht harmonisch, wie in einer großen, guten Familie. Dann aber, mit dem Beginn der Nachtzeit, muss auch in den Schlafräumen Ruhe herrschen. Es wird darauf streng geachtet, damit sich alle Kinder ausreichend erholen.

Unser Fräulein Maiwald ist tatsächlich ganz toll.


Sonnabend, 08. Juni. Was eigentlich möchte uns der Begriff „Schellerhau“ vermitteln?

Nachdem wir nun das Heim und die nahe Umgebung erkundet haben, kann ich nach Hause schreiben: „Liebe Eltern, hier ist es fein. Es gefällt mir sehr gut. ...“. Wir lernen die Sage kennen, wie der Ort Schellerhau und der Name „Schinderbrücke“ entstanden ist. Also, das war damals so: Eines unguten Tages hatte sich der Teufel mal wieder heftig mit seiner Großmutter gezankt (schuld daran waren in Wirklichkeit wohl meist beide). Da er beim Herumstreiten meist unterlag, weil er noch nicht so erfahren war, reichte ihm das nun endgültig und er wollte lieber weit in die Welt hinaus wandern und irgendwo weit fort von der Großmutter, eine hübsche kleine teuflische Siedlung aufbauen. Immer noch wütend nahm er also einen großen Sack, steckte viele Häuschen und Haisle hinein und schritt damit fürbass durch das Erzgebirge = Arzgeberch. Ihm war allerdings entgangen, dass beim Packen des Sackes ein Stückchen Kohlenglut des Höllenfeuers mit in den Sack hinein geraten war, das im Laufe der Zeit des Wanderns ein Loch in das Sackgewebe gebrannt hatte. Als er nun in die Nähe des heutigen Ortes Schellerhau kam, fielen durch dieses Brandloch nach und nach die Häuser aus seinem Sack heraus, ohne dass der Teufel es merkte. So entstand das sehr lange Dorf Schellerhau. Als sich der Teufel nun dem Flüsschen „Rote Weißeritz“ näherte, merkte er, dass seine geschulterte Bürde immer leichter wurde. Nun erst fiel ihm auf, dass er fast alle Häuser verloren hatte. So nahm er auch das letzte Haus aus dem Sack heraus, warf es auf den Boden und rief erbost: “zum Schinder mit dir“, denn er konnte ja nicht gut sagen „zum Teufel mit dir“, denn der war er ja selber. Und danach wurde die Brücke am Ortsausgang in Richtung Altenberg benannt, die über das Gewässer führt: Die Schinderbrücke. Seither musste dort, weitab von der Dorfmitte, der Schinder (der Tierkörper-Beseitiger, auch Abdecker genannt) leben. Und es ist wohl auch nicht weiter verwunderlich, dass ausgerechnet dort der Geisterweg beginnt, der später sogar noch in den Leichenweg übergeht. Das macht wohl den Leuten, die ihren Urlaub hier verbringen, gute Laune.

Der Teufel aber hatte seine Macht über die Häuschen freiwillig aufgegeben, auf eine richtige Teufelssiedlung verzichtet. Und deshalb lebten seit jener Zeit in Schellerhau auch nur recht brave, rechtschaffene Menschen. Diese waren über lange Zeiträume sehr arme Leit', die ihr karges Brot im Bergbau, mit Fuhrmanns-Leistungen und verschiedenen handwerklichen Tätigkeiten zu verdienen suchten. Heute, in der DDR, ist das alles viel organisierter und reicher und schöner.

Über diese Schinderbrücke führte schon in früherer Zeit die alte Zinnstraße von Altenberg nach Freiberg, auf der die Fuhrwerke das Erz und auch die Holzkohle für die Freiberger Schmelzhütten sowie das Rohmetall zu den Stätten der Weiterverarbeitung transportierten.

Ja, es ist schon wahr – der Teufel hat damals die Häuser unwissentlich sehr unregelmäßig und in größeren Abständen aus dem Sack purzeln lassen. Schellerhau hat heute rund 450 Einwohner und das Dorf ist etwa 4.500 m lang. Das sind weniger als 90 Haisle und diese auf beide Seiten der Hauptstraße und den Matthäusweg nach Bärenfels verteilt. Da will man wirklich nicht direkt von einer Großstadt sprechen. Das braucht auch nicht sein, denn deshalb ist die Luft hier herrlich rein. Bis auf die Winterzeit, wenn die Schornsteine der Kachelöfen rauchen und die Witterung mal ungünstig ist. Dann aber haben die Kinder feine Rodelbahnen. Wir sind jedoch im frühsommerlichen Spätfrühling hier. –

Übrigens, mal ganz was anderes – war von meinen Klassenkameraden inzwischen jemand bei Euch, um die neuen Schul- oder Hausaufgaben und auch das Ergebnis des vorigen Diktates zu bringen? Ich hoffe, es steht eine recht niedrige rote Zahl darunter – aber klein muss sie nicht sein.


Sonntag, 09. Juni. Über Bären, die in Felsen leben.

Heute wanderten wir bei strahlendem Wetter nach Bärenfels. Wir gingen bei der Schellerhauer Kirche hinab ins Tal. Von dort aus nach links den Matthäusweg entlang, wie auf einer Berg- und Talbahn, später ein Stückchen auf der Böhmischen Straße und schon waren wir am Kurpark des Ortes. Dort steht als ein besonderes Schmuckstück seit drei Jahren ein Glockenturm mit Porzellanglocken, den „Glocken des Friedens“. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Turm errichtet. Die 25 weißen Porzellanglocken wurden in Meißen hergestellt. Nur deshalb tragen sie, obwohl es Friedensglocken sind, die gekreuzten Schwerter – als Markenzeichen des Meißener Porzellans. Schon bald nach dem Krieg (1947) kamen die Glocken als Geschenk aus Meißen hierher, als Dank dafür, dass die Bärenfelser Einwohner bei der Reparatur des Meißener Ferienheims namens „Misnia“ sehr unterstützt hatten. (Misnia ist eine Vokabel aus der sehr toten lateinischen Sprache und bedeutet schlicht: Meißen). Damals gab es aber noch keinen Glockenturm, so dass man das Geschenk erstmals acht Jahre später, am Tage der Einweihung, am 18. September 1955, hören konnte – und so ist es auch gut, dass ich nicht einige Jahre früher hierher gekommen bin. An diesem Glockenturm sind zwei Tafeln angebracht. Auf der Tafel links vom Turmfenster steht: „Glocken des Friedens“ und auf der rechten Tafel: „Gestiftet von der Staatlichen Porzellanmanufaktur Meißen – erbaut 1955“.


Diese Glocken können eine ganze Reihe erzgebirgischer Heimatlieder sowie andere Volkslieder spielen. Es handelt sich um eine große und schöne Seltenheit. Es ist so eingerichtet, dass die Glocken oftmals am Tag spielen, denn es geht alles „von ganz alleine“, es muss also kein Glockenist dort sitzen und immer wieder die gleichen Lieder spielen. So etwas habe ich vorher in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Bei uns zu Hause in Potsdam gab es bis zu den letzten Kriegstagen auch ein Glockenspiel im Kirchturm der Garnisonkirche, auf dem vor allem der berühmte Herr Musik-Professor Otto Becker spielte – also arbeitete.


Liebe Eltern: Wenn Ihr Sangesfreudigen die Glockenlieder auch hören könntet, würde Euch „so recht das Herz aufgeh'n“. Natürlich – Ihr wisst es, habe ich fast all' diese Lieder von Euch gelernt und kann sie auswendig. So richtig versteht man die Glocken aber erst, wenn man einige der Lieder in der hier üblichen schönen Mundart hört.


Der Höhenluftkurort Bärenfels ist noch etwas kleiner als Schellerhau. Ungefähr 340 Leute, also die Eltern mit ihren Kindern und auch deren Großeltern, haben hier ihr Zuhause. Der Ort liegt zwischen dem Spitzberg (750 m) und dem Hofehübel (= Hügel, 740 m hoch) im Tal der Roten Weißeritz und wird vom Pöbelbach begleitet.

Bärenfels ist so wie wohl fast jeder Ort hier „Die Perle des Erzgebirges“.

Das Wasser der Roten Weißeritz sieht tatsächlich rötlich aus. Das kommt wohl von dem Abrieb des roten Porphyrgesteins aber die „Wellenkämme“ bleiben trotzdem weißlich aussehend, wenn das Wasser über die Steine springt.

Den Rückweg von Bärenfels nach Schellerhau gingen wir rechts von der Chaussee durch den Wald, hielten uns also zwischen dem Spitzberg und dem Pöbeltal. Da sah man so recht, wie klein wir Menschen eigentlich sind. Nach links war es nicht möglich, bis zur Spitze des steil ansteigenden Berges zu sehen und nach rechts ging es ebenfalls steil hinab, so dass man – wegen der Tiefe – auch nur grün sah, oft den Grund nicht erkennen konnte. Aus dieser Tiefe wachsen kerzengerade die Fichten, vielleicht 30 bis 40 m oder sogar noch höher, zum Licht empor.

Nach unseren Rufen: „Was essen die Studenten?“ oder „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ echote es gut zu uns zurück. Das machte ein Weilchen Spaß.

Am Wegesrand blühen jetzt zum Beispiel weiß-gelbe Margeriten, blaue Glockenblumen, roter Klatschmohn, der Wegerich und der schöne giftige lila Fingerhut. Fräulein Maiwald hat uns belehrt, dass man diesen nicht anfassen oder gar kosten darf – nicht mal, wenn wir damit etwa eine Herzerkrankung heilen wollten. Ja, die Aufklärung für uns scheint vorsichtshalber nötig. Die klugen Tiere des Waldes wissen das dagegen von ganz alleine. Große dicke schöne weißgraue Weinbergschnecken eilten mit ihren Häusern über den Weg. Wir kamen auch an einem Hochsitz der Jäger vorbei, den sie auch „Anstand“ nennen. Ich weiß ja nicht, was es mit Anstand zu tun hat, harmlose freundliche Tiere totzuschießen. Wir finden auch große Disteln, Löwenzähne und Brennnesseln, die sehr gesund sein sollen aber im Abendtee sind diese wohl nicht.

Manch einer von uns, zu denen auch ich gehöre, sammelt auch ganz besondere Steine als Andenken fürs Fotoalbum oder für eine Art Herbarium, für ein Mineralium. Hier finden wir den roten Porphyr (sieht so aus, wie auf dem Sportplatz). Quarz-Porphyr! Mit diesem hat es eine ganz besondere Bewandtnis: Ist man einige Meter entfernt, dann strahlt der Quarz im Sonnenschein ganz doll. Wenn man näher kommt, um ihn zu greifen, wenn sich also unsere Sichtweise oder zumindest der Blickwinkel ändert, ist er nur noch schwer erkennbar. Das geht aber sowieso eben nur bei Sonnenschein. Ansonsten sieht man gar nichts glitzern. Unscheinbar sehen die Steine dann aus. Wenn man die Kristall-Steinchen anderen Leuten zeigt, muss man wohl mit der Taschenlampe nachhelfen, damit sie nicht nur gelangweilt mit den Schultern zucken, sondern interessiert „Ah“ oder „Oh“ formulieren. So weit wie die Quarze strahlen, könnte ein Juwelier diese auch gut und gern in einen Damenring ... dann erscheinen diese Steine natürlich künstlich, würden aber viele Meter weit gleißen können ... oder auch auf ein Verkehrszeichen geklebt, das man in der Dunkelheit sonst schlecht erkennt, würden sie nützlich sein können. –

Es gefallen mir besonders diese kleinen munter plätschernden Bäche und Rinnsale.

Wir lernen im Heim auch Volkslieder selber singen. Das hört sich dann ungefähr so an:

Koan scheenren Baam gibt's, als den Vugelbeerbaam“. In diesem Jahr trägt er aber noch keine orangefarbenen Früchte. Das beginnt ja erst im Hochsommer. Und der Rhythmus des Liedels erinnert mich immer so an leicht durchhängende Papier-Girlanden

Bergbau und Volkslieder – dabei fällt mir eine Geschichte ein, die ich hier den Kumpels erzählte, denn Ihr Leser kennt diese ja schon aber wegen der Nachhaltigkeit des Unterrichts, darf man manches auch zweimal lesen: Die DEFA drehte neulich, das heißt von Januar bis April, den Film „Der Lotterieschwede“. Einige Außenaufnahmen entstanden im Norden der Insel Rügen am Kap Arkona aber die meisten Szenen wurden im Tonkreuz in Babelsberg gedreht. Diese Halle der Babelsberger Filmstudios heißt nur wegen der Form ihres Grundrisses „Kreuz“. Hier war es möglich, erstmals Tonfilme zu drehen, weil es ja vorher nur Stummfilme gab, die ein Klavierspieler musikalisch „untermalte“ oder „umrahmte“ und ein Erklärer mit dem Zeigestock in der Hand vorn an der Leinwand die Filmhandlung erzählte – was dabei manchmal auch sehr störte.

Also gut. Unsere Schulklasse wurde ausgewählt, um im Tonkreuz für diesen Film die „Erzgebirgische Nationalhymne“, „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt“, zu singen. Und das war es dann:


Glück auf! Glück auf!


1. Glück auf! Glück auf! Der Steiger kommt!

II: Und er hat sein helles Licht bei der Nacht. :II

II: Hat's angezünd't.:II


2. Hat's angezünd't. Das gibt ein' Schein.

II: Und damit so fahren wir bei der Nacht :II

II: in's Bergwerk 'nein. :II


3. Die Bergleut' sein, so hübsch und fein.

II: Sie graben das feinste Gold bei der Nacht :II

II: aus Fels'gestein. :II


4. Einer gräbt Silber, der andere das Gold

II: und den schwarzbraunen Mägdelein – bei der Nacht :II

II: den sein sie hold. :II


5. Ade, nun ade, Herzliebste mein!

II: Und da drunten im tiefen Schacht bei der Nacht :II

II: da denk' ich dein. :II


6. Und kehr ich heim zum Liebchen mein,

II: dann erschallt der Bergmannsgruß bei der Nacht :II

II: Glück auf, Glück auf. :II


Montag, 10. Juni. Altenberg

Heute unternahmen wir eine Wanderung zum ungefähr 824 bis 825 m hohen Geising-Berg, direkt bei Altenberg. Bei guter Sicht kann man von dort bis in das Elbsandsteingebirge blicken. Allein der Hinweg hat etwa 9 km Länge. In Altenberg besuchten wir das Bergbaumuseum. Sehr interessant. Hier in der Gegend wurden in grauer Vorzeit zuerst „Zinngraupen“ aus den Bächen gefischt, also lose Metallstückchen oberirdisch, das heißt, „über Tage“, gewonnen. Auf der böhmischen Seite begann man schon im 15. Jahrhundert, die zinnhaltigen Erze „unter Tage“ abzubauen aber auf sächsischem Gebiet wurde erst etwa hundert Jahre später im Berg zinnhaltiges Gestein gebrochen. Auch Lithium-Glimmer baute man ab. Viel später erst gewann man dann auch noch den Roteisenstein. Die Roherzbrocken kamen in die Pochwerke. Dort wurden sie gepocht, geklopft, zerstoßen und die Metalladerstücken dabei zum Teil aus dem Gestein freigelegt und waschend ausgespült, um daraus in den Schmiedeberger Hochöfen das Rohmetall zu erschmelzen. Erst dann, nach „dem Frischen“, konnte man es schmieden, wie es uns der Name des Ortes schon sagen will. Das Abbauen des erzhaltigen Gesteins war eine körperlich sehr schwere Arbeit. Früher hatten die Bergleute dafür nur einfache Handwerkzeuge, wie Schlägel (Fäustel) und Keilhammer (Bergeisen). Sie arbeiteten in der ewigen Finsternis bei dem eigenen, selbst mitgebrachten Funzel-Licht. Das alles, auch die einfachen Gerätschaften, kann man im Bergbaumuseum besichtigen.

Die Pinge bei Altenberg ist ein großer trichterförmiger Einbruchkessel, fast 150 m tief. Man darf sie aber auch „mit'm bappsch'n P“ sprechen, meinen die Leipziger. Also auch gut. Die Binge entstand um 1620 „ganz von alleine“, weil das Gebirge bei der Suche nach Erz und bei dessen Abbau bereits damals bis in eine Tiefe von 250 Metern von Stollen und Schächten durchzogen war und demnach etwa so aussah wie ein Schweizer Käse, was man von außen nicht erkennen konnte. Der Berg gab dann einfach nach, als es ihm zuviel wurde, stürzte zum Teil in sich zusammen. Eine schreckliche Katastrophe war es, der zahlreiche Bergleute zum Opfer fielen. Man kann sich das vorstellen, denn auch heute noch, nach fast 340 Jahren, sind die steilen Schutthänge kahl, nur wenige Pflanzen können sich dort festklammern und ernähren. Eine ständige Mahnung, die Eigenheiten, die Gesetze der Natur zu beachten.

Die Wiesen an den Berghängen sehen „sehr viel fröhlicher“ aus, als bei uns im Bezirk Potsdam. Es handelt sich weniger nur um grüne Gräserwiesen, als um Blumenblütenwiesen mit vielen geschützten Pflanzen. Deshalb darf man nichts pflücken und auch die Kühe und die Pferde auf der Weide ... – wir aber haben sie trotzdem dabei ertappt. Man findet die gelbe Arnika-Heilpflanze, viele Buschnelken und wenn man Glück hat sogar mehrere Sorten von Orchideen, die Trollblume, das Wollgras und andere seltene Pflanzen, deren Namen ich aber nicht behalten habe. Später werde ich mal „nachschlagen“. Zwischen diesen Blumen tummeln sich außer den zahlreichen Insekten auch graugrüne Eidechsen, gelb- bis orange-schwarze Salamander, Blindschleichen und Ringelnattern. Wird gesagt. Vor uns, der lauten Kindergruppe, schienen sie an diesem Tage aber alle rechtzeitig die Flucht ergriffen zu haben. Bei eventuellen Kreuzottern war mir das auch ganz recht. Man kann also durchaus sagen: derartige Wiesen sind ein vielfältiger Lebensraum, ein Lehrgarten ohne Zaun.


Auf dem Rückweg kamen wir an den „Galgenteichen“ vorbei. Im großen Galgenteich befindet sich eine Insel. Es gibt auch noch den kleinen Galgenteich. Keine erfreulichen Namen. Sie erinnern mahnend daran, dass sich hier in früheren Zeiten 'mal eine Hinrichtungsstätte für Verbrecher befand oder für jene Menschen, die man zumindest als Rechtsverletzer ansah. Man denkt als Laie unwillkürlich an ein längeres Zwangsbad. Ich jedoch habe andere Gedanken: Hätte man mehr Zeit und befände sich nicht in der fröhlich schwatzenden Kindergruppe, sondern wäre mehr alleine, dann könnte man sich hier bei Ferienstimmung, Sonnenschein, Wasser, Wald und Insel, in die romantisch-abenteuerliche Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn hineinträumen, über die Mark Twain schrieb. (Vorsicht !!! In Amerika geschrieben!!! Mit Mord und so!!! Aber auch in der DDR verlegt und erschienen!!! Bestimmt versehentlich ohne jedwede Index-Kennzeichnung). Ein Floß mit einem Zelt sollte dann hier noch am Ufer liegen. Ein ausreichender Vorrat an Essen und Getränken wäre auch nicht zu verachten. Na gut, mit dem Baden wäre es nichts, denn der größere Teich ist ein Staugewässer und dient als Trinkwasserreserve. Man, da kann aber viel getrunken werden! Deshalb ist es verboten die Körper darin zu spülen. Aber für die Klospülung ist es zulässig. Bei dem Wort „Teich“ dürft Ihr Euch bitte keine falschen Vorstellungen machen. Es ist kein Gartenteich. Der „Große Galgenteich“ besitzt eine Fläche von ungefähr 180.500 m² und ist maximal 5½ m tief. Das Wort „Teich“ soll also nur bedeuten, dass es sich um ein künstliches Gewässer handelt. Das Gebiet war nämlich früher ein Hochmoor, aus dem Torf als Brennmaterial zum Heizen und Kochen gestochen wurde, bis es vollends ausgebeutet war. Seit dem Einleiten von Wasser, ist das Gebiet eine „große Wanne“, die nach unten natürlich von vulkanischem Gestein abgedichtet wird. Im kleinen Galgenteich ist das Baden dagegen erlaubt.

Vermisst Struppi mich sehr in seinem Rudel? Frisst er trotzdem noch etwas? Ich werde ihm später auf unseren Spaziergängen noch einmal erzählen, was ich hier nettes erlebe. Wassermühlen soll es hier früher eine ganze Menge gegeben haben. Davon ist aber heute nicht mehr viel zu sehen.


Dienstag, 11. Juni:

Für den heutigen Tag war für unsere Gruppe Turnstunde auf dem Spielplatz am Haus angesetzt und es hat Spaß gemacht, denn Geräteturnen (Barren und Reck) waren ja nicht dabei. Unsere kleine Volksgruppe spielte Völkerball.

Auf dem Nachmittagsspaziergang sammelte ich heute als Andenken für zu Hause besonders große Fichtenzapfen. Die Jungs, die aus der Leipziger Gegend kommen, sagen aber fachmännisch so etwas wie: „Dos sinn Dannezappn“. Wenn das man so stimmt. –

Zum ersten Mal ging ich heute reichlich später schlafen: Am Vorabend des Lehrertages, „wenn um 20.00 Uhr schon alles schläft“, wollten die Erzieherinnen ihre Leiterin, also die Schwester Marie, mit einem Blumenstrauß überraschen und das mit einem Gedicht von Johannes R. Becher, unserem jetzigen dichtenden Kulturminister, verbindend würzen. Diese Überraschung gelingt wohl in jedem Jahr. Das mir noch unbekannte Gedicht vorzutragen, dazu wurde ich von den Erzieherinnen zwanzig Minuten vorher ausgewählt – auch eine total gelungene Überraschung. Und so habe ich mir dann fix das Gedicht eingepaukt – es ging ganz gut (war nicht lang) und ich habe noch einige persönliche Worte, also keine von Herrn Johannes Robert, dazu gesagt. Nicht auszudenken, wenn ich stecken geblieben wäre, vor allen Erwachsenen, die so feierlich lächelten. – Vielleicht hätten sie dann belustigt laut gelacht – nicht über diesen Gedichttext. Das wäre, zumindest für sie, ja auch nicht schlecht gewesen. –

Viele Grüße von mir bitte auch an Muttchen Dyck, Tante Luzie, Tante Liesel sowie an Herrn Hansen.


Mittwoch, 12. Juni. Lehrertag

Heute ist nun der richtige Lehrertag und somit also auch Ehrentag der Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen und Hortnerinnen sowie der Pionierleiterinnen und genauso für ihre männlichen Kollegen, die wir hier aber nicht besitzen. Bis auf Herrn Klammer den Hausmeister. Der aber gilt ja nun nicht direkt als Lehrer, obwohl man bestimmt eine Menge von ihm lernen kann. Gleiches trifft leider auch für die fleißigen Küchenfrauen und die Raumpflegerinnen zu. Wir ehren sie und ihre Arbeit aber trotzdem. Eigentlich jeden Tag – nur merkt man das nicht so deutlich, weil es nur von uns und keine richtige staatliche Ehrung, mit Blumen ist, und so.

Jede Gruppe überreichte ihrer Erzieherin, schon wieder als unerwartete Überraschung, einen Blumenstrauß, den aber Schwester Marie rechtzeitig vorher besorgt hatte. Den Strauß unserer Gruppe durfte ich mit freundlichen Worten unserer Erzieherin überreichen – diesmal ohne Gedicht aber dafür bei einem Fahnenappell auf dem Spielplatz, damit es besonders feierlich-staatlich aussah. Eigentlich wurde die Staatsfahne ausschließlich für die Erzieherinnen und deren Ehrung gehisst; keine anderen ernsthaften Anlässe gab es. Fräulein Maiwald sagte, sie habe sich sehr darüber gefreut und las uns, als Dank für die staatlichen Marie-Badstübner-Blumen, eine spannende Geschichte vor. Es ist also auch mal zwischendurch so wie Sonntag. Aber so ist hier ja fast jeder Tag für uns. Von mir aus könnte auch öfter mal im Jahr Lehrertag sein. Verdient hätten sie ihn und wir gönnen es ihnen. – Vielen Dank für Eure Post. Mir geht es gut, ich esse viel.


Donnerstag, 13. Juni. Lesesteine für Rostock

Heute gingen wir 'mal einer richtig nützlichen Beschäftigung nach. Es war ein gutes Stündchen – oder waren es zwei, kurzweilige? Ein Lese-Steine-Sammel-Einsatz. Also, wir haben dabei nicht richtig 'was gelesen – wir lasen Feldsteine von einer Ackerfläche der LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) auf, weil in jedem Jahr neue kleine Felsen aus dem steinigen Boden hochgepflügt werden, diese also fast „aus dem Acker heraus wachsen“. Und derer sind es viele! Wenn die Menschen dieser Gegend früher auch recht arm gewesen sein sollen – steinreich waren sie schon immer. Was mit den Steinen gemacht wird? Also wir trugen sie in Körben ja nur zum Feldrand, zum Rain, und schütten dort mehrere Haufen auf. Aber dort bleiben sie nicht liegen. Irgendwann, wenn wir schon längst wieder zu Hause sein werden, wird man die Steine abholen und auf die Reise schicken. Ständig lief ja zu Hause im Radio das frische Lied: „Steine für Rostock, der Hafen muss wachsen. Steine für Rostock, am Kai ist kein Platz …“, .... am internationalen Überseehafen! So wird aus lauter Solidarität dann langsam auch das Erzgebirge zur Ostseeküste gebracht, die Berge werden hier immer kleiner und kleiner. Hoffentlich kommt davon die Erdkugel nicht aus ihrem naturgegebenen Gleichgewicht. Viel Erz ist aber in diesen Steinen nicht zu sehen. Nur manchmal glitzert metallisch ein Körnchen. Und sollten mal ein paar Steine nicht abgeholt werden und hier liegen bleiben, können sich vielleicht kleine Tiere darunter ein Versteck bauen oder, wenn die Steine von der Sonne durchwärmt sind, sich oben darauf aalen. Also, echte Aale werden es kaum sein, eher ähnlich aussehende Nattern. Das weiter zu beobachten, reicht aber die Zeit unseres Hierseins nicht. Wir haben zu tun.

Anschließend hatten wir einen Bären-Appetit und das schöne Gefühl, auch mal 'was Gutes getan zu haben, nicht immer nur bedient zu werden. Heute nach diesem Arbeitseinsatz und auch freitags, wird geduscht. Ansonsten waschen wir uns nur gründlich und die Füße mindestens an jedem zweiten Tag oder wenn es vorher nötig ist. Mancher versucht schon von alleine darauf zu achten, dass die Haut nicht zu dünn wird aber die Erzieherinnen sehen manchmal nach, ob die Finger richtig sauber sind, bevor es zum Essen geht.

Oben erwähnte ich das Rostock-Lied. Es gibt aber nicht nur aktuelle Lieder über Steine. Hier haben wir zwar kein Radio aber zu Hause tönt es, außer den Volksliedern, derzeitig so: „Souvenirs, Souvenirs“, von Bill Ramsey // „Weißer Holunder“ von und für Bärbel Wachholz // „Lollipop“ (oder so, nur in englisch) // „Bueno Sera Seniorina“, singt Louis Prima, aber auf italienisch; der „River-Kwai-Marsch“ wird gepfiffen und Fred Bertelmann singt: „Zwei gute Freunde“. Verschiedene dieser Lieder, nämlich jene, die gleich von nebenan aus Berlin kommen, versteht man im Radio aber nur sehr schlecht, weil unser eigener starker DDR-Störsender das Zuhören erschwert. Das ist Absicht. Man soll nur auf Gutes hören, also auf das Rechte, was mehr von links kommt. Noch viele weitere Schlager gibt es – doch man vermisst sie hier in Schellerhau gar nicht sehr, denn die Tage sind voll ausgefüllt.

Zu dieser Fülle gehören auch die erzgebirgischen Lieder, die der Schellerhauer Einwohner Herr Helmut Liebscher für uns singt. Dieser ist aber noch kein alter Mann sondern so etwa Mitte Dreißig. Wenn er langsam und deutlich singt, kann man auch die Texte ziemlich gut verstehen und das will er ja auch, denn die Lieder (also Texte und Melodien) hat er zum Teil selbst erdacht. Er erinnert mich sehr an unseren Musiklehrer in der Schule, der aus Thüringen zu uns kam. Auch dieser hier greift fröhlich in die Saiten seiner Gitarre und singt uns seine frischen Eigenkompositionen vor.


Freitag, 14. Juni. Das Hochmoor

Wir besuchten auf unserer Tageswanderung, es war wieder eine der Strecken von mehr als 9 Kilometern, das Hochmoor bei Zinnwald-Georgenfeld und durchwanderten es auf Holzstegen, weil man sonst sofort versinken würde – 4 bis 5 Meter tief. „Glucks“. Wir mussten recht gut auf uns und den Nebenmann aufpassen und niemand durfte Unfug treiben. Dazu gibt es grausige Geschichten, die mit ihren Schauplätzen wohl auch weit ins böhmische Gebiet reichen, weil sich dort sogar der mit zwei Dritteln weitaus größere Teil des Hochmoores befindet. Man muss wohl demzufolge also von erheblich mehr Grausligkeiten auf tschechoslowakischem Gebiet rechnen. Moorbehandlung war früher so eine der Methoden, wenn der scharfe Stahl oder der hohe Galgen geschont werden sollten.

In weit zurückliegenden Tagen wurde hier Torf als Brennmaterial gewonnen. Davon ist unser Hochmoor-Teil, diesseits der Grenze, so klein geworden. Aber heute überlässt man den Rest des Moores aus Naturschutzgründen sich selber. Sehr seltene Pflanzen z. B. die Kuhschelle oder auch Küchenschelle genannt, den klebrigen Sonnentau (eine Fleisch verzehrende Pflanze), die Trollblume und das Knabenkraut konnten wir betrachten. Wir sahen sie schon am Geising – alte Bekannte. Das Wollgras und den Siebenstern erblickten wir selbstverständlich auch. Und wichtig: Die Moose im Moor. Dort wachsen ebenso die Kiefer-Kuscheln Sie werden niederdeutsch „Kussel“ ausgesprochen – das ist nicht etwa ein bayerisch-kosender Ausdruck für Lippenbekenntnisse. Ferner sind hier die Latschenkiefern beheimatet. Diese kennen wir ja schon von der würzig-erfrischenden Fuß-Einreibung. Auch sahen wir bei dem gutem Wetter über die Grenze sehr weit in das Land der Tschechoslowakischen Republik hinein – das war aber nichts Besonderes – dort sieht alles ähnlich aus wie bei uns. Der Kahleberg ist etwa 905 m hoch, die höchste Erhebung weit und breit.


Sonntag, 16. Juni. Österlicher Wald an der Spree

Heute hatten wir am Nachmittag einen herrlichen Lichtbildervortrag über unsere sorbischen Mitbürger im Landstrich der Lausitz: Über den Spreewald, das Kahnfahren – egal ob für die Post oder das Heu, ob Tiere transportiert oder Menschen befördert werden; – über Gurken, das Bemalen von Ostereiern, viel Stickerei und Plauderei der Frauen dabei. Männer bemalen weniger Eier und plaudern auch nicht genauso viel. Eine Frau in echter sorbischer Tracht saß beim Vortrag mit uns im Speisesaal. Vielleicht war es die Frau des Dia-Vorführers? Die Sorben gehören zu den alten Wenden und die wiederum zu den Slawen. Richtig sozialistisch ist aber nur die Bezeichnung „Sorben“, als geehrte und gepflegte Minderheit in der DDR. Sehr interessant war das.

Grüßt bitte auch Tante 'Lene Runge und Tante Lieschen Hasait recht herzlich von mir.


Montag, 17. Juni:

Unser Fräulein Maiwald macht es uns nicht immer leicht.

Wenn nach dem Mittagessen die Post verteilt wird, liest sie unsere Namen immer rückwärts laut vor und man meldet sich dann sofort, wenn man seine Post, seinen Namen, erkannt hat – falls man sie haben möchte.

Klar, man muss aufpassen aber nach zwei Tagen war das mit dem Raten für alle nicht mehr so neu. Einige haben erst mal geübt, ihren Namen rückwärts aufzuschreiben, zu lesen und langsam leise vor sich hin zu sprechen, und manchmal auch so als Absender auf den Brief zu schreiben: So wird dabei aus dem polnischen Kidrowski plötzlich der ziemlich echt norwegische Name Ikswordik, aus dem deutschen Müller entsteht der türkische Rellüm, aus Janecke wird Ekcenaj, aus Eisenkolb wird Bloknesie und der einfache Baumann wird zu dem typisch arabischen Namuab gemodelt, was mich an „Mutabor“ aus der Geschichte „Kalif Storch“ von Wilhelm Hauff erinnert – . Oder Kunze = Eznuk, nicht wahr? Hört sich das nicht an, wie ein umgekehrter Name aus dem sowjetischen Kinderbuch „Im Königreich der schiefen Spiegel“? So 'was macht Fräulein Maiwald alles mit uns.


Ein anderes Thema: Verkehr in Schellerhau.

Ihr könnt Euch vielleicht vorstellen, dass es hier im Dorf wenige Autos aber sehr viele Handwagen gibt. Anders als bei uns im Flachland, sind diese sogar mit einer Handbremse ausgerüstet, weil auf den geneigten und manchmal steilen Straßen und Wegen, niemand die Wagen halten kann, wenn sie schwer beladen sind. Es fehlt ihnen allerdings noch ein Antrieb, wenn es bergan gehen soll. Vielleicht wäre ein starker Ziegenbock geeignet, gute Hilfsdienste zu leisten.

Ansonsten war heute kein offizieller Gedenktag. Vor fünf Jahren begann es in der Berliner Stalinallee ungemütlich unruhig zu werden.

Ich freue mich immer sehr über Eure Briefe, obwohl Ihr ja bei der vielen Arbeit nicht so viel Neues und Schönes erlebt, wie wir hier.


Dienstag, 18. Juni. Ein frischer Kopf ist manchmal nur äußerlich

Heute wurde mir das Vertrauen geschenkt, dass ich während der Zeit der Beschäftigung alleine zum Schellerhauer Friseur (oder zu gut deutsch: zum Haarsör) gehen durfte, weil ich meinte, dass es nötig sei. „Bitte einmal Kurzschnitt“, bestellte ich. „Recht so, der Herr, macht 85 Pfennige“. Genau der gleiche Preis wie zu Hause in Babelsberg. Der Weg war nicht weit: Man verlässt das Heim nach rechts in Richtung Ortsmitte, geht vorbei an Heimatstube und Kirche und dort wo von links aus dem Tal heraufkommend der Schellermühlenweg einmündet, ist man schon da. Kein langer Weg für den kurzen Sommer-Haarschnitt.


Wir hörten, dass es ein alter Brauch sei, in der Advents- und Weihnachtszeit, deshalb haben wir es nicht miterlebt und hörten es eben nur, selbstgeschnitzte und bemalte Lichter-Engelinnen und Lichter-Bergmännel innen an die Fenster zu stellen. Für jedes Kind der Familie wurde eine neue eigene Figur geschnitzt oder gedrechselt, die Mädchen natürlich wieder als Engel dargestellt, die Jungen als Bergmänner. So konnte man an den Fenstern ablesen, wie viele Kinder im Hause wohnen. Manchmal war bei den armen Leuten gar nicht mehr genug Platz am Fenster. Geschnitzt habe man aber nicht nur aus Spaß bei Kerzenlicht zur Feierabendzeit. Besonders als der Zinnbergbau zurückging, war es ein notwendiger Nebenverdienst, um die Familien dürftig nähren zu können.

Die Erholungskinder, die zur Winterszeit hier sind, unternehmen eher Rodelfahrten, statt wie wir eine Schnitzeljagd als Geländespiel und wenn wir heut' putzmunter am Bach zur Putzmühle wandern, stapfen sie dann später durch den tiefen Schnee, denn der Winter mit Kälte, Eis und Schnee, kommt hier früher und bleibt länger, als bei uns im milderen Flachland.


Mittwoch, 19. Juni. Musealien

Hier sah ich wieder einen solchen weinroten Versehrtenfahrstuhl mit Moped-Motor von der Firma Krause. Ihr wisst schon: aus der halbstaatlichen Fabrik in Leipzig, Elsbethstraße 7, der so eine ähnliche Vorderrad-Verkleidung hat, wie der Pitty-Motorroller aus Ludwigsfelde, nur etwas breiter. Den Pitty-Motorroller konnte ich schon am 13. Juni in dem Lied erwähnen. Dieses Dreirad schafft sogar die erzgebirgigen Berge! Das wäre, besonders bergauf, auch ein nützliches Zugfahrzeug für die Handwagen über die ich schon Euch am 10. Juni berichtet hatte.

Der Besuch der Heimatstube, also es ist ein kleines Museum, war für uns recht lehrreich. Man sieht viel darüber, wie die Leute früher gelebt haben. Besonders ausführlich ist die Arbeit der Bergleute und auch das bäuerliche Leben dargestellt. Arbeitsgeräte und Hausrat sind zu sehen. Die Dorfkirche ist mit Schiefertafeln gedeckt. Sie soll mit der kunstvollen Innenmalerei, eine der reizvollsten im Erzgebirge sein. Wir waren aber nicht drinnen. Das Bauwerk ist schon über 350 Jahre alt, sieht aber wesentlich jünger aus. Sieht neuer aus, als unser gutes Erholungsheim.


Donnerstag, 20. Juni. Kinofreuden

Am heutigen Tage besuchten wir eine Filmvorführung. Wir sahen den sowjetischen Farbfilm „Das gefiederte Geschenk“. Ein Film über eine Königsadler-Familie. Es gibt in Schellerhau aber kein richtiges Kino. Es ist der Landfilm, der die Filmwerke im Cronau-Heim zeigt. Wie weit es bis dorthin ist? Na, von der Dorfstraße biegt man beim Friseur nach links in den Schellermühlenweg ab, der hinab ins Tal führt. Wir überqueren das Flüsschen „Rote Weißeritz“, begleiten es nach links einige Schritte, um es dann nochmals nach links gehend auf der Brücke des Heimes der Margarethe Cronau erneut zu überschreiten. Man kommt also nur über das Bächle und die Brückle in dieses Ferienheim und ins Kino. So ähnlich sieht es vielleicht in Venedig aus, dort nur altstädtischer.

In der Beschäftigungszeit übten wir uns im Schießen mit der Armbrust – aber nur auf einen Adler aus Pappe mit angesteckten „Federn“. Die Pfeile haben vorne Gummisaugpuffer. Also nur so aus Spaß – und nicht auf Königsadler oder Menschen. Ihr braucht Euch also keine Sorgen zu machen.


Freitag, 21. Juni. Viel Botanik und wenig Zoo

Der Botanische Garten ist für einen kleinen Ort und weit darüber hinaus eine große Sehenswürdigkeit. Und das schon seit seiner Gründung im Jahre 1906. Man kann sich auf dem Wege dorthin nicht verlaufen. Vom Heim aus geht man immer die Dorfstraße in Richtung Altenberg entlang und muss dann nur noch, etwa 55 Hausnummern von hier, hinter dem scharfen Linksknick der Straße, rechtzeitig anhalten. Schon sind wir dort. Nur wäre es noch schöner, wenn zwischen der vielen Botanik darin auch einige Tiere Platz hätten. Na ja, einige haben sich schon von allein angesiedelt, weil's ja so verlockend ist, dort zu wohnen – wenn nur nicht die Besucher dauernd stören würden.

Nicht weit hinter unserem Heim beginnt der Weg, der zur Stephanshöhe führt. 804 m hoch sind wir dort und haben einen guten Ausblick auf die Umgebung. Doch Vorsicht! Bald dahinter gehts steil hinab in das Pöbeltal. Das ist ja nun erst mal 'was. Schon allein dieser Name.

Heute habe ich wieder Waschraumdienst und vor der Nachtruhe soll alles blank und sauber sein. Für das Abschiedsfest haben wir schon geprobt. Unsere große Gruppe führt für die Kleineren, für das Küchenpersonal und für die Erzieherinnen, ein Laienspiel auf – was sonst, wir sind ja keine beruflichen Künstler – und wir haben natürlich auch unseren Spaß dabei und etwas „Lampenfieber“, – ob auch alles gut „klappen“ wird? Danke für Euren langen Brief. Viele Grüße an Hartwig!


Sonnabend, 22. Juni. ... noch viel mehr Tiere

Heute besuchten wir den Dresdener „Zo-ologischen Garten“. So „gebrochen“ wird ja bei der Berliner S-Bahn die Station „Zoo“ immer ausgerufen, also in West-Berlin, denn unser viel größerer DDR-Tierpark befindet sich ja in Berlin-Friedrichsfelde. Im Sommer vor drei Jahren wurde er unter der Leitung von Professor Dr. Dathe gegründet. Solche Arten von Tieren (Löwen, Elefanten, ...) kann man natürlich nicht im Botanischen Garten Schellerhau unterbringen. Das ist schon klar. Aber tierlieb sind die Schellerhauer Einwohner bestimmt. Besonders die Bären scheinen es ihnen angetan zu haben, denn wir wissen ja: Es gibt in der Nähe die Orte Bärenfels, Waldbärenburg, Oberbärenburg, Bärenstein, etwas weiter entfernt Bärenklau sowie Bärenhecke und auch einen Tierarzt dazu.

Aber nun im Ernst: Ein früherer Herrscher dieser Gegend soll bereits um 1530 ein Herr zu Bernstein gewesen sein, der sich später „Bärenstein“ schrieb – vielleicht weil es hier im tiefen Süden nicht so viel versteinertes Ostsee-Baumharz gibt – und der alles Mögliche in der Nachbarschaft mit dieser Bären-Benennung als sein Eigentum kennzeichnete – und Bärlauch anbaute. Also, Ber-lin gehörte nicht zu seinem Reich, wenn auch im Wappen der Hauptstadt kein Bernsteinklumpen, sondern ebenfalls der Bär zu sehen ist. Um so mehr war ich beim Besuch von Bärenfels erstaunt, dass uns dort, in der Nähe des Glockenspiels, kein Bär, sondern statt diesem ein steinernes Widdertier begrüßte. Aber auch das (oder er) wird sicher seine Geschichte haben – ein Aufklärungsschild stand nicht dabei. Vielleicht hatte der Widder ja mal einen Bären erlegt?


Montag, 24. Juni. Mahlzeit!

Für Mutti habe ich mal aufgeschrieben, was es bei uns alles so zu essen gibt, dann braucht sie sich in der nächsten Zeit nicht für jeden Tag selbst etwas Neues einfallen lassen. Also:

Also recht abwechselungsreiche Mahlzeiten.

Oft gibt es auch Nachtisch wie Apfelmus // Rote Bete // Stachelbeerkompott // Apfelschnitzel und anderes. Es hat alles prima geschmeckt und wir sind auch immer gut satt geworden.

Beim Abschiedsfest haben die Aufführungen ordentlich geklappt. Heute schreibe ich Euch nun zum letzten Mal, denn unser erlebnisreicher Aufenthalt neigt sich schon wieder seinem Ende zu.


Dienstag, 25. Juni:

Wie Ihr vielleicht bemerktet, habe ich nicht alles von jedem Tag beschrieben. Das wäre zu viel des Guten. Es gab also zum Beispiel noch andere Speisen. Auch an den Tagen, für die ich es nicht extra aufzählte, hatten wir nette Beschäftigungen mit Gesellschaftsspielen, Basteln, Malen, Sport, einer Kasper-Theatervorstellung und auch Post-Schreibstunden sowie noch weitere Wanderziele.

Heute aber heißt es nun schon: Koffer packen! Fräulein Maiwald hakt bei jedem von uns am Inhaltsverzeichnis im Kofferdeckel ab, ob auch alles vorhanden ist.

Morgen früh geht es schon wieder fort von hier.

Ein eigenartiges Gefühl. Es wird eine kurze Nacht und keiner will verschlafen.


Mittwoch, 26. Juni:


Tschüss liebes Heimpersonal und danke für alles das, was wir hier erleben durften.

Auf ein späteres Wiedersehen – schönes Schellerhau im Osterzgebirge!


In halber Nacht bringt uns ein Bus den kurzen Weg nach Kipsdorf. Diesmal hat er einen kleinen Anhänger für die Koffer dabei. Von dort fahren wir um 4.21 mit der Weißeritztalbahn weiter. In Freital findet dann das große Verabschieden statt, weil wir von dort aus in kleinen Gruppen, in alle möglichen Himmelsrichtungen fahren. Jeder von uns bekam als Andenken an das Erholungsheim für die Fahrt noch eine Tüte voll Proviant mit. Als weitere Souvenirs habe ich mitgenommen: Einige Ansichtskarten – die ja im Laufe der Zeit schon zu Hause angekommen sind, – ein Abziehbild mit der Ortsansicht in Wappenform sowie dazu noch mehrere Fotos, die ich ja aber selbst noch nicht gesehen habe, weil sie noch auf dem Film im Fotoapparat sind. Und nicht zu vergessen – die Quarz-Porphyrsteine und einige schöne, etwas harzig duftende Fichtenzapfen, an denen noch kein Eichhörnchen genagt hat.

Viel zu schnell sind diese herrlichen, abwechselungsreichen Tage „vorbeigeflogen“ aber natürlich freue ich mich auch schon wieder auf das Babelsberger Elternhaus und die Schule – eigentlich müsste ich ja schnell allerlei nacharbeiten aber in 10 Tagen, pünktlich zu Muttis Geburtstag am

6. Juli 1958, beginnen ja die Großen Ferien und ich werde alle Schulaufgaben schön verteilen, mir Zeit dabei lassen, denn die „Nachkur“ muss ja gut in Ruhe wirken können und der Schularzt soll mit mir zufrieden sein (ich werde ihn froh anstrahlen).


Gewiss wird unser Klassenlehrer, im September wieder einen Aufsatz schreiben lassen – „Mein schönstes Ferienerlebnis“. Das wird für mich nicht schwierig sein – habt Ihr doch eben das Wesentliche dazu gelesen.


Besucht doch Schellerhau und seine reizvolle Umgebung auch einmal!


Wieder zu Hause, in den Großen Sommerferien des Jahres 1958, schaue ich im „sozialistischen Einzelhandel“ nach, ob es vielleicht als ein weiteres Andenken, einige Bilder über diese Erholungs-Region gibt – und siehe da – ich werde fündig. Der Fachhandel „Foto - Kino - Optik“ hat alles! Ich erstehe einen Dia-Film (schwarz-weiß-grau) mit dem Titel: „Im Wandergebiet von Altenberg- Schellerhau“, Fotoaufnahmen der Staatlichen Fotothek in Dresden.

So kann ich den Eltern, Geschwistern und Freunden noch besser zeigen, das heißt, mit dem Dia-Projektor tatsächlich vor ihre Augen führen, welche Landschaft auch ich durchwanderte, wie es in Schellerhau wirklich aussieht. Das vermeidet falsche Fantasien.

Der erforderliche Dia-„Bildwerfer“ aus schwarzem Duroplast-Kunststoff, namens „Pouva magica“ von der Fa. Karl-Pouva-KG in Freital / Sachsen, Preis: 22,10 DM, war schon in unserem Haushalt vorhanden, war mit einer „40-Watt-Allgebrauchsglühlampe“ ausgestattet. Da die schwarz/weißen Bilder des Erzgebirges auf der Leinwand völlig anders als in der Natur aussahen: matt, grau-blass, kränklich, wählte ich lieber eine eigentlich viel zu starke 75 Watt-Glühlampe und setzte das Gehäuse auf einen waagerecht liegenden, kühlenden Fenster-Ventilator. Nun war der sommerlich-lebendige Eindruck, die besonnte Erinnerung an Schellerhau, wieder da. Jetzt konnten die Bildervorführungen mit dem Vortrag: „Mein schönstes Ferienerlebnis“ beginnen!

(Nachtrag: Die Entwicklung schreitet unaufhaltsam voran. Etwa ein halbes Jahrhundert später sind die sparsamen LED-Glühlampen auf dem Markt. Sehr hell und nur handwarm. Solch eine Ventilatorbastelei ist dann nicht mehr nötig – aber es gibt ja sowieso leistungsstarke Dia-Projektoren).


Nachträge: Notizen zum Ankunftstag in Schellerhau, am 05. Juni 1958 –

von mir aber viel später notiert und zusätzlich einige Rückblicke aus ferner Zukunft:

Die Schmalspurbahn zwischen Freital und Kipsdorf besteht seit 1882 und ist damit die älteste deutsche Schmalspurbahn. Auf dieser reichlich 26 km langen Strecke muss der Zug etwa 351 Höhenmeter überwinden.

Ihr konntet es ja bisher noch nicht wissen: Mein Großvater und auch mein Vater haben in unserer heimatlichen Lokomotivbaufabrik „Orenstein & Koppel“ in Drewitz und Neuendorf bei Nowawes (heute alles zusammen Potsdam-Babelsberg) gearbeitet. Daher interessiert mich auch alles, was mit der Eisenbahn zusammenhängt.

10 Lokomotiven der 99-er Baureihe sind hier in Sachsen mit ihren Wagen auf dieser Strecke unterwegs. Schmalspur heißt es deshalb, weil der Mittenabstand der Schienenköpfe, die Spurweite, 750 mm beträgt aber die Normalspur oder auch Regelspur einen Schienenabstand von 1.435 mm aufweist. Diese Schmalspur ist demnach reichlich halb so breit oder „fast doppelt so schmal“. Das bedeutet: Die Wagenkästen ragen nach rechts und links sehr weit über die unterstützenden Räder hinaus. Das sieht, wenn man es nicht gewohnt ist, etwas gefährlich aus, ermöglicht es aber engere Kurvenradien zu fahren und das ist im Gebirge wichtig. Dafür müssen die Züge aber auch entsprechend langsamer fahren.

Es handelt sich um 4 Lokomotiven mit jeweils 600 PS Zugleistung, 1952 bis 1956 im „Lokomotivbauwerk Karl Marx“ in Potsdam-Babelsberg gebaut, das ist der sozialistische Nachfolgebetrieb des vorgenannten privat-kapitalistischen Werks „Orenstein & Koppel“. Auf dem gleichen Betriebsgelände, auf denen Vati und Opa tätig waren.

Eine weitere Lok auf oben genannter Strecke mit nur 200 PS stammt aus der Zeit vor 1921, zusammengeschraubt und genietet in der Maschinenfabrik von Richard Hartmann in Chemnitz, heute Karl-Marx-Stadt, also in der Stadt mit den „drei O“, wie es sich im Scherz des Volksmundes anhört. Die restlichen 5 Loks, mit je 600 PS Leistung, baute man in der Zeit der „Weimarer Republik“ , also zwischen den beiden Weltkriegen, bei Firma Schwartzkopf in Berlin und auch bei Firma Hartmann in Chemnitz.


Kipsdorf ist viel größer als Schellerhau“. Der Ort hatte im Jahre 1950 mit etwa 900 Personen seine höchste Einwohnerzahl. Von dieser Zeit an gab es eine Absenkung der Bevölkerungszahlen. Waren es im Jahre 1958 dann 800 Menschen, so wird es im Jahr 2002 nur noch 347 Bewohner zu zählen geben. Dann ist Kipsdorf kleiner als Schellerhau während meiner Besuchszeit.

Kipsdorf hatte ab 1935 den größten Kleinbahn-Kopfbahnhof Deutschlands. Die Züge fuhren damals in Spitzenzeiten im 10-Minuten-Abstand. 120 Jahre lang wurde die Strecke Freital-Hainsberg bis Kipsdorf von 1882 bis zur Naturkatastrophe im August 2002 durchgängig betrieben. Sie ist heute (2011) noch im Wiederaufbau und wird bereits wieder zwischen Freital und Dippoldiswalde befahren.


Ergänzung des Berichts zum 6. Juni 1958:

Inzwischen heißt die Anschrift des Ortes nicht mehr „Schellerhau, Kreis Dippoldiswalde“, auch nicht „Schellerhau über Kipsdorf“, sondern nach der jüngsten Kreis- und Gemeindegebietsreform:

Schellerhau, Stadt Altenberg, Kreis Sächsische Schweiz / Osterzgebirge“.

Ein etwas „sperriger“ Ortsname vielleicht, aber recht fürsorglich anmutend, hat man doch viele der Schönheiten aus der Region wörtlich in diese Bezeichnung mit hineingelegt – und alles passt sogar hübsch auf das gelbe Ortseingangsschild üblicher Abmessung 'rauf oder 'nauf – wenn man es klein genug schreibt.


Ergänzung zum 8. Juni 1958

Ja, so war das also mit dem Streit zwischen dem Teufel und seiner Großmutter. Schellerhau sei dann im Jahre 1543 gegründet worden, von dem feudalistischen Bergwerksbesitzer Herrn Schelle. Sagt man. Aber nur, weil man eine frühere urkundliche Erwähnung nicht mehr gefunden hat. Doch auf einem Siedlungsplatz gab es hier bestimmt schon viel früher Menschen.

Der Name „Schellerhau“ rührt aber „trotzdem“ nicht daher, dass Bergleute diesen Bergwerks-Besitzer etwa verhauen hätten, sondern weil eben zinnhaltiges Erz aus dem Gestein der Gruben des Schellerbesitzes herausgehauen wurde. Man stelle sich das vor: Da erbt oder kauft ein Mann einfach einen großen Berg, ein Stück von der Erdkugel, das doch Allgemeingut, Volkseigentum sein sollte, das doch eigentlich für alle da ist und macht mit dem Inhalt des Berges viel Gewinn für sich. Oder man sagt es ganz anders: Er gab der armen Bevölkerung, den Bergleuten, Kleinbauern und Waldarbeitern: Arbeit, Lohn und Brot.

Noch solch ein Beispiel:

Wir waren gerade im Jahr 1543. Meine jung aussehende Stadt Potsdam ist da noch viel älter. Der Ort wurde schon im Jahre 993 mit Haus und Hof, mit Mann und Maus, vom jungen Herrscher

Otto III. seiner Tante Mathilde, der Äbtissin von Quedlinburg, als ein Geburtstagsgeschenk überreicht. Weil er sie so lieb hatte. So also kann es laufen. In unserer Familie geht es da bescheidener zu – wir verkaufen weder Land noch Leute..


Die alte Schinderbrücke. Es ist eine Brücke aus Porphyr, die in den Jahren 1789 und 1790 aus einem Bogen bestehend, vom Landesbaumeister Knöffel entworfen und gebaut wurde. „Diese löste eine >elende< Holzbrücke von 8 Ruthen (= 31,6 m) Länge ab, deren "Knuppel" (ein Knüppel-Belag) im Moraste leicht faulten“. Diese Brücke der alten Handelsstraße ist heute „nicht mehr alleine“ Als das Hotel Stephanshöhe gebaut wurde, war sie überlastet und bekam eine tragfähigere Betonbrücke beigesetzt.


Anmerkung. Den aktualisierten Beitrag über Schellerhau findet ihr im Abschnitt „Orte“

auf der gleichen Internetseite. Dort gibt es auch mehr Bilder zu sehen.


Jetzt aber sind Große Sommer-Schulferien des Jahres 1958.

Unsere Tage im „Haus am See“, am Beetzsee bei Brandenburg.

In den Großen Ferien bin ich von der Jungschar der evangelischen Kirche für einige Tage in Mötzow am Beetz-See bei Brandenburg zur „Jugendrüstzeit“.

Rüsten hat hier nichts mit militärischer Aufrüstung im bestehenden „Kalten Krieg“ zu tun. Wir rüsten uns, schaffen uns eine „Rüstung“ an, eine Stärkung aus Freude, Freundschaft und Gesundheit für das neue arbeitssame Schuljahr, gewinnen Klarheit für das Leben, wir kräftigen und erholen uns in den Ferien. Über einen Rentner dem es gut geht, darf man sagen: Er ist rüstig. So etwa ist es auch bei uns. Nur dass wir zusätzlich viel jünger sind. Diese Zeit – ganz ohne Verpflichtungen, ohne Appelle, ohne Gelöbnisse, ohne politische Wandzeitungsarbeit – ohne alles – aber mit viel gutem Inhalt. Es sind auch hier herrliche Tage.


Nach dem Wecken beginnt jeder Morgen mit einem Dauerlauf durch die taunassen Wiesen zur Badestelle. Dabei erfolgt immer auch gleich das Waschen im flachen Wasser am Ufer des Sees. Jeder trägt Seifenschälchen, Bürste, Lappen und Handtuch bei sich. Nach der Rückkehr zum Haus gibt es Frühstück. Das stärkt uns für die gemeinsame Zeit der Andacht und die anschließende individuelle Freizeit. Oft gibt es gemeinsame Unternehmungen in der nahen Umgebung.


Mittags müssen wir stets pünktlich wieder zurück im „Haus am See“ sein, wenn Herr Jagdhuhn pünktlich um 12.00 Uhr vor dem Haus mittels des geflochtenen Stricks (dem Quast) die Andachts- und Essens-Glocke läutet, die unter dem kleinen Glockendach hängt. Wir bringen dann immer einen gesunden Appetit mit. Jeder kann wohl verstehen, dass die Zubereitung des guten Essens viel Arbeit macht und nicht immer genau dann fertig sein kann, wenn die Uhr es verspricht und die Hand an der Glocke richtete sich eben nicht nach der Küche, sondern nach der Uhr.

Dann sitzen wir auf den Bänken und es wird das Lied gesungen, das von unserem Eintreffen kündet: „Wir haben II: Hunger :II, haben II: Hunger :II, haben Durst. Wo bleibt der II: Käse :II, bleibt der II: Käse :II bleibt die Wurst? Mir war der Text anfangs nicht so recht, weil es sich so fordernd anhört und wir selbst ja auch von unserem Küchen- und Tischdienst wissen, dass alles viel Arbeit macht ... aber es ist hier eben so „Sitte“ und die Küche macht fröhlich mit.

Das „Auskellen“ des Eintopfes braucht dann seine Zeit für die große Jungenschar aber wir warten natürlich und nach dem gemeinsamen Tischgebet mit unserem Dank beginnt das Essen.

Es ist gut, nach fröhlich-lauterem Tun vor dem Essen ruhig zu werden, „sich zu sammeln“, einen Moment still zu sein, darüber nachzuspüren, dass vieles in unserem Leben nicht selbstverständlich gut sein muss – vieles aber gut ist, dass es Gründe gibt, dankbar zu sein – letztlich auch für diese reichhaltige Mahlzeit, die sehr viele Menschen auf der Erde nicht haben. Eine Mahlzeit, die wieder Fleißige für uns zusammenstellten, die nicht wie wir reine Freizeit haben.

Sehen schon einige von uns den Boden des Tellers, so ertönt aus Richtung des Essenskübels auch schon der übliche, laut-fragende Ruf: „Wer will noch 'mal, wer hat noch nicht?“ Natürlich war aber klar, dass jeder schon einmal hatte.


Einen größeren Zeitraum nimmt das gemeinsame Singen ein. Wir singen entweder aus dem Kopf – also aus dem Mund des Kopfes ja sowieso – oder aus der „Mundorgel“, dem Heftchen mit den Texten zum Teil kirchlichen Liedern. Wir singen aber auch andere Volkslieder oder ganz lustige Weisen, genauso, wie sonst in der Jungschar auch.

Wir betrachten hier beim Lesen aber unseren Mundorgel-Jahrgang, denn von der „Mundorgel" erscheinen im Laufe der Zeit viele Ausgaben mit teilweise stark wechselnder Zusammenstellung der Lieder.


Ganz typisch ist ja das heimatliche Spottlied über den Brandenburger Friseur Johann Friedrich Andreas Bollmann (1852 bis 1901). Friedrich = Fritz, ein fleißiger Mann, hatte 11 Kinder, sprach in einer Notlage aber öfter dem Alkohol zu, um seine Sorgen für Stunden zu dämpfen. Er wurde öfter verspottet und auch das folgende Lied über ihn verfasst. Allerdings ertrank er nicht wirklich im See, sondern starb mit nur 49 Jahren im Brandenburger Krankenhaus. Hier ist das Lied über ihn:



In Brandenburg uff'm Beetzsee, da steht 'n Angelkahn

II: und darin sitzt Fritze Bollmann mit seinem Angelkram. :II


Fritze Bollmann wollte angeln, doch da fiel de Angel rin,

II: Fritze Bollmann wollt' se langen, dabei fiel er selber rin. II


Fritze Bollmann schrie um Hilfe: „Liebe Leute rettet mir,

II: denn ick bin doch Fritze Bollmann, aus der Altstadt der Barbier.“ :II


Nur die Angel ward gerettet, Fritze Bollmann der ersuff.

II: Und seit dem jeht Fritze Bollmann uff'n Beetzsee nich mehr ruff. :II


Fritze Bollmann kam in'n Himmel: „Lieba Petrus lass mir durch,

II: denn ick bin ja Fritze Bollmann, der Barbier aus Brandenburch“ :II


Und der Petrus ließ sich rühren und der Petrus ließ ihn rin:
II: „Hier jibts ooch wat zu balbieren, komm' mal her und seif mir in.“ :II


Fritze Bollmann der balbierte, Petrus schrie: „Oh Schreck, oh Graus,

II: tust mir schändlich massakrieren, det hält ja keen Deibel aus.“ :II


Uff de jroße Himmelsleita kannste wieda runter jeh'n,

II: kratz' man unten feste weiter, ick lass mir 'nen Vollbart steh'n“. :II



In einer der Nächte gab es in Mötzow ein heftiges Gewitter mit gewaltigem Sturm, der den Beetzsee aufwühlte. Auch am Morgen, als wir zum Waschen liefen, zeigte sich der See noch sehr schwarz, bewegt und die Wellen mit weißenSchaumkronen versehen. Weit vor uns auf dem See trieb kieloben ein Segelboot, das vom Sturm losgerissen und umgeschlagen worden war. Wir schon größeren Schwimmer konnten das Boot in gemeinsamer anstrengend-schwimmender Aktion umdrehen, obwohl es schwer und voll Wasser war, denn mit dem Mast nach unten, konnten wir es ja vorerst nicht ins Flachwasser ans Ufer bringen und bergen. Ein kleines Abenteuer, das uns viel, viel zu spät zum Frühstück kommen ließ, was wir mit umso größerem Appetit wieder ausglichen. Herr Jagdhuhn verständigte telefonisch die umliegenden Bootsstände von dem Fund, soweit diese über einen Telefon-Anschluss verfügten.

Bald schon konnte ein froher Eigentümer das Boot bei uns abholen und übergab uns eine Spende – einen Finder- und Bergungslohn für das Rüstzeitheim. Als die Sonne wieder strahlte sangen wir:



II: Jetzt fahr'n wir über'n See, über'n See, jetzt fahr'n wir übern :II See,

II: mit einer hölzern Wurzel, Wurzel, Wurzel, Wurzel,

mit einer hölzern Wurzel, ein Ruder war nicht :II dran.


II: Und als wir drüber war'n, drüber war'n und als wir drüber :II war'n,

II: da sangen alle Vöglein, Vöglein, Vöglein, Vöglein,

da sangen alle Vöglein, der helle Tag brach :II an.


Ein Jäger blies ins Horn, blies ins Horn, ein Jäger blies ins :II Horn.

II: Da bliesen alle Jäger, Jäger, Jäger, Jäger,

da bliesen alle Jäger, ein jeder in sein :II Horn.


II: Das Liedlein, das ist aus, das ist aus, das Liedlein das ist :II aus.

II: Und wer das Lied nicht singen kann, singen, singen, singen kann,

und wer das Lied nicht singen kann, der fängst von vorne :II an.



Noch weitere besondere Erlebnisse – aber ohne aufregende Zwischenfälle – folgten. Dazu gehörten unsere große Nachtwanderung durch Wald und Feld und die Lagerfeuer-Abende.

Spannende Geschichten, die langen in Fortsetzungen, gab es mehrere zu hören.

Schöne, ausgefüllte Tage. Nun geht es wieder heim. Vielleicht treffen wir uns im nächsten Jahr wieder hier, möglicher Weise aber auch in Hirschluch bei Storkow, südöstlich von Berlin.


Roter Kopf für braune Hose – eine seltsame Verständigung zwischen reiferen Menschen

Es war wirklich notwendig. Ich benötige eine neue Hose. Das sieht schon jeder, der es gar nicht sehen soll und überhaupt nicht sehen will. Wie eben der Volksmund in Reichsbahnkreisen manchmal spricht: es wurde „höchste Eisenbahn“. So ging Mutti mit mir zum KONSUM-Bekleidungshaus in der Rudolf-Breitscheid-Straße, Ecke Karl-Liebknecht-Straße, früher: Linden- Ecke Eisenbahnstraße. Genau das Gebäude, das früher für Fa. Tengelmann errichtet wurde.

Der Verkäufer unterbrach eigens für uns seine Mittagspause (während der Öffnungszeit des Hauses), in der er an einem Fischbrötchen mampfte und fragte nach unserem Begehr. So sprach denn meine Mutter: „Herr Bensch, wir hätten gern für unseren Jungen hier (in Wirklichkeit nannte sie sogar meinen nur innerfamiliär zulässigen Spitznamen) ein paar Burschen-Buchsen." –

Aber Mutti!!!“, entfuhr es mir unwillkürlich. Ich hätte vor unbehaglichem Schamgefühl in den Boden versinken mögen aber der Verkäufer überhörte meinen Beitrag, erkannte sehr wohl inhaltlich das geäußerte Anliegen und so wurde es eine braune Feinripp-Cordhose, von Herrn Bensch fachmännisch beäugt, wie diese so an meinem schlanken Körper hing. Er äußerte, dass sie bezüglich „ihrer Länge wunderbar auf den Stiefel falle. Es sollte sich erübrigen zu erwähnen, dass ich natürlich mitten im Sommer Halbschuhe trug! „Aber Herr Bensch !!!“ zu sagen, verkniff ich mir. Irgendwie schien seine Wortwahl zur Fachidiomatik zu gehören. Die beiden Erwachsenen verstanden sich in ihrer Ausdruckskunst eigenartiger Weise. Wieso eigenartig? Ich verstand es ja auch, würde es mir aber keinesfalls annehmen, nicht für meinen Sprachgebrauch nutzen.


Landleben in der Stadt

Wie schön. Im Frühsommer hat uns Tante L. (die nicht unsere Tante ist, sondern Muttis Freundin aus gemeinsamer Schulzeit) zur Kaffeezeit eingeladen. Sie haben ein Wochenendgrundstück, ein Schrebergärtchen am Horstweg. Leider war die Jauchegrube, also jenes Sammelbecken der menschlichen Verdauungsüberreste vormals köstlicher oder deftiger Speisen, nur mit alten, inzwischen morsch gewordenen Brettern überdeckt. Jeder Kenntnisreiche machte einen Bogen darum. Meine Schwester trat voller Vertrauen darauf, das Holz brach unter ihrem relativen Leichtgewicht zusammen oder besser: auseinander und sie stürzte mit einem Bein in die Grube, sie rutschte mit der Beininnenseite an der Jauche-Mauer entlang – bis zum Ende, wobei das andere Bein draußen blieb. Das Ergebnis sah nicht gut aus. Es waren so einige Tropfen die da flossen, wasserhelle und rosenrote, die vereint in die braune Brühe rannen.

Man soll eben nicht in alles blinden Glauben und Vertrauen setzen, sondern auch mal denkend prüfen! Unfallschutz geht alle an und Eigentum verpflichtet.

Trostspruch: Unjeschicktet Fleisch muss wech – eh die Katz' 'n Ei lecht, is allet wieder jut.


Landleben auf dem Land

Im Sommer sind wir ab und zu bei entfernten Verwandten, Familie Z., in dem uns nahen Ort Caputh zu Besuch. Es ist ein riesiges Grundstück, zwischen dem Schmerberger Weg und dem Spitzbubenweg gelegen und an zwei Seiten eben von diesen begrenzt. Viel weißer, nährstoffloser Sand, eine „strukturlose Beetkrume“, ähnlich der, die man an Ostseestränden vorfindet. Viel Sonne, ein kleines Häuschen auf dem Scheitelpunkt des Grundstücks, wesentlich näher dem Spitzbubenweg hinzu gelegen. Daneben der Hühnerstall und mit gehörigen Abstand in Richtung Schmerberger Weg das hölzerne Häuschen: Die Trockentoilette mit der Jauchegrube. Hier ist der Ort, dessen Stoffe den Pflanzen etwas geben könnte. Diese Grube ist aber nicht zugedeckt; hier kann man überhaupt nicht versehentlich auf „die Decke“ oder auf den Deckel treten. Das ist gut!


In Caputh steht in der Waldstraße das Sommerhaus von Prof. Albert Einstein. Das Gebäude ist ein Holz-Haus aus vorgefertigten Bauteilen, das der Architekt Prof. Konrad Wachsmann für ihn entwarf und konstruierte. Hier in Caputh erholte sich Einstein an Sonntagen vom Berliner Arbeitsalltag, sinnierte auf Waldspaziergängen, in ausgebeulten Cordhosen steckend oder rauschte mit seiner Segeljolle über die Potsdamer Gewässer. In diesem Haus verbrachte er nur wenige Sommer, bis die dämlichen, brutalen National-Sozialisten auch diesen übermächtigen Geist bedrohten, auch dessen Leben gefährdeten. Er riss noch rechtzeitig aus – in die USA. Viel zu viele konnten das nicht. Und Deutschland wurde grausamer und ärmer und überzog mehr als halb Europa mit Krieg.


Die Bustour von Potsdam, Bassinplatz, nach Caputh kostet uns 80 Pfennig Fahrgeld. Die Rückfahrt ebenso. Normaler Weise. Die Busse fahren oft mit Anhänger, den der Bus an einer dreieckigen Anhänger-Zuggabel hinter sich her zieht. Der Anhänger ist mit einer breiten einfachen mechanischen Schiebetür versehen. Der kassierende Schaffner muss von Haltestelle zu Haltestelle zwischen Bus und Anhänger wechseln, zwangsweise also auf dem Weg zwischen diesen Fahrzeugen immer wieder relativ frische Luft schnappen. Am heutigen Abend auf der Rückfahrt ist es im Anhänger schon stockdunkel und wir, meine Schwester und ich, sind die einzigen Fahrgäste. Eine Fahrgästin und ein Fahrgast. Es kommt kein Schaffner, nicht einer. Er sieht uns nicht im dunklen Anhänger. Ich bin schon ganz unruhig, weil ich die Beförderungsleistung entgegennehme ohne bezahlen zu können. Am Leipziger Dreieck in Potsdam hält der Bus kurz, weil jemand vorn aussteigen wollte – und wir hinten. Kaum sind wir draußen, fährt der Bus weiter. Bloß gut dass wir nicht erst mit einem Bein ... . So müssen wir unser Fahrgeld leider schuldig bleiben. Bis heute.


Morgentau

Mein Freund Hartwig hat mich eingeladen, heute mit den Fahrrädern in die Ravensberge zu rollen um Rehe zu beobachten. Dazu muss ich den Wecker auf 3.00 Uhr stellen, bin aber kurz vorher wach. Wir fahren bis zum Teufelssee, suchen für die Fahrräder und auch für uns gute Verstecke und warten ... und warten bis dann tatsächlich die Rehe frühstücken und am Seeufer ihr Frühstücksgetränk nehmen. Hasen sehen wir auch. Natur – fast ohne Menschen, wie schön. Alles geht so harmonisch, ruhig und friedlich vor sich. Zu unserem eigenen Frühstück kommen wir nicht zu spät zurück. – Und kein Teufel ist uns begegnet.


September ist's

Mit dem Beginn des neuen Schuljahres gehen wir nicht mehr in die Mittelschule (das Mittelteil von Grund-, M. und Oberschule, nein wir gehen in die ZAPO, die zehnklassige Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule, was etwa früher Realgymnasium genannt wurde). Im neuen Schuljahr wird vom 7. Schuljahr an, außerhalb des Unterrichts aber im Schulhaus, die Vermittlung der englischen Sprache angeboten. „Fakultativ“ sagt man dazu – ein richtiger Engländer weiß das. Man wird nur zugelassen, wenn man in den Hauptfächern jeweils eine bestimmte Mindestnote erreichte (dabei Deutsch mindestens 2 und Russisch mindestens 3). Bei weniger als „3,0“, also hier: bei höheren Zahlenwerten, besteht die Möglichkeit des Teilnehmens nicht. Was ich noch nie ahnte: Die freundliche Frau Engemann hat auch in dieser fremden Sprache gute Kenntnisse und unterrichtet uns. Bei ihr haben wir ansonsten keinen regulären Unterricht. Nachmittags ist der Umgang zwischen Lehrerin / Lehrer und Schülern viel lockerer. Wir sind eine kleine Englisch-Klasse von 10 Schülern, aus der 7a und 7b zusammengestellt. Frau Engemann trägt ihr Haar stets ordentlich frisch onduliert.


Ein Rückblick zum 13. Juni 1958 – das ist nochmals eine Erinnerung an die Tage in Schellerhau.

Bei meiner Notiz zum singenden Herrn Liebscher hatte ich erwähnt, dass mich dieser an unseren netten neuen Musiklehrer erinnert, der aus Thüringen zu uns kam. Ja, das ist nur noch eine Erinnerung, ist schon wieder Geschichte. Schade. Jetzt zum Anfang des neuen Schuljahres teilte man uns mit, dass unser Musiklehrer in den Großen Ferien ungenehmigt das Staatsgebiet der DDR verlassen habe, republikflüchtig geworden sei und er somit den Ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschen Boden an die Bonner Kriegstreiber verraten habe. Wieder einer von so sehr vielen Menschen.

Und gleich noch etwas:

Es ist die Sensation! Ein reines Mädchen kommt in unsere reine Jungen-Schule. Das ist eine etwas komische Sensation. Warum das? Es gibt in Babelsberg und Potsdam viele gemischte Schulen, also für Mädchen und Jungen gemeinsam. Sie aber wird ausgerechnet uns zugewiesen. Gibt es da einen Haken und wenn ja, wo ist dieser? Hübsch ist sie und plaudert gleich, wie weltgewandt und mit uns bekannt, ganz unbefangen mit allen Jungen. Sie heißt „René"“– ich Unwissender dachte immer das sei ein reiner Jungen-Name. Wir werden von unserer Deutschlehrerin, Frau Wieland, aufgeklärt. Nicht zu unseren Fragen – aber wir sollen es wissen: „Die Eltern von René gehörten der westdeutschen Kommunistischen Partei (KPD) an, fühlten sich im Kapitalismus sehr unwohl und sind zu uns geflüchtet, in die wahre Heimat eines jeden deutschen Arbeiters und Bauern, weil hier der Sozialismus aufgebaut wird.“ So! –

(Kleine Anmerkung von mir: Die KPD wurde in der BRD am 17. August 1956 verboten).

Ooch. René ist eine Exotin! Die Familie ist sozusagen gegen den üblichen Strom geschwommen. Extra zu uns geflüchtet – na, das ist ja was! Da soll sie es bei uns gut haben und sich wohl fühlen!

Leider bleibt René uns nicht lange erhalten. Waren es vielleicht vier Wochen? Dann war die Familie wieder spurlos verschwunden. Ohne Abschiedswort. Wie bei Nacht und Nebel. Hatte unser sozialistischer Aufbau den Erwartungen der Eltern doch nicht ganz zu 100% entsprochen? War der Familie vielleicht die hier gewiss erfolgte Befragung „der staatlichen Organe“ über ihr vergangenes Leben zu intensiv? Vielleicht sind sie in die Sowjetunion weitergezogen, um das wahre Glück zu finden, denn dort wird ja schon der Kommunismus aufgebaut. Oder hatten sie eventuell von „oben“ einen Auftrag, der sie an einen anderen Ort schickte? Vielleicht haben sie aber auch nur eine 30-Pfennig-Fahrkarte nach West-Berlin gekauft, weil sie das gesuchte Paradies hier nicht fanden? Viele Fragen denkender Schüler – aber keinerlei Antworten für sie. Ganz anders als beim Willkommensgruß „zur Einführung“, gab es beim Ende „der Besuchszeit“ für uns keine Aufklärungshinweise der Schulleitung. Das alles ist wieder weniger vertrauensbildend.

Das ging alles schnell, still und heimlich, etwas unheimlich – wir hatten keine Gelegenheit der René noch alles Gute für die Zukunft zu wünschen – und wieder eine hübsche Sensation weniger.


UTP

Bisher hatten wir das Schulfach „Werken“ mit verschiedenen Bastelarbeiten. Mit Beginn des neuen Schuljahres haben wir jetzt an einem Tage in zwei Wochen UTP. Unterrichtstag in der Produktion. Wir sind in der LPG – Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaft – im Dorf Satzkorn, wohin unser kunstsinniger Zeichenlehrer, Herr Donath, mit uns fährt. Hin- und Rückfahrt mit dem Zug, der lange Weg vom Bahnhof bis ins Dorf – ein gutes „Stück“ Zeit bleibt, um verschiedene Arbeiten in der Landwirtschaft kennen zu lernen. Kleinere Aufgaben auf dem Hof, auf dem Feld oder im Stall. Großaktion ist die herbstliche Kartoffelernte. Diese aber außerhalb des UTP. In diesen Tagen des Kartoffelsammelns verdienen wir sogar etwas. Waren es 10 oder 15 Pfennige je 25-Kilogramm-Kiepe? Ich weiß es nicht mehr – die Größenordnung stimmt.

Herr Donath unterrichtet nicht nur Zeichnen, Chemie und Physik, sondern ist jetzt auch unser Klassenlehrer. Wo Herr Ignor, unser bisheriger Klassenlehrer sich inzwischen aufhält, vermag ich nicht zu sagen. Wir haben ihn aus den Augen verloren.


Durchsichtige Unterrichtsauflockerungen

Mehrmals besuchen uns Glasbläser, die aus Lauscha und Umgebung zu uns hergewandert kommen. Ihr wisst schon: Mit der großen Kiepe aus Weidengeflecht durch den finsteren Tann, wie auch über Berg und Tal – so war's früher. Ein weißer und ein golden scheinender Hirsch röhrten fast 50 Jahre in unserem Schrank hinter Glas. Ehre den alten Meistern! Auch zierliche Vögel und Flaschenteufel und Weihnachtsbaumkugeln wurden geblasen und damit eine relative Ruhe der Andacht im Klassenraum erzeugt. Auch Sonnenmühlen wurden gezeigt, solche aber nicht in der Schule gefertigt. Glasaugenkünstler hatten immer noch wegen der Nachsorgen des Krieges viel Arbeit, um möglichst in rechter Größe und Farbe eine nicht funktionierende Augenprothese dem zweiten, noch sehenden Organ kosmetisch anzugleichen.


Nachmittagstaten

Wir sammeln permanent Altstoffe. Martin braucht Schrott – das ist der Siemens-Martin-Hochofen. Siemens wollen wir aber nicht mehr sagen. Das riecht entsetzlich nach Kapitalismus und Ausbeutung. Deshalb sprechen wir den Schmelztiegel lieber nur mit einem Vornamen an. Buntmetalle erbringen selbstmurmelnd höhere Erträge für uns, als das alte Eisen. Das Erfassen und Fortbringen von Flaschen, Gläsern und sauber gebündelten Zeitungen ist aber auch wichtig.

Wir klappern die Haushalte ab. Unsere „fliegende“, temporäre, Haupt-Aufkaufstelle befindet sich auf dem Weberplatz. Weil sie eben nicht ständig dort angesiedelt ist, benötigen wir bis zum Abgabe- und Aufkauf-Termin einige Zwischenlager.

Ergebnis: Solidaritäts-Abführung in der Schule und auch ein Teil für den eigenen Lebensunterhalt. Zusätzlich zum Erlös gibt es auch manchmal lehrreiche Heftchen zur Heimatkunde. So beispielsweise über die „Wanderung von Werder nach Glindow“ oder „Der Park Babelsberg“. Hier kann man einen Teil des Wichtigen nachlesen, was man sonst vielleicht nicht so erfährt.

Zitat: „Am 1. April 1927 wurde der Park Babelsberg Eigentum des Volkes, aber die Weimarer Zeit hat nicht die Geschichte weitergeführt und nicht durch neue Denkmäler den Sieg des werktätigen Volkes dargestellt. Das blieb erst unseren Tagen vorbehalten“. Ja.

Ja, so soll es sein. Ein Ausflug in die zeitnahe Geschichte. Aber wieso „blieb ... vorbehalten“? Ein „werktätiges Sieges-Denkmal unserer Tage“ können wir, kann niemand im Park Babelsberg zu keiner Zeit sehen, so sehr ich auch darauf wartete – bis 1989. In sozialistischen Literaturerzeugnissen lehrt man eben auch mal eine Mär! Gewiss aber befand es sich längst im Stadium der Planung – oder solch ein Satz musste einfach noch untergebracht werden, damit der Zensor die Genehmigung zum Druck freigab.


Was sonst noch so geschah:

Gestern musste ich wieder nach Potsdam in die Wilhelm-Külz-Straße 11. Meine Eltern sind immer noch ein bisschen altmodisch: sie sagen „Breite Straße“. 'Tschuldigung. So hieß sie bis nach 1945. Das ist ein kleines Stück vor der schräg gegenüberliegenden Turmruine der Garnisonkirche. In der Külzstraße ist von Firma Schukat Ammoniak zu holen. Das Haus Külzstraße 11 hat einen Hintereingang von der Parallelstraße aus, da ist es die Bauhofstraße 14a. Und hinter diesem Schukat-Haus in der Bauhofstraße, hat mal ein richtiger Bischof namens Eylert gelebt; deshalb sagt Mutti auch noch Priesterstraße, so wie sie bis 1945 hieß. Der Bischof hat für die Königin Luise, von der Mutti manchmal spricht, den Lebenslauf geschrieben. Dieser hat auch die Urgroßeltern unserer Mutti getraut – als Luisenbrautpaar, im Gedenken an die sehr früh gestorbene Königin. Sie, die Königin, wohnte gleich nebenan am Alten Markt, in dem Gebäude, das jetzt die Stadtschlossruine ist. Im Winter lebte sie aber meist in Berlin. Hauptsächlich regiert hat aber ihr Mann: König Friedrich Wilhelm III. Aber das kenne ich nur so oberflächlich vom Hören. In der Schule lernen wir aus diesen Zeiten nichts ... oder findet es später vielleicht eine Erwähnung aus dem Blickwinkel der Arbeiterklasse?

Der Wichtigste momentane Punkt ist für mich, dass ich mit dem schweren Kanister die weite Strecke nach Hause laufen muss. Mit dem Ammoniak in der Straßenbahn – undenkbar, verboten – wenn da etwas ausgelaufen wäre ... es wäre eine Katastrophe.


Fahrzeuge

Seit einiger Zeit gibt es ein tolles Auto aus unserer Produktion. Also „unserer“ bedeutet in diesem Falle: aus Zwickau ist es. Der „P 70“. Er sieht besser aus, als sein eher einfallsarmer Name es erwarten lässt. Seine Karosserie besteht nicht mehr wie beim IFA F 8 aus Sperrholz, mit Kunstleder überzogen, nein der neue Rohstoff kommt von den Baumwollfeldern, aus südlichen Gegenden der ruhmreichen Sowjetunion, aus Usbekistan. Eine Schicht Baumwolle wird bei uns in eine Metall-Form gelegt, die so aussieht wie das künftige Autoteil, man tränkt diese Lage Wolle mit halbflüssigem, warmen Phenolharz, – auch liebevoll: „Pertinaxbrühe“ genannt, es ist aber eher eine dicke Suppe oder ein dünnerer Brei – drückt die getränkte Matte maschinell ein wenig stärker in die Form und fertig ist nach zehnminütigem Trocknen die „Presspappkarosse“, offiziell: Duroplastischer Kunststoff. Daran kann nichts verrosten und nichts verbeulen (es könnte bei großer Gewalteinwirkung nur ein bisschen zersplittern). Und leicht ist sie auch. Nur etwa 35 kg Karossenmasse muss der Motor schleppen. Ja, jetzt endlich ist es Wirklichkeit geworden. – Auto-Überschlags-Versuche zum Haltbarkeitstest für Fahrzeuge mit einer „Pete“-Kunststoffkarosse unternahm ja schon bis zum Kriegsbeginn die Firma „DKW“ hier nebenan, am Hang des Reiherberges in Golm bei Potsdam. Die erfolgreichen Versuche wurden von den Ingenieuren des Ingolstädter Zweigwerks in Berlin-Spanau geleitet. Testobjekt waren die Fahrzeuge vom Typ F 7. Wegen des Krieges war mit den Tests und der Produktion erst mal Zwangspause. Aber jetzt geht's damit weiter voran – aber nur in der DDR.

Auch alte Autos können praktisch sein: Interessant ist es, dass die Potsdamer Post große Paket-Lkw mit Elektromotorantrieb mittels Akkumulatoren fahren lässt, die schon vor dem Krieg gebaut und eingesetzt wurden. Von hinten kann man noch die Kette sehen, welche die Kraft des Motors auf die Hinterachse überträgt.


Kriegsmunition ist auch heute noch allgegenwärtig

Ein schreckliches Ereignis: unserem Haus gegenüber, in der Siemensstraße 5, drei Treppen hoch, wohnte bis heute der K. M., ungefähr drei Jahre älter als ich. Von geöffneten Patronen soll er das Schwarzpulver gesammelt und schon mal zwischendurch für Silvester geübt haben. Vor einiger Zeit hatte er wohl, das wird nachträglich so rekonstruiert, einen größeren Sprengkörper, einen funktionstüchtigen Blindgänger mit Zünder in den Ravensbergen gefunden. Bei der Manipulation damit im Keller, erfüllte das Gerät die ihm ursprünglich zugedachte Funktion. Im Hause gab es eine gewaltige Detonation, die auch noch in unserem Haus hörbar war. Polizei kam und wohl auch ein Arzt. Nach langer Zeit fährt der Krankenwagen leer fort und ein schwarzes Auto heran. Den Jungen gibt es nicht mehr.

Mitmieter machten sich Vorwürfe, dass sie „um des lieben Friedens Willen“, über die Knallereien während der Mittagsruhe nur ergebnislos mit K. M. und seinen Eltern gesprochen und das nicht bei der Polizei angezeigt haben – Denunziationen (egal ob berechtigt oder grundlos) wegen kleinster oder scheinbarer Vergehen gehören in verschiedenen Bevölkerungs-Kreisen sonst zur Tagesordnung. Hier aber war es für eine Meldung zu spät.


Das neue Alt-Radio

Meine alleinstehende Tante Käte besuchen wir zwar oft in der Pestalozzistraße 10, sie ist auch öfter bei uns aber sie ist auch viel allein. Das zu ändern, suche ich ein Mittel: Mein Großcousin, ein ganz pfiffiger Bastler, hat sich von mir bereden lassen, für sie aus seinem Fundus ein altes, defektes aber noch gut aussehendes Radio neu zusammenzulöten und mir preisgünstig zu überlassen. Ich brauche nur die einfachen Reinigungs- und Pflegearbeiten verrichten, so dass das Gerät nun fast wie völlig neu aussieht. Ein „Schaub-Junior“ mit einer großen hell beleuchteten kreisrunden Sichtscheibe für die Sender-Skala, die das Zimmer wie eine kleine Lampe, einem Vollmond ähnlich, gemütlich erleuchtet. Ein Schmuckstück. Ein gutes Geschenk zu ihrem bevorstehenden Oktober-Geburtstag, – das sie aber nicht glücklich macht – und mich somit auch nicht. Leider kann Tante Käte inzwischen nicht nur noch mäßig sehen, sondern leider noch viel schlechter hören und das Hörgerät schafft es nicht zwischen Ohr und Radio ein hinreichender Vermittler zu sein. Schade. Es war ein Versuch. Sie kommentiert selbstbewusst: „Ich höre sehr gut – nur verstehe ich jetzt manchmal etwas schlechter“.


Was brachte die Unterhaltungsmusik in diesem Jahr?

Das kann man auf dieser Internetseite unter „Unterhaltungsmusik“ lesen.


Die Volksröntgenaktion ist ein Segen – diesmal aber wird nicht meine Lunge geröntgt.

Ich benötige dringend ein paar Schuhe. Nach mehreren Anläufen in unserer Stadt geben wir es auf und setzen uns in die S-Bahn. Aus einem Geburtstagsgruß ihrer Cousine, Tante Dörthe, stammend, hat Mutti etwas fremdländisches Geld in der Hand, dass sie jetzt für ihren Sohn opfern möchte. Wir betreten damit in Berlin nahezu lautlos den Einkaufspalast „Leiser“. Dort stehen für die Einkaufswilligen vorerst Schuhputzautomaten am Empfang, damit wir vorgereinigt den Palast der Schuhe betreten können. Wir lassen uns beraten und bekommen eine Anzahl von Schuhen in der vermuteten richtigen Größe vorgestellt. Ich brauche aber nur ein Paar. Beim Anprobieren von Schuhen braucht sich niemand auf das manchmal trügerische Tragegefühl verlassen, ob sie vielleicht später doch noch irgendwo drücken könnten, nun wirklich direkt passen oder sie sogar noch etwas Spiel auf Zuwachs bieten – nein, man tritt an einen vorne offenen Kasten heran, einem kleinen Rednerpult ähnlich, stellt den Fuß mit Schuh unten hinein und schon wird im Röntgenbild auf einer Mattscheibe exakt angezeigt, wie sich Fuß und Schuh zueinander verhalten. Sieht großartig aus, ist wohl aber auch nicht so sehr gesund, wenn man da öfter neue Schuhe kaufen würde. Und die Gesundheit der Verkäuferinnen, die dabei andauernd zugucken? Sie tragen keine schwere graue Bleischürzen gegen die Streustrahlung. Wir kauften also wunderschöne mittelbraune Schuhe mit gerippter „Specksohle“, die aussieht wie ein halbdurchsichtiger weicher Radiergummi. Ich trete damit so auf, dass es dem Namen „Leiser“ alle Ehre macht, leiser gehts wohl nimmer – das Kaufhaus hätte aber genausogut „Weicher“ heißen können. Die arg verschlissenen alten Schuhe ließen wir besser gleich in Berlin, die neuen durfte ich mir sogar etwas schmutzig machen und hielt die Füße in der Bahn im Schatten unter der Sitzbank. Man muss nicht gleich mit neuen Dingen „angeben“. Besonders nicht, wenn die S-Bahn im West-Ost-Grenzbahnhof zur Kontrolle hält.


Herbststurm

Unseren Mitschüler Hartmut Sch. ereilt eines Tages das ungütige Schicksal: In Potsdam gastiert auf dem Alten Markt der Zirkus Aeros. Das Großzelt steht zwischen der Ruine des Stadtschlosses und dem Alten Rathaus, der noch kriegs-kuppellosen Nikolaikirche und dem trümmerberäumten Platz, wo bis zum April 1945 das Palais Barberini stand und anschließend noch dessen Trümmer. Hartmut beehrte die Zirkuswelt mit seinem Besuch gerade an dem Tag, an dem ein starker Sturm aufkam und sich hier austobte. Der große Zeltmast wurde vom Sturm aus seiner Verankerung gerissen, umgeworfen und dieser kippte zwischen die Zuschauer, nicht ohne unserem Mitschüler zwei Rippen zu brechen. Oh, oh, wie schmerzhaft. Doch hätte es noch schlimmer ausgehen können. Für einige Tage war er nun der Held, der alles aushält. Zum großen Glück für alle Potsdamer sind bei den Unwetterfolgen weder Elefanten noch Löwen ausgebrochen, sie hatten sich wohl verkrochen. Viel lieber, hätten sie ihre freie Zeit aber gewiss frei in der Savanne verbracht.

Bald darauf sehen wir sowohl Hartmut, als auch den Zirkus wieder – ohne Zelt. Der Zirkus hat sein Winterquartier bezogen. Die ständigen Artisten und die Tiere leben in ihrer „Wagenburg“ in kalter Winterszeit hier in Babelsberg, am Neuendorfer Anger. Futterspenden oder finanzielle Sammelbeiträge werden gerne gesehen.


NAW und VMI

Für gemeinnützige Leistungen beim „weiteren Aufbau des Sozialismus“ haben wir kleine Klappkärtchen, in die wir uns nach vollbrachter Leistung den Gegenwert – Wertmarken des NAW – Nationales Aufbauwerk – kleben können und diese dann ablegen dürfen. „Wichtige Quittungen“ sind das. Dieses Prinzip wurde jahrelang beibehalten und diente auch den Erwachsenen zum Nachweis ihrer freiwillig und unentgeltlich erbrachten Stunden. Das waren beispielsweise offiziell anerkannten Bauhilfsarbeiten während der Feierabendzeit. Diese Markensammlung konnte man stolz vorweisen wenn man sich um eine Wohnung bewarb. Schon aus diesem Grunde hatten sie für uns Kinder oder Jugendliche keinen schwer wiegenden Nutzen. Später, als der sozialistische Nachkriegsaufbau im wesentlichen abgeschlossen zu sein scheint, wird eine Umbenennung von NAW auf VMI stattfinden Das ist dann die „Volkswirtschaftliche Masseninitiative“ freier unentgeltlicher Arbeit. Marken konnte man auch dafür in ein Nachweiskärtchen hineinkleben. Ich konnte mir dafür nichts kaufen. Ich weiß aber auch nicht, ob manch ein Erwachsener diese Ehrenpunkte vorlegen wollte, wenn er eine Autobestellung aufzugeben wünschte, um das Jahrzehnt der Wartezeit abzukürzen. Wer weiß?


Wieder ein Abschied

21. Dezember 1958. Es stirbt mit fast 85 Lebensjahren meine Tauf-Patentante Elisabeth Gandert, eine Diakonissen-Schwester der Oberlin-Klinik. Am 29. Dezember wird sie beerdigt.


Ich silvestriere

Überzähliges Geld für Knallkörper haben wir nicht. Aber ich leiste mir mal eine Kinderei, über die ich eigentlich „mit der Vernunft“ schon hinaus sein sollte: Ein alter Rollfilm wird fest in ein Stück Papier eingewickelt, angezündet und dann ausgetreten, so dass es nur noch „leise“ schwelt. Im Treppenhaus. Eine vorzügliche Stinkbombe, die die Mieter nicht gerade erfreut – aber unten die Haustür geöffnet und oben ein Fenster, zieht der rauchige Gestank bald wieder hinaus. Ja, auch ich war nicht immer „brav“.


1959Mein 13. Lebensjahr, 7. und 8. Schulhalbjahr

Die „Hundehütte“

Meines Vaters Gehbehinderung machten ihn zunehmend immobiler. Es wurde immer schwieriger mit dem Laufen-können. Die Eltern entschlossen sich, ein einsitziges Dreirad-Fahrzeug mit Moped-Motor der Firma Louis Krause in Leipzig, Elsbethstraße 22, zu kaufen. Es trägt die stolze Bezeichnung: „Krause-Piccolo-Trumpf“, rotweinrot. Wir kauften es im Fahrzeuggeschäft der KONSUM-Genossenschaft, in der Babelsberger Ernst-Thälmann-Straße, (bis 1945 und nach 1990 wieder Großbeerenstraße). Am Findling, für rund 2.000 Deutsche Mark der DDR. Eine stolze Summe und zwei Handvoll Rabattmarken gab es aber auch dafür.

Der KONSUM unterhält dort gegenüber dem Megalithen, neben dem Weg „An den Windmühlen“ zwei Pavillons als Verkaufsstellen. Trotz der großen mit eloxierten Aluprofilen eingefassten Fensterflächen ist es drinnen auch im Hochsommer nicht zu warm, denn die großen alten Linden überschatten diese Bauten angenehm. Im rechten Pavillon gibt es Fahrräder, wohl fast alle Ersatzteile für Diamant und Mifa und Reparaturlacke vieler Farbtöne (Nitro 90 Pf. das Fläschchen), auch Kinderwagen aus Zeitz, Dreiräder und Mopeds aus Suhl. Nun also auch „KPT“ aus Leipzig.

Man erhält also auch beim Kauf eines Fahrradventils eine Rabattmarke. Der Verkaufsstellenleiter ist der stets freundliche und hilfsbereite Herr Neumann.

Im linken Pavillon kann man Radio-Apparate, Plattenspieler, Tonbandgeräte und Fernsehapparate kaufen.

Als Familien-Fahrzeug hatten die Eltern eigentlich 1939 ein VW-Käfer für 999 Reichs-Mark angepeilt, der damals in seiner Null-Serie noch KdF-Wagen genannt wurde, wegen der Aktion und der auch hier in Aussicht gestellten: „Kraft durch Freude“. Aber mit dem Kriegsbeginn war dieses Sparziel zunichte und das Geld auch bald futsch. Die Produktion sowieso, die wurde auf ein Produkt als Militär-Kübelvariante und eine schwimmfähige Version umgestellt. Auch 80 Jahre später sieht man noch manchmal diese Kübel, solche inzwischen verhätschelten Exotikmodelle.

Der gute Tischler-Meister Walter Brendler baut uns im Vorgarten des Hauses aus gut erhaltenen Abrissbrettern einen wetterfesten Unterstand für Vatis Fahrzeug und unsere Fahrräder. Natürlich helfe ich dabei. Meine Aufgabe ist es dann, das Pappdach zu teeren und diese gescheckte „Hundehütte“ mit olivgrüner Ölfarbe schön einheitlich anzustreichen, damit diese nicht die Augen der Vorübergehenden beleidigt und sich im Sommerhalbjahr der Farbe der Pflanzenblätter unterordnet. Weil ich nun gerade bei solch einer schönen Arbeit bin, lege ich gleich noch elektrisches Licht in diese kleine Bude. Niemand braucht später dazu im Dunkeln einen Schalter suchen; es wird von der Wohnung aus geschaltet. Beim Bearbeiten der Metallrohr-„Panzerleitung“ rutsche ich allerdings ab und reiße mir den Daumen auf. Die Wunde versorge ich gleich fachmännisch selber aber es wird lebenslang eine längere „wirklich ausgezeichnete“ Narbe bleiben. Übrigens war in Wirklichkeit nie vorgesehen unseren lieben Hund in diese Schutzhütte einzusperren.


Wir bereiten uns energisch darauf vor, endlich die Teil-Stadt West-Berlin zu umfahren

Wir fahren mit der Eisenbahn und wer kommt mit? Bisher ging es in die Hauptstadt der DDR von Potsdam aus immer durch West-Berlin hindurch. Seit einigen Jahren wird fleißig gebuddelt. Wir bauen eine neue Eisenbahnstrecke. Den Außenring, eine südliche Umfahrung von Berlin. Manometer, welch eine Wirtschaftskraft!

Das erinnert mich deutlich an das Ausschachten des Teltow-Kanals – eine südliche Umfahrung ... vor fünf Jahrzehnten, als unter dem Kaiser Wilhelm II. ... was aber hat sich in dieser Zwischen-Zeit doch alles geändert!

Die Idee zu einer solchen Bahnstrecke ist nicht neu, nur die Beweggründe waren früher andere. Die National-Sozialisten hatten solches schon mal ins Auge gefasst aber die Geologen und die Brückenkonstrukteure sprachen über den Zeitaufwand und ergänzten mit Argumenten von hohen Kosten und vor allem mit den technischen Schwierigkeiten, eine sichere Gründung für Brückenpfeiler und Bahndamm in den Tiefen des Templiner Sees (an der Potsdamer Pirschheide) unter der mächtigen Schlammschicht hinzubekommen. Und die Nazis hatten wenig Zeit aber viele weitere Ziele. Also wurde die Verwirklichung verschoben. Wir machen das jetzt. Die neue Umfahrungsstrecke wird über Bergholz und Saarmund führen. Auch ein Bahnhof „Genshagener Heide“ wird, weit entfernt von einer menschlichen Siedlung eingerichtet und die Strecke wird dann in Berlin-Schönefeld enden – also am Acker. Das benachbarte Dorf heißt seit Hunderten von Jahren einfach nur schlicht „Schönefeld“ und „Berlin-Schönefeld“ heißt nur der neue Bahnhof. Mit Berlin als Großstadt hat das nichts zu tun. So aber schließt sich dann der Kreis einer Berlin-Umfahrung. Wenn wir später die Strecke benutzen, weil wir z. B. nach Berlin-Friedrichstraße möchten, kommen wir dann von der entgegengesetzten Seite als bisher. Da müssen wir umdenken lernen. Und wir haben das Fahren durch West-Berlin erfolgreich vermieden, weil diese Strecke für uns gesperrt wird. Wir sehen nun für den gleichen Fahrpreis, viel, viel längere Zeit etwas von der Welt. So schön ist das.


Ich bin jetzt mal dort, wo im Herbst die Hirsche röhren werden

Die Großen Ferien beginnen vielversprechend. Erst Muttis Geburtstag, dann Jugendrüstzeit. Diesmal bin ich nicht in Mötzow am Beetzsee bei Brandenburg, sondern in Hirschluch bei Bestensee. Dort ist es auch sehr schön. Fast am Besten.

Auch andere Spitzenerlebnisse gibt es getreu dem Motto. „Höher – weiter – schneller“: Das Meteorologische Institut Potsdam verkündet uns: Am 11. Juli 1959 herrscht die Rekordtemperatur von 38,4 °C im Potsdamer Schatten. Puh, ist das eine Hitze. Die Potsdamer sind DDR-Spitze! Ist doch gut, dass wir uns im schattigen Hirschluch aufhalten. Noch schöner wäre es allerdings auch jetzt, so wie im Vorjahr, im See zu schwimmen, um ein Boot zu retten. Es bietet sich hier allerdings momentan keines an.


Besuch am Rande der Prignitz

Zurückgekommen, geht es schon bald erneut auf große Tour. Mein Vater hat doch jetzt diesen „Krause-Piccolo-Trumpf“ ein Dreirad-Fahrzeug mit Mopedmotor, wegen seines Bein-Handicaps und wegen des Preises, der gerade noch erschwinglich war, weil lange gespart wurde. Und ich habe dafür sein Fahrrad, das wisst ihr ja. Wir besuchen unsere Verwandten in Wittenberge an der Elbe, in der Prignitz, im Bezirk Schwerin. Der Weg dorthin führt uns von Babelsberg durch Werder an der Havel und das große Obstanbaugebiet sowie durch Brandenburg mit seinem Stahl- und Walzwerk. Dann verlassen wir schon bald unseren Bezirk Potsdam und überrollen unbemerkt die Grenze zum Bezirk Magdeburg. Es geht ein frischer Wind, ein Gegenwind und ich habe ganz schön zu kämpfen, um mit dem Moped mitzuhalten. Na, einige Male hält Vati an und wartet auf mich und eine Frühstückspause halten wir ja auch zwischendurch. Das nächste Zwischenziel ist Genthin, bekannt durch den VEB Waschmittelwerk (Henkel lässt aus der Vergangenheit grüßen) und dann Jerichow. Bald sind wir in der altmärkischen Stadt Tangermünde mit seiner alten Kaiserpfalz. Hier halten wir eine Mittagsmahlzeit in der „Pony-Bar“. Es gibt hier ausschließlich Pferdefleisch-Erzeugnisse. Wir wählen Bouletten und als Kraftfahrer Fassbrause dazu. Die Portionen sind so groß, dass man sie durchaus „Boul“ (ohne den französischen Verkleinerungssuffix) hätte nennen können. Dann geht es weiter nach Stendal. Hier sind 110 km geschafft und wir entschließen uns, dass ich an diesem stärker gegenwindigen Tag die restlichen 50 km mit dem Fahrrad im Eisenbahnwagen zurücklege. Dafür entrichte ich am Fahrkartenschalter 4 D-Mark + Fahrradkarte. Vati rollt indessen auf eigenen Achsen vorerst gen Osterburg. Das ist die Geburtsstadt seines Vaters und somit also die meines Großvaters Karl Friedrich August Janecke. Das Wohnhaus von dessen Eltern steht noch – aber heute sehen wir es nicht. Ich werde es später besuchen! Weiter führt der Weg durch Seehausen dem Norden entgegen. Als wir die Elbe überqueren, verlassen wir damit den Bezirk Magdeburg. Am Bahnhof in Wittenberge, inzwischen im Bezirk Schwerin angekommen, treffen wir uns wie verabredet wieder – welch ein Wunder – um gemeinsam am Ziel einzutreffen.

Viel erlebe ich in diesen Tagen, denn diese Gegend habe ich noch nie besucht. Der Stadtrundgang gibt einen groben Überblick. Dann geht es in die Details, die ich nur kurz mal aufzähle: Bahnhof, Heimatmuseum, Rathaus, das neue Kulturhaus, Jugendstilviertel, das Gelände der Gasanstalt in der früheren Schützenstraße. Das ist dort, wo mein Großonkel, der Zimmermann Wilhelm Janecke wohnte, meines Opas Bruder, der aber als Soldat aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück kam. Angeschaut werden der Uhrenturm vom VEB-Veritas-Nähmaschinen-Werk, Wasserturm, Schule und im alten Ortskern zwischen Stern und Hafen das Steintor, die evangelische Stadt-Kirche. Stadtpark, Russenteich, Postamt. Dann die Ölmühle, das Reichsbahnausbesserungswerk in dem mein Onkel Karl Giese sein Berufsleben als Schlosser verbrachte. Die Elbbrücke, welche die Eisenbahn und der Straßenverkehr gemeinsam nutzen, nur vorsichtshalber zu unterschiedlichen Zeiten, ist eine besondere Attraktion. Die mächtige, rund 1 km lange Brücke von 1911, war zum Kriegsende, am 12. April 1945, gesprengt worden. Sowjetische Pioniere bauten schon im 45-er Herbst eine Behelfs-Holzbrücke, bald kamen auch Reparaturleistungen aus Stahl dazu. Und seit 1950 wird sie nun abwechselnd von Schienen- und von Straßenfahrzeugen genutzt. Diese eher sehr seltene Art und Weise wird bis 1976 anhalten.

Aber weiter mit den Besichtigungen: Ich sehe die Wohnstätten meiner Vorfahren Janecke und Jochmann, die nicht mehr am Leben sind. Meine Führerin durch diese interessanten Tage ist meine schöne Großcousine G., die genauso jung ist wie ich – wir wurden im gleichen Monat des gleichen Jahres geboren. Aber von verschiedenen Müttern, die sich allerdings kannten.

Irgendwie ist es schon komisch und schade, dass ich diesen Familienzweig erst jetzt kennen lerne. – Es sind schöne, erlebnisreiche Tage. Insgesamt eine feine Bildungsreise.

Als wir an einem dieser Tage vom Straßenbaum vor dem Hause einige reife Birnen ernten, statt sie vergammeln zu lassen weil diese niemand erntet, sprach uns niemand dazu an. Aber ein ganz mutiger Volkskorrespondent hatte das fein und still aber genau beobachtet. Am nächsten Tag stand über unsere Untat ein halblanger Zeitungsartikel in der sozialistischen Presse des Kreisblattes – über ungehörige Jugendliche, die wohl nichts weiter zu tun haben, als ... und der Herr Volkskorrespondent hatte nicht einmal gewusst, dass man das darf. An einem anderen Tag waren wir, meine liebe Großcousine und ich mit den Rädern über Weisen nach Perleberg gefahren, um auf dem Markt Kirschen zu kaufen. Die Früchte hüpften auf dem Rückweg etwas zu sehr in den Spankörben, wenn sie auch nicht heraus springen konnten. Die etwa 12 km lange Straße weist eine Kopfsteinpflasterung auf und nicht immer kann man exakt am Rand rollen, wo sich ein bisschen ausgleichender Sand sammelt. Kurz: Unsere Hinterradfelgen sah beim Eintreffen in W'berge kräftig rot aus und alles klebte „ganz prächtig“ vom süßen Saft.

In der Zeit unseres Aufenthalts in der Elbestadt stößt auch Hartwig zu uns. Gemeinsam treten wir den Rückweg nach Potsdam an. Diesmal über Weisen, Perleberg und dann auf der F 5, (Fernverkehrsstraße Nr. 5), der Chaussee Berlin – Hamburg, immer geradeaus gen Süden, über Gumtow und Kyritz. Hier legen wir eine Ruherast ein und Hartwig fotografiert ein wenig. Dann rollen wir durch Wusterhausen, Friesack, Nauen, Wustermark und schließlich durch Potsdam, nach Babelsberg. 152 km haben wir strampelnd zurückgelegt und schlafen anschließend sehr gut. Selbst mein Vater, der ja auf der Reise die Moped-Motor-Unterstützung genoss, bemerkt am nächsten Tag scherzhaft: „Wie kann ein einzelner Mensch so sehr müde sein“. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Obwohl, die Friedensfahrer auf der Drei-Länder-Radrenntour, leisten ähnliches – und in viel kürzerer Zeit.


Aber schon kommen Tage mit neuen Eindrücken auf mich zu – oder ich reise zu ihnen hin:

Erlebnisreiche Tage vom 15. August bis 04. September 1959 im Kindererholungsheim, dem späteren Kinderkurheim, „Kraushübel“ in Rautenkranz, im Sächsischen Vogtland


Die Vorbereitung

Es war der wahrscheinlich schon ein wenig schwerer hörende Schularzt, der im Winter recht laut und vernehmlich festgestellt, hatte: „Der Junge ist sehr groß, etwas zu rank und auch recht blass“, „Er soll man noch mal zum Erholungsaufenthalt. Das milde Reizklima eines Mittelgebirges würde ihm sicherlich gut tun.“ So etwa verkündete der Medizinmann schon wieder sein Untersuchungsergebnis – und die späteren Folgen dazu werden sehr schön sein.


Vergangen ist inzwischen rund ein halbes Jahr. Ich habe schon gar nicht mehr an die Schuluntersuchung gedacht, denn es gibt ja täglich so vieles an Interessantem zu bedenken – und plötzlich kommt da ein Brief mit der Nachricht, einer Einladung, der Aufforderung den Koffer zu packen.

Die Sozialversicherung war in der Zwischenzeit dem ärztlichen Rat gefolgt, fleißig tätig und hatte für mich aus ihren Angeboten und Möglichkeiten einen dreiwöchigen Sommer-Sonnen-Sachsen-Aufenthalt ausgewählt. Die Erholung soll stattfinden in einem Haus, das „Kraushübel“ heißt. Ist das etwas gewöhnungsbedürftig und wundersam? Das Gebäude steht außerdem irgendwo in dem schönen Doppelort mit dem mir durchaus ungewöhnlich erscheinenden Namen „Morgenröthe-Rautenkranz“, im tiefen Süden unseres Landes, im Bezirk Karl-Marx-Stadt, gelegen. Dieser Bezirk ist eine riesige, teils mittelgebirgige Landfläche, die komischer Weise den Namen „-Stadt“ trägt, was ebenfalls etwas seltsam anmutet. Vielleicht liegt das ja aber auch nur an mir. Meine Tante Käte, der ich das alles erzähle, steht mir aber bei und sagt in ihrer Berliner Mundart, in die sie noch manchmal sprachlich fällt: „Na, det ist ja wohl ein Ding aus'm Tollhaus. Versteh'et wer will“.

Na ja, die Leute im Westen haben es ja auch nicht viel anders gemacht. Dort am Rhein und an der Düssel haben sie eine riesengroße Stadt, die in dem schrecklichen Krieg zum großen Teil zerstört wurde. Deren Einwohnerzahl geht jetzt aber schon wieder auf die 700.000 Personen zu. Und wie wird diese große Stadt genannt? Richtig: Düsseldorf! Siehste.


Morgenröthe-Rautenkranz – der Name für einen Doppelort

Dass mir der Doppelname Morgenröthe-Rautenkranz etwas ungewöhnlich vorkommt, liegt gewiss nur an mir, weil er für mich noch so neu ist. So gibt es ja auch einen lustig scheinenden Namen für gar unlustige Verhältnisse an der Grenze zu Westdeutschland bei Hirschberg: Töpen-Juchhö. Hört sich an, wie ein Jauchzer oder zumindest wie ein Juchzer. Ein Ort liegt auf der Ost- der andere auf der Westseite der Grenze, so wie manche geteilte Familien, denen eher zum Heulen ist. Und ich selber wohne ja ebenfalls in einer Stadt mit einem Doppelnamen: Potsdam-Babelsberg, was ich aber gewohnt bin und es mir daher ganz normal erscheint. Und was machen doch manche Leute denen dieser Name noch neu und ungewohnt ist – schreiben beispielsweise als Teil der Adresse versehentlich: „Postamt-Wabelszwerg“ und ähnliches – nicht aus Bosheit, sondern weil sie es eben nicht richtig wissen. Die freundlichen Polit-Kriminal-Kommissare des Potsdamer Postzollamtes müssen dann entscheiden, ob die Sendung zum Absender zurückgeht oder ob sie sich mühen wollen, den Empfänger nach angegebener Straße und Hausnummer zu ermitteln. Für den verbleibenden unklärbaren Rest gibt es große Sammelbehälter, die ständig wieder geleert werden müssen. Man munkelt, dass dort hinein auch gerne Weihnachtpakete kommen, falls die lieben Brüder und Schwestern aus dem Westen, nicht nur >Potsdam< in die Empfänger-Anschrift schreiben und, wie vorgegeben,: „Geschenksendung – keine Handelsware“.

Nein, mitunter liest man äußerst unkorrekte Bezeichnungen wie >Liebesgabe< oder auch noch ganz frech geschrieben >Ostzone!< oder SBZ (Sowjetische Besatzungszone), statt >Deutsche Demokratische Republik< oder zumindest doch >DDR<. Mitunter fehlt auch das vorgeschriebene Inhaltsverzeichnis. Da ist es nicht verwunderlich, dass es mit der Zustellung nicht immer so klappen kann. Aus jenen zahlreichen Sammelbehältern darf nichts vom Guten verderben. Wird es wohl auch nicht. –


Vor mir habe ich also wieder eine Zeit, in der ich nicht hier in Potsdam-Babelsberg, meiner angestammten Heimat, weile. Das merkt jeder, der das Foto unserer Schulklasse vom Beginn des achten Schuljahres betrachtet. Das bedeutet, man sieht mich eben nicht auf diesem Bild, denn ich darf statt zum schulischen Fototermin zu dieser Zeit im Vogtland sein. Ein Verlust wird es nicht sein, denn die Zukunft weiß, dass dort in Rautenkranz ein sehr schönes Gruppenfoto entsteht, das mich mein Leben lang begleiten wird. Die „Großen Ferien“ sind für mich auch in diesem Jahr wieder etwas verlängert worden. Neun statt der üblichen acht Wochen. Nicht schlecht. Womit ich das wohl verdient habe?


Sonnabend, 15. August – Unsere Reise durch das Land. Die Ankunft im Heim

So fahre ich nun nach Morgenröthe-Rautenkranz, in einen Ort, der eine Anzahl von Busfahrstunden südlich meiner Heimatstadt liegt. Am Ende der langen Fahrt von Potsdam hierher in das Vogtland, ist es mir komisch zumute, dass man dann plötzlich doch am Ziel eingetroffen ist – es nicht mehr weiter geht. Da sind wir nun. Zwei Busse voller Kinder vor dem Kindererholungsheim „Kraushübel“, Rautenkranz, Carlsfelder Straße 17. Kleinere und größere Kinder, so etwa 75 an der Zahl.

Die Heimleiterin heißt Frau Böhm. Sie begrüßt uns freundlich, ruft unsere Namen von einer langen Liste auf und teilt uns in verschiedene Gruppen ein. Vier Gruppen sind es zum Schluss. Die ganz Großen aus Gruppe I verlassen gleich wieder das Gebäude, denn sie werden ein paar Schritte weiter, an der Scheune und den Ställen vorbeigehend, im Haus „Kuckucksnest“ wohnen. Knapp 200 m sind es von unserem Haupthaus bis dorthin. Das ist dort, wo sich auch der Speisesaal befindet, aber eine Treppe darüber. Ihr wisst ja: Kuckucksnester sind nur selten auf ebener Erde anzutreffen. An einer Seite des Speisesaals befindet sich auch die große Veranstaltungsbühne. Zwischen den Häusern sind hübsche Blumenrabatten angelegt mit Sommerazaleen und den überaus gesunden Ringelblumen (Calendula offizinalis oder so ähnlich), aus denen man eine prima Heilsalbe herstellen kann. Später erfahren wir, dass sich kein Gärtner darum kümmert – es gibt so eine Art Gruppenplan, aber nur für die Erwachsenen, und jeder vom Personal kümmert sich um ein Stück Erde mit den Blumen. Nun werden auch wir Kinder der Gruppen II bis IV in die Zimmer eingewiesen. Ich gehöre zur Gruppe II, zu den fast ganz Großen. Wir wohnen im Erdgeschoss des eigentlichen Heimes, des Haupthauses, mit dem Symbol der kleinen weißen Friedenstaube als Hauszeichen am dunkelbraunen Holz-Giebel. Eine Treppe höher die Gruppe III und im Dachgeschoss, bereits mit schrägen Wänden, die Mädchen. Dort oben sind auch unsere leeren Koffer untergebracht. Nachdem uns unser Zimmer gezeigt wurde, begann ein leichter kurzer Sturm auf die Betten mit den „besten“ Standorten. Das beruhigt sich gleich wieder, nachdem wir die Betten mit unseren Sachen kennzeichnend belegt haben. Taschen oder Koffer haben natürlich auf dem Bett „nichts zu suchen“. Zehn Betten sind es im Zimmer, die in zwei Fünfer-Reihen mit den Kopfenden an den Wänden aufgestellt sind.

Anschließend machen wir uns mit einer kleinen Katzenwäsche frisch. Der Waschraum befindet sich gleich nebenan. Man braucht ihn nicht lange suchen. In der Mitte des Raumes stehen zwei sich gegenüberliegende Reihen von Waschbecken. Alles ist hell gefliest und zwischen den Waschbecken werden die Zahnputzbecher aufgereiht.

Im Nebenraum: Links die Duschen für das tägliche wechselwarme bis kalte Benutzen und ganz rechts die tiefere breite Rinne für das Wassertreten. Das kalte Wasser wird etwa so getreten, wie der Storch es mit dem Salat tut sagt der Volksmund zu dieser kalten Vorsorge- und Heil-Maßnahme, die wohl damals der medizinisch geschulte Pastor Kneipp allen warm ans Herz legte.

Im Anschluss an die Begrüßungs-Mahlzeit (Brühnudeln, siehe Erläuterungen im Anhang) stellt uns Frau Ursula Böhm auch gleich alle Leute (de Leit) des Hauses vor, die sich um uns bemühen, die uns den Aufenthalt angenehm gestalten werden: die freundlichen Erzieherinnen sind ja auch gleichzeitig Lehrerinnen, so dass Kinder während der Schulzeit nichts versäumen werden, die heilende Krankenschwester, die appetitlichen Küchenkräfte, die viel schreibende Dame aus dem Büro, das emsige Reinigungspersonal, die Fleißigen der Nähstube und den Hausmeister im blauen Kittel. Viele Augenpaare sehen uns recht erwartungsvoll, ja einladend, an. Die meisten lächeln, als ob wir was Besonderes seien und das ist schön, obwohl wir ja nicht ihre Einzigen sind. Wir wissen es ja: Vor uns waren andere Kinder hier, die erst vor kurzer Zeit abgereist waren und bald nach uns werden auch wieder weitere Erholungsbedürftige folgen.

Nur, gleich alle Namen der Erwachsenen zu behalten, ist eine zu schwere Aufgabe. Das muss nicht sein. Die Erzieherinnen für unsere Jungengruppe – wir sind 21 Mann oder heißt es richtiger: wir sind 21 künftige Männer?) – sind Fräulein Hennersdorf und Fräulein Lange – wie wir sie ansprechen sollen. Eigentlich heißt Fräulein Hennersdorf Inge und ist sehr nett. Blond und hübsch anzuschauen. Die dunkelhaarige Gisela Lange geht genauso freundlich mit uns um – richtige Kumpelinen. Fast! Später erfahre ich, dass Fräulein Lange die Tochter unserer guten Köchin und des Hausmeisters ist. Alle Erzieherinnen sind sehr adrett – unter anderem mit weißer, gestärkter Schürze und weißen Söckchen gekleidet, was uns daran erinnert, dass wir uns in einem Erholungsheim zur Kur befinden und nicht etwa denken, wir hielten uns in einem Kinder-Ferienlager zum Spaß und Vergnügen auf. Unsere Erzieherinnen sind etwa so groß wie wir, wie die größeren Jungen unserer Gruppe. Sie sind bestimmt auch nur ein paar Jährchen älter als wir.


Sonntag, 16. August Einige Notizen zum Haus und seiner näheren Umgebung

Das Wort „Hübel“ kommt vielleicht aus dem vogtländischen Sprachschatz und bedeutet so viel wie „kleiner Berg“. Also, auch „Hügel“ könnte man wahrscheinlich frei übersetzt ebenso sagen – nur würde das hier wohl niemand verstehen. Diese hübeligen Wiesen, die das schöne Erholungsheim umgeben, gehörten früher mal, als sie noch nicht als Volkseigentum galten, einem Acker- und Wiesenmann, der Kraus oder Krause hieß. Vielleicht hieß er so, weil einer der Ersten seiner Sippe gekräuselte Haare auf dem Kopf trug oder krause Gedanken im Kopf hatte – wer weiß das schon noch – es wird damals gewesen sein, als die Familiennamen aufkamen. Und dieser Name blieb über die Zeiten dann bis heute erhalten. Deshalb: Kindererholungsheim Kraushübel. Das ist also soweit geklärt, wie man es erklären kann.

Natürlich haben wir erstmal das Haus „beschnuppert“, uns mit den Einrichtungen vertraut gemacht. Es ist ein schönes Gebäude und es ist wohl sogar noch jünger als ich; das ist kein großes Alter für ein Haus. Zwar wurde es schon vor dem Krieg gebaut, damals auch für ausgesuchte Jugendliche, wurde wohl aber nicht ganz fertig, weil der Krieg dazwischen kam. Richtig zur Erholung genutzt wurde es dann erstmals 1948, als es in Deutschland noch nicht einmal die DDR gab. Und seitdem arbeitet auch unsere Heimleiterin schon in diesem Haus. Damals, als es eingeweiht wurde, und die ersten Kinder das Haus in ihren zeitweiligen Besitz nehmen durften, war Frau Böhm gerade 21 Jahre jung – das erfahre ich erst viel später und so nebenbei, denn über das Alter der Damen wird nicht geplaudert. Die Zukunft weiß, dass Frau Böhm viele Jahrzehnte, ihr gesamtes Berufsleben, die Heimleiterin sein wird, weil sie ihr Leben den Kindern und deren Gesundheit gewidmet hat.

Unten ist das Haus gemauert, oben aber mit dunkelbraun gebeizten Holzbrettern verkleidet.

Innen scheint das Haus viel größer, als es von außen wirkt.

Es gibt für die Kinder-Gruppen Räume für Spiele aller Art und darin auch genug Platz zum Schreiben und Lesen. Besonders schön ist es in der Sonnenveranda, die man seitlich an das Gebäude angefügt hat und die sich sogar noch um eine Hausecke herumzieht, so dass man lange Zeit am Tage einen schönen hellen Platz mit einer prima Aussicht auf die Wiesen und den Wald hat.

Vorgesehen wurde auch ein Raum zur Gymnastik gegen Haltungsschäden, aber wir sind ja im Sommer hier und erledigen das draußen, denn dort befindet sich der Sport- und Spielplatz, auf dem auch ein Karussell und die Schaukeln stehen.


Außer dem eigentlichen Heim mit dem Bild der weißen Friedenstaube am Dachgiebel gibt es das Wirtschaftsgebäude. Hierin war früher „die Wirtschaft“, also die Gaststätte der Frau Bindig. In diesem Haus wird für uns gekocht. Die Frauen haben es nicht leicht, die schweren, vollen Essenkübel täglich zum Speisesaal hinüber zu tragen – auf dem Rückweg ist's leichter, weil der Inhalt verteilt wurde. Da könnten sich die Hausmeister mal ein bisschen ihre Köpfe zerbrechen, um den Transport zu verbessern. Man könnte mit einem Wagen oder auf einer kleinen Schienen-Rollbahn, ... es wäre nicht schwierig Wirbelsäule und Gelenke zu schonen. Auch ist in diesem Haus der Trockenraum für feuchte Kleidung untergebracht und der Waschraum, den wir aufsuchen, wenn wir von den Wanderungen heimkommen, bevor wir zum Essen gehen. Zusätzlich wohnen zwei Familien unseres Heimpersonals in diesem Haus. Auch das zweite weiße moderne Steingebäude mit dem Speisesaal und dem Kuckucksnest darüber, sieht nicht so sehr typisch vogtländisch aus. Im Speisesaal stehen mehr als 20 Tische für jeweils 4 Kinder. Vorn befindet sich die Bühne für kulturelle Veranstaltungen, so richtig erhöht und mit Vorhang wie im Theater.


An Schweinen und Hühnern fehlt es auf dem Kraushübel-Grundstück auch nicht. Sogar „gut milchende“ Ziegen gibt es. Die wohnen bei der Scheune neben dem Spielplatz – aber sie sind wohl weniger zum Kuraufenthalt hier. Insgesamt könnte man es einen kleinen Heimtierpark nennen. Im Moment brauchen diese Hausgenossen sich auch keine Sorgen machen – auf dem Speiseplan ist erst mal nichts vermerkt, was sie in Aufregung versetzen sollte. Allerhöchstens „verlorene Eier“ von den Hühnern.

Nahe am Heim befindet sich eine Rodelbahn, aber es ist keine Sommerrodelbahn zum Rutschen oder für solche Sportgeräte mit Rädern, sondern eine sehr schöne nur für Schneekufen. Jetzt ist August und deshalb Rodelruhe.

Hinter dem Küchengebäude und dem Speisesaal mit Kuckucksnest haben wir zwischen den überkronenden Bäumen noch eine weitere große halbschattige ebene Fläche für Sport und Spiel. Daran anschließend, im Wald zwischen den Granitfelsen, finden wir steinerne Pechpfannen. Es sind erhalten gebliebene „Zeugen“ der früheren Pechherstellung. Das muss ich wohl erst erklären, denn es hört sich doch komisch an, wenn jemand sagt: „Da habe ich aber Pech gehabt“, und ein anderer darauf antworten würde: „Na, das wurde doch extra für Dich hergestellt“. Eigentlich kennt es ja jedes Kind ein bisschen – von Frau Holle und den beiden Marie-Mädchen. Bei diesem Pech handelt es sich also nicht um „schlechtes Glück“, sondern um eine Ausschmelze von Baumharz, das damals beispielsweise zum Schmieren der Wagenachsen und also auch der Räder für Fuhrwerke gebraucht wurde. Wir bevorzugen stattdessen heute gern das „Abschmierfett, rot“ vom VEB Fettchemie Karl-Marx-Stadt. Der Schuhmacher nutzte dieses Pech zum Abdichten der Schuhsohlen gegen Nässe und zum Festigen der Nahtfäden. Der Böttcher brauchte es zum Dichten der Fässer, wie auch der Bootsbauer, der beim Kalfatern (siehe Erläuterung im Anhang) die Fugen mit dem pechgetränkten Werg oder Weißstrick schloss. Der Apotheker brauchte Pech zum Einmischen in manche bittere Arznei und zu anderen Zwecken. Es galt also insgesamt schon als gutes Glück, wenn man viel Pech hatte. Die Pechherstellung – eine Arbeit im Freien aber trotzdem bei schlechter Luft. Trotz des großen Bedarfs für viele Einsatzgebiete wurde die Tätigkeit nur gering entlohnt, so dass der Hunger ein steter Gast bei den Pechsiedern und ihren Familien war. Beim weiteren Erkunden dieser Heimumgebung kommen wir auch gleich zur „Hirschlecke“ – besondere Steine im hübeligen Felsgelände, die von den Tieren des Waldes gern genutzt werden, um dringend benötigte Mineralien aufzunehmen, abzulecken. Schon die damaligen Tiere wussten genauso wie die heutigen sehr genau, was sie unter anderem an Erdalkalimetallen wie Calcium und Magnesium brauchen, um ganz ohne Kuraufenthalt gesund zu bleiben. Übrigens: Nicht nur Hirsche bedienen sich da als Feinlecker.

Auf einem ersten Zick-zack-Kurs durchs Dorf lernen wir den Erholungsort ein bisschen kennen. Wir gehen in Richtung des Schönheider Berges und des „Feldbodens“, kommen am Bahnhof, danach am Landgasthof sowie später an der Feilenhauerei vorbei (Erläuterung im Anhang) – eigentlich macht diese viel Lärm um ihr Produkt, aber heute ist Sonntagsruhe. Wir gehen über zwei Bächlebrückle. Auch das Werk der Brunner-Kommandit-Gesellschaft sehen wir. Das hört sich nur so schlimm an, hat aber zum Beispiel nichts mit Banditen zu tun. Allerdings: Vor Jahren, im Zweiten Weltkrieg, haben dort eigentlich harmlose Rautenkranzer Menschen verschiedene Bauteile für Raketen, für die schrecklichen „Vergeltungswaffen V1 und V2“ hergestellt, hören wir. Sehr viele andere Arbeitsstellen gab es nicht zur Auswahl und sie alle hatten Hunger. Und protestierend auffallen wollte zu der damaligen Zeit vorsichtshalber auch niemand. Das ist inzwischen ganz anders: Heute werden in diesem Betrieb nur nützliche und vor allem friedliche Haushaltsgeräte produziert, von denen man einige in der Küche wiederfindet. „Kommandit-Gesellschaft“ – das ist so etwas Halbstaatliches, als Übergang vom kleinen Privatbetrieb zur großen volkseigenen Fabrik – in den gleichen Gebäuden.

Dann wandern wir zum Teich am Wald. Ein Arbeiter macht eine großzügig-ausladende Armbewegung und sagt uns über diese Stelle so etwas wie: „Dos is de Ufenhähle“ – aber verstanden haben wir nicht, was er damit meinte – vielleicht eine Höhle, die heute, am Sonntag, geöffnet ist und zur Besichtigung einlädt? Wir können aber keine Höhle erkennen. Vielleicht sollte es aber auch bedeuten: „Vorsicht! Ihr befindet euch ufen (auf dem Platz) der (früheren) Hölle“?. Das fällt mir aber erst später ein, nachdem wir etwas von Hexen, Zauber und versehentlichen Morden gehört hatten. Ich hätte auch später den Herrn Böhm fragen können, der für uns den Lichtbildervortrag halten wird – aber ich dachte in der Fülle all' des Interessanten nicht daran und man soll ja auch ein bisschen oder mehr selber denken. Manchmal kommt ja dabei auch etwas heraus.

Wir sehen dann die Behelfsheime, einfache Häuschen, die dünnen Wände aus braunem Holz, die in der Kriegszeit schnell als Wohnstätten für Flüchtlinge errichtet wurden. Unterkünfte, die damals dringend erforderlich waren und auch heute noch erhalten und bewohnt sind. Das Haus Nr. 1 sieht am besten aus. Den Haiserln gegenüber, also jenseits des Weges, erstrecken sich am sanft abfallenden Hang die Wiesen. Im Juni wird das Gras geschnitten. Jetzt im August ist die Zeit des zweiten Schnitts gekommen. Das geschnittene Gras muss zum Trocknen mehrmals gewendet und dann eingebracht werden, bevor es regnet. Auf dieses duftende spätere Heu freuen sich schon jetzt die Kaninchen, die man aber im Vogtland und im Erzgebirge allen Ernstes als „Hasen“ bezeichnet; die richtigen wild lebenden Hasen werden jedoch nicht etwa Kaninchen genannt.

In der Zwischenzeit, wenn also weder gemäht noch gewendet wird, legt man auf der Wiese die weißen Wäschestücke aus. Auch Erzieherinnenschürzen können dazu gehören. Sie werden der Sonne ausgesetzt und mit Wasser begossen. Bleichwiesen – für strahlendes Weiß – völlig ohne Chemie. Genau wie bei unseren breiten Straßen daheim, wo früher die armen Weber vor den Häusern ebenso ihre Webware zum Bleichen auf den Straßen-Wiesen ausbreiteten. Zu jener Zeit gab es noch keine Autos.


Das ist für mich alles besonders interessant, weil wir im September mit unserem Biologielehrer, Fritz-Peter Gnerlich, in der Schule mit der Kaninchenzucht beginnen werden. Das hat etwas damit zu tun, dass Walter Ulbricht vor einiger Zeit eine Idee hatte und so sehr mahnend ausrief: „Mehr Fleisch für die Volkswirtschaft, Genossen! Ja?“ Da haben auch die Genossen der Lehrer sogleich nachgedacht und sind auf den Gedanken gekommen, dass die Schüler so nebenbei Kaninchen züchten und mästen könnten. Kaninchen werden aber irgendwann geschlachtet. Mir wäre deshalb eine Katzenzucht sehr angenehm. Ist aber auch kein Ausweg, denn soweit ich weiß, kennt die Kriminalgeschichte sogar „Dachhasen“.


Unsere Gruppe umrundet das schöne Freibad des Dorfes, wir durchlaufen die Ziegengasse und kommen nach einer Weile von der entgegengesetzten Seite zum Heim zurück. –

Wir hören auch und sehen es, dass Rautenkranz ein nur kleinerer Ort mit rund 800 Einwohnern ist, von ausgedehnten Wäldern umgeben. Hauptsächlich sind das Fichtenwälder. Man brauchte früher viel Brennholz für die Eisenhütten, die Köhlereien (Holzkohle-Produktion) und die Pechherstellung. Man benötigte auch Bauholz für Häuser und als Stützen für den Ausbau der Bergwerksstollen. Das sind keine weihnachtlichen Kuchen – Stollen, so werden die Gänge genannt, die in den Berg gehauen werden. Senkte sich mal ein Grubenabschnitt, gab das ausgehöhlte Gebirge also etwas nach, so knarrten warnend die belasteten, stützenden Hölzer und die Bergleute konnten sich vorsichtig und schnell zurückziehen. Aber nicht immer gelang ihnen das, was zu großer Trauer führte. Für alle diese genannten Zwecke benötigte man also Holz. Statt des natürlichen, aber gefällten Mischwaldbestandes pflanzte man vor allem Fichten nach, weil diese viel schneller wachsen als Buchen, Eichen oder Tannen. Aus dem Wald wurden die gefällten Bäume mit „Rücke-Pferden“ gezogen. Für den Waldboden, die Baumwurzeln und für die Ohren der Waldbewohner ist das viel schonender als mit Traktoren.

Gleich erfahren die Kinder, dass die Zapfen der Fichten hängen und die Zapfen auf den Zweigen der Tannen aber stehen, etwa wie die Kerzen am Weihnachtsbaum. Der Fichtenzweig trägt die Nadeln ringsherum, wie ein Quirl die Zweigansätze, der Tannenzweig dagegen ist flach benadelt.


Ach so, ja, an diesem Tag nach der Ankunft sollen wir den Eltern berichten, dass wir gut angekommen sind, und wir schreiben ihnen auch gleich unsere ersten Erlebnisse. Es wird darauf geachtet und durchgezählt, dass ja kein Kind seine Eltern ohne eine Nachricht lässt, vielleicht die Daheim Gebliebenen bei den vielen neuen Eindrücken einfach vergisst. „Auch in den Schulferien bitte: Schönschrift! Eure Eltern haben sie verdient“, meint Fräulein Hennersdorf. So erwerbe auch ich hier meine erste Ansichtskarte vom Heim. Briefmarken hatte ich von Zuhause mitgenommen.


Montag, 17. August – erstmal viel Organisatorisches

Ja, Kindererholungsheim. Das merken wir am Vormittag, denn wir werden gemessen, gewogen, abgehorcht und beklopft, kurz befragt sowie mit ernsten, ärztlichen Augen prüfend betrachtet. Alle die dabei gewonnenen sehr wichtigen Ergebnisse werden in eine Karteikarte geschrieben. Unser Erholungserfolg wird bestimmt wieder später nach der Zunahme an Gramm, Zentimetern, Bauchumfang und Art der Gesichtsfarbe bewertet. Vielleicht gibt es dafür Farbvergleichskarten?


Wir erfahren heute, dass es nun eine täglich wechselnde „Gruppe vom Dienst“ und eine „Erzieherin vom Dienst“ geben wird. Die diensthabende Gruppe sorgt zum Beispiel für vorbildliche Ordnung bei der Ausgabe und der Wieder-Einordnung der Spiele. Sie organisiert auch den Tischdienst.

Die Gruppen haben wie in der Schule einen Gruppenrat und die Diensthabenden schauen täglich nach Ordnung und Sauberkeit in den Zimmern. Das betrifft die Ordnung der Schrankinhalte, der Schönheit der Betten, auch der Garderobe und der Sauberkeit der Schuhe in den Regalen ... bis hin zur Hygiene der Zahnputzbecher wird alles gemeinsam kurz angeschaut und bewertet.

Auch wählt die diensthabende Gruppe den Tischspruch des Tages aus und ein Kind trägt diesen vor, sagt ihn mit möglichst guter Betonung auf, damit es fast noch einmal so gut schmeckt.

Wir erziehen uns somit gegenseitig. Wer manches zu Hause noch „nicht mitbekommen“ hat, wird also „mitgezogen“ und lernt es hier, aber die Erzieherinnen bleiben trotzdem noch. Nach dem morgendlichen Rundgang und dem Frühstück wird das Ergebnis der Bewertung des Tages bekannt gegeben. Wir alle „fiebern“, welche Gruppe heute den Wanderwimpel für den Tisch als Auszeichnung erhalten wird. Man muss fein achtgeben, dass der Wimpel nicht zu schnell wieder fort wandert. Es lässt sich aber nicht vermeiden, denn die Kinder aller Gruppen geben sich ja Mühe ordentlich zu sein aber absichtlich ist nur ein Wimpel vorhanden.


An dieses Ritual werde ich mich sogar noch drei Jahre später lebhaft erinnern, weil es dann in „meinem“ Lehrlingswohnheim im Dorf Großbeuthen ähnlich läuft. Dort aber wird in die Bewertung sogar das Bohnern von Mustern mit dem schweren gusseisernen Bohnerbesen auf dem rotbraun gestrichenen Anhydritfußboden in die Waagschale der Bewertung geworfen, wie auch die künstlerisch-geschmackvolle Ausgestaltung der Zimmer und die Pflanzenpflege.

(Anhydrit ist Calciumsulfat // Gips, hier eine vor der Aushärtung breiige Masse, aus der ein Fußboden hergestellt wird).


Einige Worte nun zum Orte

Uns erscheinen beide Namen dieses Doppel-Ortes „Morgenröthe-Rautenkranz“ ungewohnt. Das schrieb ich bereits. Wie die Ansiedlungen zu ihren Namen kamen, hat man uns aber schnell erklärt. Ich schreibe es jetzt mal auf. Es ist aber kein sagenhaftes Märchen, sondern völlig wahr! Das war damals ungefähr so:

Es gab vor langer, langer Zeit einmal ein Mann namens Hutschenreuther, Hans. Er kam aus dem nahen Ort Eibenstock gewandert und wollte sich hier ansiedeln. Aber nicht nur eine Wohnhütte sollte es sein, nein, er wollte recht gern ein Hammerwerk am Flüsschen errichten, um das aus dem Berg geförderte Erz zu pochen. Fein zerstoßen sollte es dort werden, um es anschließend verhütten zu können. Das heißt, das Erz soll von der Hitze des Feuers im Hochofen, in flüssiges Metall und „taubes Gestein“ geschieden werden. Dazu brauchte der Hutschenreutherhans Erz, Wasser und viel Holz. Das alles war hier schon vorhanden. Noch wichtiger aber war: Vor der Verwirklichung seines Wunsches brauchte der Hutschen'-Hans eine Genehmigung, „ein Privileg“ vom Sächsischen Kurfürsten Johann Georg I., das man nur schwer, fast nur ausnahmsweise, erhalten konnte. Der Mann aber bat in artig gesetzten Worten inständig um das Privileg. Er war ein aufrechter Mann, der nicht winselnd bettelte. Auch wusste er genau, dass der Fürst ja durchaus nach gutem Metall für mancherlei Zwecke trachtete. So erhielt der Hutschen'-Hans das Privileg tatsächlich am 15. Juli 1652 für den Bau eines Hammerwerkes, nahe der Einmündung der Großen Pyra in die noch größere Zwickauer Mulde. Das ist hier ganz in der Nähe. Wenn wir vom Hübel hinunter ins Tal gehen, würden wir dann nicht nach rechts – zum Landgasthof – gehen, sondern nach links, in Richtung Muldenhammer. Bald hinter dem „Sackhaus“ sehen wir den Zusammenfluss. Das alles spielte sich dort also in der Zeit ab, nachdem auf 30 Jahre Krieg, dann bereits vier Jahre Frieden gefolgt waren.

Aus untertänigstem Dank sann der Hanselmann dann darüber nach, wie er zum Wohlgefallen des Kurfürsten das Hammerwerk und die umliegenden Häuser nennen könne und er verfiel auf den schönen Namen „Rautenkranz“. Das ist ein grünblättriger Kronenreif. Auch das spätere Königlich-Sächsische Wappen trug diagonal eine Raute, die aber eben nicht zum Kranz gerundet war. Daher für die neue Ansiedlung nun dieser Name, der dem Fürsten sehr wohl gefiel. Soviel also zum Namen des Ortes „Rautenkranz“. Rautenkranz liegt etwa 620 bis 650 m über dem Meeresspiegel. Das Dorf zieht sich vom Tal in die Höhe. Die Urkunde, die älteste die uns erhalten blieb, nennt den Namen „Rautenkranz“ im Jahre 1679. Aber da bestand der Ort bereits lange Zeit.


Mit dem im Bergwerk beim Abbau grob gebrochenen und nun im Hammerwerk fein zerkleinerten Erz geht es – wie schon oben kurz erwähnt – dann zur Verhüttung im Hochofen weiter, wo aus der Metall-Ader des Gesteins das Rohmetall erschmolzen wird. Dieses im Kalten noch zu spröde Roheisen muss aber dann anschließend in der Frischhütte erneut geschmolzen werden. Dabei wird frische Luft in den Schmelzofen, den steinernen Hochofen, eingeblasen und mit dieser Behandlung der Kohlenstoffanteil in der Eisenschmelze gesenkt. Erst jetzt lässt sich dieses Eisen gut gießen und auch schmieden, also hämmernd zu Werkzeugen und Gerätschaften formen, solange es warm ist.– Das Zinnbergwerk Morgenröthe wurde schon 1618 erwähnt.

Wie aber kam es damals zu dem Namen „Morgenröthe“ für dieses Nachbardorf?

Dieser Name hängt noch enger mit dem Bergbau zusammen. Die erste Begehungsöffnung zur Schacht- und Stollenanlage des Berges, das so genannte Mundloch, das die Bergknappen nutzten um in den Berg zu steigen, zeigte gen Osten. Wenn die Bergarbeiter aus der Nachtschicht, aus dunkler Bergeshöhle kamen, sahen sie zu bestimmter Jahreszeit am Morgen froh und müde die ersten Strahlen der rötlich aufgehenden Sonne – eben, die Morgenröte.

Es ist noch heute so: Wenn man von Rautenkranz aus nach Süd-Osten schaut, sieht man den Ortsteil Morgenröthe und dann tatsächlich auch manchmal die Morgenröte. Zuviel Morgenröte ist aber nicht gut, es könnte ein Zeichen dafür sein, dass der Tag dann recht regnerisch wird. Das ist eine alte vogtländische Bauernregel.

Den Ort schrieb man früher ganz normal mit „th“, wie auch Thier, Thür, Thor und so weiter – das hat man erst im Jahre 1901 mit einer Reform der Rechtschreibung geändert. Bei Eigennamen wie diesem Ortsnamen bleibt die alte Schreibweise aber erhalten. Deshalb muss ich es mal so – und mal anders schreiben, damit es in jedem Fall richtig ist. Also bitte zumindest hierfür nicht den Rotstift zücken, um es mir anzukreiden.

Der Rautenkranz und die rot aufgehende Morgensonne sind im Wappen des Doppelortes enthalten. Dazu auch noch ein Teil des „Gezähes“. Dieser erzgebirgische und im Vogtländischen sehr ähnliche Begriff bedeutet zu hochdeutsch und in Langschrift: „des Bergmanns Handwerkzeug“. Es besteht unter anderem aus dem Schlägel (oder Fäustel), dem Keilhammer (auch Bergeisen genannt) und der Schlacke- oder Frischegabel. Gutes, gepflegtes Handwerkzeug brauchte man selbstverständlich, um in den erzgebirgischen und vogtländischen Stollen, in deren steinhartem Eibenstocker Granit, das Erz in Handarbeit zu brechen.

Die Dörfer Morgenröthe und Rautenkranz wurden dann wohl deshalb zu einem Doppelort zusammengefasst, weil es dem Grundherrn, der diese Stücken Land besaß, grad' so gefiel.


Die Art der Sprache, man sagt auch Mundart, ist hier in Morgenröthe-Rautenkranz eine deutlich andere, als bei uns im Potsdam-Berliner Raum. Es ist auch keine nur sächsische Mundart, denn das wäre mehr so eine Art Sammelbegriff – womit ich sagen möchte: Schon das Sächsische allein hat viele Mundarten. Das alles gilt vielleicht als etwas kompliziert, denn einige Leute sprechen erzgebirgisch, andere scheinen Wert darauf zu legen, vogtländisch zu reden – denn gerade hier verläuft die alte Grenze. Wir brauchen aber keinen Ausweis vorzeigen, wenn wir diese „Mundart-Grenze“ überschreiten. Ein Stückchen weiter hinter dem Sachsengrund benötigt man dagegen schon einen „Propusk“ oder ähnliches, will man die Freunde in der CSR besuchen. Diese böhmischen Dörfer sind nicht weit entfernt. Dort wird dann in erzgebirgisch-tschechischer Mundart gesprochen. Kommt aber ein Besucheraustausch zustande(?), dann wird wohl eher mit der Zunge „geradebrecht“, also die jeweils grade, ordentliche Sprache gebrochen. Die Erwachsenen fallen dann in eine Art Baby-Sprache zurück, indem sie sofort jegliche Grammatik vergessen.

Schwerer als wir zu Hause haben es die Kinder hier leider auf jeden Fall, weil sie in der Schule völlig anders schreiben müssen, als die übliche Mundart der Erwachsenen es ihnen vorgibt. Es trotzdem möglichst richtig zu machen – darauf achten die Lehrer und die Erzieherinnen. Manche, wohl aber sehr wenige Eltern, achten darauf, dass bereits ihre kleinen Kinder die gleichartige Schul-Schrift und Laut-Sprache erlernen. Das erleichtert die ganze Angelegenheit bedeutend.


Kaum sind wir zwei Tage hier, erfahren wir, dass unser Fräulein Hennersdorf heute Geburtstag hat! Nur haben wir leider kein kleines Geschenk. Ein größeres aber auch nicht. Dafür wollen wir zumindest besonders freundlich sein, uns nette Scherze überlegen. Folgsam sein ja ohnehin.

Wir gratulieren ihr und beglückwünschen ihre Mutter, die wir aber nicht sehen, dazu, dass sie eine so feine Tochter hat, wünschen ihr gute Gesundheit und immer freundliche Kinder.


Die wichtigsten Neuigkeiten sind nun erst 'mal erzählt, so dass ich in den nächsten Tagen weniger schreiben werde. Im Moment ist das ja viel mehr, „als es die Schule erlauben würde“.


Der Tagesablauf im Erholungsheim

Gegen 7.00 Uhr werden wir geweckt, dass heißt, es wäre wohl meist nicht nötig aber für uns ist es zumindest ein Signal zum Aufstehen. Das gilt auch für den Sonntag. Dann waschen wir uns, erst trocken, dann nass. Das Trockene ist eine Bürstenmassage, die die Haut gut durchblutet und den vielleicht noch ein wenig schläfrigen Kreislauf in Schwung bringt. Zu dieser Zeit, meint die Heimleitung, seien zum richtigen Wachwerden kalte Güsse angezeigt, die in grauer Vorzeit der Pastor namens Sebastian Kneipp erfunden haben soll. Anschließend „machen“ wir die Betten. „Bitte recht ordentlich“, heißt es, den Bezug „Ecke auf Ecke gelegt, glatt gezogen und auch mal Hilfestellung für die Kleineren“. Aufzuräumen ist nicht viel, aber umherliegen darf auch nichts. Dann endlich sammeln wir uns vor dem Speisesaal, in einer Zweierreihe geordnet angestellt, wo uns schon das leckere Frühstück erwartet. Oder wir haben mal ein bisschen zu warten. Dann stimmen die Erzieherinnen ein Lied an und wir fallen (nach Lust und Laune) mit ein. So ist eine kleine Wartezeit, bis die Speisesaal-Türen geöffnet werden, schnell überbrückt. Ja, die guten Küchenfrauen werden schon eine reichliche Weile früher ihr Tagewerk begonnen haben, längst bevor wir aufstanden. Nach dem Frühstück, das wir zwischen 8.00 und 8.30 einnehmen, treffen wir uns zum Losgehen – auf unsere kleine Wanderschaft. Meist kehren wir mit einem Bärenappetit zurück und manchmal auch mit müden Füßen.

Etwa um 12.00 Uhr müssen wir zurück sein, denn zu dieser Zeit steht das schmackhafte Mittagessen für uns bereit. Vorher aber gibt es noch den täglichen Vitamin-Frucht-Saft. Wir erhalten diesen in Gläsern, die ein bisschen Ähnlichkeit haben mit den „Römern“, die bei uns zu Hause stehen aber selten benutzt werden. Nur sind diese hier etwas kleiner und haben keinen massiven Glasstiel, sondern einen „Hohlfuß“, den man umgreift.

Für die Zeit nach 12.30 Uhr steht eine Runde Wassertreten oder die kühle Dusche im Programm.

Zwei Stunden, also von 13.00 bis 15.00, Uhr dauert die anschließende Mittagsruhe. Liegeruhe! Wir müssen nicht unbedingt schlafen, uns aber in den Betten ruhig und ruhend verhalten.

Gegen 15.00 Uhr gibt es das kürzere, fröhliche Milchkafetrinken, „Vesper“ genannt, wozu wir ein Milchbrötchen oder ein Stück Kuchen bekommen.

Und wieder steht anschließend eine etwa dreistündige Freizeitbeschäftigung mit stets wechselnden Themen im Plan.

Pünktlich um 18.00 Uhr schreiten wir dann zur Abendmahlzeit. Es gibt meist Brot, Butter und verschiedene Wurstsorten. Manchmal auch eine „Fettbemme“ – eine Schnitte mit Schmalz bestrichen und leicht gesalzen. Die Brotscheiben dürfen wir einzeln belegen. Zu Hause gibt es meist „Klappstullen“, um leichter satt zu werden – das sind zwei Brotscheiben mit einmal Belag. Zu den Schnitten gibt es meist Kräutertee. Eine Stunde haben wir dann nochmals Freizeit. Darauf folgt das Waschen. Duschen findet aus Gründen der Gesundheitsförderung kühl statt, dann das Zähneputzen und anschließend geht es schon wieder „in die Federn“, denn wir sollen uns ausreichend erholen. In dieser Zeit können wir uns noch etwas unterhalten oder Fräulein Hennersdorf liest uns eine Geschichte vor oder die Erzieherinnen singen draußen im Flur etwas vom vogtländischen Volks- und Abend-Liedgut, wobei die Türen zu den Schlafräumen offen stehen, damit auch wir etwas davon haben.

Um 20.00 Uhr ist dann Nachtruhe. Zu dieser Zeit ist auch das Schwatzen einzustellen, weil selbst für wichtige Mitteilungen ja auch am nächsten Tag noch genügend Zeit bleibt.


Dienstag, 18. August – Wanderungen und Besichtigungen, unsere Entdeckungen

Eindrücke sammeln wir in diesen Tagen viele, denn das Wetter ist meist gut zum Wandern geeignet und Fräulein Hennersdorf erzählt und zeigt uns eine ganze Menge. Auch wird viel gesungen. Sie hat eine zart-melodische, glockenreine Sopran-Stimme. Man muss sich also so recht in ihrer Nähe halten, wenn man alles mitbekommen möchte. Da ist es außerdem von Vorteil, dass ich fast alle der bisherigen Lieder schon kenne, auswendig kann.


Besonders schön finde ich auf unseren Spaziergängen die kleinen Bäche, deren Wasser bergab gurgelt, plätschert und über Steine springt. Zwischendurch probieren wir das Wasser mit den Füßen, schnell und heimlich, denn die Gruppe zieht sich beim Wandern sonst zu sehr in die Länge. Hui, ist das aber kalt. Eine Kostprobe, mit der hohlen Hand geschöpft, beweist, dass es wohlschmeckend ist. Kleine „Schiffe“ setzen wir aus, zu einer gefahrvollen Reise durch die Stromschnellen. Bei uns zu Hause geht so etwas in der Straße nur nach einem starken Gewitterregen, wenn das anfangs schmutzige, später klarere Wasser im Rinnstein zum Straßengully läuft. Hier aber geht das jeden Tag – auch ohne Gewitter – läuft es auch jede Nacht, mit kristallklarem Wasser.

Wir besuchen natürlich auch die „Große Pyra“, begleitet sie doch, sich schlängelnd, die Straße zwischen Rautenkranz und Morgenröthe. Ihr braucht aber keine Angst um uns haben, denn die Große Pyra, das ist keine Schlange, wie man vermuten könnte, auch wenn sie von weit oben etwa so aussehen mag. Sie ist eine dieser größeren Bächle oder ein kleiner Fluss. Sie wird in Rautenkranz von der Natur mit der Zwickauer Mulde vereinigt. Schrieb ich schon. Beide wirken sie so harmlos und doch kam es vor fünf Jahren nach einem harten, langen und schneereichen Winter zu einem gewaltigen Hochwasser, bei dem beide Gewässer weit über ihre Ufer traten, weite Teile des Tales und viele Keller überfluteten und Möbel in Erdgeschosswohnungen umherschwimmen ließen – trauriger Weise große Schäden anrichteten. An einigen Häusern sieht man Blechtafeln, auf denen der damalige Wasserstand gekennzeichnet ist. Fast unglaublich aber wahr und schlimm.


Die Erhebungen und Höhenzüge erreichen hier durchaus beachtliche Meterzahlen. Der Thierberg 785 m. Der Gipfel mit dem dem berühmten „Schneckenstein“, diesem Halbedelstein-Topasfelsen, misst 883 m, der Königshübel (auch Königsgipfel genannt) 888 m, der Aschberg im Süden soll dann 936 m hoch sein und der Schneehübel sogar 974 m. „Er ist dr hechste Barg im Vugtland“. So wird es stolz gesagt. Jo, das is e Barg! „Wo aber können wir den nächsten Tausender stürmen?“ – frage ich, vielleicht ein wenig sehr vorlaut.

Das mit der Bezeichnung „-Hübel“ erscheint hier wie eine untertriebene Bescheidenheit. Fast einen ganzen Kilometer hoch! Nur sehen wir das nicht so genau, weil uns ja der Vergleich zur Meereshöhe fehlt – denn wir können ja nicht zur gleichen Zeit ... Bei uns zu Hause sind die „richtigen Berge“ zwischen 60 bis höchstens 200 Meter hoch, bei der Höhenlage der Stadt von
35 m üNN. Da kann man also noch einiges abziehen. –

Die Kleinbahn ist hübsch anzusehen. Solche kleinen Dampflokomotiven wurden damals auch bei uns in Neuendorf und Drewitz bei der Firma Orenstein & Koppel gebaut, wo Opa und Vati gearbeitet hatten – auf dem gleichen Betriebsgelände produziert heute der VEB Maschinenbau „Karl Marx“ in Potsdam-Babelsberg. Von dort aber kommen natürlich auch die riesengroßen Schnellzuglokomotiven der 01-er bis 03-er-Baureihe mit ihren über mannshohen Rädern.


In Morgenröthe gibt es die Eisengießerei mit dem gewaltigen Hochofen aus dem Jahre 1819, der aber im 18. Jahrhundert bereits einen Vorgänger hatte. Hier wurden sogar Kirchenglocken aus Eisen gegossen und zwar „nach einem Geheimrezept“. Zwar aus der Eisenschmelze aber mit verschiedenen hineinlegierten Zusätzen. Ein „Klanghartguss“, der den alten Bronzeglocken in der Schönheit des vollen Tones in nichts nachstehen sollte und sich außerdem viel preisgünstiger stellte. Sonst waren die Glocken ja früher eher aus Bronze, einem Schmelzgemisch (einer Legierung) aus Kupfer und Zinn. Ebenfalls wurden in diesem Betrieb Bauteile für Öfen und Herde mit schmuckverzierten Oberflächen gegossen, Denkmalstafeln und sogar Figuren – Erzeugnisse des aufwändigen Gießerhandwerks, deshalb auch besonders ehrend, Kunstguss genannt. Das Werk wurde wohl ungefähr seit 1618 betrieben und seit 1798 bis 1945 von Söhnen der Familie Lattermann geleitet, die dann als „Hammerherren“ bezeichnet wurden. Der letzte Hammerherr aus der Familie, der Lattermann, Johann Gottfried (1879 bis 1950) war von seinen Interessen her wohl kein geborener Metallurge und Betriebsleiter. Lieber beschäftigte er sich in freien Stunden mit dem Schreiben von Gedichten und auch eine Anzahl von Liedern verfasste er. Sehr bekannt wurde sein

Dr Schwamma-Marsch“, der sich mit dem Sammeln von Pilzen befasst. Zu diesem literarischen Schaffen gehörte auch ein kleines Volks-Theaterstück.


Lieder

Schwarzbeer-Lied

Dr Wühler

Bleb raacht lang be uns!

Trutz-Liedl

Heimatglocken

Dr Hammerschmied

Winterlaahm

Wo ist Gott?

Dr Lockzessig

De Schwamma-Marsch

Zen neie Gar

Dr tapfre Heinerich



Glückauf un Willkomme

Gedichte

Volksstück (Schwank)

Mei Haamitlied

Dr gute Hannl

De Schatzgräber


Über weitere Ereignisse um die Familie Lattermann hören wir nichts – ich werde erst viel später davon erfahren: Der Betrieb war bis nach dem Kriegsende 1945, also wie meist üblich, ein kapitalistischer und die Lattermanns waren als Ausbeuter ihrer eigenen Arbeiter bezeichnet. Der jüngere Lattermann, der Herr Gottfried L. wurde sogar Mitglied in der national-sozialistischen Arbeiterpartei. Es gab nur noch die Eine. Ein Partei-Genosse. Möglicher Weise war er nach dem wirtschaftlichen Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise, nach Arbeitslosigkeit der Arbeiterschaft und Hunger in den Familien sogar begeistert, dass es wieder aufwärts ging und wollte etwas mitbewirken.

Damals war der Eintritt in die Arbeiterpartei für einen sozialen nationalen Sozialismus gewünscht,

galt als gut, war oft dringend gefordert, notwendig, wenn man 'was werden oder es bleiben wollte.

Heute ist das ganz anders – genau umgekehrt – ich meine, heute muss das Damalige als sehr schlecht bewertet werden! Doch der ausgesuchte Name benennt nicht immer das wahre Gesicht. Das versteht sich dann von selbst, wenn man bedenkt, was während der Nazi-Zeit Schreckliches bis 1945 geschah, Unmenschliches aktiv getan wurde. Vielleicht haben sich der Herr Lattermann und auch andere Menschen, nicht frühzeitig den Überblick verschafft, dass diese Partei und deren Führung künftig das Leben unzähliger Menschen grausam missachten würde und sogar einen Zweiten Weltkrieg anstreben und ausführen wird. Andere, und darunter vor allem persönlich Betroffene, hatten das früher geahnt, vermutet, später deutlich erkannt.

Diesen Makel, damals ein Parteigenosse in der Diktatur des Nationalsozialismus gewesen zu sein, trug Herr Lattermann nicht allein. 1933 hatte Deutschland 3,9 Millionen Genossen in der NSDAP, 1943 waren es 7,7 Millionen Deutsche! (Angabe Wikipedia 2016). Und die sind ja auch heute nicht alle ganz fort. Das macht die Sache nicht besser, nein, es ist schlimm zu verkraften.

Aber warum nach einem eventuellen Erkenntnisprozess die Parteizugehörigkeit nicht haufenweise aufgekündigt, zurück gegeben wurde – auch dafür gibt es natürlich verschiedene Beweggründe.

Also, der Herr Lattermann war nicht als Soldat im vorigen Krieg, hat niemanden totgeschossen, sondern hat hier als Dichter mit Frau und Sohn den Betrieb wohl nur so leidlich geführt und war als Chef auch eigenwillig und nicht für alle die gewünschte „sozial durchdrungene Vaterfigur einer größeren Betriebs-Familie“, wird gesagt. Wegen dieser widrigen Umstände wurde die Familie Lattermann 1946 von der neuen Regierung im Sinne und in Ausübung der Diktatur des Proletariats enteignet. Das bedeutete: Das Eigentum, also die Produktionsanlagen mit Hochofen, Eisenbearbeitung und Gießerei sowie das Grundstück und ihr Wohnhaus wurden der Familie Lattermann zur Strafe weggenommen. Das Fortnahmegut wurde ein Eigengeschenk vom Staat an den Staat. Es wurde zum „Volkseigentum“ erklärt. – So ging es in tausenden Fällen und oft sogar noch dramatischer für die Betroffenen.

Die Familie Lattermann bekam von der Abteilung Wohnraumwirtschaft in dem etwa 20 km entfernten Ort Sorga bei Auerbach einen kleinen Wohnraum unter dem Dach eines Gebäudes des Volkseigenen landwirtschaftlichen Gutes, also im enteigneten vormaligen Rittergut, zwangsweise zugewiesen – da gab es nichts auszuwählen. Aber sie durften wenige ihrer Möbel mitnehmen, die Platz fanden. Ihr bisheriges Eigentum durften sie nicht mehr besuchen. Nie. In Sorga starb Herr Lattermann wenige Jahre später an Krankheit und vor Gram und vielleicht des Alters wegen. –


Wir umrunden auch die Kirche im Ort. Diese ist mehr als 100 Jahre älter als wir. Man hat damals sehr gründlich daran gebaut. Von 1838 bis 1842 dauerte es. Einen Deckel für das Taufbecken, denn es sollen ja um Himmels Willen weder Staub noch Kind hineinfallen, spendete der damals amtierende Hammerherr Lattermann. Selbstverständlich war dieser Schmuckdeckel auch in seinem Morgenröther Eisenwerk hergestellt worden.


Mittwoch, 19. August

Das Singen geht hier ganz frei von Seele und Zunge. Jeder, der kann und will, macht mit. In der Schule ist der Musikunterricht dagegen etwas seltener und sehr gezwungen. Potsdam-Babelsberg (DDR) liegt ja direkt an West-Berlin und so ist auch die Anstellung für so einige Lehrer an unserer Schule wie ein „Sprungbrett“ in den Westen (nähere Erläuterung im Anhang).

Dr Vugelbeerbaam“ – es ist ein Lied über die medizinisch wertvolle und optisch reizvolle Eberesche. Auch wenn es bei dem schönen Baum 'was mit Medizin zu tun haben kann, setzt man hinter das erste Wort keinen Punkt. Diese Kürzung, also so eine Art berechtigter Mundart-Stenografie, bedeutet nämlich nicht „Doktor“, sondern „Der“. Die Eberesche steht in der Zeit unseres Aufenthaltes schon in voller Beerenpracht. Wie ich bereits erwähnte, singen und schreiben die Arzgebargler und die Vogtländer etwas unterschiedlich. Ich möchte nicht dazwischen kommen, ich meine: zwischen Ebereschenbaum und Borke und versuche den Text der ersten Strophe deshalb ziemlich unparteiisch bloß auf Hochdeutsch aufzuschreiben. Beim Singen würden mir ansonsten gewiss auch viele Mundartfehler unterlaufen.



Der Vogelbeerbaum


Kein schön'ren Baum gibt's, als den Vogelbeerbaum, Vogelbeerbaum, Vogelbeerbaum.

Kein schön'ren Baum gibt's, als den Vogelbeerbaum, Vogelbeerbaum, ei ja.

(und dann geht es weiter mit:)

Ei ja, ei ja, der Vogelbeerbaum, der Vogelbeerbaum, der Vogelbeerbaum,

ei ja , ei ja, der Vogelbeerbaum, der Vogelbeerbaum, ei ja.



Ist das nicht ein lieblicher, ein so recht zu Herzen gehender Text? Nur soviel von mir zu einer der vogtländischen „Nationalhymnen“, denn ich merke schon, dass ich die Fortsetzung doch lieber einer Fachfrau oder notfalls auch einem Fachmann überlassen sollte.


Na gut, ein weiterer Versuch noch zur „Entschädigung“. Eine Volksweise, wohl aus Baden, das heute in Westdeutschland liegt, die zu uns herüber geschwappt ist. Und die geht so:

Heut' kommt der Hans zu mir“ ... lesen wir am Ende dieses Berichts „im Liederbüchlein“ nach.


Gemeinsam aber etwa Schlager zu singen, das geht gar nicht, ist hier nicht üblich. Frau Böhm legt großen Wert auf die gute Pflege des Volksliedgutes. Das ist ja schließlich auch nicht schlecht. Aber wir Jungens tauschen uns schon mal gedanklich aus, denn es gibt so viele schöne Schlager, deren Texte ich hier aber nicht extra aufschreibe – aber wenn ich wollte, könnte ich es schon. Na ja, es ist sowieso etwas schwierig mit diesen Schlagern, weil ja nicht alle Sängerinnen und Sänger ihren Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik gewählt haben. Vielleicht reichen die Radiosender mit diesen Liedern auch nicht alle bis hierher. Ja, – einen tschechischen Radiosender könnten wir bestimmt ganz ausgezeichnet empfangen – aber wir haben und brauchen hier auch kein Radio, wir vermissen es nicht, denn jeder Tag ist interessant und voll ausgefüllt.


Irgendwie ist mir aber net so recht gut dabei, würde ich euch Leserinnen und Lesern die Wohllaute des Vogtländischen nur wegen meines Unvermögens unterschlagen. Deshalb gebe ich fei einige Sätze aus berufenem Munde zur Probe (mit denen viel, viel später) die bekannte Rautenkranzer Familie Stahl schriftlich ihre Pensions-Gäste begrüßen und jene Besucher herzlich erfreuen wird. Zwar darf ich den Text mit ihrer Zustimmung übernehmen und hier vorzeigen aber gesprochen wird er sich immer etwas anders anhören, wenn beispielsweise die Wiegen von zwei Vorlesenden nur einige Kilometer voneinander entfernt standen und eben die hohen Hübel dazwischenlagen, so dos sich de Aussprochen verschieden entwickelten, weil man wenig Kontakt miteinander hatte. Geschrieben wird es ja sowieso unterschiedlich, weil es ja kaanen Mundart-Duden nich geben kaa. Schwer für die Lehrer und erst recht fast unfassbar für die Schüler.


Los geht es mit einigen mundartlichen Versuchs-Beispielen:

Begrüßung

Wir freie uns, dos ihr bei uns seid!

Ihr sollt eich bei uns genausu wohlfühln wei bei eich drhamm. Wir wünschen eich e paar schiene Tog in unnerer Sommerfrische Morgenröthe-Rautenkranz.

Wir wolle eich e wen'g off unnere scheene Haamit mit ihren machtgen Wassern, klaaren Bacheln, bunten Bargwiesn un geheimnisvollen Hochmooren einstimme. In und um unner schienes Dorf gibt's su manniches ze saah.“


Mensch, wenn du willst wirklich gelücklich sei, laaf ner racht weit in' Wald drei nei,

wu's Bachel rauscht, wu's murmelt und klingt, wu's Vögele sei Liedel singt“.


Wenn ihr su durch unner Wald wannert, kennt ihr de gesunde Bargluft genießn und su manniges Naturwunner auf eire Seele wirken lassen: Gewaltige Baamer, stille Bargweiher und munter plätschernde Bächel. Oftmals birgt a su manniges Klaanes wos wunderbares – sei's e klaanes Blümel, e Schmotterling oder e Käferle. Und Schwamme gibts gedes Gahr im Herbst – dos ist ne wahre Pracht. Dr Lattermann, Gottfried, aus dr Morgenröth, hat nämlich aah den Schwamme-Marsch ausgedacht.

In unnern Waldgebiet an dr Grenz zwischen Arzgebirg, Vugtland und Böhme gibts enne Menge aazegucken. Net nur den Wald – a Museen und Haamitstubn, Warkstätten un net ze vergassen: unnere Wirtschaften und Gasthaiser. Hier habt ihr alles zesamm un dos alles kennt ihr eich in und um Morgenröth'-Rautenkranz aagucken.

Wenn ihr emol wos wissen wollt, braucht ihr fei net an Harzdricken ze schtarm. Frocht uns ner aafach.

Wenn's Watter mol racht garstig is, un kaaner hat su richt'ge Lust zum Wandern, gibts Spiel un Sport. A de Kinner ham viel Platz, wo se rimbaldobern kenne.


Am Ohmd

Gerod, wann mer den ganzen Tog lang gewandert sinn, is es immer schie, wenn mer am Ohmd besamm' hocken kaa. Bei unnern Liedern kimmt de Stimmung dann von allaa.


Abschied

Vielleicht kummt ihr aah emol wieder verbei. Mir täten uns freie.

Bis dohi wünschen mir eich alles Gute!“

–––

Nun aber wieder zurück zum heutigen Mittwoch und zu unseren neuesten Erlebnissen des Tages:

Nach dem Frühstück, vor den Wanderungen, achten Fräulein Lange und Fräulein Hennersdorf auch darauf, dass unsere Schuhe pflegend gefettet sind und wir ordentlich aussehen. Das klappt meist, denn wer möchte schon neben ihnen sehr unordentlich „abstechen“?

Die Schuhe putzen wir, wenn sie ausreichend trocken sind, vor dem Haus. Nur wenn es emol rächnet, dann im Treppenhaus. Bald entsteht dann eine „Schuhputzduftwolke“, die zu Kopfbrummen führen kann. Fast alle nutzen wir die gute feste Hartschuhcreme der Firma „VEB Wittol“ aus Wittenberg an der Elbe (bitte nicht verwechseln mit Wittenberge an der Elbe – diese Stadt liegt weiter nördlich und dort werden Nähmaschinen produziert), manche pflegen dagegen mit der cremigen aus der Tube, von „Eg-Gü“, also der Firma von dem Herrn Egbert Günther aus Dresden – auch an der gleichen Elbe liegend. Einer hat eine Blechbüchse von „Erdal mit dem Frosch“, mit einem Knebelöffner am Deckel dabei. Das kommt wohl von sehr weit her – aus dem Westen – und ist vielleicht von einem Weihnachtspaket übrig geblieben. Wir anderen aber krallen wie üblich schlicht die Plastedeckel mit den Fingernägeln von den Duroplaste-Dosen herunter – das geht auch – und wollen sie (deshalb) nicht gar zu kurz schneiden, denn Schuhe-putzen ist jeden Tag.

Nun aber gehen wir endlich los.

Wir wandern die Schönheider Straße entlang, vorbei am Landgasthof. Dann auf der Straße „Am Filz“. Das hat nichts mit einem alten Hut, einer Schreibmaschinen-Unterlage oder dem Lodenmantel zu tun. Nein, der Ausdruck möchte ein sumpfiges Wiesengebiet bezeichnen. Daran denkt man als Laie gar nicht, da dieses Gebiet so am sanften Hang liegt – wie kann dort an der Schräglage die Wassermenge einen Sumpf bilden? Hier sehen wir das große Gebäude der wichtigen Elektroumspann- und Verteilerstation des VEB Energieversorgung, von der auch unser Heim den Strom bekommt. An wenigen Häusern gibt es noch Ziehbrunnen im Garten, das sind Kesselbrunnen mit dem Eimer an der Kette. Dann, ein Stück weiter, wieder bergab, biegen wir gleich hinter der Mulde und dr Feilenhauerei der Firma Neubert, nach links in den Wald nei. Hier sind wir an der Grenze – links der „Feile“ Erzgebirge, rechts von diesem Gebäude – das Vogtland. Nun gehen wir auf dem Ameisenweg am Wiesenrain entlang. Manometer, gibt es hier aber viele und riesige Wohnhübel der Roten Waldameise, der „Volkspolizei des Waldes“. „Vielvölkerpolizei“ müsste man eigentlich sagen. Ein quirliges Durcheinandergekrabbel – denken wir als Laien vielleicht und dabei hat doch jedes der Tierchen seine wichtige Aufgabe und erfüllt diese – ohne viel zu fragen und anscheinend ohne jeden Widerspruch. Emsig und für unsere Ohren lautlos.


Sodann treffen wir vorerst auf den gefährlichen „Todesfelsen“. Manche Einwohner nehmen wohl dieses Wort wegen der Grauslichkeit des Ganzen nur hinter vorgehaltener Hand in den Mund. Fräulein Hennersdorf hält dagegen hier öffentlich einen kleinen Vortrag über unterschiedliche Gesteinsarten bei denen der Granit den Vorrang hat, ferner über die zu schützenden heimischen Tiere. Kreuzottern zählt sie auch dazu, die sich gern fei auf dem Weg sonnen – wir aber sahen keine und das war kein echter Verlust. Sie spricht über die Schönheiten der Pflanzen überhaupt ... und, dass man in gefährlichen Situationen (Todesfelsen) nicht etwa drängelt oder andere schubst, die Jungen nicht und nicht die Mädchen – irgendwie war da aber noch von Hexen die Rede – sondern, dass man sich achtsam verhält und sich gegenseitig kameradschaftlich hilft.

Hexe? Ja, richtig, wenn man auf dem Ameisenweg vor dem Felsen steht, befindet sich unten links eine Fels-Ausbuchtung, eine felsüberdachte große Nische, „de Hex'nküch'“. Tisch und Bank haben darin Platz. Recht gemütlich. Besonders wenn es regnet. Auch dann wird die Suppe nicht verdünnt. Wegen dieser H.-Küche soll eigentlich „Hexenfelsen“ die „richtige wissenschaftliche Bezeichnung“ für diesen Felsen sein, hören wir – und nicht etwa solch ein volkstümelnder Todesfelsen. Was aber mag nun ganz wirklich wissenschaftlich d'ran sein an dr Hex'? Das ist bisher das Einzige, was die sonst so klugen Erzieherinnen nicht wissen. Ich denke, es könnte eher e kundiges harmloses Krut- un Schwamme-Weible gewesen sein, das sich hier von des Tages Anstrengung und von ihres Lebens Müh' un Plag' ausruhte, etwas Schönes träumte und aus Altersschwäche ganz friedlich in die Ewigkeit hinüber schlummerte. Doch auch meine Vorstellung ist ja nicht unbedingt wissenschaftlich … und ich war ja damals nicht dabei – es ist mehr so eine Wunschantwort auf eine Glaubensfrage. Mein Glaube bedeutet: Ich denke schon, dass es so gewesen sein könnte aber ich kann es nicht beweisen. So zumindest hätten wir hier die freundlichen Doppelnamen „Morgenröthe-Rautenkranzer Hexen-Todesfelsen“ untergebracht, hätten eine schöne Geschichte und endlich eine (fast wissenschaftliche) und glaubhafte Erklärung für die unterschiedlichen Felsenbezeichnungen. Alle diese Namensstreithähne wären vielleicht ein bisschen miteinander versöhnt. Es muss doch durchaus nicht immer mit Mord und Totschlag einhergehen und es fiel ja wohl nicht einmal der berüchtigte Hexenschuss. Wie es auch sei – ob nun der ruhespendende Gevatter Tod beim Weiblein an sich oder mit einem wissenschaftlichem Umweg über de Hex' – egaa.

Trotzdem: Suppe aus dr Hexenküch und deren Inhalte? Die orangefarbenen Hüte vieler Fliegenpilze locken und warnen uns am Wegesrand, sind sehr aufmerksam zu beachten.

Der viele neue Lernstoff aus Fräulein Hennersdorfs Pflanzenwissen braucht uns jetzt aber nicht belasten – ich hänge ganz hinten mal eine Liste an. Diese könnte auch genauso gut aus dem Merkheft „der alten Kräuterfrau vom Felsen“ sein, über die wir eben sprachen. Uns're sieht aber zwischen den Bäumen, Sträuchern und Blumen eher aus wie eine gute Waldfee, eine blutjunge.


Der Ameisenweg, der ansteigende Hochwald und andere Orte auch, werden von den Einwohnern stets „sauber“ gehalten. Die vielen sonst umherliegenden Fichtenzapfen, Bruchholz und Reisig sammelt man gern auf, denn sie sind als kienig prasselndes Feuerholz sehr begehrt. De Leit räumen auf, wos den Ameisen zu schwer. Man hilft sich eben kameradschaftlich – hier wie da. Die vogtländischen Winter sind hart und kalt und ähnlich lang wie die erzgebirgischen. Das „Sächsische Sibirien“ sagt man zu dieser rauen Gegend.

Ich betreibe das Sammeln ja auch zu Hause mit dem Handwagen. Ein Sammelschein „für Knackholz“ kostet für's Jahr beim Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb 3,- Mark ... für einen vollen Holzschuppen und eine warme Wohnung.


Weitere Schauergeschichten gibt es über Hochmoore und Menschen, die darin versanken – doch ich wette, Fräulein Lange weiß noch mehr darüber, als sie uns erzählt. Das wäre aber vielleicht auch für die Jüngeren der Erholungskinder nicht so gut.

Gut aber, dass die Sonne die Landschaft in ein so freundlich warmes Licht taucht, denn von hier an könnte es einen frösteln. … Die Sehenswürdigkeiten werden immer grauslicher, wenn man nicht übermütig oberflächlich umher tollt oder gar „rimbaldobert“, sondern sich in die schreckliche menschliche Geschichte hineinvertieft:

Der nächste Haltepunkt am „Sandigen Weg“ ist nämlich der Jungfernfelsen. Das ist hier gar nicht so lustig und romantisch wie es beispielsweise damals bei „Katjuscha“ war. Dieses Lied findet ihr am Ende des Berichts. Es begab sich nämlich vor etwa 333 Jahren, ja, genau hier im Rautenkranzer Wald. Ausgehungerte Soldaten des General Tilly und des ziemlich streng katholischen österreichischen Kaisers wollten, mitten in dem Krieg, der genau 30 Jahre dauerte, ein völlig unschuldiges Mädchen fangen und mit ihm = ihr irgendwelche zu derben Späße treiben. In ihrer Not eilte der weibliche Backfisch, das ist diesmal ein mehr norddeutscher Ausdruck, der im Vogtland sonst wenig zur Geltung kommt, hoch auf das Felsenversteck. Als sie aber gewahr ward, dass sie den Häschern, diesen ungehobelten Grobianen, nicht entkommen konnte, kein guter Ausweg für sie frei blieb, fasste sie ihr Herz sowie einen endgültigen Entschluss und sprang vom Schwindel erregend hohen Felsen hinab in die Tiefe. Sie suchte das Entrinnen in die Freiheit und fand aber, ach, den viel zu frühen Tod. Und in dieser schrecklichen Kriegszeit stand ihr kein Schutzengel rechtzeitig bei.

Eine anrührende, sehr traurige und wahre Geschichte. Am Felsen steht leider nicht, wie denn das arme Mädchen überhaupt hieß. Da müsste man in dem alten Kirchenbuch nachsehen, um ihr eine ganz persönliche Gedenktafel aufzustellen und als Mahnung für andere. Man könnte diese vielleicht als Morgenröther Kokillen-Kunstguss fertigen. Ach was, nur so eine Idee – das holde Mägdelein hätte ja nichts mehr davon. Und war es nicht überhaupt so, dass die Siedlung hier erst gegründet wurde? Da waren der Pastor und sein Kirchenbuch wahrscheinlich überhaupt noch nicht hier.


Beim Jungfern-Gedenkfelsen zweigt der Weg ab, der uns, vorbei am Vogtlandsee, nach Grünheide führen könnte. 1,5 Kilometer wären das nur noch. Ihr wisst vielleicht noch: Dort durfte ich vor etwa vier Jahren auch schon einmal sein – aber im Winter.

Eigentlich wollte ich nun, zur Abwechselung und Erholung, etwas fröhlicheres erzählen aber in der Wirklichkeit geht das nicht immer nach Wunsch. Jetzt also kommt es noch schlimmer: genau genommen – doppelt so schlimm, als ein Todessprung.

Nur ein kleines Stück des Wegs weiter – wir konnten uns gerade an den großen, blau und grün im Sonnenlicht schillernden Libellen erfreuen, die sich am Zinsbach tummeln – sie zählen auch zu den Raubtieren, so etwa, wie die Löwen – schon taucht vor dem geistigen Auge ein weiteres Blutbad auf. Und auch das ist wiederum leider wahr. Es ereignete sich am 23. Mai 1903. Erst vor einem reichlichen halben Jahrhundert – trotzdem vor einer schier endlos langen Zeit. Und das war damals so:

Zwei Forstmänner, nämlich der Forstassessor Hertel und der Waldwärter Röder wollten hier gern einen Wilddieb zur Strecke bringen, der den Wald für die Tiere unsicher machte und der oft einen gut gedeckten Tisch hatte. Das aber war allein ihnen vorbehalten. Dieser Wilderer ging in den Wäldern frevelnd seinem kostengünstigen aber ungenehmigten Waidwerk nach.

Schon schön, dass beide Jagdleute dem gleichen edlen Gedanken nachgingen. Weniger gut, dass sie beide nicht vom gleichen Gedanken des anderen wussten und unabhängig voneinander am Abend zu gleicher Zeit, leise in den finsteren Fichtentann gingen. Zwar hatten sie gute Deckung und auch ihre Tarnbekleidung an: dunkelgrüner Lodenmantel unn e Filzhütle, konnten sich aber weder riechen noch sehen. Nur ihre lauschenden Gehöre vernahmen den jeweils anderen und beide vermuteten ein Räuspern oder das Knacken von Zweigen, als Lebensäußerung des Wilddiebes. Schließlich schossen sie sehr kurz nacheinander aufeinander, also auf den vermeintlichen Wilderer. Und sie waren recht treffsichere Schützen. Der wackere Forstmann Hertel schleppte sich schwerst verwundet, eine Blutspur (Schweißspur sagt der Waidmann) hinter sich herziehend, gerade auf dem Ameisenweg entlang, den wir soeben entlang kamen, bis hinunter zur Feilenhauerei. Die gab es damals schon. Dort brach er zusammen. Man konnte ihn noch den weiten Weg bis hin auf den Operationstisch im Zwickauer Krankenhaus bringen. Doch in der Klinik schloss der gute Mann für immer seine Augen. Der Herr Waldwärter Röder war ebenfalls so stark getroffen, dass er noch im Walde seinen tödlichen Verletzungen erlag. Mehrere Kinder hatten nun keine Väter mehr, waren plötzlich halbe Waisen. Der einzige, der wohl froh war und gesund blieb, war der Wilddieb. Dessen Namen, Gesicht und seine weitere Geschichte kennen wir aber nicht – vielleicht gar niemand.

Wir aber wandern weiter, dass heißt, eigentlich schließen wir bald den Spazier-Kreis, denn wir sind schon wieder auf dem Heimweg. Nochmals kurz zum Filz und dann auf dem Höhenweg entlang. Hier sind wir über der Schönheider Straße und sammeln uns am Cottafelsen.

Also, dieser Felsen hieß nicht schon immer so. Man nannte ihn einfach so, um auch im Vogtland den großen, gutmütigen Forstwissenschaftler und Waldbiologen Heinrich Cotta zu ehren (er lebte von 1763 bis 1844). Leicht und locker war er befreundet mit Johann Wolfgang v. Goethe, dem Älteren (1749 bis 1832) und mit Alexander von Humboldt (1769 bis 1859). Also, im Jahr 1842 bekam dieser Felsen eine schöne Gedenktafel, die an den Herrn Cotta erinnert. Er sah sie noch.

Wir haben es von hier nur noch ein kleines Stück bis wir wieder unten auf der Straße sind und können gleich fast geradeaus die Carlsfelder Straße bis zum Heim gehen. Immer bergauf – aber das leckere Mittagessen wartet schon und zieht uns an wie ein Magnet.

Ich muss jetzt mal daran denken, dass ja Schulferien sind: Ich kann nicht über jede Wanderung soviel schreiben, sonst wird das noch ein fast richtiges Wanderheft und die Vogtländer Lehrer wundern sich dann, was da ein fremder Schüler so alles aufschreibt, obwohl es doch ihre eigene Haamit ist. Aber es ist ja eben alles von Fräulein Hennersdorf und sie hat es zum Teil von eben diesen Lehrern und aus alten Büchern. Ich selbst lasse hier ja nur mal den Füller über's Papier gleiten. Sonst nichts weiter. Es ist somit ein guter Kreis-Spaziergang des Wissens. Wenn ich nicht alles so genau erzählen kann, wie es vor vielleicht zweihundert Jahren berichtet wurde, na, dann nehmt es bitte nicht zu tragisch – ihr kennt doch auch das Gesellschaftsspiel „Stille Post“?


Nach den Wanderungen, vor dem Essen, schauen die Erzieherinnen auch mal bei einigen von uns, „bei ihren Pappenheimern“ nach, ob die Fingernägel keine „Trauerränder“ aufweisen, sauber gebürstet sind. Zwar hat Fräulein Hennersdorf, was man nach ihrer Bezeichnung (Fräulein) ja vermuten kann, noch keine Erfahrung mit eigenen Kindern aber dafür ist sie immerhin Erzieherin und kommt mit der Gruppe recht gut klar – besser wahrscheinlich, als manche Eltern es verstehen. Und ihre eigenen Fingernägel sehen immer rosa-weiß, schneesauber aus. Na ja, sie macht schließlich auch keine dreckigen Arbeiten, gräbt auch auf den Wanderungen keine interessanten Steine mit den Fingern aus und so was ähnliches. Man kann die Verhältnisse nicht vergleichen.


Am Nachmittag finden Sportspiele statt. In jedem Durchgang ist das so. Schon von Anfang an!

Nicht erst, als der Erste Sekretär des Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Erster Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Walter Ulbricht, aufmunternd-mahnend den Finger hob und verordnete:

Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport!“– bevor er selbst zur Tischtenniskelle und zu den Schlittschuhen griff, um im Alter zu zeigen wie das so geht. Frühsport kann man täglich betreiben und in vielen Betrieben wird den Kollektiven der sozialistischen werktätigen Massen sogar regelmäßig Pausengymnastik angeboten.


Donnerstag, 20. August – weitere kulturelle Erlebnisse

Heute wird von uns allen draußen in der Natur ein Gruppenfoto gefertigt, damit wir bis zum Lebensende auf dem Fotopapier eine lebendige Erinnerung an diese schöne Zeit in den Händen halten können.

Zur Schreibstunde zeigt uns Fräulein Hennersdorf wie wir den Rand des Briefbogens künstlerisch verschönern können. Dazu wird ein langer farbiger Papierstreifen, ungefähr zwei Zentimeter breit, nach Ziehharmonika-Art gefaltet, und dieser dann mit Schmuckschnitten (mit der Schere) verziert. Nach dem wieder Entfalten hat man dann ein immer wiederkehrendes Muster. Anfangs, na ja, sah es recht grob aus aber mit der Zeit des Übens macht es Spaß und gelingt besser. Die Muster werden feiner und die Schnitte sauberer. Dieser Streifen, anschließend aufgeklebt, macht den Brief, zusätzlich zur Schönschrift und zum Inhalt noch viel wertvoller für den Empfänger.


Besuch kommt am Nachmittag aus Lauscha, einem Ort in Thüringen. Auch dort liegt viel Schnee, vernahmen wir. Aber jetzt ist August. Lauscha! Nein, nein, in diesem Ort werden keine orthopädischen Hörhilfen hergestellt. Es kam ein Kunst-Glasbläser zu uns. Das Glasblasen war früher ein recht ungesunder Beruf, wie wir hörten. Der Herr brachte zierliche Tierchen aus dünnem Glas, in allen möglichen Farben mit und blies auch einige vor unseren Augen. Künstliche Augen hatte er auch dabei, für uns aber nur so als Anschauungsmaterial. Das Auge ist viel größer, als man vermutet, weil man ja im Normalfall nur ein Stückchen davon sieht. Solch ein Auge erhielt nach dem Krieg unser Onkel Anton wegen seines Augenverlusts nach dem Granatsplitter-Treffer. Heute müssen schon nicht mehr so viele Augen hergestellt werden, wie damals und das ist gut so. Allerdings gibt es die Kunst-Augen nur, damit sich andere Leute nicht erschrecken. Sehen kann man trotz aller Kunst damit natürlich nicht. Andere Versehrte tragen aber lieber ständig eine schwarze Augenklappe, wie der israelische General Moshe Dajan, der ein Auge im Libanon-Krieg verloren hatte – oder sie wählen eine dunkle, eine fast schwarze Sonnenbrille. Wie schön wäre es, brauchte man überhaupt keine Kunstaugen, würden sich auch erwachsene Menschen normal verständigen können – völlig ohne Kriege!

Glasbucker, Kugeln oder Murmeln mit bunten spiraligen Fäden, stellt der Lauschaer Kollege auch her. Diese Glaskugeln bläst er aber keinesfalls, die sind massiv, schwer, kommen von der Glas-Stange. Das ist aber viel einfacher, als ein Auge extra so zu produzieren, dass es genauso aussieht wie das noch vorhandene. Eine komplizierte Einzelanfertigung.

Weihnachtskugeln werden dagegen geblasen. Kleine Mühlen im Glas hatte der Glaskünstler ebenfalls dabei, mit schwarzen und blanken Flügeln, die sich im Sonnenschein hurtig drehen. Kleine Sonnen-Kraftwerke – würde man sie zu solch einem Zweck nutzen.


Interessant – auch unser Besuch in der Heimatstube. Hier sahen wir Geräte, wie sie in der Holzwirtschaft der Forstbetriebe genutzt wurden und werden. Eine weitere Abteilung befasst sich mit dem Bergbau, der Erzbearbeitung dem Hüttenwesen und der Gießerei- und Schmiedetechnik in Morgenröthe. Auch zur Geschichte des Ortes und der Umgebung sind im Museum eine Anzahl von Schriften aufbewahrt. Ebenso vermitteln eine alte Schulbank und verschiedene Haushaltsgegenstände einen Einblick in das damalige Leben der Rautenkranzer und Morgenröther Einwohner.

Einige bedeutende Menschen der Orte werden hier mit Bild und Erläuterungen geehrt. Unter diesen ist auch Karl Alwin Gerisch, der in Rautenkranz, Ziegengasse 45, am 14. März 1857, mittags um 1 Uhr (13.00 Uhr), als Sohn eines Waldarbeiters und von seiner lieben Frau geboren wurde. Nachdem er später die Schule verlassen hatte, erlernte er das schwierige Handwerk des Bauens von Maschinen. Viel später teilte er sich mit Paul Singer für einige Zeit den Vorsitz der SPD, die es bei uns nicht mehr so einzeln gibt. Beide waren sie gut bekannt mit August Bebel und vielen weiteren Arbeiterführern. Alwin Gerisch schrieb so nebenbei eine Anzahl wertvoller Bücher über das karge Leben einfacher Menschen im Erzgebirge und über die Ursachen von deren Armut. Der Lehrer, Herr Böhm, hatte vor einiger Zeit etwas Gutes über Herrn Gerisch zu dessen 100. Geburtstag verfasst. Schade nur, dass dieser es nicht mehr lesen konnte, denn er war bereits 1922 in Berlin gestorben. Gefreut hätte er sich bestimmt über diese Schrift.


Anfangs hatten zwei von uns, also von den Kleineren, etwas Heimweh, aber mir ist es eher mulmig, da nun schon das Bergfest vorbereitet wird. Zum Üben für die kommenden Feste wird die Bühne des Speisesaales jeden Tag benutzt. Bei Fräulein Hennersdorf lernen wir jetzt, da wir auch auf das Heimatfest des Dorfes zusteuern, „Beim Kronenwirt ...“. Von den Liedern werden wir dann zu den Festen etwas vortragen. Für die Erzieherinnen vielleicht etwas langweilig, denn sie hören ja die gleichen Lieder in jedem Durchgang wieder. Weil sie aber so viele Lieder kennen, wechseln sie diese aber auch mal und dann ist es mit den Wiederholungen für sie bestimmt nicht mehr ganz so schlimm. Eine Anzahl von Liedern kann man ja auch nur in einer passenden Jahreszeit anbieten.

Heimatfest ist im Dorf zur Erntezeit. Ein frohes Treiben. Einige Buden mit Speis' und Trank. Wir üben uns im Vogelschießen mit der Armbrust und Pfeilen, vorn mit Gummisaugpuffer, damit ja nichts ins Auge gehen kann. Das Ziel ist ein aufgestellter Adler aus Pappe mit „Pappfedern“, die er auch ruhig mal verlieren soll, wenn sie getroffen werden.


Wir singen also jetzt: „Beim Kronenwirt ...“ und überhaupt: „wo man singt, da lass' dich ruhig nieder – böse Menschen singen keine Lieder“. Wir singen viel. Jeden Tag. Und sind fröhlich.


Zwischendurch aber ruhen wir uns manchmal bei gemeinsamen Spielen etwas aus, bei Halma, Dame, auch „Mensch, ärgere dich nicht“, „Mau, mau“, „Schwarzer Peter“ und weiteren Kartenspielen. Bauwerke errichten wir. Auch Kreis- oder Stuhlspiele sind dabei wie: „Ringlein, Ringlein, du musst wandern“, „Hänschen, piep einmal“ und andere mehr. Dafür bin ich eigentlich schon längst zu groß. Aber man macht eben mit. Es gehört dazu. Einer der Jungen hat ein kleines Westauto von Schuko zum Aufziehen von zu Hause mitgebracht. Man kann machen, was man will, es fällt nie vom Tisch hinab, sondern es stoppt vorsichtshalber an der Tischkante (als wenn es den Abgrund sieht) und wechselt von ganz alleine die Fahrtrichtung. Interessant anzusehen wie das so funktioniert, mal anfassen ist schön aber ich brauche das nicht unbedingt auf Dauer, denn mit der Zeit wird es schnell langweilig.

Dann haben wir wieder eine Schreibzeit, denn ich freue mich ja auch, wenn ich alle zwei, drei Tage Post erhalte und so sollen Mutti, Vati und meine Geschwister auch lesen, was wir hier alles erleben dürfen. Struppi spitzt gewiss ebenfalls aufmerksam seine Ohren. Von Lola erwarte ich das nicht.


Freitag, 21. August – einer der großen Basteltage

Heute am Vormittag ist Fräulein Lange erst mal allein bei unserer Gruppe. Fräulein Hennersdorf hat in dieser Zeit frei und kommt zum Mittagessen zu uns. Sie verrichtete gewiss am Vormittag einige Nützlichkeiten oder geht mal wieder ins Bad – also baden, schwimmen und sonnen. Dieses Bad ist natürlich künstlich. Früher musste man dafür ein Eintrittsgeld von zehn Pfennigen bezahlen. Für die Pflege der Umkleidekabinen und Toiletten, das Aufsammeln von Papier – und der Wärter wollte sich ja auch ernähren. Heute braucht man nichts mehr bezahlen, denn es ist nun ein Freibad und des Volkes Eigentum sowieso. – Allerdings muss man trotzdem aufpassen, denn es nehmen dort nicht nur Menschen, sondern auch bissige, ja sogar giftige Kreuzottern öfter ein Sonnenbad. Die Schlangen baden gerne selbst im Wasser, erzählt uns unsere mutige Erzieherin. „Otterzungen oder Natterzungen“ sind dagegen Pflanzen, hören wir von ihr. Schöneres gibt es für uns allerdings, als beispielsweise ein Otternwettschwimmen. Viel besser wäre es für die Menschen, wenn diese Tiere im nahegelegenen Bahnhofsteich baden, der sich bis zur Brunner-Fabrik erstreckt. Dieser Teich oder besser „Weiher“ wäre für sie noch natürlicher, weil nicht aus Beton. Er ist auch ist auch voller Seerosen, die von den Fröschen so sehr geliebt werden. Diese Rosen im See werden hier in der vogtländisch-sächsischen Sprache gern „Mummeln“ genannt. Durch jene bahnen sich Wildenten ihren Weg. Diese schnäbeln auch ab und zu miteinander: „In den Mummeln können sie sich tummeln – im See der Rosen, ist für sie gut kosen“. Libellen brummen über die Entenköpfe hinweg. Prächtiger anzusehen als Hubschrauber.


Wir, die rund 75 Kinder, sind hier übrigens nicht ganz alleine, denn auf den Wanderungen treffen wir immer mal auf andere Kindergruppen. So gibt es zum Beispiel noch ein Kinder-Erholungsheim in Morgenröthe, Ortsteil Sachsengrund, mit der Frau Braun als Leiterin, das ist nicht weit von hier. Ebenso gibt es ein Heim in Schöneck mit dem Herrn Schuster als Heimleiter, hören wir, – sowie die Erholungsheime in Grünheide und Vogelsgrün.


So ganz nebenbei erfahre ich, dass fast alle Kurdurchgänge vier Wochen dauern. Wir aber sind drei Wochen hier. Vielleicht liegt das daran, dass wir nicht so richtig krank sind. Da haben es ja andere Kinder viel nötiger, die in Gegenden mit schlechter Luft wohnen, zum Beispiel in Merseburg bei Leuna oder in Schkopau bei Buna oder in Bitterfeld bei Wolfen. Auch jene, die an den strahlenden Uran-Abraum-Bergen der Wismut leben, beispielsweise in Ronneburg und Umgebung – wie gut haben wir es da in unserem Heimatlandstrich. Und Kur, na ja – weil ich groß und dünn bin und der Kreislauf manchmal mit niedrigem Blutdruck spinnt. Ich meine: Kleiner werde ich von dem Erholungsaufenthalt in diesen drei Wochen wohl nicht, fleischig-fettig ebenfalls nicht und mit breiteren Schultern wird auch kaum zu rechnen sein – wer sonst sollte dann auch meine Hemden tragen? Mir reicht es tatsächlich, dass alles schön und harmonisch sowie friedlich ist.

Es gibt aber auch Kinder, die besondere Heilbehandlungen bekommen wie:

- eine Spezial- Gymnastik, Haltungsturnen, speziell auch Fußgymnastik

- Atemgymnastik unter freiem Himmel in der besonders gesunden Vogtlandluft

- Bürstenmassage der Haut ... ist sowieso schon täglich für alle vorgesehen

- Wasseranwendungen nach Sebastian Kneipp mit dem Treten des Wassers und kalten Güssen

- Entspannungsübungen mit Musik

- Einschlafhilfen mit dem Tonbandgerät „Smaragd“ und vielleicht dazu passend: „Schlafe mein

Prinzlein, schlaf' ein.“

- Haut- und Seelenbehandlungen gegen bestimmte „Hautausschläge“ und

- Schulungen, um mit dem Asthma besser fertig zu werden. Mit Inhalationen und Entspannung,

- Mastkuren für Kinder, die gar zu dünn sind.


Zu dicke Kinder, die Abnehmkuren brauchen? Solche gibt's hier in unserem Durchgang nicht.

Denken wir bei der Frage, ob nun drei oder vier Wochen Kurdauer – besser daran, dass die Erzieherinnen, genau wie die Küchenkräfte mal eine Verschnaufpause zwischen den Durchgängen brauchen und auch der Hausmeister ungestört 'was in Ruhe reparieren muss. Vielleicht macht aber das Personal in dieser abgeknappsten Woche auch mal einen gemeinsamen Heimausflug in eine ganz andere Gegend, um sich mal kurz von den vielen Kindern zu erholen. An einen richtigen Urlaub für die Erwachsenen müsste man sowieso zusätzlich denken. Für diese Notwendigkeiten wollen wir doch gern mit dem Geschenk von drei Wochen sehr zufrieden sein. –

Andere Kinder, die demnach eine Woche länger Zeit in ihrem Durchgang haben, erleben noch mehr an Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten. Vielleicht können wir auch außerhalb dieser Erholungszeit herkommen, hier nur kurz mal „Guten Tag“ sagen und noch viel mehr von dem sehen, was jetzt für uns zu Fuß zu weit wäre, unerreichbar ist.


Es könnten dazu gehören:

Ich denke ihr erkennt schon: Je größer der Aktionskreis, desto mehr spannende Ziele für eure Besichtigungen, so dass ich hier das Aufzählen einfach abbreche, sonst finde ich kein Ende. –


Heute ist Bastelnachmittag. Material gibt es genug. Zum Beispiel bekommen wir aus der Kunstleder- und Wachstuchfabrik Tannenbergsthal gut brauchbare Reststücken aus deren Produktion. Dieser Betrieb steht im Tal der kleinen Pyra. Kunststücke und Abfälle machen wir dann aus jenen Spenden. Kunstleder besteht aus einem Gewebe (Baumwolle), das in der Maschine mit vorerst flüssigem Kunststoff (PVC) beschichtet wird. Nun erzählt uns unser Fräulein Hennersdorf, wie die farbigen Muster oder auch die Tiefen-Prägung des Materials entsteht. Man könnte denken, sie bearbeite das täglich selbst. Das Kunstleder kann unterschiedliche Farben haben und künstlich gemustert werden. Man kann es auch mit „Narben“ prägen, damit es etwa so aussieht wie eine lederne Tierhaut. Andere Leute sagen dazu: „Es ist somit unwahr und zählt zum >Kitsch<“. Auch Wachstuch ist ein Gewebe, was mit einer Art künstlichem Kautschuk getränkt wurde und nach dem Trocknen auf der Oberseite glänzend und abwaschbar ist. Es hat heute also nichts mehr mit Wachs zu tun, weder von Bienen, noch von Kerzen. Und die abwaschbare Tischdecke wächst auch nicht. Wir suchen im Heim und in Gedanken an unser Zuhause Beispiele für die Verwendung von Wachstuch und Kunstleder und nennen diese. Dann geht es endlich ans Basteln.

Zuerst wählen wir uns Material aus dem großen Karton. Wir suchen entweder völlig gleichartige Stücke aus oder solche, die nach unserer Ansicht gut zusammen passen, einen schönen Kontrast bilden, sich also „nicht beißen“. Sollte der „Geschmack“ sich mal sehr verirrt haben oder wir Unsicherheiten bemerken, hilft Fräulein Hennersdorf mit gutem Rat und leichter Hand. Wir basteln Kammhüllen oder Ausweishüllen. Wer es möchte, kann auch einen Untersetzer für Getränkegläser, gestalten. Manche Mädchen interessieren sich auch für das Fertigen einer Taschentuchtasche. Dann üben wir das Anzeichnen mit Stift und Schablone, danach das feine Ausschneiden des Rohlings. Anschließend erfolgt die Randlochung mit der Lochzange in gleichmäßigen Abständen und zum Schluss das Durchfädeln des Bändchens, das die beiden Hälften zusammenhält. Auch Faltkästchen aus farbigen Lack-Papier, für das Aufbewahren manchen kleinen Krimskrams oder nur so zur Freude des Anblicks, lernen wir zu fertigen. Das sind für Daheim viel schönere Mitbringsel, als ein im Landgasthaus gekauftes Andenken. Auch im KONSUM, kurz vor dem Bahnhof, gibt es nebenbei so'n kleinen Schnickschnack: Baumscheibe mit Foto, Thermometer mit Fichtenzapfen auf einem Brettchen usw. aber natürlich auch Ansichtskarten. „Der KONSUM hat fast alles“.


Sonnabend, 22. August

Frau Böhm hat als Heimleiterin mit unserer Gruppe kaum etwas zu tun. Na ja, sie ist ja die beliebte Meisterin der Erzieherinnen und zusätzlich auch der Wirtschaftskräfte und die Chefin des Hausmeisters. Die Erzieherinnen sind mindestens gleichzeitig Lehrerinnen, wie ich schon erwähnte. Deshalb fällt es ihnen auch überhaupt nicht schwer, zwischendurch mal einen ernsthaften Unterricht zu halten, damit die Kinder nicht zu sehr dem heimatlichen Schulunterricht hinterher hinken. Wir sind aber in den Großen Ferien hier, da ist es zwischen uns ganz kollegial und nicht so lehrerhaft.

Inzwischen weiß ich auch, wer von den Erwachsenen hier im Heim was tut und einen großen Teil der Namen konnte ich mir inzwischen auch einprägen. Es gehören dazu:

In der Küche – und das ist sehr wichtig: Die Köchinnen Frau Lisbeth Siegert, Frau Marianne Lange und Frau Annel Leonhardt. Als Küchenhilfen: Frau Auguste Büttner, Frau Anna Rieger und Frau Wilhelmine Kalinowski, Fräulein Emeline Schönfelder und Fräulein Karin Baumann.

Wir bemühen uns zwar, nicht viel schmutzig zu machen und doch werden die Räume gepflegt von Frau Lina Gärtner, Frau Helene Frister, Frau Wally Hausstein, Frau Christine Pöhland und in den Räumen unserer Gruppe II ist die Frau Hedwig Strobel mit Wischeimer und Schrubber unterwegs. In unserer Abwesenheit.

Zu den Erzieherinnen gehören Fräulein Monika Dähnert und Fräulein Saupe. In der Gruppe I ist Fräulein Christel Eckert. Für Gruppe II sind es Fräulein Hennersdorf und Fräulein Gisela Lange. Fräulein Regina Spitzner ist sonst auch eigentlich dabei, aber momentan abwesend.

Mit der Nähmaschine und stichelnder Hand sind Helene und Ursel Frister fleißig bei der Arbeit.

Hoffentlich habe ich bloß nicht zu viel von Frauen und Fräulein durcheinander gebracht. Man sieht ihnen das ja nicht genau an der Nasenspitze an und bei den meisten ändert sich das sowieso. –

An Gespenster glaubt ja niemand. Des Nachts, wenn die Erzieherinnen zu Hause schlafen, schleichen jedoch mal Frau Elisabeth Hohmann oder Herr Kurt Lange durch die Räume und schauen nach dem Rechten. Herr Lange ist oft Tag und Nacht unterwegs, denn er ist nicht bloß Nachtwächter, sondern gleichzeitig am Tage der Hausmeister, genauso wie der Herr Willi Gläser – beide haben interessante Aufgaben. In Notfällen müssen sie eigentlich alles können. Vielleicht werde ich ja auch mal ein Hausmeister. Eventuell bei Kindern oder vielleicht auch im Tierheim. Außerdem gibt es noch eine Krankenschwester im Behandlungsraum und ein Isolier- und Krankenzimmer. Im Büro ist Frau Elsbeth Frieß tätig und sorgt dort dafür, „dass alles ordentlich läuft“, was von Frau Böhm so zu bedenken ist.

Insgesamt sollen es für rund 75 Kinder etwa 28 erwachsene betreuende Personen sein – ein bisschen auf zwei Schichten und ganz wenig auf die Nacht verteilt. Wenn mal zusätzlich etwas gebraucht wird – dann beschafft oder fertigt es irgendein weiterer Mensch aus dem Dorf. Frau Böhm weiß sehr gut, wen sie da ansprechen kann und alles hat seine gegenseitigen Vorteile – also für das Erholungsheim und für die Ortsbewohner.

Wenn ich das hier so notiere merke ich, dass ich über die anderen freundlichen Erzieherinnen kaum 'was zu schreiben weiß. Da klemmt es mit der Gleichberechtigung. Die Haupt-Erzieherin unserer Gruppe ist aber nun eben Fräulein Inge Hennersdorf und deshalb wird sie auch öfter erwähnt. Es hätte genauso jede andere treffen können. Denn sie alle geben sich täglich Mühe, uns die Zeit hier besonders schön zu gestalten. Das muss ‘mal gesagt werden. Und über andere Erzieherinnen werden dann eben Kinder aus anderen Gruppen ihren eigenen Bericht schreiben.


Eigentlich ist es ja so, dass wir uns während der Mittagsruhe still in den Zimmern aufhalten sollen. Wenn aber mal einer ganz nötig zur Toilette muss, darf es auch mal die Ausnahme eines Hausspaziergangs geben – und wenn er großes Glück hat, dann kann er hören, wie Fräulein Hennersdorf im Büro Akkordeon spielen übt. So spielt sie auch: „Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer ...“. An diesem Beispiel sieht man, dass die Erzieherinnen nicht schlafen dürfen, während wir es möglichst sollen. Sie also dürfen nur mal an ihren Urlaub denken. Und auch für sie gilt: Lernen, lernen und nochmals lernen.


Viel lernen die Rautenkranzer bei ihrem Musikkundigen, dem Herrn Klaus Fraas. Herr Heinrich Glöckner, ist auch Lehrer. Er leitet den Gesangsverein und die Chöre. Er komponiert aber auch selbst heimatliche Musikstücke und dichtet noch dazu. Zu diesem Liederschatz gehört das Werk:

Rein wie Gold – stark wie Erz“. Ja, so fühlen sich de Leit' in Rautenkranz. Hoffentlich ist da nichts bei Herrn Richard Wagner abgeguckt. Der schrieb ja auch schon was über das „Rheingold“.


23. August. Heute ist Sonntag.

Wir alle wissen ja: Erzieherinnen haben zum Teil Familien und auch die Fräulein, die noch keine haben, müssen sich zumindest an einem Tag in der Woche ausruhen können. Deshalb geht sonntags alles ein bisschen ruhiger und mit weniger Erzieherinnen vonstatten.

Frühstück gibt es erst um 9.00 Uhr. Anschließend gehen wir spazieren. Das ist eine lange Schlange, weil alle 75 Kinder sonntags eine gemeinsame Großgruppe bilden.

Wie wäre es denn, wenn das Heim einen oder mehrere gelehrige Schäferhunde beschäftigte, die das Rudel auf der Wanderung zusammenhielten – sie hätten hier bestimmt ein gutes Leben und würden sich ihr Essen spielend verdienen. Als weitere Maßnahme für die Unterstützung der Gesundheit des Gemüts mancher Kinder, könnte der Arzt dann noch den Punkt: Kraul- und Spielstunde auf den Plan setzen und die großen Erfolge abrechnen. Wer vorher noch ein kleiner Schisser war, würde dabei ganz zutraulich, mutig und charakterlich gefestigt.

Schäferzirkus mit Podesten und Springreifen gäbe es dann vielleicht auch noch, falls man fei keinen Löwen zur Hand hat – eine verlockende Idee für die Abschlussfeste, nicht wahr? –

Also Sonntags-Spaziergang: Wir gehen wie üblich die Carlsfelder Straße hinunter und gleich hinter dem Bahngleis nach links in Richtung der Schule und an dieser vorbei, eben immer entlang der Zwickauer Mulde, die die Straße links von uns begleitet. Bald zweigt nach rechts die Straße „Hohehausberg“ ab. Oben steht nur ein klaanes Häuflein an Haisle aber man hat von hier aus einen schönen Ausblick, sogar bis zu unserem Heim mit dem Bild der weißen Friedenstaube am dunkelbraunen Giebeldreieck. Nachdem wir uns sattgesehen haben, geht es wieder hinunter zur Hauptstraße. Weil unsere Kinderschlange so lang ist, begegnet sich diese auf dem Hin- und Rückweg selber. Auf diesem Wege sehen wir mehrere friedliche silbergraue Ringelnattern. Unser Rundweg, hier von Ebereschen mit orangefarbenen Früchten begleitet, führt uns an den Wiesen entlang, durch die der Wiesbach eilt. Dann beschreiten wir den Pyratalweg. Von hier aus ist es ein kurzes Stück bis zu der berühmten Radiumquelle, über die man manch Heilsames hört. Wir aber sind ja hier nicht zu einer Trinkerkur angereist. Das Schlucken der Radioaktivität ist wohl sowieso mehr 'was für Erwachsene – ich hörte dazu schon früher mal etwas in einem Vortrag über Bad Brambach. Mal heißt es Radium, ein anderes mal Radon. Zum Schluss gehen wir dann noch auf dem Sackweg entlang, der aber für uns keine Sackgasse darstellt. Am Sackhaus hat uns das Rautenkränzel schon wieder und wir kommen pünktlich zuerst im Waschraum und dann im Speisesaal an.


Nach dem Mittagessen fällt aber selbst am Sonntag die Mittagsruhe nicht aus.

Um 15.00 Uhr gibt es Milchkafe, denn die Bezeichnung „Muckefuck“ für das Getränk wäre nicht echt vogtländisch, und Kuchen dazu. Danach stehen gemeinsame Gesellschaftsspiele auf dem Plan. Dazu werden erst mal die Stühle im Kreis aufgestellt und es geht los mit: „Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht um“ (das heißt hier aber irgendwie anders). Jakob und Jakobinchen (Jakob, wo bist du?). Oder anstrengende Gedächtnisübungen wie: „Ich packe meinen Koffer und nehme mit: ...“ sowie: „Ach du armer schwarzer Kater“ (lachen verboten!) und noch manches andere mehr.


Montag, 24. August – Die Schönheiten des sächsischen Erzgebirgsvogtlandes ...

Solch einen Begriff darf kein echter Eingeborener hören, sonst würde ihm vielleicht schlecht werden und ich als Verursacher bekäme den Ärger. Es heißt entweder so – oder so, denn es sind scheinbar ganz unterschiedliche Landschaften. Wir aber überschreiten eben oft die Grenze und verbinden für uns damit beide – im Kopf und unter den Füßen. Und ich verrate Euch mal: Ich habe gesehen, dass die Bäume im Vogtland, denen des Erzgebirges sehr, sehr ähnlich sehen. Deshalb sehe ich das als Ausländer nicht gar so streng. Das ist aber nur die Vorrede:


Am Nachmittag sehen und hören wir einen farbigen Lichtbildervortrag, auch über andere Gegenden des Vogtlandes und des Erzgebirges, in die wir jetzt nicht kommen, denn dazu ist das Land zu groß. Es gibt nämlich das Vogtland sowohl in Sachsen, als in auch in Thüringen und früher konnte man im Süden, also inzwischen im Westen liegend, auch das bayerische Vogtland erreichen. Es soll sogar in der Tschechoslowakei (CSR) auch noch einen Vogtlandteil geben. Das ist sogar ganz in der Nähe, beginnt bald hinter Morgenröthe-Sachsengrund. Ein ganz anderes Land. Dazu passt das Lied: „Singt das Lied wunderbar – Burschen aus Mystrina, tolle Schar“. Von den rauen Böhmen-Burschen und dem lieblich-klugen Ännchen handelt es. Diesen wunderbaren Liedtext findet ihr ganz am Ende meines Berichts – im Liederheft.


Der Herr, der den Lichtbildervortrag hielt, ist einer der Lehrer in der Schule in Morgenröthe und in der Schule von Rautenkranz. Es ist aber nicht irgendein Lehrer, sondern Herr Böhm, der Ehemann unserer Heimleiterin. Gewiss stammten seine Vorfahren auch aus jener südöstlichen, heute etwas fremden, wenn auch befreundeten Gegend. Er selber sieht aber nicht mehr wie ein rauer Bursche aus. –

Weiß der aber viel. Bestimmt fast alles über die Gesteine, die Pflanzen und Tiere der Heimat aber auch über kleine Briefmarken und das große Universum. Das Letztgenannte erwähnte er nur mal kurz, weil es ja zu groß für den Rahmen eines Vortrags übers Vogtland wäre.

Beim Dia-Vortrag wurde uns außer der Landschaft so einiges über die Herstellung der Musikinstrumente in Klingenthal und über das komplizierte Klöppeln der Spitze gezeigt. Wir erhielten Einblicke in die Kunst der erzgebirgischen feinen Schnitzereien, in die Drechseltätigkeit, sahen Laubsägearbeiten und verschiedenes mehr.


Dienstag, 25. August – Besichtigungen, Sport und Lieder – für uns immer wieder

Am Vormittag besuchen wir die benachbarte Stickerei. Es handelt sich um eine Maschinenstickerei. Interessant, was der Mensch die Maschine so für unterschiedlich farbige Muster „zaubern“ lässt. Die Produkte sollen vor allem im kapitalistischen Ausland sehr beliebt sein, so dass man sie nicht in jedem unserer sozialistischen Verkaufseinrichtungen sieht. Leider gibt es bei den Produkten wohl selten 2. oder 3. Wahl – dann hätten unsere Bewohner eher eine Chance.

Wir lernen dabei auch kennen, wie früher die Handkunststickerei erfolgte. Das ist ganz schön schwierig. Der Mensch, es ist also kein reiner Frauenberuf, sitzt am „Stickrahmen“ der so ähnlich aussieht wie ein Tisch ohne Platte. An deren Stelle befindet sich ein Holzrahmen, über den das zu bestickende Tuch gespannt wird. Unten, kurz über dem Fußboden, zwischen den Füßen des Menschen, ist ein Spiegel montiert, der die Unterseite des Tuches und jeden Handgriff, jede Einstichstelle zeigt, denn gestickt wird immer von „links“, von unten, für die Augen normaler Weise verdeckt. Beide Seiten der Stickerei sollen gut aussehen. Man braucht dazu scharfe Augen und einen guten Farben- und Ornamentsinn – wenn man nicht Mustervorlagen benutzt, die einem helfen. Des Weiteren ruhige Hände, Geschmack und den nicht nur auf der Zunge, viel Geschick, Übung und Geduld. Es gibt noch eine Anzahl von Familien, in denen die alte Kunst der Handstickerei beherrscht wird.

Also für mich ist das mal völlig neu, obwohl wir zu Hause auch Tischdecken haben, die Mutti nach einem aufgebügelten blass-blauen Muster mit farbigen Stickereien geschmückt hat. Ohne Maschine und auch ohne Spiegel. Mit der rechten Hand stickt sie und mit der linken wendet sie dabei das nicht gespannte Tuch ein bisschen, um die Einstichstelle sehen zu können. Wahrscheinlich aber ist es so noch mühsamer und weil das ja nicht ihr Beruf ist, sie solch eine Tätigkeit selten ausübt. –


Am Nachmittag finden draußen bei schönstem Wetter die Sportspiele statt.

Heute lernen wir außerdem: „Auf, du junger Wandersmann!“ und etwas über den wandernden Müller und die Lust, die er dabei empfindet. – Das hat weniger etwas mit dem Spazierengehen in einem Kindererholungsheim zu tun. Fräulein Hennersdorf erklärt den Kindern, wie es damals so war mit der Wanderschaft der Handwerksburschen, die als Gesellen einige Zeit von einem Handwerksmeister zum anderen wanderten, um von diesen immer noch etwas dazuzulernen, bevor sie sich selber zur Meisterprüfung anmelden durften.

Hier sollte ich anmerken, dass wir früher in unserer Familie, also ganz früher, auch Müller hatten, die gewandert sind, von denen einige darüber hinaus Zimmerer oder Tischler gelernt hatten – Mühlen-Meister waren, die ihre Mühlen selber bauten und reparieren konnten. Mein etwas entfernter Onkel Otto Gericke, der Tischler, hat früher auf seiner Wanderschaft auch viel erlebt. In Hamburg, Baden, Bayern, in der Schweiz, am Rhein sowie am Main. Das ist heute bei uns nicht mehr so üblich.


Den Verkehrsgarten habe ich überhaupt noch nicht erwähnt. Er ist recht interessant. Er gefällt mir. Da kann man richtig mit Menschen und Fahrzeugen die Verkehrserziehung üben. Ein prima Parcours, direkt am Kurpark.


Mittwoch, 26. August

Heute notiere ich mal etwas über unseren Speiseplan und nehme einige Stichpunkte davon mit. Dann braucht Mutti sich nicht für jeden Tag etwas neues einfallen lassen und sich darüber den Kopf zerbrechen. Die Beispiele findet ihr ganz am Ende dieses Berichts, hinter dem Liederheft.


Wir gehen auch ins Kino. Das ist kein richtiges Kino. Es findet in der „Frischhütte“ statt. Das ist aber keine richtige Frischhütte. – Also ich fange besser noch einmal von vorne an, denn eigentlich ist alles ganz einfach: Einmal in jeder Woche kommt der „Landfilm“ auch nach Rautenkranz. Die Filme werden den Zuschauern im Saal des Landgasthofs vorgeführt. Dieses große Restaurant trägt nur den Namen „Frischhütte“, was uns an die Roheisen-Veredelung erinnern soll, die in Morgenröthe stattfindet. Und auch bei ihnen werden die Waren nie alt. Der Landgasthof steht im Tal, nahe bei der Mulde und dem Bahnhof. Wir gehen zum Kinobesuch also wie üblich die Carlsfelder Straße hinab. Vorbei geht es an der Bäckerei Kunzmann, dann am Haus Nummer 2, einem alten Gebäude mit ungewohnt gotisch-spitzbogigen Fenstern, das früher mal ein Haus für ganz arme Leitle des Dorfes war. Rechts des Weges „Am Kirchberg“ wohnt der Schneider, Albert. Manche sagen auch nur kurz: Es ist dr Schneideralbert. Schneider aber ist der Familienname des Herrn und seiner Familie. Beruflich verkauft er Obst und Gemüse. Sehr gern werden hier erst die Nachnamen genannt und dann die Vornamen angehängt. Ich kannte das schon von Berichten über den Bergsteiger „Trenker, Louis“. Wir überqueren den Kreuzweg. Man könnte auch gut sagen: ein Wegekreuz, eine Straßenkreuzung, besser noch ein Wegestern, denn hier treffen sich unsere Carlsfelder Straße, der Weg „Am Kirchberg“, der Weg zum Friedhof sowie die Bahnhofstraße und auch noch, von der linken Seite, die Morgenröther Straße. Links vor der Bahnschranke steht das Haus der Fleischerei und rechts der KONSUM. Dann überspazieren wir die Bahngleise sowie die Muldebrücke und wenden uns nach rechts. Die Frau Schrankenwärterin der Deutschen Reichsbahn winkt uns freundlich aus ihrem Bahnwärterinnen-Haisel zu, als würde sie uns alle kennen. Wir winken fröhlich zurück. Fräulein Lange kennt sie seit langer Zeit tatsächlich recht gut aber Fräulein Hennersdorf wohl noch besser. Schwupps – schon stehen wir vor dem Landgasthaus in der Schönheider Straße 5. Insgesamt ein kurzer Weg zum Kino, wenn man dabei plaudert. Nur wenn man ihn beschreiben möchte, zieht er sich auf dem Papier in die Länge.

Wir sehen den Film: „Tinko“. Das Buch, also den Text dazu, erdachte Erwin Strittmatter und der Film wurde vor drei Jahren in Mecklenburg an der Müritz und bei uns zu Hause in Potsdam-Babelsberg gedreht (DEFA-Film Nr. 196, bearbeitet vom 05. August bis 20. November 1956). Günter Simon spielt den Ernst Kraske und Hans Peter Minetti den Lehrer Kern. Ich weiß das nur deshalb so gut, weil dazu Vati wieder den Drehplan für die DEFA-Leute bearbeitet hatte – wobei ich ja immer mal mitlese und auch Partner bei der Korrektur-Prüfung des Ergebnisses bin.


Donnerstag, 27. August

Wir üben für das Abschlussfest. Es sind einige artistische Einlagen, die wir, unsere Gruppe, vortragen wird – leider ohne Hunde oder große Katzen – das wäre die Sensation, da hätten alle ihre Augen vor Freude und Erwartungsspannung aufgerissen. Aber man sieht leider nur uns. Ich bin noch bei einem lustigen Gespräch oder Sketsch mit wechselnden Rollen dabei. Dafür muss ich noch fleißig lernen und kann deshalb jetzt nicht viel schreiben.


Freitag, 28. August

Wir singen eine russische Volksweise aus der befreundeten ruhmreichen Sowjetunion. Ein Frühlingslied über das junge Mädchen Katinka oder Katja mit den blonden Zöpfen und den herrlich baikalblauen Augen, die man in der üblichen Liebkoseform „Katjuscha“ rufen kann oder die man, wenn man es ganz besonders gut mit ihr meint, ganz leise sogar „Katjuschenka“ nennen darf. Das „ju“ möchte dabei betont werden. Den Text in russischer Sprache schrieb der sowjetische Bürger Michail Issakowski. Für uns hat es der Herr Alexander Ott in deutsche Worte umgedichtet und das ist ihm sehr gut gelungen. Die Melodie aber stammt von Matwej Blanter. In russisch kann ich es auch ziemlich, muss dabei vorsichtshalber aber noch ein bisschen auf den Spickzettel schielen.

Raswjetali Jabloni i Gruschi ...“ ... sieht das aber unkyrillisch komisch aus, nicht wahr?


Die anderen Erzieherinnen und unser Fräulein Hennersdorf kennen noch viel mehr Lieder. Ich weiß nicht, wie es die fleißigen Frauen in der Küche bei ihrer Arbeit mit der Pflege des Liedguts halten – beim feuchten Feudeln in den Zimmern klänge es gewiss recht schön und am besten hallt es im Waschraum wider – aber nicht alles können wir in dieser kurzen Zeit miterleben. Die Lieder über den Frühling, Katjuscha ist eine Ausnahmeerscheinung, und jene über die Weihnachtszeit bleiben jetzt sowieso im Schubfach. Aber eins scheint schon klar: Wenn unsere Erzieherinnen auch mal Kinder haben werden, dann ist bestimmt alles ganz anders, als bei anderen Eltern, die sich noch neben der Arbeit, mit der Aufzucht ihrer Kinder herumplagen. Die Erzieherinnen kennen schon alle Lieder und eine Unmenge an Spielen, welche andere Eltern erst mal selbst erlernen müssen, um sie ihren Kindern beibringen zu können. Und als Erzieherinnen und Lehrerinnen werden sie bestimmt fast immer alles richtig machen, was bei anderen Eltern manchmal schief laufen mag.


Sonnabend, 29. August

Kleiner Spaziervortrag, ohne einen solchen geht es nicht, von Fräulein Hennersdorf über die Tiere des Waldes, zu denen wir unter anderen Rehe, Hirsche und Wildschweine sowie Ameisen zählen aber auch Hasen, Füchse, Eichhörnchen und verschiedene Vögel. Ein Bussard zog gerade suchend seine Kreise über uns. Der Eichelhäher warnt bei Gefahren mit seinem durchdringenden Schrei die anderen möglichen Beutetiere. Wenn er steht oder sitzt sieht er graubraun aus, mit schwarzen Schwanzfedern. Unscheinbar. Eine gute Tarnfarbe – könnte man denken. Es ist hübsch anzusehen, wenn er zum Flug seine Schwingen auffächert. Erst dann erkennt man nämlich neben dem Schwarz auch das auffällige weiß-blaue Gefieder.

Von Wölfen hat uns Fräulein Hennersdorf nichts erzählt und uns auch keinen „Bären aufgebunden“. Alles was sie uns erzählt ist wahr. Ja. Auch beispielsweise über Pilze. Der Sammelbegriff für Pilze ist hier eigentlich „de Schwamme“ oder so. Man nennt wohl sogar jene so, deren Hutunterseite nicht den Schwamm zeigen, sondern mit Lamellen versehen sind. Wir lernen verschiedene Schwamm-Arten kennen, die in die Gruppen: Speisepilze, ungenießbare Pilze und ausgesprochen giftige Vertreter unterschieden werden. Sammeln dürfen wir von den Guten unter Anleitung und strenger Schwammesachverständiginnenkontrolle – aber auf dem Kinderspeiseplan dürfen sie vorsichtshalber trotzdem nicht erscheinen. Da bleibt Frau Böhm eisern aber es „opfern“ sich völlig freiwillig einige Erzieherinnen. Fräulein Saupe und Fräulein Eckert gucken schon 'mal ganz erwartungsvoll in die Pfanne (oder in den Tiechel?) und keine von Ihnen hat wegen des wohl köstlichen Zusatzmahls je einen ernsthaften Schaden an Leben oder Gesundheit genommen. Auch das Fräulein Spitzner soll eine sehr große Pilzfreundin sein – aber sie ist derzeitig nicht anwesend.

Weil ich vorhin Bären erwähnte, fällt mir ein: Heidelbeeren oder Blaubeeren gibt es viele. In rauen Mengen. Hier werden sie aber Schwarzbeeren genannt. Vielleicht, weil es im tiefen Wald so dunkel ist. Am Nachmittag geht es von den Tieren des Waldes dann zum Wasser, denn wir singen das Lied: „Jetzt fahr'n wir übern See ...“. Immer wenn ich dieses Lied höre, erinnert es mich an den „Großen Stechlin“ bei Neuglobsow und an unsere Fahrten mit dem Ruderkahn – völlig ohne hölzern' Wurzel. Genauso denke ich gern an unsere damalige Segelbootsrettungsaktion in Mötzow.


Sonntag, 30. August

Die Tage vergehen wie im Fluge. Schon wieder ein Sonntag, an dem „die gesamte Meute“ gemeinsam wandert. Es wird nicht ganz soviel erzählt, meint man, denn so viele Kinder der auseinandergezogenen Reihe könnten die gesprochenen lehrreichen Worte der Erzieherin gar nicht verstehen. Nur soviel an erneuten Mahnungen, etwa wie diese: „Großsträucher dürfen wir nicht pflücken“. Das wissen wir längst. Nun aber im Ernst:

Unsere Erzieherinnen vermitteln uns den Lehrsatz oder auch den üblichen Reim vom Heim:

Lass' Blumen stehen und den Strauch, denn and're Menschen, freu'n sich auch“.

Fräulein Hennersdorf dagegen verfeinert ja immer gern ein bisschen und schwärmt:

Mit Vielfalt, an des Weges Rand, schmücken Blumen unser Land“. Oder auch:

Am Wegesrand die Blumen steh'n – sie sind gar prächtig anzuseh'n“. Ist das nicht schön?

Vielleicht ist das aber auch von Goethe. Nun kennen wir diesen Satz und beherzigen das Thema sowieso. Sie, also nicht die Frau von Goethe, nicht die Christiane Vulpius oder die anderen, sondern unsere Erzieherin, erzählt auch 'was über die alte griechische Göttin der Früchte „Pomona“, die damals noch recht jung war und über die der Blumen und Blüten, mit Namen „Flora“. Dass man diesen huldigte, weil man sie mochte und im Geiste liebenswert fand, das geht dann schon wieder in den Bereich der Glaubensfragen.


Wer verschiedene Pflanzen bislang noch nicht kannte, darf jetzt unter Anleitung unserer Gruppenerzieherinnen endlich Bekanntschaft mit ihnen schließen: unter anderem mit der Pflanze, die den Mädchennamen Erika erhielt, die auf der Heide blüht. Deshalb kann man Erika auch Heidekraut nennen. Lateinobotanisch bleibt es aber bei Erica oder, weil es so viele gibt: bei den Ericaen. Weiterhin sehen wir verschiedene Farne und Schachtelhalme, die in früheren Zeiten, als es hier noch keine Menschenseele gab, haushoch wuchsen. Wucherten! Auch Schafgarbe – (ich verwechsele diese Pflanze immer wieder mit Scharfgabe) – aber bitte aufgepasst: Diese Doldenblütler nie mit dem Schierling verwechseln. Das wäre etwa so lebensgefährlich wie der Todesfelsen oder ein Jungfernsprung. Ferner das Zinnkraut! Zinkkraut ist dagegen unbekannt. Den Frauenmantel, auch die Orchidee namens Frauenschuh ist ganz streng unter Naturschutz stehend, wie eigentlich alles, was mit Mädchen zu tun hat. Wir bekommen davon nur ein Bild vor Augen gehalten.

Pferdekümmel ist auch so ein Beispiel. Richtiger Menschenkümmel soll besonders gut in Thüringen wachsen und gar nicht, wie es das Sprichwort sagt, in der Türkei. Kamille – na, das sind doch für mich „olle Kamellen“, die echte wächst, noch stärker, ebenfalls nebenan in Thüringen und bei uns zu Hause die ähnlich aussehende Hundskamille, haufenweise. Wasserspeichernde samtweiche Moose, Glockenblumen, Rot- und Weißklee ... ach was, ich höre jetzt damit auf und erinnere Euch an de Kräuterhex'-List' am Ende des Berichts. Zwischendurch gibt es aber nicht nur diese Lehrstunde, sondern auch Gespräche über die Pflanzen und Tiere mit Rückfragen an uns, damit wir möglichst viel im Kopf behalten und wenig vergessen, denn schon allein dieses blumige Vortragen ist anstrengend genug und soll sich lohnen, soll Früchte tragen.


Es ist kein großes Geheimnis: Ich vermute – ausgerechnet Fräulein Hennersdorf, die jüngste Erzieherin des Heimes, hat die schwersten Aufgaben: Sie ist neben den normalen Aufgaben der Betreuung der kleineren Kinder und uns Jugendlichen, die Spezialistin für alles Musische. Tirilieren müssen die anderen Erzieherinnen wohl auch gut können aber ob da so viel gesungen wird, wie ausgerechnet in unserer Gruppe? – ich weiß ja nicht . – Ferner ist sie auch die Meisterin für heimische Zoologie und Botanik. Das habt ihr bestimmt schon gemerkt. Wenn sie mal ausnahmsweise etwas nicht weiß, hat sie aber auch die anderen Erzieherinnen für den Gedankenaustausch, einige Bücher darüber aber an erster Stelle natürlich den Herrn Böhm als Lehrer für alles Haamitliche und vieles Weltliche.

Ich glaube, dessen Vorfahren sind wohl auch ganz früher aus der Tschechoslowakei aus- und nach hierher ein-gewandert. Vielleicht war der Weg gar nicht so sehr weit. Das mag schon so lange her sein, dass er darüber nichts genaueres weiß – oder besser hört sich die Vermutung an: „So wie ich ihn kenne, hat er diese Umstände längst erforscht.“


Am Nachmittag steht ein „Lustiger Rätselnachmittag“ auf dem Programm. Jeder der die Lösung des Rätsels weiß, erhält aus der Spiele-Sammlung einen Spielstein als Punkt. Aus dem kleinen Kreis derer, die besonders viele Punkte sammeln, wird natürlich der Rätselkönig bestimmt – ganz gerecht, nach dem Auszählen der Punkte. Die anderen brauchen aber nicht jammern – es gibt Preise für alle. Kleine Preise können auch als große Trostpreise gelten.

Wusstet ihr es auch schon? ... „Es zogen auf sonnigen Wegen ... .“ Das besingen wir gleich.


Dienstag, 01. September

Für andere ist heute der erste Tag des neuen Schuljahres. Wir aber haben Ferienverlängerung. Können gähnen, uns rekeln, uns noch genüsslich strecken ... . – Doch ein bisschen wie Schule ist es schon: Ich habe den Eindruck, dass unsere Erzieherin und Lehrerin heute besonders viel über die Pflanzen erzählt, die am Wegesrand stehen. Ein heimlicher Ausgleichsversuch? Lebensschule!


Medizinische Abschlussuntersuchung! Die gleiche Prozedur wie zum Beginn der Kur vor knapp drei Wochen findet heute nochmals statt, damit ein Vergleich zwischen den ermittelten Werten vorgenommen werden kann. Unserem Rückweg wird vielleicht ein triumphierender Brief des Arztes über das Erholungsergebnis folgen, zur SVK oder an den Schularzt geleitet.

Auszeichnungen gibt es hierbei für die Sieger mit der größten Gewichtszunahme allerdings nicht, doch zum Schluss wird es klar sein: Wir alle haben gewonnen.

Was wir dann an Wissen zugenommen haben, auf welche schönen Erlebnisse wir zurück blicken, wie viele Anregungen wir bekamen, welche Erholung für Geist und Seele wir erfuhren, hat uns bei der Abschlussuntersuchung niemand gefragt. Es steht wohl auch auf keiner Karteikarte. Aber gerade das erscheint uns Kindern doch als das Wichtigste. Dass wir hier herrlich frische Luft mit Nadelbaumduft „schnappen“ können und gut zu essen bekommen, nett betreut werden, das ahnt doch schließlich jeder, das ist doch normal. Wer aber mehr wissen möchte, dem erzählen wir alles „haarklein“ – ähnlich, aber doch vielleicht anders, als ich es bisher nur in groben Zügen tun konnte.


Mittwoch, 02. September. Schon naht das Ende unserer Erholungs- und Kurzeit

Kurz vor der Abreise kommt der Fotograf, wieder mit Baskenmütze und brauner, abgegriffener Aktentasche. Er bringt die Gruppenfotos mit. Hat er gut gemacht. Wir sehen alle ziemlich echt aus. Mutti wird sich freuen, denn ich habe für das Foto extra den Hemdkragen aufgemacht, so wie es auf den Friedrich-Schiller-Bildern üblich ist, „damit auch ja genug frische Luft an den Körper kommt“, wie sie sagt. Davon ist hier zum Glück reichlich vorhanden.

Einer von uns hatte von seinem Zuhause kein ausreichendes Taschengeld mitbekommen können, da haben wir für ihn diese fehlenden Pfennige für das Bild untereinander gesammelt. Mein kleiner Geldvorrat reichte gut, weil ich keine weiteren Andenken kaufte und Briefpapier und das Porto, also die Briefmarken, bereits von zu Hause mitgebracht hatte. Ansichtskarten vom Heim habe ich allerdings zum Herumzeigen und zur eigenen Erinnerung erworben.


Vor kurzem kamen wir hier an, erlebten viel und schwupps, steht uns schon wieder die Abreise bevor. Das Abschiedsfest findet natürlich auf der großen Bühne im Speisesaal statt und jede Gruppe hat ein kleines Programm eingeübt.

Späterer Nachsatz am Abend: Es klappte damit bei uns recht zufriedenstellend.


Donnerstag, 03. September, leiser Vor-Abschied

Heute mag ich gar nicht viel schreiben. Es schleicht sich schon ein Gefühl des Abschieds ein. Eigentlich wäre es gut, noch eine Woche länger hier zu bleiben. Fräulein Hennersdorf kennt noch so viele Lieder, weiß noch viel über Pflanzen und Tiere zu erzählen und von den sonst üblichen Wanderungen haben wir auch noch längst nicht alle geschafft. Und man wird sich wohl nie mehr im Leben wiedersehen.

So besuche ich ganz alleine, ohne fröhliches-lautes Schwatzen mit anderen, schnell noch mal verschiedene Stätten, die Plätze des Grundstücks, der Heim-Umgebung, um Abschied zu nehmen.


Freitag, 04. September – unsere Abreise

Was soll ich jetzt große Worte machen – ich muss nur mal kurz schlucken. Und dann sagen:


Danke für das Umsorgen bei unserem Aufenthalt, liebe Frau Böhm,

danke liebes Fräulein Hennersdorf, danke ihr fleißigen Küchenkräfte,

Dank dem Heimpersonal ingesamt!

Auf Wiedersehen – schönes Rautenkranz!


Nach dem Abschied, auf der Rückfahrt, ist es erst mal stiller. Viele hängen ihren Gedanken nach – aber natürlich freuen wir uns auch schon auf unser Zuhause und am kommenden Montag hat uns der Alltag mit der Schule wieder.


Gewiss wird unser Klassenlehrer, der Herr Donath, den üblichen Aufsatz schreiben lassen –

Mein schönstes Ferienerlebnis“.

Das wird für mich nicht schwierig sein – hoffentlich finde ich dabei ein Ende.


Besucht doch Morgenröthe-Rautenkranz auch einmal – es lohnt sich bestimmt!


- Anhänge


Ein Auszug aus meinem Rautenkranzer Liederheft


Glück auf! Glück auf!


1. Glück auf! Glück auf! Der Steiger kommt!

II: Und er hat sein helles Licht bei der Nacht. :II

II: Hat's angezünd't.:II


2. Hat's angezünd't. Das gibt ein' Schein.

II: Und damit so fahren wir bei der Nacht :II

II: in's Bergwerk 'nein. :II


3. Die Bergleut' sein, so hübsch und fein.

II: Sie graben das feinste Gold bei der Nacht :II

II: aus Fels'gestein. :II


4. Einer gräbt Silber, der andere das Gold

II: und den schwarzbraunen Mägdelein – bei der Nacht :II

II: den sein sie hold. :II


5. Ade, nun ade, Herzliebste mein!

II: Und da drunten im tiefen Schacht bei der Nacht :II

II: da denk' ich dein. :II


6. Und kehr ich heim zum Liebchen mein,

II: dann erschallt der Bergmannsgruß bei der Nacht :II

II: Glück auf, Glück auf. :II



Heut' kommt der Hans zu mir


Heut' kommt der Hans zu mir“, freut sich die Lies'.

Ob er aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau

oder aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss.“


Na, ja mit den Texten ist das so eine Sache.

Von älteren Leuten wird gern gesagt: Die Worte der heutigen Schlager sind so „seicht“,

aber die der alten Volkslieder sind so wertvoll, sind so 'was von gut.

Einige der Jungs kannten davon (vom Hans) noch eine weitere Strophe:


Hans isst gern Schweizerkäs' ohne Gebiss.

Ob er aber mit'm Oberkiefer kaut oder aber mit'm Unterkiefer kaut

oder aber überhaupt nicht kaut, ist nicht gewiss.



Wir haben und brauchen hier auch kein Radio, denn jeder Tag ist voll ausgefüllt.

Und Schlager singen wir hier nicht.

Trotzdem: Zu den aktuellen Schlagern gehört unter vielen anderen diese kleine Auswahl:


Weißer Holunder ...

Bärbel Wachholz

Zwei gute Freunde ...

Fred Frohberg

Ich lege mein Schicksal in deine Hand ...

Conny Froboess

Come Prima ...

Leo Leandros

Diana Mademoiselle ...

Conny Froboess

Hula-Baby. Auf der Insel Hella-Lella ...

Peter Kraus

Lollipop ...

The Cordettes

Mandolinen und Mondschein ...

Peter Alexander

River-Quai-Marsch ...

(gepfiffen)

Wenn, wenn du sagst ...

James Brothers

Am Tag als der Regen kam ...

Dalia Lavi

Banjo-Boy. Jeden Abend geht er ...

Jan + Kjeld Wennick

Charlie Brown. Wer lernt die Vokabeln nicht ...

Honey Twins

Ciao, ciao Bambina ...

Caterina Valente

Damals (Da-ha-mals)

Bärbel Wachholz

Die Gitarre und das Meer ...

Freddy Quinn

Die Sonne geht schlafen ...

Louis Armstrong

Junge Leute brauchen Liebe ...

Doris Day

Kriminal-Tango ...

Hazi-Osterwald-Sextett

Marina. Bei Tag und Nacht ...

Rocco Granata

Petite Fleur. Sag Adieu ... (Instrumental)

Chris Barber

Red River Rock ...

Johnny // Hurricans

Schwarze Maria

Robert Steffan

Souvenirs, Souvenirs ...

Bill Ramsey

Unter fremden Sternen ...

Freddy Quinn

Volare oho, Cantare oho ...

Rocco Granata


Wenn die bunten Fahnen wehen


1. Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl über's Meer.

Woll'n wir ferne Lande sehen, fällt der Abschied uns nicht schwer.

Leuchtet die Sonne, ziehen die Wolken, klingen die Lieder weit übers Meer.


2. Sonnenschein ist uns'e Wonne, wie er lacht am lichten Tag!

Doch es geht auch ohne Sonne, wenn sie 'mal nicht scheinen mag.

Blasen die Stürme, brausen die Wellen, singen wir mit dem Sturm unser Lied.


3. Hei, die wilden Wandervögel ziehen wieder durch die Nacht,

singen ihre alten Lieder, dass die Welt vom Schlaf erwacht.

Kommt dann der Morgen, sind sie schon weiter über die Berge, wer weiß wohin.


4. Wo die blauen Gipfel ragen, lockt so mancher steile Pfad.

Immer vorwärts ohne Zagen, bald sind wir dem Ziel genaht!

Schneefelder blinken, schimmern von Ferne her, Lande versinken im Wolkenmeer.



Beim Kronenwirt


Beim Kronenwirt, da ist heut' Jubel und Tanz, hei didel dei didel dö.

Die Kathrein trägt heut' ihren heiligen Kranz, hei didel dei didel dö.

die Musik, die spielt, und es jubelt und lacht, die Knödel, die dampfen,

der Kronenwirt lacht, Ha, ha, hei didel ha, ha, ha.


Der Krischan, der hat bei dem Pfarrer sein'n Platz,

und rot wie der Mohn blüht die Kathrein, sein Schatz.

Er sieht nach der Uhr, und es ist erst halb vier,

bis sieben Uhr bleiben die Brautleute hier.


Der Lehrer, der hält eine feurige Red',

er weiß, dass es ohn' diese Red' gar net geht.

Und weil er beim Messnern und läuten dabei,

so schafft er für zwei, doch er isst auch für drei.


Auf einmal wird's still denn der Hans bläst 'nen Tusch,

das Brautpaar ist plötzlich verschwunden, husch, husch,

die Mädel, die blicken verlegen und stumm,

mit 'nem Jauchzer da schwenken die Burschen sie rum.


Die Nacht ist so lau und der Mond scheint so klar,

noch einmal da schreiten zum Tanzen die Paar'.

Vom Tanze erdröhnet das uralte Haus,

beim Kronenwirt geht nun das Lämpeli aus.



Burschen aus Mystrina (aus dem Slowakischen nachgedichtet von E. Burkert)


Singt das Lied, sing das Lied wunderbar, Burschen aus Mystrina – tolle Schar.

Ja, das klingt vom Wald herüber und das singt, wenn sie lachen und ihr Lied den Mädchen winkt.

Aber ich rate dir, rate dir sie nicht zu seh'n, wenn sie zum Tanz durch die Wiesen geh'n.


Burschen, die stark sind wie Pilsner Bier, zittern vor keinem, auch nicht vor dir.

Prahlt ein Prahlhans, schlagen sie ihn windelweich, werfen ihn in hohem Bogen in den Teich,

lachen, und weg sind sie, wünschen ihm recht viel Glück – laufen die Wiese zum Dorf zurück.


Ännchen mein, halte ein, huste nicht! Reg dich nicht, 'bitte dich, tue es nicht!

Finden uns die Burschen hier nicht dich und mich, hab' ich dich und küss' ich dich und singe ich.

Sing' und tanze ich. Alle im Dorfkrug seh'n, Mädchen dich, Liebste dich, klug und schön.



Auf, du junger Wandersmann!


1. Auf, du junger Wandersmann! Jetzo kommt die Zeit heran,

die Wanderszeit, die bringt uns Freud'.

Woll'n uns auf die Fahrt begeben, das ist unser schönstes Leben,

große Wasser, Berg und Tal, anzuschauen überall.


2. An dem schönen Donaufluss* findet man ja seine Lust

und seine Freud' auf grüner Heid',

wo die Vöglein lieblich singen

und die Hirschlein fröhlich springen;

dann kommt man vor eine Stadt, wo man gute Arbeit hat.


3. Mancher hinterm Ofen sitzt und gar fein die Ohren spitzt,

kein Stund' vor's Haus ist kommen aus;

den soll man als G'sell erkennen oder gar ein'n Meister nennen,

der noch nirgends ist gewest, nur gesessen in sein'm Nest?



und


Komisch nicht wahr? Jener, der den Text für das folgende Lied geschrieben hat, war Herr Müller. Wilhelm Müller – aber der ist schon vor langer Zeit gestorben, genauso wie der Komponist dieser Melodie. Das war Herr Karl Zöllner.


Das Wandern ist des Müllers Lust


1. II: Das Wandern ist des Müllers Lust :II das Wandern.

Das muss ein schlechter Müller sein,

II: dem niemals fiel das Wandern ein, :II das Wandern,

das Wandern, das Wandern, das Wandern, das Wandern.


2. II: Vom Wasser haben wir's gelernt, :II vom Wasser.

Das hat nicht Ruh' bei Tag und Nacht,

II: ist stets auf Wanderschaft bedacht, :II das Wasser,

das Wasser, das Wasser, das Wasser, das Wasser.


3. II: Das seh'n wir auch den Rädern ab, :II den Rädern!

Die gar nicht gerne stille steh'n

II: und sich bei Tag nicht müde dreh'n, :II die Räder,

die Räder, die Räder, die Räder, die Räder, die Räder.


4. II: Die Steine selbst, so schwer sie sind, :II die Steine,

sie tanzen mit den munter'n Reih'n

II: und wollen gar noch schneller sein :II die Steine,

die Steine, die Steine, die Steine, die Steine, die Steine.


5. II: Oh, wandern, wandern meine Lust, :II oh Wandern!

Herr Meister und Frau Meisterin,

II: Lasst mich in Frieden weiterzieh'n :II und wandern,

und wandern, und wandern, und wandern, und wandern.



Es zogen auf sonnigen Wegen


1. Es zogen auf sonnigen Wegen drei lachende Mädchen vorbei, ja vorbei.

Sie schwenkten die Röcke verwegen und trällerten alle – eins, zwei, drei.

So trallerallala ...


2. Ihr Lied klang so hell in die Weite, sie liefen so froh durch den Mai, durch den Mai.

Ich konnte mich für keine entscheiden, drum küsst ich sie alle – eins, zwei, drei.

Die erste mit'm Dutt, die zweite mit'm Zopf, die dritte mit 'nem II:wunder:II schönen Bubikopf.

So trallerallala ...


3. Doch ach, eine jede wollt' haben, dass ich ihr Alleiniger sei, ja es sei.

Kein Drittel, den ganzen Knaben, den wollten sie alle -– eins, zwei drei.

So trallerallala ...


4. Du Schwarze, du Blonde, du Braune, vergebt und vergesst und verzeiht, ja verzeiht.

Will keiner verderben die Laune, drum lass' ich euch alle – eins, zwei, drei.

So trallerallala ...



Jetzt fahr'n wir übern See.

(Wer über „den Bremsklotz“ drüber, in die Pause singt, muss ein Pfand abgeben. So ist es halt).


1. Jetzt fahr'n wir über'n See, über'n See, jetzt fahr'n wir über'n ... ... See.

Mit einer hölzern Wurzel, Wurzel, Wurzel, Wurzel,

mit einer hölzern Wurzel, ein Ruder war nicht ... ... dran.


2. Und als wir drüber war'n, drüber war'n und als wir drüber ... ... war'n,

da sangen alle Vöglein, Vöglein, Vöglein, Vöglein

da sangen alle Vöglein, der helle Tag brach ... ... an.


3. Ein Jäger blies ins Horn, blies ins Horn, ein Jäger blies ... ... ins Horn.

Da bliesen alle Jäger, Jäger, Jäger, Jäger,

da bliesen alle Jäger, ein jeder in sein ... ... Horn.


4. Das Liedlein, das ist aus, das ist aus, das Liedlein das ist ... ... aus,

und wer das Lied nicht singen kann, singen, singen, singen kann,

und wer das Lied nicht singen kann, der fängt von vorne ... ... an.



Katjuscha


1. Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten,

still vom Fluss zog Nebel noch in's Land.

II: Durch die Wiesen kam hurtig Katjuscha

zu des Flusses steiler Uferwand. :II


2. Und es schwang ein Lied aus frohem Herzen,

jubelnd, jauchzend sich empor zum Licht,

II: weil der Liebste ein Brieflein geschrieben,

das von Heimkehr und von Liebe spricht. :II


3. Oh, du kleines Lied von Glück und Freude,

mit der Sonne Strahlen eile fort.

II: Bring' dem Freunde geschwinde die Antwort,

von Katjuscha Gruß und Liebeswort. :II


4. Er soll liebend ihrer stets gedenken,

ihrer zarten Stimme Silberklang.

II: Weil er innig der Heimat ergeben,

bleibt Katjuschas Liebe ihm zum Dank. :II


5. Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten,

still vom Fluss zog Nebel noch in's Land.

II: Fröhlich singend ging heimwärts Katjuscha –

einsam träumt der sonnenhelle Strand. :II



Beispiele aus dem Speiseplan


Tag

Frühstück

Mittagessen

Vesper

Abendbrot

Montag

Brot

2 Buttersterne


Marmeladensorten

Blumenkohl mit Gemüsegeschnitzel,

Kräuterkartoffeln, Obst

Kümmelhörnchen

Mischbrot

Streichfett

Käse

Wurstauswahl

Dienstag

Brötchen

2 Buttersterne

Kunst-Honig/Marmelade

Soljanka,

Thüringer Bratwurst, Sauerkraut,

Kartoffelsalat, Obst

Vollkornbrötchen

Birne

wie oben, zusätzlich Quarkspeise

Mittwoch

Brot

2 Buttersterne

Marmeladensorten

Suppe

Eierkuchen mit

Zucker und Zimt

Apfelmus

Pflaumenkuchen

Roggenbrot

Sauermilchkäse

Saure Gurke

Donnerstag

Brötchen/Brot

2 Buttersterne

Kunst-Honig/Marmelade

Kasslerscheibe

Mischgemüse (Erbsen/Möhren)

Salzkartoffeln, Soße

Pflaumenkompott

Milchbrötchen oder Rosinenbrötchen

Mischbrot

Schmelzkäse,

Wurst,

Radieschen


Freitag

Brot

2 Buttersterne

Marmeladen

Rührei mit Spinat

Wurststückchen und gehackten Kräutern (Petersilie und Schnittlauch), Apfel

Quarkspeise

Zwieback oder Knäckebrot bei Bedarf

Vollkornbrot, ansonsten wie vorstehend, zusätzlich

ein Ei

Sonnabend

Brot/Brötchen

2 Buttersterne

Konfitüre

Nudelsuppe mit Kraftbrühe

Brot bei Bedarf

frischer Salat

Butterzopf (Milchbrötchenteig)

warmes und kaltes Buffet - nach eigener Wahl

Sonntag

Brötchen

2 Buttersterne

Kunst-Honig/

Marmeladen

Suppe

Rinderbraten, Soße

Salzkartoffeln

Rotkraut

Mischkompott

Apfelkuchen, offen

Brot, sortiert,

kaltes Buffet zur

Selbstauswahl



Das Angebot zum Frühstück und Abendessen wiederholte sich ja täglich aber mittags gab es noch:

* Vor den Mahlzeiten den Vitamintrunk, anschließend oft einen kleinen Obst- oder Gemüse-Salat

- Gulasch nach deutsch-ungarischer Art mit Nudeln und Tomatensoße. - Salatauswahl.

- Bouletten, Mischgemüse, Kartoffeln - Apfelschnitzel.

- Reis mit Hühnerklein in Brühe. Salat.

- Kartoffelbrei mit zerlassenem Fett und Zwiebelringen. Quarkspeise.

- Eier in Senfsoße. – Es hieß, es seien „verlorene Eier“. In Wirklichkeit waren sie aber vorhanden.

- Eintopf – grüne Bohnen mit Fleischeinlage. – Dessert.

- Hefeklöße, gelbe Vanillesauce und Schwarzbeeren, wahlweise auch mit blauen Heidelbeeren.

- Fisch, gekocht in Dillsauce, (Hhm!), Salzkartoffeln. - Pflaumen.

- Klopse mit Kapern (oder ähnlichen Früchten) in weißer Soße, Salzkartoffeln. - Joghurt.

- Kräuterquark mit Pellkartoffeln, Apfel oder anderes Obst nach dem Handels-Angebot der Woche.

- Quarkkeulchen mit Vanillesoße und Apfelmus. - Fruchtquark.

- Hackeierstücken in Kräutersoße mit Salzkartoffeln und Mischgemüse. - Salat.

- Gemüsesuppe, Brot; - oder Möhreneintopf mit Brot als Sättigungsbeilage. - Pudding.

- Jägerschnitzel, also gebratene Jagdwurstscheibe mit Muschelnudeln in Tomatensoße.

- Milchreis, im Wechsel mit weichem Hartweizen-Grießbrei, mit Zucker und Zimt, Kirschkompott.

- Kartoffelsuppe, Roggenbrötchen („Schusterjungs“). - Salat. ... und so weiter ...


Die kurze Liste – eine Auswahl aus vielen heimischen Pflanzenarten

Diese hier ist nach Erzählungen von Fräulein Inge Hennersdorf notiert.


Name der Pflanze


Die guten Wirkungen der Pflanzen

Ampfer, Sauer-A.

Es ist ein Knöterich-Gewächs. Als Gemüse und Salat gilt er als Nahrungsbeilage und besonders gegen Verdauungsbeschwerden.

Arnika

Gut gegen Rheuma, als Auflage mit Tinktur getränkt oder Salbe. Heilend bei Blutergüssen, Zerrungen, Quetschungen. Hemmt Entzündungen.

Blutwurz oder

Tormentill

Die Blüten sind gelb, der Saft ist aber rot. Herzförmige Blütenblätter. Wächst gern im Steingarten. Pflanze enthält Gerbstoffe. Tötet Bakterien. Gut anwendbar bei Blutungen, gegen Entzündungen, stillt Durchfälle.

Echter Ehrenpreis oder Veronica

Dieses „Allerweltskraut“ hat für seine vielen Dienste einen „Ehrenpreis“ verdient. Man kann ihn zum Genuss, gegen den Hunger und für die Anregung des Appetits als Salat oder Gemüse essen. Dabei wirkt er still vorbeugend gegen Gicht und Rheuma, pflegt die Atemwege und lässt sich bei Hals- und Mandelentzündungen gut als Gurgelmittel verwenden.

Farne

Merke: Weil giftig, hole sie aus der Apotheke – als Laie nicht aus dem Wald. Wurmfarn vertreibt Würmer. Äußerlich: Tinktur zur Hilfe bei Krampfadern, wenn du solche hast. Auch zur Linderung des Rheumas.

Ein Ruhekissen kann mit Farn-Wedeln gestopft werden (kein giftiger Duft).

Frauenmantel

Wirkt bei und gegen viele(n) Wehwehchen: Blutreinigend, blutstillend, harntreibend, krampflösend, hilft bei Erkältungen, Fieber, Asthma, Entzündungen und Durchfallerkrankungen. Unterstützt den Körper bei der Zuckerkrankheit, wirkt gegen die schädliche Aderauskleidung mit einer Fettschicht (im Volksmund: Kalk) und tut gut gegen Herzbeschwerden.

Frauenschuh

Es handelt sich um eine ganz wilde und sehr geschützte Orchidee. Sie verbessert die Atemluft in Räumen und ist auch essbar. Gegen Hautausschläge und Frauenleiden mancherlei Art. Zur Wundheilung.

Goldrute oder auch Goldraute

Besonders in Rautenkranz wollen wir sie natürlich gern vorzugsweise Goldraute nennen. Obwohl: die Raute im Wappen sieht grün aus.

Die Goldraute ist eine Einwanderin aus Kanada.

Sie wurde berühmt wegen ihrer Wirkung gegen Gicht und Rheuma, gegen Blasen- und Nierenentzündungen, wird wegen ihrer blutreinigenden Wirkung geschätzt. Sie fördert die Wundheilung. Nicht roh kauen!

Hahnenfuß

Ein Ranunkel-Gewächs mit kleinen gelben, wie lackierten Blüten und mit Blättern, die aussehen wie Hahnenfüße, ist auch recht hübsch anzuschauen.

Heidekraut oder Erica

Ein köstlicher Blütentee von Erika hilft bei Gicht und Rheuma, wirkt schmerzlindernd, blutreinigend und harntreibend. Also auf zu Erika!

Hirtentäschel

Der lauwarme Tee hilft gegen Blutungen aller Art. Auch zur Linderung von Rheuma kann man getränkte Packungen auflegen.

Johanniskraut

Es wirkt, z. B. als Tee, beruhigend, schlafunterstützend und nervenstärkend. Als feuchte Auflage fördert es die Wundheilung.

Kamille

Ein Blüten-Mittel für und gegen fast alles. Als Tee oder feuchte Auflage oder als Salbe. Für das Hemmen von Entzündungen, zum schnelleren Heilen von Wunden. Gegen Bakterien und Krämpfe ist dieses Kraut gewachsen. Als Dampfbad zum Freihalten der Atemwege bei Erkältungen.

Kümmel

Als Gemüsezugabe (Würze) oder als Schnaps zu reichen. Regt den Appetit an, hilft bei Verdauungsstörungen, wirkt gegen Durchfall und Erbrechen, hat keimtötende und krampflösende Eigenschaften.

Kuhblume

(echt vogtländisch),

aber auch

Hundeblume

genannt.

Wir kennen sie des Weiteren als Löwenzahn (Blattform), Butterblume (kräftig gelbe Blütenblätter) oder zur Zeit der Samenbildung („Fallschirme“) als Pusteblume. Sie bietet sich uns als gutes Würzkraut und Vitaminspender (wie Petersilie) an. Günstig bei Rheuma und gegen Hautausschläge, als Abführ- und Harntreibungsmittel, gut gegen Gefühle – zum Beispiel der Völlerei.

Otternzunge

oder auch Natternzunge

... ist ein Wiesenknöterich. Man kann die Blätter schon ohne ernsten Grund als Wildgemüse einsetzen oder es auch bei Schlangenbissen geben. Trotzdem ganz schnell zum Arzt. Den Schlangen-Namen dort vorstellen, wenn dieser bekannt ist. Die Schlange aber am Beißort lassen.

Pferdekümmel

oder

Wiesenbärenklau

Vorsicht. Doldenblütler mit Blättern, die sich wie ein Bärenfell anfassen (ihr kennt das). Er vermag starke Hautreizungen zu verursachen.

Ein Tee davon wirkt ausscheidungsfördernd.

Schafgarbe

Zur Unterstützung der Blutstillung und Heilung der Wunden. Als Tee krampflösend. Gegen Magen- und Gallenbeschwerden und auch als Mittel der Frühlings-Abnehm- und Entschlackungskuren für den, der es braucht.

Spitzwegerich

wird gern als kalter Presssaft gegeben oder als Hackkräutel aufgelegt, weil Hitze (heißer Tee) die wertvollen Wirkstoffe teilweise zerstört. Zur Wundbehandlung, bei Insektenstichen, hustenstillend, bei Reizungen und Entzündungen der Luftwege. Bei Hautreaktionen auf Nervenbelastungen.

Weidenröschen

Ein Tee aus Blättern der Waldform hilft gegen Leiden der Vorsteherdrüse – bei Frauen wird davon eher die Blase gesünder. Bei Männern außerdem.

Wiesen-Storchschnabel

Es handelt sich um eine Geranien-Pflanze. Gut für die Haut, zur Blutstillung. Für die Verdauung, wirkt gegen Durchfall, hilft Magen und Darm sich wohlzufühlen.

Zinnkraut

Wir nennen es auch oft Acker-Schachtelhalm. Es hilft bei Rheuma und Gicht, bei der Reinigung des Blutes, bei einem Angriff für uns schädlicher Bakterien, bei Entzündungen der Harnwege und der Nieren.


Merke:

Den Wald als Apotheke möchten wir nicht missen – wir kenn' schon 'was vom rechten Wissen!


Nun fehlen zur Liste nur noch die Bilder zu den Blütenpflanzen. Deshalb gehen wir nochmals an den Waldesrand und auf die Wiese und nehmen das Bestimmungsbuch mit. Auch können wir wenige Pflanzen pressen und ein Herbarium anlegen. Schwarz-grau-weiße Fotos würden sich weniger lohnen. – Achte aber bei der Ernte darauf: Vereinzelt pflücken und ohne Wurzeln, damit sie wieder gut nachwachsen. Niemals aber jene entnehmen, die unter Naturschutz stehen.

Viele der Pflanzen kann man als Salat und Gemüse essen, dann merkt man nicht, dass man eine Kräuter-Kur isst, sonst vielleicht eine Krankheit bekommen hätte aber wegen der Kräuter eben davon verschont bleibt.

Kaum eines dieser Naturheilmittel von Wald und Wiese bringt schädliche Nebenwirkungen – kaum kann man etwas falsch machen und alles kostet fast nichts außer ein bisschen Mühe.

Alle diese Pflanzenbeispiele setzt die Natur- und Volksmedizin heilend ein. Ganz ohne Hexerei.

Manches wird aber auch in Fabriken ähnlich künstlich hergestellt – gibt es dann in der Apotheke. Dort kostet es dann wesentlich mehr.

Das ist nur eine kleinere Aufzählung. Sehr erfahrene Frauen, gewiss auch „das Kräuterweiblein vom Hexenfels'“, wussten und wissen noch viel mehr von der Volksmedizin. Ärzte, Apotheker und Drogisten sowie Heilpraktiker manchmal auch.


Ein Nachtrag:

1959 war's – Einige Gedanken zum Abschluss – und zur Wiederkehr in der Zukunft

Der Aufenthalt in Morgenröthe-Rautenkranz und in anderen Orten war für ungezählte Kinder eine Zeit der Anwendung gezielter medizinischer Therapie, guter Erholung, schöner Erlebnisse – jahrzehntelang bleibender wertvoller Erinnerungen.

Diese Heime nannte man in den ersten Jahren, als sie zur Sozialversicherungskasse und zur Volksbildung der DDR gehörten: Kinder-Erholungsheime. In späteren Jahren, als sie dem Gesundheitswesen unterstellt wurden, waren die gleichen Einrichtungen Kinder-Kurheime.


Weltweite Bekanntheit erlangt dieser Ort aber 20 Jahre später, als Heimatort des ersten Kosmonauten der DDR und des „geteilten Gesamtdeutschlands“: Sigmund Jähn, der in Morgenröthe-Rautenkranz Anfang des Jahres 1937 geboren worden war. Der Lehrer Erhard Böhm, der nebenberuflich den Kindern des Heimes in Lichtbildervorträgen viel Wissenswertes von der Heimat vermittelt, zählt Sigmund Jähn zu den ersten seiner Schüler. Es war ein Leben, Lehren und Lernen in Rautenkranz, das in eine in lebenslange Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler mündete. Jahre später wuchsen die Schülerinnen des Lehrers Böhm heran, die Erzieherinnen / Unterstufen-Lehrerinnen wurden und im Kinderkurheim arbeiteten. Für viele von ihnen war diese berufliche Tätigkeit eine lebenslange Berufung für die Sorge um das Wohl der Kinder. Ehemalige Schüler aus dem Ort wurden beispielsweise auch als Hausmeister des Heims tätig.

Morgenröthe-Rautenkranz ist mit dem inzwischen errichteten Welt-Raumfahrtzentrum schon wieder um eine große Attraktion reicher.


Nach dem Eintritt in das Rentenalter beginnt das damalige Kur-Kind Chris seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Dazu gehört auch der vorstehende Bericht, der nun erst nach über einem halben Jahrhundert entstand. Manches ist in jener Zeitspanne in der Erinnerung verblasst, anderes steht ihm noch deutlich vor Augen – manches aber wurde erneut aufgefrischt.


Seine Anfrage an den Heimatverein in Morgenröthe-Rautenkranz beantwortete Bürgermeister Konrad Stahl freundlich und ausführlich. Dieser sandte auch die zeitgenössischen Kopien der Ansichtskarten des Heimes, das Bild des Wappens und sah mit Ehefrau und deren Eltern den Textentwurf durch, den er um einige Informationen ergänzte. Seine Unterstützung war für Chris eine wertvolle Erinnerungshilfe. Dafür sei ihm an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.


Ein „Zufall wollte es“, dass die Tochter der damaligen Heimleiterin Ursula Böhm im Frühsommer des Jahres 2013 eine Notiz von Chris über Rautenkranz las. Das bedeutete den Beginn eines lebhaften Austauschs an Erinnerungen, denn sie hatten sich ja vor vielen Jahren bereits im Rautenkranzer Heim kennengelernt. Ebenso kam der Kontakt mit der damaligen Erzieherin Fräulein Hennersdorf zustande. Ein gemeinsamer Besuch in Rautenkranz im Herbst 2013 frischte viele der alten, teilweise bruchstückhaft vorhandenen Eindrücke und Erinnerungen auf. Nach dem herzlichen Willkommen in der Rautenkranzer Pension von Heike und Konrad Stahl gab es in jenen Tagen interessante Gespräche mit Elke, Regina, Horst, Heike und Konrad sowie mit Inge bei Wanderungen „auf den alten Wegen“ mit bewegenden Wieder-Begegnungen, bei denen einige Fotos entstanden.


Alle unsere guten, freundlichen Gesprächsinhalte über das 1959-er Jahr, über die damalige Zeit, durften mir „als Anhaltspunkte“ dienen und wurden in den vorliegenden Bericht hineingenommen, so dass hoffentlich nichts Wesentliches dieser Tage verloren ging, was die Erzieherinnen damals vermittelten und was den Kindern als wichtig erschien.

Ja, es ist das Kindes-Empfinden, das hier dargestellt wurde. Für einen Gesamtblick auf die damalige Zeit ist es nur ein kleiner Ausschnitt, weil die Situationen der Erwachsenen wenig Berücksichtigung finden konnten. Das Mühen um das Wohl der Kinder, die persönlichen alltäglichen Probleme des Personals, die Sorge allein schon um die regelmäßige Anreicherung des Speiseplanes mit Obst und Gemüse, um die ausreichende Versorgung mit Fleisch wurden hier nicht widergespiegelt – das waren in der damaligen Zeit keine einfach zu lösenden Aufgaben – von denen die Kinder bei ihrem unbeschwerten Aufenthalt aber nichts merkten.


Deshalb sei auch heute nochmals allen diesen guten Menschen recht herzlich gedankt!


Diese Worte wähle ich trotz der Kenntnis, dass viele der Damaligen

heute nicht mehr unter uns weilen.


Vieles hat sich seither verändert – in der Natur und in der Gesellschaft, also in unserem Leben.

So sieht man heute beispielsweise vom Hohehausberg das Grundstück des Kinderheims nicht mehr. Die Bäume in der Nähe der Mulde sind für diesen Blick viel zu hoch gewachsen. „Sie haben das uneingeschränkte Recht dazu“.

Vieles hat sich seither verändert.

Noch stehen die Gebäude des Heimes im Jahr 2013 – seit Jahren aber nicht mehr zur Nutzung für Kinderkuren. Seit Jahren auch nicht für eine sinnvolle anderweitige Nutzung. Teils besteht eine provisorische Fremdnutzung von Räumen, teilweise ist ein Leerstand zu verzeichnen. Dort, wo jahrzehntelang eine vorbildliche Pflege üblich war.

Kein fröhliches Lachen klingt mehr durch die Räume der Häuser des ehemaligen Kurheims.


Kinderkuren vorbeugender und heilender Art in dem Umfang, wie sie damals betrieben wurden, rechnen sich nicht“ – meinen die Entscheidungsträger für Rautenkranz und viele andere Einrichtungen ähnlicher Art im Lande, die ein vergleichbares Schicksal erfuhren.

Für viele Menschen von uns ist das Leben finanziell reicher geworden – für viele andere unserer Mitbürger ist es ärmer geworden.

Worin mag der Einzelne den Reichtum für sich sehen? Worin erblickt er Defizite? Was möchte er gern und was vermag er verändernd zu gestalten, für sich, für seine Familie, für die Zukunft der Kinder und der Enkel, für die Gesellschaft? Wofür bemüht er sich vergeblich? Was gehört zu den künftigen Zielen und was zu den nächsten Etappen auf dem Wege einer relativ reichen, sich immer irgendwie weiter entwickelnden Gesellschaft?

Viele Fragen, wenige konkrete Antworten – oft noch weniger sinnvolles Handeln. Ein weites Feld!


Ein Nachtrag vom Juni 2014:

In diesem Monat wurde das „Haupthaus“ des Kinderkurheims, das Gebäude mit der Sonnenveranda und dem Symbol der weißen Friedenstaube am Giebel, „rückgebaut“ wie es „rücksichtsvoll“ heißt, also abgerissen, um Platz für ein neues Eigenheim zu schaffen.

Für uns, die hier weilen durften, bleibt es in der Erinnerung bestehen!


Quellenangaben:

- Der Mundarttext stammt aus dem Begrüßungs- und Begleitbuch für die Gäste in der

Pension „Waldesruh'“ (mit den Ferienwohnungen „Weidmannsdank“ und „Raumstation“) von

Heike und Konrad Stahl, in der Carlsfelder Straße 22, Muldenhammer, Ortsteil Morgenröthe-

Rautenkranz.

- Wanderheft 29: „Rund um den Schneckenstein“, von Erhard und Ursula Böhm, Rautenkranz.

- Gespräche mit Ehepaar Haupt, Ehepaar Stahl und Frau Heidrich, die zum Personal des

Kinderkurheimes gehörten. Unterhaltung mit Frau Gnauck, die in Rautenkranz in engster

Beziehung zum Kur-Heim aufwuchs.

- Lattermann, Wikipedia-Notizen und Informationen von Herrn Dr. Ing. Strobel, Plauen, verarbeitet

im Geschichtsmagazin „Historikus * Vogtland“ im Artikel: „Dichtender Eisengießer mit Bierbrauer-

Lehre“.

- Erinnerung des Kurkindes Chris Janecke. Der Autor verfügt über verschiedene weitere Bilder.


Verzeichnis der benutzten Abkürzungen, die heute schon in Vergessenheit geraten könnten

CSR: Czecho-Slowakische Republik (Tschechoslowakische), später CSSR: ... Sozialistische ...

DEFA: Deutsche Film-Aktiengesellschaft. Deren Betriebssitz: Potsdam-Babelsberg.

DDR: Deutsche Demokratische Republik, bestand von 1949 bis 1990 innerhalb Deutschlands.
DR: Deutsche Reichsbahn (in der DDR), wurde nach 1990 von der Bezeichnung DB abgelöst.

KPD: Kommunistische Partei Deutschlands
SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (am stärksten in der DDR vertreten).

SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SVK: Sozialversicherungskasse des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in der DDR. Daneben gab es die DVA: (die Staatliche) Deutsche Versicherungsanstalt der DDR.

VEB: Volkseigener Betrieb. Staatlicher Betrieb ohne privates Eigentum an Produktionsmitteln.

VEG: Volkseigenes Gut (meist vor 1945 ein „Rittergut“).


Einige Begriffe aus dem Text, die nicht jedem Leser bekannt sein werden oder die zum Teil heute bereits außer Gebrauch gekommen sind

Brühnudeln: Es handelt sich um so genannte Eierteigwaren. Auch Hartweizenerzeugnisse sind als Ausgangsmaterial möglich. Man bot diese beispielsweise als kurze Bandnudeln,

Muscheln oder Buchstaben an. Diese Nudeln wurden kurz in Wasser aufgekocht, sodann mit heißer Fleischbrühe aufgefüllt, Suppengrün dazugegeben und auf kleinster Flamme nachgegart. Brotscheiben konnten dazu gereicht werden. Dieses einfache Gericht war für den Ankunftstag besonders geeignet. Das Essen konnte pünktlich um 12.00 Uhr fertig sein aber man wusste nicht, ob die Busse mit den Kur-Kindern ebenso pünktlich zur Stelle sein würden. Die Brühnudeln ließen sich besser warm und ansehnlich halten, als Kartoffeln, Fleisch, Soße und Gemüse. Einige Kinder sagten zu den Brühnudeln auch

„Rennfahrersuppe“, weil sie so schnell durch den Körper und besonders in die Blase ging.


Feilenhauerei: Seit dem Altertum gibt es Raspeln und Feilen zum Bearbeiten von Holz, Metall und Mineralien als Handwerkzeuge. Das Material ist heute ein legierter Werkzeugstahl, den man in Form von Flachstahl-Stangen aus dem Walzwerk erhält. Diese Werkzeuge bestehen aus dem Feilenblatt, der Feilenangel und dem Feilenheft. Das Feilenblatt wird die eigentliche Arbeitsfläche des künftigen Werkzeugs. Die Angel ist ein spitz zulaufend geschmiedetes Ende. Dieses nimmt das Heft, wie man den aufgesteckten Handgriff nennt, auf. Die Feilen glätten die Oberfläche der Werkstücke mit ihren Zähnen (dem Hieb). Bei der Herstellung einer solchen Feile muss der Werkzeugmacher diese Zähne in den Feilen- Rohling aus Flachstahl einschlagen / einhauen, damit die bisher glatte, gewalzte Oberfläche gezahnt-rau, also spanabhebend wird. Dazu wird der Rohling aber vorerst weichgeglüht, dann vorgerichtet (begradigt), werden die Flächen geschliffen sowie die Kanten entgratet. Man kann unterschiedliche Anordnungen der Zähne wählen und auch eine verschiedene Anzahl von Zähnen für den benötigten Feinheitsgrad vorsehen. Früher wurde dieses Einhauen der Zähne in Handarbeit mittels Hammer und Meißel verrichtet, heute erledigt das die Werkzeugmaschine – ja, eben die Feilenhaumaschine. Anschließend, nach dem Einbringen des Hiebes in das Feilenblatt, wird die Feile wieder gehärtet, um ihr eine lange Gebrauchsdauer (Standzeit) zu geben. Nach Ihrer Form und dem beabsichtigten Verwendungszweck gibt es die verschiedensten Feilensorten. Solche Feilenhaumaschinen stehen auch in Rautenkranz in einer Fabrik, in einer Werkhalle, eben in der Feilenhauerei, weil dort nichts weiteres produziert wird. Man hat sich auf Feilen spezialisiert.


Kalfatern: Einstemmen von vorbehandeltem Werg / Hanf / Weißstrick in die Bretterfugen, z. B.

eines Schiffes, um diese abschließend mit Pech wasserundurchlässig zu machen.


Karl-Marx-Stadt: Diesen Namen trug die Stadt Chemnitz in den Jahren von 1953 bis 1990. Der

damalige gleichnamige „Bezirk“ (politisch gewollte Verwaltungseinheit / Benennung

einer großen Landesfläche) gehört zum heutigen Bundesland Sachsen.


Kollektive: Gemeinschaften, hier: betriebliche Arbeitsgruppen.


Manometer: Eigentlich die Bezeichnung für ein Gerät zur Druckmessung.

Hier aber ein Ausruf des Staunens (ein „harmloses Kraftwort“) ohne die vorgenannte technische Bedeutung.


Kommandit-Gesellschaft (eine „KG“). Mehrere Personen schließen sich als Teilhaber einer Firma zusammen. Oft in der Form eines halbstaatlichen Betriebes.


Propusk: Passierschein, Grenzausweis (aus dem Slawischen).


Sprungbrett“ in den Westen: Es gab in jenen Jahren viele Republikflüchtlinge, also Bürger der DDR, die illegal in die BRD ausreisten. Es bestand auch eine Anzahl von Grenzübergängen zwischen beiden Staaten (nach dem 13. August 1961 erheblich weniger). Bis zu jenem Zeitpunkt musste man, wenn man z. B. von Potsdam-Babelsberg (DDR) in den Ostteil der Stadt Berlin (Hauptstadt der DDR) reisen wollte, durch West- Berlin fahren. Und manch einer wollte eher dort in Westberlin „endgültig“ aussteigen. Von Babelsberg bis in den amerikanischen Sektor von Berlin-West (Bahnhof Wannsee), waren es knapp 6 Minuten Reisezeit mit der Bahn für 30 Pfennige der DDR. Dazwischen aber lag der Grenzbahnhof Griebnitzsee. Hier fand die DDR-Grenzkontrolle statt: Personalausweis, Gesicht, Gepäck und Kleidung sowie mitunter Leibesvisitation in den „Holzbuden“ auf dem

Bahnsteig. Jede Bahn hatte hier eine längere Aufenthaltszeit.

Wollte aber jemand, der gemäß Ausweisanschrift nicht aus dem nahen Berliner Umland stammte, sondern nach dem Personalausweis-Eintrag beispielsweise aus Thüringen oder Mecklenburg kam, Richtung Berlin-West reisen, so galt das als verdächtig, war es ein Grund zum Nachforschen, zum Beginn einer hochnotpeinlichen Befragung, auch zu Rücksprachen im Heimatort des Reisenden, zum Beispiel auch in dessen Beschäftigungsbetrieb oder im Mehrfamilien-Wohnhaus.

Deshalb suchten auch Lehrer, die die DDR verlassen wollten, vorerst eine Anstellung in unmittelbarer Grenznähe (das „Sprungbrett“), um im Personalausweis eine unauffällige grenznahe Wohnanschrift stehen zu haben und diese den Grenzpolizisten vorweisen zu können.

So konnten sie schnell mal nach Berlin reisen (offiziell war das Aussteigen in West-Berlin jedoch u. a. Staatsbediensteten untersagt), von dort zurück kommen oder dort bleiben oder sich von West-Berlin in die BRD ausfliegen lassen. Das ging aber nur bis zum 13. August 1961, dem Tag des Beginns des Mauerbaus. Ansonsten wäre die Bevölkerung dieses kleinen Landes, der DDR, weiterhin dramatisch geschrumpft.


Trenker, Louis: Alois Franz Trenker, Lebenszeit 1892 bis 1990, bekannter Bergsteiger, Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller.


Volkspolizei: Bezeichnung für die Polizei in der DDR zwischen 1949 und 1990.


W. Ulbricht: Nach dem Ableben des Ministerpräsidenten Wilhelm Pieck, war er von 1960–1973

Staatsratsvorsitzender (höchstes Amt) in der DDR, hatte höchste Leitungsfunktionen in der KPD und SED bis zum Beginn seiner Entmachtung 1971 inne. Seine Entmachtung wurde hauptsächlich von seinem „treuen politischen Ziehsohn“ und Nachfolger im Amt, seinem Parteigenossen Erich Honecker betrieben.


West-Berlin: Die Stadt Berlin wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten in vier Sektoren aufgeteilt. West-Berlin bestand aus dem Amerikanischen, dem Britischen und dem Französischen Sektor. Der Ostteil der Stadt war der Sektor, der von der

sowjetischen Militäradministration in den Anfangsjahren verwaltet und kontrolliert wurde. (Der Ostteil von Berlin war die Hauptstadt der DDR. Zur Hauptstadt / zum Regierungssitz der BRD wurde im geteilten Deutschland die Stadt Bonn am Rhein gewählt).


Anmerkung. Die aktuelle Fassung über Rautenkranz findet ihr auf der gleichen Internetseite unter der Rubrik „Orte“ des Inhaltsverzeichnisses. Dort gibt es auch mehr Bilder zu Rautenkranz.


September 1959

Nun sind die Großen Ferien vorbei und ich komme einige Tage zu spät zum Schuljahresbeginn. Wie schön, zu unserem Glück gibt es schon wieder eine Auflockerung, weil am 14. September unser Klassenlehrer, Herr Willy Donath (aus Bergholz-Rehbrücke, In den Gehren 4), Geburtstag hat. Herr Donath ist unser Klassenlehrer. Er ist schon älter und gemütlich. Gewiss wird er uns wieder etwas von seinen früheren Kunst-Studienreisen durch Italien erzählen.

Er war bereits vor dem Krieg Studienrat, eine Bezeichnung, ein Titel, die in der DDR keine Erwähnung / Würdigung mehr findet und gewiss war ihm die frühere Epoche mit Malerstudienreisen usw., die Kunst wertvoller in der Erinnerung, als heute Jungen die Grundzüge des Zeichnens beizubringen, solchen, die teilweise dazu nicht immer Lust haben. Das trifft ja auch hinsichtlich der „Disziplin“ im Unterricht, wohl noch verstärkt zu.

Dem Kunstsinnigen, eher Stilleren, war es nicht gegeben, sich „gewaltsam“ gegen Schüler zu behaupten, geschweige denn seinen Willen vielleicht sogar mit Strafen gegen die Schüler durchzusetzen, die zeitweilig nicht so mitarbeiteten, wie es wünschenswert gewesen wäre. Es war seine Sache nicht, sich mit „Ohrendrehern“, „Rippentrillern“, fliegenden Kreidestücken oder Schlüsselbunden durchzusetzen. Wenn es ihm im Unterricht zu laut, zu turbulent wurde, er aber nicht stärker zurechtweisen wollte, hatte er eine ganz eigene Methode für seine Nerven ein Ventil zu öffnen, angestauten Druck abzulassen. Und er begann während des Zeichnens verhalten zu sprechen, bis zum laut werdenden Deklamieren. Sein Text, den er stets beibehielt, lautete:

Ja, ja, so war es und dann kam der Krieg. Die Brötchen wurden immer kleiner und kleiner und zuletzt waren sie nur noch auf Lebensmittelmarken zu bekommen. (Forte) Und du bist hier so faul in der Schule (abflauend) und deine armen Eltern sitzen nachts aufrecht im Bett, um die letzten Kupferpfennige zu putzen“.

Ja, Herr Donath ertrug diese Jungen wohl mit fast immer äußerlich scheinendem Gleichmut, ließ vieles über sich ergehen, seine Lebendigkeit war wohl eher gekapselt, nach innen gekehrt. Viel lieber hätte er uns wohl tiefer in die Kunst eingeführt, hätte er wissbegierigere Schüler gehabt.

Ich selber habe mich oft für Verhaltensweisen anderer Schüler geschämt, die keine Ohren, keine Augen, kein Verständnis für sein Wissen und Können hatten.

Er unterstützte sehr die unbeholfeneren Schüler beim Zeichnen. Manche Arbeiten stellte er in groben Zügen, schnell mit wenigen charakteristischen Strichen fast selber fertig. An die Tafel zeichnete er einmal einen Elefanten und versah diesen, als er fertig war, mit einem Löwenschwanz und dem Namen eines Mitschülers. Ein großes Werk, dass er uns aufgab war, unsere Vorstellung von einer Mondlandschaft zu Papier zu bringen. Zwar war noch niemand dort aber trotzdem ähnelten sich die Zeichnungen sehr, weil ja ein jeder Kleinstkünstler auch Betrachter der Zeichnungen der anderen Mitschüler war. Es gab mächtige Krater und Raketen zu sehen. Ich versuchte die laute Umgebung für mich abzuschalten und war vom Gefühl her auf dem Mond – eine geraume Zeit. So etwas ist dem Lehrer nicht entgangen und so wird er in mein nächstes Jahres-Zeugnis schreiben: „Christoph ist ein ruhiger Schüler. Seine Haltung war stets gut, doch zeitweilige Verträumtheit lässt ihn dann und wann die Wirklichkeit verpassen“. Kann es sein, dass er sich in diesen Worten etwas spiegelte?

(„Seine Haltung …“ wie meinte er denn das eigentlich? – hatte ich mich doch auch mal geflegelt oder krumm gesessen).

Ich besuche Herrn Donath auch nach seinem Ableben in Bergholz-Rehbrücke. Er hätte es verdient, von den Schülern mehr freundliches, aufmerksames Entgegenkommen erfahren zu dürfen.


Unserem Klassenlehrer und seiner Frau – zum ehrenden Gedenken:


Willy Donath: * 14. September 1910, † 14. Februar 1997, 86 Jahre alt

Liselotte Donath * 10. April 1919, † 01. September 1970, 61 Jahre alt



Das Unterrichtsfach Geschichte haben wir in diesem Jahr bei Fräulein Heinrichs, einer brünetten hübschen Lehrerin. Sie vermittelt uns über längere Zeiten etwas über den Bau der Bagdad-Bahn. Bei ihr ein wochenfüllendes Thema. Ob sie selber daran beteiligt war?


Was noch anzumerken wäre: Unsere Klassenstärke ist etwas schlanker geworden. In den Großen Ferien sind Detlef A. und Hartmut Sch. umgezogen – als Angehörige ihrer Familien. Nun braucht die Bundesrepublik wahrscheinlich wieder zwei Gastarbeiter weniger anzuwerben.


UTP

In diesem Schuljahr haben wir den „Unterrichtstag in der Produktion“ im Volkseigenen Gut Sputendorf, Betriebsteil Schenkenhorst.

Im vorigen Jahr waren wir in der LPG Satzkorn, einer landwirtschaftlichen Genossenschaft aber in diesem Jahr sind wir auf dem VEG, auf dem Volkseigenen Staatsgut (bis zur Enteignung 1945 ein Rittergut) und können noch besser um die Erfüllung des Staatsplanes ringen. Da ist es praktisch, da ist es gut, dass wir nicht mit dem Zug fahren und noch laufen müssen. Wir sparen Zeit. Wir werden auf einem Lastkraftwagen mit einem „Glaskastenaufbau“ von der Schule abgeholt und auch hierher wieder zurück gebracht; man kann das Fahrzeug vielleicht auch einen schlichten aber robusten, sehr hochrädrigen Auto-Bus nennen. Der Künstler unter den Lehrern, Herr Donath, fungiert als unser bäuerlicher Begleiter.


Der Lehrkörper folgt dem Ulbricht folgsam. Wir folgen dem Lehrkörper freudig.

In der Versorgung der Bevölkerung gibt es immer mal ständige Engpässe, sagen die Optimisten. Irgend jemand hat gegen den Mangel eine gute Idee. Das Politbüro greift sie auf und für unsren derzeitigen Stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden Walter Ulbricht wird die Idee in einen Aufruf umgeformt. Und er ruft diesen in dem von ihm bekannten „Timbre“, um die Menschen aufzurüttelnd zu begeistern: „Mehr Fleisch für die Volkswirtschaft, Genossen, ja?“, ruft er. Und sinngemäß hängt still daran: Macht euch Gedanken, habt Ideen. Von manchem als Hilferuf aufgefasst, gar als ein Flehen, von anderen als Befehl gehört. Nur Letztgenannte lagen richtig mit ihrem Empfinden, die übrigen lernten es noch. Auch unsere Genossen Lehrer hören ihm aufmerksam zu und reagieren und es reift der Gedanke. Wir werden auf dem Schulhof Kaninchen züchten und mästen und so einen wertvollen Beitrag leisten und haben 'was konkretes zum Abrechnen. Wir??? Ich sehe das betretene Schweigen des Lehrerkollegiums vor meinem geistigen Auge. Sie brauchen sich nicht ängstigen, solch ein Parteiauftrag läuft für Beteiligte oft völlig harmlos, ohne weitere Beteiligung. Man muss es ihnen plausibler erläutern, man muss das Problem und dessen Lösung „auf breite Schultern verteilen“ – so wird der junge Genosse und willige Biologielehrer Fritz-Peter Gnerlich beauftragt, eine Arbeitsgemeinschaft „Junge Kaninchenzüchter“ zu bilden, aus verständigen FDJ-Mitgliedern, Pionieren als Nachwuchs und, notfalls aufgefüllt mit anderen Schülern. Kurz: Das größte Jugendobjekt der Schule soll entstehen. Soll aus dem Boden gestampft werden. So etwa läuft das Thema aber auch in anderen Schulen. Man war etwa der Auffassung: „Zehntausende aufwendig dezentral gemästete Kaninchen könnten vielleicht sehr eventuell den Inhalt eines Schweinestalls aufwiegen. Das wird sich für unsere Volkswirtschaft gut rechnen“.

Die Werbe-Praxis des Lehrkörpers zeigt, dass die FDJ-ler nachmittags immer sehr viel anderes zu tun haben, schon total überlastet sind, wie's scheint. Mitglieder der Pionierorganisation zu gewinnen scheint dagegen leichter, denn siehe: fast alle Schüler sind ja sowieso bei den Pionieren – ja, da haben wir schon mal Frank Ni. Irgendeinen vergessen? Es gibt anfangs temporär Mitschaffende. Von den anderen übrigen, nicht als Pionier organisierten Schülern: Christoph J. In einem Jahr bekommen wir Mädchen in unsere Klasse. Dann wird auch Uschi Stö. mitmachen – doch das kann momentan noch niemand wissen.

Christoph wird also zum Leiter der ehrenamtlichen „Kaninchenzüchterbrigade“ gewählt, Ansprechpartner für die Schulleitung soll er sein. Es bedarf nicht des Herausstellens einer Funktion, eines Namens, einer Person der Jungen untereinander. Alle geben gleichberechtigt und gleichermaßen ihr Bestes. Zuerst bauen wir in der „Station Junger Techniker“, im früheren Forsthaus, Friedrich-Engels-Straße, Ecke Friedhofsgasse Nr. 2, die Ställe für die Tiere nach unseren zeichnerischen Entwürfen. Das gemeinsame Werken an den Nachmittagen macht Freude, schweißt uns besser zusammen als der Schul-Unterricht es vermag und es ist gut zu sehen, wie das gemeinsame Werk vernünftige Formen annimmt.

Dort, in der Station, stehen auch viele nagelneue Waschmaschinen zum Ausschlachten. Eine Versuchsproduktion von Ultraschall-Waschmaschinen, mit dem Namen „Waschbär“, die beim Waschen wohl nur ganz leise summen, ohne großartige Wäschebewegung und -durchwirbelung und ohne verschleißende Beanspruchung ganz toll reinigend wirken sollen. Ein neuer Zauber, ein großes Wunder! – Man munkelt aber, dass die Maschinen die Wäsche nicht sauber bekommen, hingegen versuchsweise illegal zum Schwangerschaftsabbruch genutzt wurden – und deshalb hier zum Basteln stehen. Falls mal wieder jemand eine Idee hat oder einen Hilferuf ausstößt oder einen Befehl erteilt – dann findet man hier eventuell eine hervorragende Materialreserve und kann gleich aktiv loslegen!

Nachdem wir unsere Stall-Bauten für hinreichend gut befunden haben, bringen wir sie auf den Schulhof. Auf den ruhigen Schul-Sportplatz hinter dem den großen Hof teilenden Toilettenpalast. Sodann beschaffen wir mit Sicheln und Säcken von den volkseigenen Nuthe-Wiesen Grünzeug und lassen es auf dem hinteren Schulhof bei mehrfachem Wenden zu duftendem Heu werden. Es soll das Heim der Tiere zur Begrüßung gemütlich machen: Die erste Einstreu, das erste Raufutter. Hernach erhalten wir die Berechtigung mit Bezugsschein, im Rahmen der sozialistischen Hilfe, einige Kaninchen (Blaue Wiener, Widder und Promenadenmischungen) im „Haus der Pioniere“, Potsdam, „Am Neuen Garten“ bargeldlos einzukaufen. Der Transport per Einkaufstasche mit der Straßenbahn klappt vorzüglich.

So, da sind sie nun in neuer Umgebung und mit ihrem Erscheinen ist auch die tägliche Verantwortung da. Man kann auch sagen: Die Schulleitung mitsamt dem Pilei (Pionierleiter) sind gut bei ihrer Verpflichtung weggekommen, haben diese mit dem 1. Teil bereits bravourös erfüllt. Wir legen ihnen dieses Ergebnis für ihre Abrechnung nach oben uneigennützig souverän-salopp vor, nicht völlig ohne Stolz und wir machen diese Arbeit auch gerne. Vor allem schneiden wir nachmittags von den Wiesen Gräser als Frischfutter und für den Winter als Heu. Möhren, Kartoffeln und Co. zweigt jeder mal von zu Hause ab. Kartoffelschalen bringen verschiedene Schüler mit. Große Rüben bringen wir vom UTP im VEG Sputendorf mit. Zu Feiertagen gibts auch mal Haferflocken. Für Kleie bekamen wir einen Berechtigungsschein zum kostenlosen Bezug von der VEAB (Volkseigener Erfassungs- und Aufkaufbetrieb, hier für landwirtschaftliche Produkte), den Herr Gnerlich erwirkte. Auf dem kargen Boden des Schulhofs bauen wir Markstammkohl an und die Kaninchen selbst liefern dazu den Dünger frei Haus.

Unser Tagesablauf ist ein regelmäßiger: Frühstücks-Füttern vor Beginn des Unterrichts, nach dem Rechten sehen in den Großen Pausen, nochmals zur Schule zum Füttern, Ausmisten usw. zur Abendbrotzeit, zwischendurch Schularbeiten, Hausaufgaben erledigen und auf entfernteren volkseigenen Wiesen Futter „werben“, eintreiben oder zusammensuchen – in jedem Falle aber sicheln, schneiden, heranschleppen. Auch Sonnabends / Samstags ist in jener Zeit sowieso noch Schultag aber auch am Sonntag knurrt den kleinen Pelzen der Magen. So sind wir täglich mit der Schule verbunden. In den Ferien darf jeder mal wegfahren. Wir lösen uns kameradschaftlich ab. Es ist eine sehr kleine, feine, eingespielte kameradschaftliche Truppe. Gegen Mucki-Diebe sicheren wir die Tordurchfahrt des Toilettenpalastes mit einem „Sperrfix“ – einen Zweitschlüssel hatte der Sportlehrer.

Wir hatten aber auch Rückschläge. So bekamen wir eine Myxomatose, eine Virus-Infektion in den Bestand, die weitgehend tödlich verlief.

So geht unser Mühen vom September 1959 bis zum Frühsommer 1961 (8. / 9. Schuljahr). Und wir dürfen froh sein, während dieser Zeit in vorderster „Nationaler Front“ einen sehr kleinen, höchst wichtigen Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung und zum weiteren Aufbau zu tun. Jeden Tag.

Das ist unser Erfolg! Hierin steckt unser Lohn! Wer dann aus der sozialistischen Bevölkerung diese Kaninchen verzehrte, haben wir nie erfahren. Es ist auch egal – ob die Schuldirektorin, Herr Meier Lieschen Müller oder der Große Initiator Walter Ulbricht. Wir, als die Vertreter der hier ganz konkret langzeitig und mit eigenen Zuschüssen wirkenden Schüler-Arbeiter(klasse) wurden zumindest nicht gefragt, ob wir „Bedarfsträger“ für Kaninchenfleisch seien – war auch nicht nötig. Wir hätten sowieso: „Nein, danke“ gesagt – waren doch die „Muckis“ für uns inzwischen Familienangehörige.

Den Werbeslogan „Nimm ein Ei mehr“ (statt Fleisch) war noch akzeptabel aber der Beitrag „Kaninchen ist gesund“, meinte tatsächlich das Tierchen, wenn es tot war.

Nach uns war niemand mehr bereit, dieses persönlich aufwendige, uns täglich stärker fordernde Vorhaben weiterzuführen. Das hat wohl auch der Genosse Ulbricht für den großen Landesmaßstab eingesehen und ein solches Thema fallen gelassen. Er wird neue Einfälle haben.


Ein entfernter Bekannter ist fort, ist entfernt worden

Auch während dieser Zeit verlassen weiterhin viele Menschen die Republik. Der Großteil „hält aber die Stange“. Es kursiert der Mut-Machende, vielleicht etwas hämische Treueschwur: „Und ist der Weg auch hulperich, wir bleiben doch bei Ulberich“. So was bitte nur hinter vorgehaltener Hand. Witzchen solcher oder ähnlicher Art können bereits für den Erwachsenen Gefängnis bedeuten.

Ein Bekannter von einem meiner Bekannten ist nun fort. Bei einer fröhlichen Feier der Hausgemeinschaft spielte er Musik vom Tonbandgerät. Dabei wurde gewiss auch etwas Alkohol getrunken – zumindest war die Aufmerksamkeit dieses Tonbandbesitzers nicht mehr ganz auf dem benötigten Spitzenwert und die Hausgemeinschaft hörte plötzlich vom Tonbandgerät den westdeutschen Entertainer und Komiker Peter Frankenfeld, der gerade einen Witz über die DDR-Regierung, „über Pankow“, zum Besten gab. Niemand der kleinen Gesellschaft schien Anstoß daran zu nehmen, vielleicht ging mal einer zum Pinkeln – doch einige Zeit später löste die Volkspolizei die Feier auf und nahm das Tonbandgerät und dessen Besitzer zur Klärung eines Sachverhalts mit. Etwa eineinhalb Jahre kostete ihn diese kurzzeitige leichtfertige Unaufmerksamkeit, eine Zeit im Gefängnis bei harter Straflagerarbeit. Das Tonbandgerät blieb eingezogen, wurde vermutlich zum Volkseigentum.


Und die Musi spielt dazu

Wir haben wieder einen Musiklehrer. Dass der sich hier bei uns verdingt? Er, Siegfried L. ist eigentlich der Chef einer uns bekannten „Combo“. Er redet uns, das Klassenkollektiv, stets ganz kumpelhaft mit „Männer“ an und schätzt die Pflege flotter Tanzmusik. Ooch – bald schon isser wieder wech. Dieser aber musste wohl, ob er nun wollte oder nicht.


Von der Schule aus sehen wir den Film:

Ein Menschenschicksal. Ein sowjetischer Film über den Soldaten Andrej Sokolow im 2. Weltkrieg.


Wir haben großes Glück

Mit unserem Biologielehrer, Herrn Gnerlich, er ist jetzt 26 Jahre alt, haben wir großes Glück. Fritz-Peter heißt er und ist der Sohn des Fritz Gnerlich in Camburg bei Jena. Wir kommen prima mit ihm aus. Und ich habe das ziemlich sichere Gespür, dass dieser uns nicht so schnell abhanden kommen wird wie andere Lehrer, denn.

1. sucht er Potsdam nicht als ein kurzzeitiges „Sprungbrett“ in den Westen, denn er ist schon vier Jahre hier, weil er an der Potsdamer Pädagogischen Hochschule studiert hat.

2. Er ist Genosse der SED. Schwamm drüber – wissen wir doch aus Erfahrung, dass das nicht viel bedeuten will.

3. Es geht ihm trotz blühender Jugend nicht so gut – er hat leider so'was dramatisch-Rheumatisches, da würde er sich im rauen, rücksichtslosen Westen schwerer durchsetzen, dort würden ihn die kapitalistischen Wölfe wohl zerfetzen.

4. Und überhaupt täte ihm wohl hier in der vertrauten Fremde eine feste Familienbindung gut.


Angeordnet: Abriss!

Die Ruine des Potsdamer Schlosses am Alten Markt beginnt man seit einiger Zeit abzureißen. Man braucht sie nicht als Teil des Stadtzentrums. Ein Stadtzentrum gibt es dort ohnehin nicht mehr – während unserer Zeit noch nie! Man benötigt nicht so ein großes Gebäude, dessen Umfassungsmauern im wesentlichen noch fest stehen. Zwar schufen es Arbeiterhände aber bitte für wen? Wem, wem, diente es, na? Richtig! Und deshalb fort damit. Wir beerdigen damit den Feudalismus, den Monarchismus, der schließlich in den Kapitalismus und in seiner Höchststufe, in dem nationalsozialistischen Faschismus mit dem Chauvinismus endete.

Friede den Katen – Krieg den Resten der Paläste(n).


Keine Backzutaten

Wenn wir mal eine Erkältung mit Angina tonsillaris hatten, gab es statt festen Brotes bei schmerzenden Schluckbeschwerden eine große Tasse gesüßter Milch, mit eingeweichten Weißbrotwürfeln. Dieses Vergnügen endet jetzt bei dieser Art von Gesundheitsstörung. Zumindest wird die Erkrankungsursache aus dieser Welt geschafft. Nach meinem herbstlich-grippalen Infekt sollen nun endlich die Rachen-Mandeln, die ja ihren Nutzen nur haben solange sie gesund sind, entfernt werden. Dazu schreibt uns Herr Dr. med. Kurzhals, Facharzt für HNO, er hat seine Praxis in der Straße der Jugend 21, eine Überweisung für das St. Josefs-Krankenhaus aus, wo er auch operiert. Dort ist für mich ein Aufenthalt vom 13. November bis 23. November vorgesehen. 10 Tage für zwei Mandeln. Der Operateur ist also Dr. Kurzhals. Es könnte sein, dass er einen Wirbel weniger besitzt als ich.

Das Krankenhaus ist sehr katholisch. Für eine Aufnahme des Patienten ist diese Konfessionszugehörigkeit jedoch kein „Muss“. Die Stationsschwester heißt Gregoria, nicht Fräulein, nicht Frau, sondern Schwester Gregoria. Wer einmal mit ihr zu tun hatte, wird sie kaum jemals wieder vergessen können: Eine hünenhafte Matronenfigur – sowohl auf die Höhe, als auch auf den Durchmesser bezogen. Die Breite des Türausschnitts gut ausgefüllt mit der schwarz-weißen, weit ausladenden Flügelhaube für ihren Großkopf. Hinter der Stimme dieser Burschikosen, hätte sich jede Wagner-Sängerin verstecken können. Das war eine Stimme, ähnlich der eines bärenhaften Feldwebels, bei der man jeden aufkeimenden Widerspruch hinunterschluckte bevor die Zunge versucht hätte, diesen zu artikulieren. Aber ein grundgutes Herz hat man ihr zugebilligt.

Im Zimmer sind vier junge Männer untergebracht. Komisch. Durch die Tür darf nur das Personal treten. Neben der Tür hat die Wand eine Rundglasscheibe, ein „Bullauge“. Hinter jenem können Angehörige vom Flur aus mal still durchs Glas winken oder ihre Mätzchen machen. Es lohnt den Aufwand des Herkommens nicht. So streng sind hier die Bräuche. Man gewinnt von sich den Eindruck, dass man hochinfektiös sei oder zumindest besonders giftig. Vielleicht möchte man tunlichst verhüten, dass irgendwelche Krankenhauskeime aus den Zimmern auf Besucher überspringen? –

Also am 14. November bin ich dran. Als Außenstehender denkt man: Der Patient kann ja in dieser Zeit schön schlafen – ein wahres Vergnügen wird das sein.

Nun, 1959 sieht das noch anders aus. Zwar war es ein Segen, dass jemand die Äthernarkose überhaupt erfunden hat aber es war ja beileibe nicht so wie heute: Kleine Spritze – einschlafen – gut geruht?

Zu „meiner Zeit“, im „Ätherzeitalter“ war das anders. Erst kam das Anschnallen bei lebendigem Leibe auf dem OP-Tisch. Dann kam die Tropfmaske, dann der Äther. „Na, dann beginne jetzt mal langsam laut zu zählen – von 1 bis ... “. Man hörte die einzelnen Tropfen fallen, bald entfernt tönend wie auf eine Metallplatte, dann das sich Wehren gegen das entsetzliche Gefühl des Erstickens (deshalb die Ledergurte), bei 23 kam ich mit dem Zählen ins Stocken, dann hörte ich noch: „Hör' mal, wie tief der atmet – jetzt schläft er“. Und mir fehlte ein bisschen die Kraft um zu rufen: „nein, er schläft überhaupt noch lange nicht“ – bis mich Morpheus endlich in seine Arme nahm.

Aufwachend fühlte ich Schnüre durch den Mund gespannt, an einem Ende an blutstillenden Tampons im Halse steckend, die äußeren Enden mit Heftpflaster außen an den Wangen angeklebt.

Kaum hatte man sich etwas erholt, wurden dann die blutverkrusteten Tampons mit kurzem, scharfen Ruck aus ihrer Verklebung der Wunde gerissen. Der Doktor war ein starker Mann seines Fachs. Ich hörte die Englein singen. Das aber war nur mein eimaliger Eindruck, weil sich keine Gewöhnung daran einschleichen brauchte – wurden mir doch nur einmal diese Mandeln herausgeschält. Zum Trost gab es aber an jedem Tag gegen den Wundschmerz im Hals ein kleines Speiseeis – es sollte angeblich geeignet sein, die Wundflächen und deren Umgebung stundenlang, ganztags, zu kühlen. Als Kompott zu diesem Eis, gab es Malzbier. Damals war das Reinheitsgebot noch nicht so streng, deshalb bekamen auch kleine Kinder dieses M.-Bier. Ende des Jahrhunderts werden wir uns dann eher ein Malzgetränk oder einen Malztrunk einschänken. Und der therapeutische Zweck des Ganzen? Ich hörte „von anderer Seite“, dass Malzbier den Milchfluss anregen würde. Und wie gerne hätte ich gewusst, was es da so auf der Jungenstation mild bewirkt ... . Es gibt immer noch Geheimnisse im menschlichen Leben!

Nach zehn Tagen war ich wieder draußen und dann kam mein kleiner Bruder dran. Ich habe ihm aber alle meine Erlebnisse vorerst verschwiegen. Der Erfahrungsaustausch kam erst hinterher.

Die schöne Auswertung zum Ergebnis dieser Quälerei nahm ich dann alleine vor: Ich hatte nie wieder eine Angina tonsillaris, kaum eine so genannte Erkältung. Schnee fegen konnte ich nun, nur mit der Badehose bekleidet. Danke Herr Dr. Kurzhals, danke Schwester Gregoria.


Das '59-er Weihnachtsfest steht bald vor der Tür

Und deshalb gibt es auch in der Schule so manche Winter- und Weihnachtsgeschichte. Unser derzeitiger Russischlehrer, das ist ganz toll, verliert sich oft in langen Geschichten, in denen das Russische an sich nicht die vorderste Stelle einnimmt. Der Lehrer heißt mir Nachnamen Kuleschir und kommt aus dem rumänischen Halbbruderland. Na ja? Der blasse Herr Kuleschir: äußerlich groß, mit breiten Schultern, schütterem grauen Haar, dieses mit Wasser gefestigt über den glatzialen Teil gekämmt, großer würfelähnlicher Kopf, schmale Lippen mit hängenden Mundwinkeln. Er stellt für mich einen optischen Widerspruch in sich dar. Wer weiß, was er alles durchlebt hat? Er hat es wohl nicht immer leicht. Aber wenn er aus der Heimat, die er aus Gründen verließ, erzählen kann, lebt er förmlich auf. Das freut uns und wir hören ihm gern zu. Als Freund der Jugend redet er uns sehr gern mit „Freunde“ an und wir lassen ihn gewähren. Ein Widerspruch wäre 1. unsinnig, 2. vielleicht dem Zensurenspiegel abträglich und 3. wissen wir aus dem traurig-hoffnungsvollen Lied „Jugend aller Nationen...“, schon lange, dass Freundschaft siegt. Aber Herr Kuleschir ist sich wohl noch nicht völlig sicher, dass wir jeder seiner Geschichten unbedingten Glauben schenken – und so wird er nicht müde, öfter zwischendurch daran zu erinnern: „Genau so war es, Freunde! Ein Lehrer lüget nicht!“ – Ich weiß nicht genau warum, aber die meisten Schüler reden ihn mit Herr Kulischeer an, das flitzt wohl ungehinderter über die Zunge, und komischer Weise hat er, soweit ich weiß, dem nie korrigierend widersprochen. Er war so etwas wohl auch nicht gewohnt und nicht geübt. Er war zu uns stets freundlich, soweit ich mich richtig erinnere. – Heute ist wieder mal die altbekannte Geschichte von seinem Bruder dran, also dem Kuleschir, der da wohl immer noch in der Gegend, wo einst Graf Dracula ... Jedenfalls: „Freunde, das muss ich euch erzählen. Mit meinem Bruder habe ich nichts mehr zu tun. Er ist ein Pfaffe in Rumänien – ich hab‘ mit so'was, njet. Er hat nichts richtiges gelernt. Er hat Theologie studiert. Otschen plocho. Alles nicht so gut. Oft muss er, wie jetzt oder schlimmer, im tiefen Winter durch die Wälder der Karpaten in entlegene Dörfer, nur weil dort jemand stirbt oder heiratet und dazu seinen Beistand braucht. Keine so gute Arbeit wie hier bei euch, bei uns. Und die hungrigen Wölfe in der Nacht, die grüngelben Augen, die leuchten dann wie die Laternen am Schlitten. Wenn sie die trabenden Pferde anfallen wollen und er dann mit der Peitsche ... alle rettet. Ja, Freunde glaubt mir das. Ein Lehrer lüget nicht.“ ... und so weiter.

Das erfordert schon, dass wir denken: Alle Achtung! Ja eine gewisse Hochachtung wäre oft schon angemessen, wenn eben nicht gleichzeitig alles „sehr schlecht“ wäre, wie er sagt.


Und allen ein frohes Weihnachtsfest

Herr Kuleschir hat Kummer. Wir können es nachfühlen. Wir können es deutlich ablesen: Seine Mundwinkel im breiten blassen Gesicht sind unten. Das Jahresende naht und er hat das ihm von der Parteigruppe übertragene Ziel nicht erfüllt. Aber der Mann kann doch gar nichts dafür! Man wirft ihm vor, er hätte zu wenig getan. Das ist schwerwiegend. Als hehres Ziel hatte er wohl den Auftrag bekommen, die Anzahl der Pioniere unter den Schülern signifikant gegen 100% zu erhöhen und den Anteil-Rest der „der nur Schüler“ um etwa den gleichen Betrag zurückzudrängen. Es gibt zwar „nur Schüler“ (ich denke dabei auch an mich), die gesellschaftlich äußerst positiv aktiv sind, „fortschrittlicher“ als mancher Pionier und unter denen auch noch weniger Republikflüchtlinge sind als unter den Pionierfamilien – aber das wollen wir hier hin nicht in die Waagschale hineinplumpsen lassen, denn darum geht es ja nicht in seinem Auftrag. Er soll nicht abrechnen, was diese jungen Leute, diese „nur Schüler“ denken und auch nicht das, was sie alles tun. Er soll das Pionierbeitritts-Soll erbringen und das bereitet ihm große Sorge und schlafarme Nächte. In den Parteiversammlungen steht unter anderem der Punkt „Kritik und Selbstkritik“ auf der Tagesordnung. Für ihn bleibt wohl nur die sorgfältige Ausarbeitung der zweiten Sparte. Er tut mir leid. – Ich weiß aber, ich könnte einen Beitrag leisten und den Genossen Kuleschir ein wenig retten. Es liegt nur an mir, es liegt in meiner Hand – wie mit einem Fingerschnips ... alles ist so einfach ... ein organisierter Pionier in der Pionierorganisation zu werden. Ein Schüler in vorderster Stellung – das sind doch fast alle! Was man mitbringen und einhalten soll ist mir altbekannt. Ähnliches gibt es doch sinngemäß schon seit hunderten, ja seit tausenden von Jahren. Das mache ich alles sowieso. Ich gucke aber noch mal nach, ob ich alle Eignungen für einen vorbildlich-wahren Pioniercharakter wirklich mitbringe.

Irgendwelche Vergleiche mit anderen, „die schon längst über mir stehen“, also Vergleiche mit der Realität außerhalb von mir, verkneife ich mir, sie sind nicht nötig, wären eher hinderlich.

Also los: Es geht bei den Eigenschaften, die einen Pionier vor anderen Schülern auszeichnen sollen, um lieben und achten, machen, halten, treiben, lernen und sein – das alles muss ein Pionier im Prinzip an Stärken mitbringen, können und tun! Nun aber im Detail:

Lieben und achten muss er: das Vaterland, die Eltern, den Frieden, die Arbeit, die arbeitenden Menschen, die Wahrheit. geht in Ordnung –

Machen: Er muss sich vertraut machen mit der Technik und den Naturgesetzen ja, gewiss –

Halten: Der Pionier muss Freundschaft halten mit allen (na, ja), sowie den Körper sauber und gesund halten sowie Sport treiben einverstanden

Lernen: Er soll die Schätze der Kultur kennenlernennatürlich

Sein soll er: zuverlässig und fröhlichstets im Rahmen des Möglichen


Und fürs Abonnement: Die Verpflichtung zur Fortsetzung als wertvolles Glied der Freien Deutschen Jugend. Was ich heute noch nicht lesen kann: Später wird es heißen ... als Kampfreserve der SED. Ist das schon eine Vorentscheidung anderer über den mündigen Menschen vom Kindesalter bis zum Arbeits- oder Lebensende? Das allerdings fühlt sich recht engbrüstig an. Und für die anderen demokratischen Parteien soll dann überhaupt kein Nachwuchs mehr, keine „Kampfreserve“ mehr übrig bleiben? Diese Parteien „austrocknen“? Wird keine andere Partei mehr übrigbleiben? Vergleiche zur Jugendzeit unserer Eltern und dem gesellschaftlichen Rahmen jener Zeit drängen sich immer wieder mal auf – selbst, wenn diese nicht vergleichbar sind. Darüber wollen wir später, wenn wir es erfahren, nachdenken und zu gegebener Zeit darüber plaudern und es dann möglichst vernünftig ausleben. Versprochen. Ich komme darauf zurück.


In der Geschichte gab es gemäß der Bibel, vielleicht etwa 1.500 bis 1.000 Jahre vor unserer heutigen Zeitrechnung, die Gesetze für das wahre Mensch-sein, an Mose, von ihm dem Volk Israel übergeben. Darin lesen wir, dass im Prinzip die Menschen fast alles dürfen, was die Weisheit als gut und richtig betrachtet. Weil es aber recht unterschiedliche Auffassungen und manche Zweifel gibt, wird kurz, in nur zehn Punkten dargestellt, was zu beachten, was uns geboten ist (ich formuliere es hier so, wie ich es verstehe und was ich mir heute darunter vorstelle).

Das ist schon ein ganzer Sack von Anforderungen an Moral und Ethik, die auch damals vor rund 2.000 Jahren die entstehende christliche Religion übernommen hat. –


Nun also kommt kurz vor der Vollendung meines 14. Lebensjahres mein Weihnachtsgeschenk für Herrn Kuleschir:

Es ist ein Entgegenkommen von mir, ohne das Aufgeben der eigenen Grundsätze.

Dazu mache ich mich innerlich völlig frei. Völlig befreie ich mich von dem Einfluss eines bisherigen äußeren Drucks, ich befreie mich von dem deutlichen Empfinden des bisher vordergründig spürbaren Holzhammers, ich befreie mich innerlich von der Anteilnahme an dem vormilitärischen Gehabe. Ich konzentriere mich auf die alten immer gültigen menschlichen Werte. Für jene setzte ich eben die bejahenden Häkchen. Ich weiß, dass ich schon immer für meine Heimat und deren umfassende Pflege bin, für die Eltern, sinnvolles Schaffen, soziales Verhalten, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Fröhlichsein + Singen, Reinhaltung von Körper und Geist, für Kultur, Natur, Technik, Frieden, Freiheit, Freundschaft, Solidarität, Völkerverständigung, Gerechtigkeit, für freimütigen Meinungsaustausch, ohne mich verbiegen zu müssen, ohne das Mäntelchen in eine wechselnde Hauptwindrichtung zu hängen – für mich ist das vorerst Wesentliche klar ... und ich gehe ebenso die zusätzlichen Punkte der vorstehenden Zehn Gebote durch, bei denen ich gleichfalls danach strebe sie zu erfüllen.


Ich überreiche also unserem Russischlehrer, dem eingezwängten Herrn Kuleschir, meinen sauber ausgefüllten Antrag zur Aufnahme in die Pionierorganisation, denn er jammerte deswegen schon lange – und, ihr wisst ja, er dauert mich.

Er kann es kaum glauben. Er liest das bekannte Formblatt langsam, prüft es ausführlich. Ich kann es kaum glauben – er umarmt mich nicht direkt aber legt mir pseudoväterlich die Hand auf die Schulter, so wie man eben einen zu weihenden Jungmann zum Ritter schlägt und spricht: „Christoph, ich habe schon immer gewusst, dass du ein guter Sozialist bist“. Das ist mir zutiefst klar, (egal wie man es in welchem System auch gerade benennt). Ich habe ja oben auch die Kriterien abgewogen und mit leichter Hand abgehakt, dafür bedurfte es nicht der Bestätigung durch andere. Und der Lehrer, Genosse Kuleschir ist ein wahrer Menschenkenner. Das Stück Papier bewegte ihn, mich und meine gefestigte Gesinnung spontan zu erkennen. Ob wir aber innerlich alles ganz genauso meinten, wie es äußerlich schien, blieb dahingestellt.

Ich denke, der Pioniergeburtstag, das Weihnachtsfest und die anteilige Soll-Abrechnung des Parteiauftrages fielen bei Herrn Kuleschir recht günstig zusammen. Und ich durfte das mit meinem bescheidenen Beitrag ein kleines bisschen mitlenken.

Jetzt habe ich plötzlich die Eigenschaften eines vorbildlichen Pioniers – und bin nach wie vor derselbe Mensch. Alle Ziele und auch das Pioniertuch habe ich in Ehren gehalten, letzteres war bei dem nach kurzer Zeit altersgemäßen Ausscheiden aus der Pionierorganisation, ausgezeichnet erhalten.


Au weia, Weihnachtsfeier

Wir zwei Schüler haben den Drang, den Klassenraum kurz vor den Weihnachtsferien mit einigen Kiefern- oder Fichtenzweigen zu schmücken und sind mit den Fahrrädern, einer kleinen Handsäge und dem alten Rucksack auf dem Wege in die Ravensberge zu rollen. Als wir gerade den künftigen Raumschmuck mit dem Fuchsschwanz ... (Fuchsschwanz passt doch schon mal recht gut zum Wald, nicht wahr?) ... trat aber ein bewaffneter Forstmann sehr ernst aus seinem Versteck. Fast schien es so, als hätte er uns schon erwartet. Wir hätten kaum jemandem geschadet, denn im Allgemeinen werden von den Weihnachtsbäumen die untersten Zweige sowieso entfernt. Da wir weder Personal-Ausweis noch Strafgeld dabei hatten, konfiszierte der Forstmann die Corpi delicti: Säge und Sack, die wir tags darauf im Forsthaus auslösen sollten. „Ja, bitte gern, dann und tschüß – bis bald“. – Unsere wirtschaftliche Vergleichsrechnung mahnte uns jedoch, lieber die Rostsäge im alten Sack abzuschreiben und beides besser beim Waidmann zu lassen. So blieben ihm diese als gegenständliche mahnende Beispiele von Botanik-Wilderern oder auch als Trophäen seiner Jagdkunst erhalten – vielleicht tauglich für eine Ausstellung? Aber wir waren mit unserer löblichen Schmückungsabsicht mit der Ernte einiger Reiser ja nur kleine Waldfische. Er hatte gewiss nur so todernst geguckt weil er auf Leute gewartet hat, die komplette Weihnachtsbäume absägen wollten. Hoffentlich haben wir ihn somit nicht allzu sehr enttäuscht, denn so etwas soll man nicht tun.


Kurze Blitzlichtqual

Nun ist es für mich höchste Zeit das Fotostudio zu besuchen. Mein 14. Geburtstag naht, deshalb habe ich den ersten Personalausweis zu beantragen und für diesen benötige ich ein Foto, das mir ähnlich sehen soll.


1960 – Mein 14. Lebensjahr, 8. / 9. Schuljahr – ein wieder reich gefülltes Jahr

Zum Anfang des Jahres erhalte ich mein erstes blaues 12-seitiges Personalausweisheftchen, das von nun an für eventuelle Personenkontrollen stets „am Mann“ mitzuführen ist. Das trifft selbstverständlich auch für Mädchen zu. In diesem Heftchen gibt es für bessere Fahndungserfolge und so, die Seite „Besondere Merkmale“. Ob ich da die Narben angeben und vorzeigen muss? Die von Borna und die von der „Hundehütte“ auf dem Daumen und diese im Hals, an der Stelle der früheren Rachen-Mandeln? Die Volkspolizei sei da sehr genau, habe ich gehört. Eine Seite für „Besondere Vorkommnisse“, so eine Art Kerbholz, ist aber nicht enthalten – das wird woanders notiert da, wo man es nicht selber lesen kann.


Die knappe Zeit und die interessante Zeitung

Ich will in der Pionierorganisation bitte noch viel Gutes tun aber die Zeit läuft mir davon – denn in diesem Schuljahr, in kurzer Zeit, endet meine gerade begonnene Mitgliedschaft altershalber. Meinem Wunsch, ein bisschen zu Schreiben, kann zügig entsprochen werden, denn die Klasse ist überzeugt davon, dass ich innerhalb des Gruppenrates* eine gute Arbeit als Wandzeitungs-Redakteur leisten könne. Ein Wahlzeitraum ist nicht in Sicht. Ich werde deshalb nicht ordentlich gewählt, sondern nur ausgewählt, kooptiert. Die Stelle des Ehrenamtes „Redakteur“ ist zwar theoretisch besetzt, aber eine praktisch bestehende Vakanz wird nun mit mir gefüllt. Auf zu neuen Ufern!

*Zum Gruppenrat einer jeden Klasse gehören: Der Gruppenratsvorsitzende, sein Stellvertreter, der Kassierer (für Pionierbeiträge) und der Wandzeitungs-Redakteur und praktisch Ausführende dieses Aushangs. Wohl alles etwa nach unserem sowjetischen Vorbild.

Gleich meine erste Wandzeitung hatte nicht nur Zeitungsausschnitte plakativer Überschriften mit Bildern und handschriftlichen Lobeskommentaren, nein ich hatte auch verschiedenes für eine neue Rubrik: „Was sonst noch geschah“ (Kurzmeldungen – durchaus der Tageszeitung nachempfunden) aber auch eine kleine Witzecke eingerichtet. Ich hatte Besorgnis, dass diese eventuell entfernt werden müsste aber beide ungewohnt neuen Spalten fanden das eigentliche Schüler-Leser-Interesse und durften bleiben.


Zur Abwechslung ein gelbes Fahrrad. Trari Trara, die Post ist da!

In den Winterferien will und darf ich zum ersten Mal berufstätig sein. Ein Werktätiger. Ich verdinge mich bei der Post, Hauptpostamt Potsdam, für zwei Wochen als Telegrammbote. Arbeitskräfte werden dringend gebraucht. Unser „Boteneingang“ liegt in der Juliot-Curie-Straße. Dort steht „mein“ gelbes Fahrrad im Fahrradkeller. Ich setze damit eine Tradition fort. Mein Urgroßvater war zeitweilig Landbriefträger. Aber nur zu Fuß. Viele Kilometer am Tag. Aber er war kein richtiger Werktätiger. Er zählte wohl bloß zu den königlichen Postbeamten. Dessen Vater (also mein Altvater) war zeitweilig Postillon, mit Pferden und Kutsche. Doch die Bezeichnungen ändern sich auch immer mal. Sind mitunter Schall und Rauch. Das wollen wir hier nicht vertiefen. –

Ich trage keine Postuniform. Ausgestattet bin ich mit meinem privaten „Zivil“ und einer dienstlichen dunkelroten Umhänge-Ledertasche, am Schulterriemen seitlich zu tragen. Der Aktionsradius der Zustellaufträge bezieht sich auf das Stadtgebiet von Potsdam. Wir arbeiten in zwei Schichten. Manchmal sind die Empfänger schwer zu ermitteln, wenn die Anschrift nicht eindeutig stimmt. Nehmen wir mal an, die Anschrift auf dem Telegramm lautet „Wollerstraße 15“. Solch eine Zustelladresse gibt es nicht. Entweder ist es dann die Wollnerstraße in der Berliner Vorstadt Potsdams oder die Wollestraße in Babelsberg. Dazwischen liegen so einige Kilometer. Der richtige Empfänger muss nun von mir ermittelt werden, bevor ich die Telegramme in die richtigen Hände übergeben kann. Jetzt, im Februar, ist es nicht nur streckenweise sehr glatt, sondern auch zeitig dunkel. Außer den Telegrammen haben wir auch ab und zu telegrafische Geldanweisungen zu überbringen. Wann schreibt man schon ein Telegramm? Entweder sind es traurige Anlässe oder freudige. Manchmal auch eilige. Wir Zusteller platzen also auch mal in eine Hochzeitsgesellschaft hinein oder ein neues Kind ist gerade zu begießen. Wenn der telegrammatische Inhalt dem Empfängern besonders zu Herzen geht, gibt es mitunter ein Trinkgeld. Bei Brief-Telegrammen selten. Man muss dieses Spenden-Geld aber nicht unbedingt vertrinken, dazu gibt es keine Vorschrift.

Mit den Telegrammen ist das nach meiner Ansicht so eine Sache. Schreibt jemand heute eine Ansichtskarte an Tante Gerda, dann kann sie (die Karte) wenn man Glück hat, morgen dort bei ihr ankommen. Sende ich aber ein Telegramm, dann dauert das vom Absender-Postamt zum Empfangsort-Postamt nur Sekunden bis Minuten. Dann ruht es dort ganz dringend. Möglicher Weise Stunden, weil alle Telegrammboten tagsüber unterwegs auf Achse sind. Wenn später, vielleicht nach sieben Stunden die nächste Schicht beginnt, dann bekommt der Zusteller sein Bündel neuer Telegramme, damit er für die Schichtdauer ausgelastet ist. Die ersten Empfänger sind anschließend immer fein dran und bald bedient. Kreuz und quer geht es mit dem Fahrrad durch die Stadt – im Durchschnitt wird alle 5 bis 8 Minuten eine Telegrammzustellung als erledigt abgehakt. Die letzten der etwa 40 bis 45 Telegramme sind dann nach etwa sieben Arbeitsstunden verteilt und so kommen manche Telegramme später an, als eine Ansichtskarte. In dringenden Fällen sollte man also am besten beide Nachrichtenwege zeitlich parallel nutzen. Nach meiner neu erworbenen Ansicht. Die meisten Empfänger sind aber sowieso werktätig und auf ihrer Arbeit. Sie bekommen das Telegramm eben dann mit der Ansichtskarte zusammen, wenn sie gewillt sind in den Briefkasten zu schauen. Für kurze Zeit habe ich dort eine feine Arbeit. als amtlicher Radfahrer. Pakete werden aber mitunter per Elektro-Lkw spazieren gefahren.


Makellosigkeit wär' eine Zier ...

Ja, nun, ein vorbildlicher Pionier bin ich. Dieses mündliche Attest habe ich im Kasten. Wie schön.

An mir haftet jedoch trotz allem ein erkannter fetter dunkler Makel. Ich habe noch keinen Antrag zur Jugendweihe abgegeben. Ich bin ein Säumiger mit meiner Antragsabgabe. Jugendweihe ist was Schönes. Man wird in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen, mit Teilrechten ausgestattet. Das hat Tradition. In Deutschland bemüht man sich seit 100 Jahren darum und die Indianer erst mal ...bereits viel früher. Die meisten Schüler meiner Altersgruppe bereiten sich auf die Jugendweihe vor und wählen auch schon FDJ-Hemden aus. („Blusen“ heißt es an dieser Stelle ausnahms- und komischer Weise offiziell, selbst für künftige junge Männer. Warum das so ist, weiß gar niemand.)

Weil ich bereits lange zur Konfirmation angemeldet bin, denke ich so vor mich hin: Eine gut sozialistische Jugendweihe kann ich auch im nächsten Jahr – doch es wird sich zeigen, dass ich hier irre, richtig falsch denke. „Ach was“, sagt man mir, vorerst freundlich-bestimmt, hm, eigentlich richtiger sagt man es über mich und meinen Willen und meine Planung hinweg bestimmend, „eine Konfirmation kannst du auch im nächsten Jahr – was war denn früher da und so machen es doch alle, die es unbedingt wollen. Ein klares Bekenntnis zum Sozialismus ist aber hier und heute gefragt – nicht im nächsten Jahr“. Gefragt ist nur das, was der Arbeiter und Bauer hier sehen und materiell anfassen kann, nicht etwa wenig greifbare oder sonstige Hirngespinste und idealistische Irrlehren und neben dem Geist vielleicht auch noch Seele im Menschen – so richtig wissenschaftlich Ungeklärtes, vielleicht Unklärbares und solche Sachen. – Nein! So nicht!


Vor dem Jugendweihe-Gelöbnis gibt es zu dessen Vorbereitung zehn Jugendstunden. Man hört in diesen etwas über den immerwährenden Kampf der Arbeiterbewegung, über den Krieg, über die Zerschlagung des National-Sozialismus und über den Aufbau des eher internationalen Sozialismus in der DDR.


Frohe Jugendstunden für die Vorbereitung zum Gelöbnis und auf das weitere Leben

Ich bekomme sogar zwei Gratis-Werbe-Schnupper-Einladungen zur Festigung meiner Überzeugungen und auch zur Läuterung, darf also kostenlos an zwei der herrlichen zehn vorbereitenden Jugendstunden teilnehmen, obwohl der dringend eingeforderte Antrag zur Jugendweihe von mir aussteht. Eben: Werbeveranstaltungen über Frieden, Freude und frohes Jugendleben im Sozialismus. Das wird auf mich beschleunigend und entscheidungsfindend wirken, sagt man sich.


In der ersten Jugendstunde handelt es sich um den Besuch einer Sitzung beim Rat des Bezirkes Potsdam. Unverhofft spricht in jener ein Abgeordneter, der Herr Bär, in einer lebhaften Rede über kommunale Unzulänglichkeiten, über vermeidbare wirtschaftliche Schwierigkeiten und volkswirtschaftliche Verluste, so dass wir Zuhörer überhaupt nicht absehen konnten, dass – bald überraschend ein Ende in Einmütigkeit bevorstehen wird. Die Leute, also unsere Volksvertreter, sahen nach dieser schrecklich-kritischen Aufzählung irgendwie zufrieden aus. Es war alles gleichgültig gut.

(Warum dieses, fragte ich mich angesichts der vielen mit Beispielen belegten Kritikpunkte und: warum sagen dazu nicht andere auch etwas? Warum stützen sie nicht den Bären oder widerlegen seine Darstellungen, sollen sie, die Vertreter des Volkes, doch unser Leben nach dem Erkannten positiv gestalten.) Ich Naivling. Ob er, der Bär, irgend etwas bewirkt hat, lässt sich für uns natürlich nicht erkennen – waren wir doch kurzzeitige Gäste.


In der zweiten Jugendstunde nehmen wir erstmals im Leben an einer Gerichtsverhandlung teil.

Zwei ältere Schüler haben sich zu verantworten. Es sind wie wir noch halbe Kinder. Sie wollten dieses Land verlassen und woanders wohnen. Hatten sie wirklich das Gefühl so sehr zu leiden, dass sie sich zu diesem Weg entschlossen? Wir wissen es nicht. Oder war es eine unbedachte Jugendeselei eine Abenteuerlust? – Wir werden es nie erfahren. Mit Fragen zu den Ursachen ist es nicht getan – die braucht man nicht ergründen. Wichtig sind Tatsachen. Sie sind der Vorbereitung und des Versuchs der Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik angeklagt. Ein hochkriminelles Delikt!!! Nach einer scharfen Ansprache (kann man dazu auch Plädoyer sagen?) über die Verwerflichkeit an sich, über das Verletzen der Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik, über das bedenkenlose Sich-Hineinwerfen-Wollen in die Fänge des einen Blitzkrieg vorbereitenden Klassenfeindes der im Westen sitzt, über den Verrat an der Arbeiterklasse, die diese Jugendlichen nährt, zum Untergraben des Weltfriedens durch dieses Vorhaben und so weiter.

Einige von uns zittern mit, ob es angesichts eines derart schweren aber alltäglichen Verbrechens mit einem „blauen Auge“, mit Einsitzen im Jugendwerkhof abgehen wird?

Die Worte des bestellten Rechtsanwalts schienen mir „sehr blass“ und waren wohl auch sowieso von vornherein bedeutungslos. Den schon in der Untersuchungshaft „weichgekocht-zerknirschten“ Jugendlichen stand ein letztes Wort zu. Sie baten völlig eingeschüchtert mit leiser Stimme um ein mildes Urteil. „Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen“, donnerte scharf die Antwort vom Richtertisch. Ich meinte, das Urteil wird gewiss bereits vor der Schauverhandlung festgesetzt worden sein – auch ohne Rechtsanwalt und „letztes Wort“. Es werden drakonische Strafen verhängt – letztendlich dafür, dass Menschen – fast immer aus Gründen – woanders leben möchten. Dafür gibt es harte Strafen, Zuchthaus, Arbeitserziehungslager ... was aber, wenn diese beiden Schüler in unmittelbarer Grenznähe einige Sekunden oder Schritte weitergekommen wären – dann wären sie möglicherweise erschossen worden, wie so sehr viele andere vor und nach ihnen.


Das ermuntert uns junge schauende Zuhörer, festigt die Teilnehmer, weist ihnen hilfreich die Richtung. Gewiss beeinflusste uns das. Unterschiedlich. Verschieden. Auch aus unseren Schulklassen hinterließen ja Schüler Fehlstellen. Auch Lehrer, gute Lehrkräfte, auch Genossen, gingen von uns, gehen uns am laufenden Band in Richtung Bundesrepublik verloren. Das Land blutet seit Jahren aus. Den Ursachen des großen „Warum?“ nachzugehen, sich an die eigene Staats-Nase zu fassen, ist nicht gefragt. Ist selbstverständlich auch kein Thema für den Gerichtssaal. Das diskutieren zu wollen, um manches besser zu machen, ist verboten. Es wird auch erst recht nicht in den nächsten Jahrzehnten „Mode“ werden – bis zum Ende nicht.


(Bis zum Sommer 1961 werden es etwa 2,7 Millionen Menschen sein,

die diesen Weg wählen und die DDR verlassen).


Walter Ulbricht bewertet diese Jugendstunden in einer Ansprache vor Schülern folgendermaßen:

Bei uns hat sich die wertvolle Tradition entwickelt, durch die Jugendweihe und die vorbereitenden Jugendstunden euch und allen euren Altersgefährten einen würdigen, unvergesslichen Übergang von der Kindheit in das gesellschaftliche und persönliche Leben der Erwachsenen zu schaffen.

Die Jugendstunden sind hervorragend geeignet, um alle Mädchen und Jungen zu überzeugen, dass die persönliche Entwicklung ... unlösbar mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden ist, die unaufhaltsam und unabwendbar zum Sozialismus schreitet. – Die Jugendweihe ist mit ihren Vorbereitungsstunden ein großes menschliches Erziehungswerk“. –


Ja so ist es. Ich habe den Eindruck dieser beiden Jugendstunden nie wieder vergessen können.


Meine evangelische Konfirmation – und die auf mich wartende sozialistische Jugendweihe

Bei mir lief die Vorbereitung bisher so: Ich nahm bereits sieben vorbereitende Jahre am Religionsunterricht teil, bin gern bei der evangelischen Jungschar. Unser hervorragender Katechet und Kantor Hans-Jörg Lippert (1930–2021) schrieb mir in das letzte Zeugnis vor den Großen Ferien des Vorjahres, also kurz vor meinen Fahrten nach Wittenberge und nach Rautenkranz: „Christoph hat sich mit einer Aufgeschlossenheit und Ernsthaftigkeit am Unterricht beteiligt, wie man sie selten findet“.

Dann besuche ich seit September '59 den Konfirmanden-Unterricht bei Herrn Pfarrer Paeplow, weil meine Konfirmation im Frühling, am 15. Mai 1960 stattfinden wird, um in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Während dieser langen Jahre hörte ich viel über die Jahrtausende alte Geschichte, über das Mensch-Sein, über Judentum, die Christenheit durch verschiedene Geschichtsepochen, bis in die heutige Zeit. Höre und lese, was Menschen ihrer Zeit in bildhafter Darstellung niedergelegt und weitergegeben haben, welche Erscheinungen sie notierten, was ihnen der Erkenntnisstand ihrer Zeit vermittelte, lese, welche Vergleiche sie führten. Oft unter politischem Druck oder Verfolgung in der Gesellschaftsordnung, in die sie hineingeboren wurden, der sie ausgesetzt waren.

Andere Menschen übersetzten diese Literatur-Sammlungen, ließen dabei wohl manches fort, modifizierten wahrscheinlich daran herum, fügten vielleicht ihnen genehm erscheinendes hinzu und entschieden, was letztlich in das Buch hineingehört und was eher nicht so günstig dafür wäre. Viele Antworten zu interessanten Fragen zu dem: „Wie ist das und jenes möglich oder denkbar?“ blieben dabei für mich vorerst offen. Hier interessierten mich beispielsweise


Erst in kürzeren Zweier-Gesprächen konnte ich unseren Pfarrer zu wenigen Punkten des Buches, der Bibel befragen, zu seiner Auffassung zur wahrhaftigen Wortwörtlichkeit, zu wenigen für mich nicht deutbaren Ereignissen, zu den Möglichkeiten und Grenzen des heutigen Anerkennens damals notierter „Wunder“ im Gegensatz zum „blinden Glauben“ an das Unfassbare. Das fiel ihm in dieser Art offenbar leichter, als die Meinungsäußerung in der Jungengruppe, also unter mehreren halbwüchsigen Zeugen unterschiedlicher Herkunft zu solchen Fragen, die eventuell sogar in eine Verbindung zu aktuell politischen Problemstellungen gerückt werden könnten oder auch generell zu Fragen des Glaubens, vorhandenen Zweifeln und des Lebens mit diesen.

Und er sagte sinngemäß zu mir: Ach Christoph, du greifst sehr intensiv und tief mit deinen Fragen, du solltest nicht alles ganz genau wissen wollen und nicht alles hinterfragen. So weit sind wir nicht, um auf alle alten Fragen die richtigen und erschöpfenden Antworten geben zu können – und das können und wollen wir auch gar nicht in jedem Fall, an jedem Beispiel. Die Große Linie, der Sinn ist entscheidend. Generationen von Theologen bemühen sich um das Auslegen und Erläutern als „Lösungsangebote“ zu solchen Fragen, wie sie dich bewegen. Vieles lässt sich aber global beantworten:

Die Ereignisse, die im Alten Testament erwähnt sind, die vor tausenden Jahren stattgefunden haben mögen, wurden über viele Generationen mündlich weitergegeben, wahrscheinlich ausgeschmückt und auch wieder gekürzt, bis Später-Geborene diese aufschreiben konnten, als Begebenheiten inzwischen zu größeren Legenden verbrämt und Tatsachen mit Dichtwerken verflochten waren. Dass sie stattfanden ist als wahr anzunehmen und wie sie sich ereigneten, gehört zu Annahmen, gehört zu den Grundlagen und Problemen des Glaubens. Man mag sie glauben oder zum Teil auch nicht. Der Eine glaubt sie wortgetreu, ein anderer zweifelt kritisch, der nächste versucht verschiedene Möglichkeiten die er sieht, zu erläutern, der nächste erkennt bildhafte Vergleiche, ein weiterer lehnt rundweg ab. Glaubensfragen eben.

Die Alten schrieben es wohl auf, weil es ihnen wichtig erschien, weil manches sich als außergewöhnlich darstellte oder jenes was ihnen unerklärbar blieb. Aufgehoben für späteres Erkennen. Vielleicht.

Sie empfanden und interpretierten das selbstverständlich „als Kinder ihrer Zeit“, als man die Erde als Fläche, als Scheibe, ansah. Sie glaubten, weil es ihnen als Geschichte von ihren Vorfahren überliefert wurde und obwohl sie sich manches nicht erklären konnten. Auch die mündliche Ausdrucksweise war damals eine wesentlich andere als heute, weshalb manches schon deshalb dem heutigen Laien schwer verstehbar erscheint. Es waren wohl nicht in jedem Falle genaue Tatsachenberichte. Eher in Form einer Symboldarstellung in kräftigen vergleichenden Bildern aus dem Alltag der Leute, wie zum Beispiel: „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt“. Heute sehen wir alles schwarz auf weiß im Buch und wollen alles wortgetreu verstehen, nachprüfen können.

Das damals in ganz anderer Zeit, in einem völlig anderen Kulturkreis Aufgeschriebene wurde mehrfach übersetzt. Schon allein das Übersetzen aus dem Aramäischen (der Sprache Jesu) und dann von der hebräischen Konsonantenschrift in das Griechische, lässt oftmals eine ganz unterschiedlichen Wortwahl zu und in deren Folge auch verschiedene Deutungsmöglichkeiten und Darstellungsweisen der Texte. Auf mögliche inhaltliche Fehler und Missverständnisse dieser Menschen bei der Textübertragung wollen wir unsere Gedanken hier gar nicht einmal ausweiten. Diese Bearbeitungen waren bereits von der Gedankenwelt, von den Kenntnissen, vom Glauben des Übersetzers beeinflusst. Man übersetzte also, um dem alten Text „in seinem Geiste“ möglichst gerecht zu werden, in Begriffen modernerer Sprachen. Luther zum Beispiel musste beim Übersetzen aus der griechischen und lateinischen Vorlage verschiedentlich erst neue Begriffe für die deutsche Sprache bilden / schöpfen und prägen, um überhaupt sein Gefühl für die Inhalte ausdrücken zu können, weil er keine treffenden Wortentsprechungen in der deutschen Sprache vorfand. Er glaubte daran, es gut zu machen.


In der Natur und in der Gesellschaft gibt es auch heute noch viel Geheimnisvolles, viel Unbestätigtes, Unbekanntes zwischen Himmel und Erde, das niemand belegen kann. Unsere Erkenntnismöglichkeiten fußen auf den Naturgesetzen, sind von Zeit und Raum abhängig und Vorgänge sind nach unserem allgemeinen Alltagsverständnis an die Abfolge von Ursache und Wirkung gebunden. Aber es gibt tatsächlich (und das auch hier bei uns) ganz andere Phänomene, die diesen „Alltagsrahmen“ verlassen und doch bestehen, durchaus existieren, funktionieren.

Selbst den Wissenschaftlern, die vieles wissen, bleibt deshalb also so manches verschlossen, wenn Darstellungen über diese Bedingungen hinaus gehen – „es ist nicht zu fassen“!, weil eine solche Erkenntnismöglichkeit uns nicht gegeben, nicht in uns angelegt ist. Vorgänge, die erkanntermaßen nicht auf den uns bekannten Naturgesetzen fußen, sind deshalb auch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

Wiederum weitere Menschen glauben, ihnen Unbekanntes rundweg ablehnen zu müssen. Weil sie es nicht erkennen können, es ihnen deshalb nicht plausibel erscheint. Deshalb meinen sie wäre es „unwissenschaftlich“ etwa nach Ursachen, nach Erklärungen nach größeren Zusammenhängen zu forschen. Der Einfachheit halber wird gesagt, es sei etwas veraltetes, idealistisches, vielleicht mystisches, etwas aus dem „Märchenbuch“. Es scheint ihnen wertlos – weil sie damit nichts anzufangen wissen – und damit tun sie es ab, negieren sie es. Sozialistisch-materialistischer Lehrsatz: „Nur was die Arbeiter und Bauern sehen und anfassen können, nur das existiert auch“.


Doch in uns allen ist naturgemäß ein Glaube an irgendwas, an irgendwen, sogar an einen gegebenen Grund zur Verneinung – und da brauchst du nicht zweifelnd beiseite steh'n. Nimm dir vorerst einfach das zu Herzen, was du als gut und richtig erkennst und auch vertreten möchtest.“

Es ist denkbar, dass ich als kritischer junger Mensch manches anders auffasste, als der studierte Theologe es meinte, es aus seiner Sicht vermitteln wollte. Auch möglich, dass er seine Ansichten mit etwas anderen Worten sagte, als ich diese nach über einem halben Jahrhundert notiere. Aber einige Gedanken blieben für mich verstehbar und gültig, die vertiefend und mit Literaturhilfen noch später weiter durchdacht wurden, auch wenn ich dafür letztendlich nicht die treffendsten beschreibenden Worte finde. Seine Worte und mein Empfinden überlagern sich, verschmelzen hier offenbar – auch mit eigenen Erfahrungen im Laufe der Zeit. – Thomas Mann prägte den Satz vom „Leben im Lichte der Gedanken“.

oder „veränderliche Lebenseindrücke im Schein der Erinnerung und der Gedanken“. – ergänze ich nach meinem Gefühl. Man darf viel an meinen Auffassungen herumdeuteln, sie verwerfen oder diese auch sprachlich besser ausdrücken, als ich es laienhaft vermag.

Das ist möglich, durchaus zulässig und bedarf keinesfalls meiner Zustimmung.


Was nahm ich unter anderem noch aus diesen kürzeren Zwiegesprächen an Gedankenimpulsen sinngemäß mit?


Gott – was ist das Göttliche?

Der/die/das gedachte Gott (eigentlich „namenlos“, „bildlos“, „ungeschlechtlich“ und unpersonifiziert) – die universale Kraft / die umfassende Ur-Energie, die alles im Makro-, wie auch im Mikrokosmos bewegt, in einer kosmo-naturgesetzlichen phantastischen Ordnung hält – gepaart mit „Weisheit, Verstand und Vernunft“ für die Anwendung in allem Natürlichen.

Deshalb wenden sich Menschen an diese Begrifflichkeit „Gott“, mit der sinngemäßen Bedeutung des Begriffs für: „Der Angerufene“, „der Angesprochene“, „der Gesprächspartner“, „mein Gedankenpartner“. Die männlich übliche Form soll hier nicht entscheidend sein, weil eine „Urquelle“, stets allumfassend ist, genauso die weiblichen Elemente enthält und uns mit diesen ebenso unterschiedslos anspricht.

Ein „bildloses Abbild“ des Göttlichen (der Kraft) im Kleinen in uns selbst, ist das Gute, ist das Beste, was an Eigenschaften in Geist und Seele in uns ist. Mancher nennt es den göttlichen Funken in uns. Das wollen und sollen wir bewahren und pflegen. Ein Geschenk an jeden Menschen und eine Lebensaufgabe. Allumfassende Liebe und Wahrheit als Grundlage der Existenz soll auch für uns der Ausgangspunkt von allem sein.

Das anzunehmen, kann Glaube an Gott, an das Göttliche Prinzip, an Göttlichkeit bedeuten.


Schöpfung

Im vorigen Jahrhundert sagte die Wissenschaft, der Mensch sei keine „Schöpfung“, sondern habe sich evolutionär vom Affen zum Menschen entwickelt. Seit Darwin ist man der Auffassung, dass der Mensch nicht vom Affen abstamme, sondern Menschen und Affen wohl gemeinsame Vorfahren haben – andere Leute vermuten, die Menschen traten plötzlich auf, wurden mittels einer Kreuzung fremder weit fortgeschrittener außerirdischer Zivilisationen mit Erdbewohnern geschaffen. – Vielleicht hat man in 100 oder 200 Jahren weitere, neue oder verfeinerte Erkenntnisse.

Die Geschöpfenach der Evolutionslehre – Ergebnisse einer langen Entwicklung, nicht an wenigen Tagen abgeschlossen, wie biblisch nur bildhaft übermittelt. Ein (dort genannter) Tag sind viele tausende Jahre“, sind Milliarden Jahre – seit dem Bestehen des Kosmos. Wir sind noch immer mitten drin, in der Evolution. Aber: Wer konnte schon damals wie heute eine wortwörtlich genannte Entwicklung über Milliarden Jahre sich vorstellen, eine solche erfassen ?

Und der Schöpfer? Schauen wir nochmals nach oben zu der Frage: Was ist Gott?


Paradiese

In unseren Tagen nehmen viele Menschen an, dass in der Bibel beschriebene Paradies könnte in Mesopotamien, im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris gelegen haben. Oder vielleicht doch eher doch in Afrika, weil dort noch ältere Hominiden-Knochenteile gefunden wurden – oder besser doch auf / in Atlantis, wo auch immer das gewesen sein mag. – Ist das erheblich? Nun, sehr viele Gegenden und Landschaften der Erde können auch heute als geradezu paradiesisch gelten. Sie haben die Grundlage zur Ernährung, zu guter Entwicklung im Überfluss, manchmal zu relativ freier gesellschaftlicher Entwicklung.

Früher waren es zum Teil gewiss andere gedachte Gebiete als heute, da sich im Laufe der Zeiten das Klima, die Wasserversorgung, die Vegetation und damit die Ernährungssituation änderte.

Warum der Mensch als aus dem Paradies vertrieben gilt, ist wohl eine Sache, die er selbst zu vertreten hat. Wir brauchen nicht auf das vielleicht genehme Bild einer „strafenden Person Gottes“ auszuweichen, denke ich.

In der Zeit, als das Alte Testament geschrieben wurde, dachte man bei Gott wohl an eine gütige Vaterkraft mit fester Hand, die seine Kinder erzieht und bei Ungehorsam straft. Deshalb wurde die Geschichte so geschrieben, wie wir sie noch heute lesen. Es gibt aber keine strafende Überperson – glaube ich!

Denn:

In meiner gedachten Wirklichkeit haben die Menschen ihre Paradiese verlassen, nicht vordergründig als Ortswechsel aufzufassen und auch nicht immer aus einer Not im Lebensraum heraus, sondern indem sie ohne objektive Notwendigkeit in ihrem Leben Tür und Tor öffneten – beispielsweise

- für Mord und Totschlag an ihren „Brüdern und Schwestern“, Ausleben von Rachsucht

- für Kriege und Versklavung,

- für Ausbeutung und Unterdrückung anderer aus Habgier,

- für Unfrieden wegen Neid, Missgunst und Eifersucht – durch Kontrollmechanismen zu ungunsten

der anderen.

- für Betrügereien, in der Absicht persönliche Vorteile zu erzielen.

- für die Missachtung der Natur, für den Raubbau an der Natur, Eingrenzung, Fortnahme und

Vernichtung von Lebensräumen für Tiere und Menschen.

- für vorsätzliche Vermüllung der natürlichen Lebensräume, auch für gedankenlose

Wegwerfmentalität in Bezug auf Nahrungsmittel und Stoffe der Erde.

- für die Vergiftung unserer Lebensgrundlagen.

- für Menschenhaltung unter einschränkender Vorgabe seitens der Machthaber, mit der Vorgabe

(gestatteter / gesetzlicher) Anschauungen und Verhaltensweisen und der Bestrafungen bei

Nichteinhaltung.

- für das Töten von Tieren ohne Notwendigkeit, insbesondere aus rohem „Spaß und Vergnügen“.

- für Tierhaltung unter quälenden Bedingungen.

- für die Ignoranz gegenüber der Daseins-Gleichberechtigung anderer. ... und so weiter


Die Menschen haben eine überlange Kette an Grausamkeiten geschaffen. Bewusst und mitunter auch aus Gleichgültigkeit beibehalten.

Die immer wiederkehrende, eher naiv-komische Frage: „Wenn es da wirklich einen Gott (mit Rauschebart über den Wolken) gibt, warum lässt er, dieser Mann, das einfach zu?“ Diese Fragestellung ist unsinnig. Sie beruht auf einer völligen Abwegigkeit, die es zu korrigieren gilt (siehe oben: Was ist Gott?). Die Menschen sind für ihr Tun verantwortlich – man kann die Verantwortung für ein Einschreiten gegen schlechte Taten eben nicht einer kosmischen Urkraft zuschreiben / dieser übertragen wollen.


Eingedenk des Beispiels des National-Sozialismus in Deutschland und dessen Krieg, stellen wir fest, dass es schrecklich zuging in der Welt. Die Zukunft wird wissen, dass die Menschheit aus der Geschichte keine ausreichenden Lehren zog. Wiederholungen von globalen Grausamkeiten wird es in China geben, in Vietnam (von außen hineingetragen), im Kongo, in Kambodscha/Kampuchea und vielen, vielen weiteren Ländern – und wer von den Machthabern legt Wert auf paradiesische Zustände für das Volk?

Es hat sich die Menschheit aus den paradiesischen Zuständen entfernt, sich ausgeschlossen, die Tür zugeschlagen – aber der Schlüssel steckt, man könnte die Tür zum Paradies jederzeit öffnen. Die Bedingungen dazu sind im Grunde genommen einfach, werden aber von den Menschen in ihrer Gesamtheit kaum als erfüllbar angesehen, von einigen auch nicht als ein erstrebenswertes Ziel akzeptiert. („Ich profitiere – vom Profit – nach mir die Sintflut“).

Was aber sind die Voraussetzungen zur Rückkehr in ein Paradies? Keine supergroßen Anstrengungen, keine unerschwinglichen Investitionen – nur das Unterlassen des soeben oben Aufgeführten! Nicht mehr – und nicht weniger. Achtung der Würde jeglicher Kreatur, Toleranz gegenüber den anderen, gegenüber anders gearteten Individuen. Gewaltfreiheit, Güte sowie Eigen- und Nächsten-Liebe im täglichen Leben, Wahrheitsliebe, Fairness, Freiheit, Gerechtigkeit, Verzicht auf Machtmissbrauch über andere.

* Kurz: Mit einer Annäherung an das Göttliche. Der Frieden für diese Erde kann nur entstehen aus dem Frieden in einem Jeden von uns selbst, der dann von jedem einzelnen Menschen ausgeht.


Der Glaube – einige Beispiele

- Ich denke über einen Themenkreis nach, weil ich glaube, dass sich ein Erkenntnisgewinn lohnt.

- Ich denke schon, dass manches möglich ist, dass manches existieren mag, was ich nicht

erfassen kann, dessen Existenz aber auch nicht erst durch mich eine Bestätigung erfahren muss.

- Ich glaube, dass es vieles gibt, was der Mensch nicht mit seinen Sinnesorganen, mit seinem

Bewusstsein erfassen kann. Somit bleiben diese Probleme als Glaubensgegenstände bestehen.

- Ich halte eine Möglichkeit für wahrscheinlich, für wahr.

- Ich nehme das, was man mir erzählt als Gewissheit an – nehme es „für bare Münze“.

- Ich vermute stark, ja bin davon überzeugt, dass dies und jenes richtig sein wird, ohne dass man

mir den naturwissenschaftlichen Beleg mitliefert – ich glaube es einfach und mir „fehlt“ die

Überheblichkeit, bestehende Möglichkeiten generell abzulehnen/auszuschließen, nur weil diese

meinen eigenen Horizont“ überschreiten. Und selbst in der Mathematik, diesem Gebiet der

Logik, gibt es Problemfälle, die selbstredend für wahr gehalten werden, obwohl jene nicht

beweisbar sind.

- Ich glaube, dass es möglich wäre, meine Erfahrungen zu einem Problem und dessen Lösung

wegen der vielen Übereinstimmungen auf ein anderes Problem übertragen zu dürfen.

- Schreitet die Wissenschaft aber soweit voran, dass sie einen Glaubenssatz, eine vertraute

Annahme als unrichtig beweist, soll man den Glaubenspunkt / den Glaubensinhalt korrigieren.

- Glauben – eine feste Zuversicht gegenüber gefühlten Umständen höherer Wahrscheinlichkeit.

- Etwas erscheint mir als glaubwürdig, obwohl mir davon bis heute nichts bewiesen werden kann.

- In etwas wirkliches Vertrauen setzen zu dürfen, es als vertrauenswürdig zu empfinden, ohne dass

ich es prüfen will / kann, ohne dass ich es in jedem Falle zu kontrollieren vermag, ist wichtig im

Leben.

- Der Inhalt des Glaubens ist eine als gut empfundene Vorstellung.


Woran glaubt „man“? – woran der Eine oder der Andere glaubt

* Herr A. glaubt an die Lösung aller Energiefragen mit der Kern-Energie.

Seit einigen Jahren (Bezug 1960) gibt es die Atomkraft zu unserer Nutzung und man glaubt in der Wissenschaft, sie sei die sichere und die einzige völlig saubere Energieform. Etwas besseres gäbe es nicht!

Trotz der schlimmsten Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki wird so gedacht.

Gemach. Vielleicht geht die Entwicklung sogar weiter und die Leute nutzen (außer Kohle und Gas) noch andere Formen der Energieumwandlung an die derzeitig noch niemand denkt und heutige Überzeugungen ändern sich.


* Frau B. erhofft den Sieg des Kommunismus. Sie glaubt an diesen und damit an die nunmehr bald eintretenden, pseudo-paradiesischen Zustände.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Sowjetunion ein überragendes Programm, ein riesengroßes, ein überraschend schlicht erscheinendes Programm für den Aufbau des Landes. Lenin verkündete:

Die Macht der Räte (Diktatur des Proletariats) + Elektrifizierung des Landes = Kommunismus.

(GOELRO-Plan. Das neue Paradies auf Erden). Kommunismus = Jeder (arbeitet) nach seinen Fähigkeiten – jedem Menschen wird nach seinen Bedürfnissen gegeben. Ja, sehr viele Menschen glauben an den Kommunismus als an die gerechteste und wohlhabendste Gesellschaftsform, mit allumfassendem Frieden in Freiheit. Als Lenin starb, führte Stalin dessen Werk weiter. Sehr wahrscheinlich wurden in diesem Zuge des Aufbaus des Kommunismus Millionen oft unschuldiger Landsleute ermordet. Aber nicht durch Stalin allein. Mit Hilfe hunderttausender Gleichgesinnter. Machthungriger. Blutrünstiger. Und trotz dieser Kenntnis ist auch heute Wunsch und Glaube an diesen Weg und an dieses Ziel stark verwurzelt, ist bei vielen Leuten ungebrochen.

Da taucht ganz nebenbei – für eine Zwischenbilanz, die Frage auf, ob es allen Bürgern in der Sowjetunion heute (1960) inzwischen so sehr gut geht – schon fast paradiesisch? Aber nichts überstürzen. Wie mag es 40 Jahre später aussehen – im Jahr 2000 – hier und dort – mit dem entwickelten Sozialismus und Kommunismus? Wer kann das heute ermessen?


* Antike Bautechnik

Denke doch mal an die Pyramiden in Ägypten, die vor tausenden Jahren errichtet wurden. Wie lange rätselt und forscht man bereits, um herauszufinden, wie sie wirklich entstanden. Das Wissen darum scheint verloren. Die Bilderschrift (Hieroglyphen) aber war bereits weit entwickelt. Verschiedene Forscher glauben sehr genau zu wissen wie die Bauwerke entstanden – andere Wissenschaftler scheinen völlig andere Auffassungen (Glaubensrichtungen) zu den damaligen Technologien zu haben und verwerfen die Überzeugungen der ersten Gruppe oder sie tappen völlig im Dunkeln. Bewiesen hat es noch niemand. Die Mehrzahl jedoch hängt tatsächlich mehreren gewissen Glaubensrichtungen nach.


Ja, man glaubt immer ein Stückchen ziemlich sicher zu wissen – soweit man im Moment gerade sehen kann. Den übergroßen Rest kann man vermuten. Entweder man glaubt den Theorien – oder lehnt sie ab oder hat die „Ahnung, ein Gespür für einen weiteren Weg.


Zum Glauben gibt es eine unüberschaubare Menge von Beispielen.

Im Prinzip glaubt jeder etwas – zum Beispiel glauben die Wissenschaftler fest daran, dies und jenes zu wissen – und da brauchst Du dich nicht als ungläubig und abseits stehend fühlen, weil Du Zweifel hast, sagte mir unser Pfarrer und: Glaube Du an den göttlichen Frieden, an das Beste in Dir und gib davon Deiner Umgebung reichlich ab, in Deinem Denken, in Deinen Worten und mit Deinen Werken, dann ist es recht so.

Die Wunder

Wir haben diese vorerst angenommen, wie sie uns überliefert wurden. Sie scheinen im Widerspruch zu dem zu stehen, was wir bisher über die Natur wissen. Sie erscheinen uns rätselhaft. Oder stellen sie sich gar gegen Naturgesetzmäßigkeiten, die auf der Erde gelten?

Mag man den Darstellungen über Wunder nun glauben oder nicht. Diese sind ohnehin nicht unbedingt alle wörtlich zu nehmen. Es sind oft lebhafte, bildlich eingängige Darstellungen, Vergleiche, die moralische Prinzipien darstellen oder die uns Beispiele für wahrscheinlich gangbare Wege aufzeigen wollen. Oft regen sie uns zum Mitdenken an, wenn sie uns hinter Bildern „den übertragenden Sinn“ darbieten möchten. Ob wir einen solchen erkennen und diesen dann auch noch verstehen? Wir benötigen eben Hilfen und Auslegungen, um manches „richtig“ erfassen und verstehen zu können.

Wir dürfen eine Darstellung auch ablehnen, wenn sie uns übertrieben, unwirklich erscheinen mag. Die Überlieferungen gelten uns als Angebote – sie enthalten keinerlei Akzeptanz-Verpflichtung.


Die Erzählungen über Wunder bilden kein Almanach historisch belegter Vorkommnisse. Sie zeigen Ergebnisse ohne detailgetreue „Labormitschriften tatsächlicher Vorgänge und deren Abläufe“ in jener Zeit, sondern ein Sammelband damals einer Anzahl von Menschen wichtig erscheinender Geschichten.

Daneben gibt es ja genauso Ausführungen wohl vergleichbaren Alters, die von uns zum Teil inzwischen durchaus als real erkannt wurden, von der Wissenschaft bestätigt werden konnten und somit nicht mehr als „Wunder“ im ursprünglich aufgefassten Sinne gelten.

Wird bei einer Überlieferung also von der Wissenschaft bestätigt, dass es solch ein Phänomen geben kann – gut. Wird aber der wissenschaftliche Beweis für einen Ausschluss, für die Unmöglichkeit eines vermeintlichen Wunders geführt, soll man sich neuen Erkenntnissen nicht verschließen – auch ohne die jeweiligen Passagen der historischen Bücher jeweils ausradieren oder umschreiben zu müssen. Ein weiterer Erläuterungsband schiene dann aber wohl günstig.


Am Beginn wissenschaftlicher Arbeiten stehen mitunter auch Vermutungen und Annahmen, die auf Glaubenssätzen oder Hypothesen beruhen. Es kann sich erweisen, dass diese richtig waren – oder später doch Korrekturnotwendigkeiten der Annahmen erkannt und vorgenommen werden.

Das bedeutet verallgemeinernd: auch der Glaube an etwas, das als ziemlich sicher gilt, kann der Notwendigkeit der ändernden Aktualisierung unterworfen sein.

Und wir wissen auch, dass streng geplante wissenschaftliche Untersuchungen „unter gleichen Bedingungen“, also technisch exakt wiederholbar gestaltet, „auf wundersame Weise“ unterschiedlich dokumentierte Ergebnisse erbringen können, je nach dem, welche Intentionen die Versuchsleiter verfolgen und somit eine unbeabsichtigte Verlaufs- und Ergebnisbeeinflussung durch Glaubenssätze, Gedanken und Gefühle eintreten kann.


Selbst in der Mathematik gibt es noch unbeantwortete Fragen und ungelöste Probleme, um deren Klärung sich Menschen seit alters her bemühen und doch noch nicht bis zu Lösungen vordrangen. Und die Mathematik ist völlig logischer Weise nicht so ganz unwissenschaftlich? (Ich bin da Laie).


Berichte über eine Anzahl angegebener Heilungen, die auf freudiger Fabulierkunst, auf großer Übertreibung (um das „Wunder“ noch zu „verstärken“) fußen könnten, betrachten wir im Folgenden nicht. Dazu gab es schon vorstehend Anmerkungen.

Gab es / gibt es glaubhafte Phänomene, die schulmedizinisch-wissenschaftlich heute lediglich noch nicht ergründbar sind?


* Beispielsweise Heilungen oder Heilungsanstöße durch Gedanken, durch Worte und Handauflegensind das Wunder?

Wer von uns kann belegen oder ausschließen, dass nicht beispielsweise Jesus Christus über besondere Gaben verfügte, besonders stark ausgeprägte Kräfte besaß, die über das allgemeine Vorstellungsvermögen hinausgingen? In der Geschichte, und auch aus jüngerer Zeit, gibt es eine Vielzahl weiterer bekannter Menschen, die als Beispiele für eine solche prinzipielle Gabe herangezogen werden können.


Ich werde es erst viel später praktisch selbst erfahren, dass ein Handauflegen als Hilfe sehr wirksam sein kann – und nicht nur bei Körperkontakt / Anwesenheit wirkt, sondern auch als Fernunterstützung zur Heilung, also bei oder trotz örtlicher Abwesenheit. Und diese positive Einflussnahme ist möglich, ohne einen Glauben an diese Prinzipien, und sogar, zumindest im Rahmen einer Fürbitte moralisch akzeptierbar, ohne das Wissen des Bedürftigen funktionierend, so dass nicht von einer Glaubenssache, von einem Placebo-Effekt ausgegangen werden kann, zumal dieses System des Helfens auch Bewusstlosen, Babys, Tieren und Pflanzen helfen kann.


Denke bitte auch an den Arzt oder den Heiler, der nicht „nur Tabletten verschreibt, sondern ebenfalls (ganzheitlich) Herz und Seele des Patienten anspricht, die „scheinbar“ von der Krankheit nicht betroffen sind. Dieser Heilende kann mitunter ohne Chemie eine heilende Wirkung, große Erfolge erzielen. Warum sollte das früher anders gewesen sein? Also, das Überzeugt-sein und das Gutheißen von „Dingen“ und „Umständen“, selbst wenn ich diese nicht sehe, sie nicht begreifen kann, mich diesen aber herzlich zuneige / hingebe – ist Glaube (siehe oben).

Auch heute sind Spontan-Heilungen u. a. bei geschulter Einflussnahme möglich aber auch eine Stärkung, wenn beispielsweise Kranke zu einer „heiligen Stätte“ gebracht werden und dort Genesung oder Erleichterung erfahren.


Denken wir auch an die Möglichkeit des Übertragens von Gedanken, Gefühlen und Wünschen – schließlich gehört das zum Kern des Bittens, des Gebetes. Es ist der Ausdruck eines Vertrauens, eines sich Hinwendens, einer Sehnsucht des Herzens zur Erfüllung der Bitte. Diese Möglichkeiten letztlich ausschöpfen zu können, setzt einen Glauben daran voraus, und eine Gewissheit, dass die heute von uns Menschen erkannten Zusammenhänge des Materiellen noch nicht alles sind, was es zwischen Himmel und Erde Wichtiges und Wirkendes gibt. Egal ob es vom Vertreter des Materialismus grob, überheblich und unwissend, als purer Unsinn abgetan wird – nur weil man (noch) nicht in der Lage ist, die Grundlagen und die Zusammenhänge zu erkennen, wissenschaftlich zu analysieren.

* Die Himmelfahrten

Vor rund zwei Jahren (4. Oktober 1957) hat die Sowjetunion mit einer Rakete einen künstlichen Satelliten in die Erdumlaufbahn gebracht. Wieder mal ein Vorgriff: Am 12. April 1961 wird Juri Gagarin als erster uns bekannter Mensch der Neuzeit dem Weltall einen Besuch abstatten. Eine große Leistung, die viele vorbereitende Väter und Mütter hat. Es ist aber auch bekannt, dass in China bereits vor tausend Jahren die Raketentechnik genutzt wurde.

Die Alten gaben bereits vor Jahrtausenden die Überlieferungen über Himmelfahrten mündlich weiter, die dann in „jüngerer Zeit“, in das Alte Testament (und frühere Quellen) beschreibend aufgenommen wurden – einschließlich der Erwähnung der dazu gesehenen Technik mit damaliger Wortwahl.

Ob nun Jesus und auch Maria ebenfalls sichtbar körperlich von der Erde „in den Himmel“ aufgestiegen sind – sei dahingestellt. Aber abgesehen von materialistischen Erklärungsversuchen steht hier wieder der Symbolgehalt: Die Seele (des Verstorbenen) so meinte man, wurde gerettet, sie steige demzufolge auf zum Himmel – andernfalls in die Hölle geschickt.


* Die Speisung der Fünftausend mit sehr wenigen Lebensmitteln

Auch hier möchte man als Laie versuchen abzuwägen: Ist es ein Ausdruck purer und leicht durchschaubarer Übertreibung in sehr freudiger, euphorischer Stimmung eines Erlebnisses oder ist es eher ein Gleichnis, das uns „im übertragenen Sinne“ sagen will: Das Volk dürstete nach der Verkündung der neuen Lehre, nach Verheißung des Heils mit dem Ziel der Erleichterung des irdischen Lebens. Der Hunger nach Zuspruch und der Wissensdurst so vieler wissbegierigen Menschen wurde gestillt – mit dem Inhalt der Rede. – Wissenschaftlich geklärt ist es wohl nicht.

* Die Geburt von Jesus durch Maria, der Ehefrau Josephs

Maria gebar ihr erstes Kind als junge Frau, (nicht als Jungfrau) so glaube ich es. Jesus als geistiger Sohn, als „Abgesandterdes Göttlichen, als der mit besonderen Fähigkeiten ausgestattete.

Das Symbol:Seht, hier entsteht ein außergewöhnliches, ein besonderes Leben, auch wenn Jesus ein Menschensohn und Gotteskind ist, wir es im Prinzip alle sind. Er wird den göttlichen Funken, der in jedem von uns wohnt, besonders stark in sich tragen und einen solchen bei Jenen, die es wollen, entfachen, damit wir ihm geistig / geistlich folgen mögen / können. Dazu wird er uns eine ganz neue frohe Botschaft verkünden / lehren – von Liebe, Vergebung und Frieden, was die bisher von den Menschen aufgeschriebenen Auffassungen zu den Lebensinhalten über Kampf („Auge um Auge, Zahn um Zahn“), Sieg / Niederlage und Strafe / Sühne / Höllenfeuer, Buße / Einkehr) für das entstehende Neue (später Christentum genannt) vollständig wandelnd ablösen soll. Er wird den Weg der Erlösung des Volkes und jedes einzelnen Menschen aufzeigen. Er wird heilen können – und solange die Menschen es wollten, ihr Bruder sein."


* Die Auferstehung nach dem irdischen Tod und das ewige Leben? – in einer anderen Form?

Das Weiterbestehen der Seele und auch der Kreislauf von Wiedergeburten wird in fast allen Kulturen (seit Jahrtausenden) diskutiert und beobachtet. Von vielen wird an diese geglaubt.

Es wurde uns überliefert, dass Jesus (drei Tage nach seinem Tode oder seinem Schein-Tode) als Auferstandener der Maria Magdalena erschien (wenn es diese konkrete Situation gegeben hat). Sie aber erkannte ihn vorerst nicht sicher / direkt / unmittelbar. Sie konnte / sollte ihn auch nicht berühren. Aber eine gewisse Erscheinung trat auf und eine Kommunikation war möglich, wird beschrieben. War seine anscheinende Leiblichkeit lediglich eine Erscheinung des Geistes oder der Seele? Die (anscheinende) Verkörperung aus Erwartung, aus einem Wunsch, aus der Sehnsucht der Maria Magdalena? Man soll es nicht ausschließen. Von mehreren Zeugen gibt es eine Bestätigung. Beispiele ähnlicher Begebenheiten jüngerer Art gelten als vielfach belegt. Trotzdem muss diesen Berichten niemand glauben, der es nicht möchte.


* Das Bestehen-bleiben von Seelen?

Wir kennen den Satz von der Erhaltung der Energie. Nichts an Energie geht verloren! Was ist die Materie? Eine kompakte Form der Energie. Bewusstsein ohne Körper? Wer war schon tot und darf behaupten: Wenn die lebende Materie gestorben ist gibt es absolut nichts mehr vom Menschen! Wir kennen nur die Eindrücke jener Menschen, die schon einmal an der Schwelle zum Tod standen aber wieder in das Leben zurück kamen. Wird unsere Seele danach etwas von der Weiter-Existenz wissen, nachdem der müde verbrauchte Körper abgelegt wurde? Eine Frage hoffenden Glaubens.

Es gibt allerdings besonders empfängliche Vermittler, medial veranlagte, sensitive Menschen, die an vielen und sehr eindrucksvollen Beispielen glaubhaft belegen können, dass eine Kommunikation mit den Seelen Verstorbener möglich ist.

Vielleicht gelingen der Wissenschaft riesige Fortschritte auf diesem Gebiet und sie kann uns dann mehr sagen als sie heute weiß.


Es wurde mir bewusst, dass es dem Pfarrer gar nicht möglich war, Antworten auf meine Fragen noch klarer dazulegen, es nicht möglich war, alles auf den Punkt, auf der Weisheit letzten Schluss zu bringen, es nicht möglich war und ist „des Pudels Kern“ für jedes Beispiel, von denen es in der Bibel ungezählte gibt, darzubieten.

Aber eben – auch meine Empfindungen und Gedanken aus dem Lauf der Zeit fließen hier bei dem Versuch der Wiedergabe mit ein. Des Pastoren Gedanken fanden zumindest teilweise eine Verbindung zu meinen Gedanken, auch wenn ich diese im voran stehenden Text anders, nur völlig laienhaft und mit Unsicherheiten in den Kenntnissen notiert habe.


Leider viel später erst werde ich erfahren, dass mein recht unabhängig denkender Großonkel, der Philologe Dr. Wernher Bauer einige der bekannten theologischen Texte nach eigenem Empfinden in eine neue und naturalistische Weise umgeschrieben und Teile davon auch vor einer Hörerschaft vorgetragen hatte, weil er wohl meinte, nicht nur die geschichtliche Entwicklung müsse beschrieben werden, sondern einmal Erfasstes müsse ebenso der weiteren menschlichen Entwicklung angepasst werden, um kraftvoll-verständlich zu bleiben. Vielleicht hatten die von ihm „modern“ gestalteten Texte nun sogar eine Inhaltsdarstellung, die sich mit den Naturwissenschaften vertrug. Einer der modernen Versuche, um Frieden in gegensätzliche erscheinende Weltanschauungen zu bringen. Leider hatte er mir nicht mehr den neuen Wortlaut seiner Bearbeitungen übermittelt – ich war gewiss noch „zu grün“.


Freundliche Jugendweihe-Werbung, ein weiterer Teil – ist deren letzte Etappe

Um meine Antrags-Unterschrift zur festlichen Weihe, zum Gelöbnis zu beschleunigen, wird von der Schulleitung, nach meiner Teilnahme an den beiden Jugendstunden, ein Elternbesuch geplant und durchgeführt. Die Schule ist in diesem Sinne ja nicht nur eine Stätte der Wissensvermittlung, sondern auch der verlängerte Arm der Partei, der SED, mit ihrem Jugendverband, der FDJ, im Gefolge. Zur fachlich-politisch begründeten Überzeugungsarbeit schließen sich nun also die Schuldirektorin Frau Wieland (SED), ihr Stellvertreter Herr Lüders (Block-CDU) und Herr Kleibier (SED) vom „Elternbeirat“, als freundlich überzeugend agitierende Aufklärer zusammen.

Ich als die Hauptperson für das Gespräch, der nun in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen werden soll, durfte „natürlich“ nicht zugegen sein, wurde quasi ausgeladen. Man wollte nun eben die Eltern agitieren und so musste ich im Nebenzimmer warten und konnte aber durch die Tür hören, jedoch nicht sehen, was gesprochen wurde. Ich dachte: Ob vielleicht mein von Frau Wieland eingezogenes Buch noch da ist, ob sie das mit ins Gespräch bringt oder gar zurück gibt? Einleitendes Geplänkel über dies und jenes, den stolzen Aufschwung und den kühnen Aufbau. Meine Mutter erwähnte, das Gespräch zum „Punkt“ führend, dass ich jetzt reif genug sei, kurz vor der Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen stünde und selber, allein entscheiden würde, ja entschieden habe – ob zuerst Jugendweihe oder zuerst Konfirmation. Bei uns seien innerfamiliäre Entscheidungen ohne äußeren Druck üblich.

– „Was für eine versteckte, indirekte, ungeheuerliche Unterstellung. Was für ein unausgesprochen deutlich anspielender Vergleich? Wir, wieso denn Druck? Was heißt hier innerfamiliär? Wo bleibt bei der Entscheidung der sozialistische Staat, dem die erste Stelle gebührt? In welcher Agitationsschule hat die Frau gelernt solche Bemerkungen wie ganz nebenbei einzubringen?“ – so etwa mögen die Genossen gedacht haben.

Mein Vater allerdings nannte klar einige Beispiele der staatlichen Restriktionen, Einschränkungen, der staatlichen Materialabschneidungen für ihn, den „Selbständig Gewerbetreibenden“, die sich existenzbedrohend auswirken und durchaus nicht von persönlicher Freiheit, schwunghaftem Aufbau und wachsender Wirtschaftskraft unter positiven Nutzung aller gesellschaftlichen Kräfte künden. Frau Wieland hatte zu bestehenden Tatsachen keinerlei Gegenargumente vorbereitet. Wahrscheinlich war ihr dieses tägliche Leben der anderen Menschen völlig unbekannt, sie hatte versäumt sich auf eine solche Situation pädagogisch vorzubereiten, versäumt, sich ein Bildungs- und Erziehungsziel dieser Lektion für meine Eltern auszuarbeiten und meinte nur: „Sie sind ja direkt verbittert in unserem schönen...“. Herr Lüders sprach indessen kein einziges Wort. Herr Kleibier wurde offenbar von einer Unruhe und Angst gepackt, dass das Gespräch trotz der geballten Kraft dieser Drei nicht nur fruchtlos enden würde, sondern auch noch völlig „aus dem Ruder“, in eine „schiefe Richtung“ laufen würde. Deshalb nahm er sich das Wort und rief erregt und laut: „Jugendweihe nächstes Jahr oder wie – oder ob überhaupt? Wenn Sie Ihren Sohn nicht jetzt zur Jugendweihe bringen, dann...dann... wer nicht jetzt mit uns geht, ist für den Krieg!“



Über das Denken und das Wissen:


...dann gibt es solche Leute, die nicht wissen,

die aber denken, dass sie wissen.

Diese sind gefährlich! Geh ihnen aus dem Weg!

– – –

Man soll alles im gesellschaftlichen Geschehen

so nehmen wie im privaten Leben:

ruhig, großzügig und mit einem milden Lächeln.


Rosa Luxemburg


– – –


Schön ist es für dich, Gedanken verfolgen zu können, Dinge zu tun,

die du möchtest, die du für gut und richtig hältst.

Manchmal bedarf es dagegen etwas Mut,

Gedanken, Dinge, oder Handlungen abzulehnen,

die andere Leute für dich wollen oder von dir fordern.


nach Gedanken der Amalia v. Wendingen



Ich sah vor meinem geistigen Auge in der „führenden Hand“ des Genossen Kleibier deutlich „den roten Holzhammer“ der Angst und der Dummheit, gepaart mit der Arroganz äußeren Machtanspruchs. Ich dachte mir: „Jetzt sitzt mein Vater mit hochrotem Kopf da und wird hoffentlich nicht gleich platzen“. Aber ich irrte mich. Er bemühte sich mit seiner starken Gehbehinderung zu Herrn Kleibier hin und sagte ziemlich leise, so dass ich es kaum verstehen konnte. „Ich habe deutlich verstanden, dass wir für einen Krieg seien. Wenn das Ihr Ausdruck des Führens zum wahren menschenfreundlichen Sozialismus ist, verlassen Sie jetzt bitte unsere Wohnung.“


Ich, im Nebenraum, dachte mir: „Das ist die Katastrophe. Wer einen fleißig und sehr aktiv in der DDR arbeitenden halbwüchsigen Schüler und dessen Eltern mit untadeliger Vergangenheit und ohne einen tatsächlich sachbezogenen Anlass als Kriegstreiber, als Kriegsvorbereiter bezeichnet, als jemanden, der für den Krieg ist, kann ein guter Sozialist nicht sein. Das kann ich nicht gutheißen. Der hat bei mir verspielt.“


Auch der Genosse Kleibier lebte tatsächlich in dem Wahn, dass persönliche Drohungen, Ängstigungen, Einschüchterungsversuche und geübte Beschimpfungen gute und geeignete Mittel seien, jemanden vom Agitatorenund von einer Sache, hier: der Sache des Sozialismus als hehres Ziel zu überzeugen – das war bezeichnend und nicht unüblich, keine Ausnahmeerscheinung. Weshalb merken diese studierten, allseitig sozialistisch gebildeten Menschen überhaupt nicht, dass doch gerade sie die Bremsen und Verhinderer für eine wahre harmonische demokratische Aufwärtsentwicklung darstellen und selber ungeeignet sind für diese Aufgaben des Führens, Leitens, Beratens und Bildens? Das sie es sind, die die Menschen aus dem Land treiben. – Ja eben, auch diese glauben. Sie glauben vielleicht das Beste für den weiteren Aufbau, für das Formen des sozialistischen Menschen zu tun, ohne sich die Frage zu stellen, geschweige diese zu beantworten, was das Beste für dieses oder jenes Individuum ist, was das Beste für die Menschengemeinschaft ist.

Zum Erinnern: Das offiziell erklärte Ziel dieser Genossen war einzig und allein das Heranbilden und Weihen des „freien deutschen Jugendlichen mit sozialistischem Antlitz“. Eines wurde wieder überdeutlich klar: Gerade diese Sorte von Leuten, die ständig laut vom Kampf für den Frieden und die Freiheit reden – gerade die säen oft Unfrieden und sorgen mit Druck oder Zwang für Unfreiheit.

Dieses Einfache kann ich, als 14-jähriger Schüler, ihnen aber nicht beibringen. Zumindest bat ich inständig alle guten Mächte darum, dass ich im Verlaufe meines Alterungsprozesses nicht eben so verbogen und dumm werden möge – und dazu will ich auch gern aktiv mein Teil beitragen.

Es gab kein bemerkenswertes Abschiedszeremoniell. Als die Besucher an mir vorbei gingen, wurde ich, als „die Hauptperson“ um die es ja eigentlich ging, kaum beachtet. Von dem eingezogenen Buch war keine Rede. Die drei gingen recht schnell. Ergebnislos.

Und ich hatte mich geirrt: Mein Vater sah ungewohnt sehr blass aus.


Neulich erst wurde ich vom Genossen Lehrer Kuleschir als „schon immer ein guter Sozialist“ bezeichnet. So war ich, jener, der ständig aktiv in der Schule rackert, für einige Tage ein vorbildlicher Pionier, ein Aushängeschild gesellschaftlich positiver Leistungen.

Einige Zeit später, also heute, sind meine Eltern und ich als „Kriegstreiber“ erkannt. Entlarvt. So schnell ändern sich die gefestigten Ansichten von führenden Vertretern der Arbeiterklasse im Sozialismus. Man muss eben flexibel sein. Ja, und dabei mit wachem, ruhigen Verstand agieren, zumindest versuchen selber mit Vernunft zu reagieren.

Ich bedachte in meiner Jugendlichkeit allerdings nicht, dass dieses dreiköpfige sozialistische Agitatoren- und Pädagogenkollektiv die Erfüllung ihres „Soll“ vor dem in der Hierarchie nächst höheren Parteimenschen zu vertreten, Rechenschaft abzulegen hatte und eventuell deshalb „zum momentan Äußersten“ gegriffen hatte, um ihr Ziel damit sicher zu erreichen. Vielleicht denke ich aber zu weit und es war einfach nur die Sorge, dass eine in Aussicht gestellte oder zumindest erwartete Prämie, eine Kopfprämie, entschwinden könnte? – Ich weiß es nicht.

Zumindest ist es doch sonst auch meist so einfach mit den jungen Leuten: Man sagt jemandem der unschlüssig scheint oder sich gar sträubt: „Also Jugendfreund, wenn du auf die Erweiterte Oberschule willst, um das Abitur abzulegen oder wenn du später sogar mal studieren willst, ..., hoho, na dann“ ... da sprangen doch gleich die meisten, die ein solches Ziel sahen. Warum denn aber so ängstlich und beflissen? Einfach, weil als junger Mensch bereits gewaltsam verbogen und lieber ganz anders gedacht, als dann gemacht und schon gelogen. Steht das nicht sogar in völligem Gegensatz, im Widerspruch zum Ehrenkodex der Pioniergebote und dem der FDJ?


Was hat dieser natürliche Prozess des Reifens, den irgendwie jeder junge Mensch auf dieser Erde durchläuft, mit einer Forderung zu einem unkritischen Gelöbnis auf die Art der politischen Denk- und Handlungsweise einiger zeitweilig / momentan führenden älteren Männer, ja, mit einem Gelöbnis sogar global auf deren schwerwiegende Fehler in schwierigen Jahren zu tun? Das auch noch unter einem politischem Druck, ja, mit kriminalisierender Ansprache – „Wenn du nicht sofort tust was wir fordern, Freundchen – dann bist du unser Feind!!!“ – Eine etwas sehr seltsame Art „freundlich werbender Einladung“, denkt man sich als noch unfertiger junger Mensch.

Das Ziel, das greifbar geformt werden soll, ist: Ein Freier Deutscher Jugendlicher!!! Wie stolz das klingt. Aber wieso soll und muss dieser auch beispielsweise sinngemäß und zwangsweise dabei geloben, dass er die „Kampfreserve der SED“ sein will und wird? Die „Reserve“, in freier Nachfolge dieser Leute, die uns eben zutiefst beschimpften ... und gar vieles mehr? Ich finde eine „günstige“ Antwort dazu nicht in meinem Gewissen und Wollen!

Da kann ich das Nachkriegs-Weltjugendlied nennen, welches zum

Ausdruck bringt, dass es eher die Freundschaft ist, die siegen wird!


Ich sprach darüber mit meiner resoluten Tante Käte. Sie sammelte ihre Gedanken einen Moment und sagte nur kurz: „Ach Christoph, lass' die Heiden toben – Du gehst aufrecht Deinen richtigen Weg“. – Auch diese kurzen Worte zu jenem langen Vorgang unterstützten mich sehr in meinem Bekenntnis:



Wir tuen recht und scheuen Niemanden!“


(Und auch das war wirklich nicht jedem recht.)



Es gab nie eine Entschuldigung dieses Dreier-Agitations-und-Propaganda-Gespanns für jenen „Ausrutscher“. Ich hoffte dieses Ereignis als einen solchen werten zu dürfen.

Diese Überzeuger-Gruppe hat mich sozusagen fest in die pastörlichen Arme geschoben. Diese studierten Schulleute haben das wohl überhaupt nicht begriffen, in ihrer Lebenszeit wohl nie verstanden. Dafür waren sie zu sehr von sich selbst, von der Schönheit ihrer Ansichten, vom Anschein den eigenen Leistungen überzeugt.

Es stellte sich später heraus, dass von der Schule / vom Staat überhaupt kein Interesse mehr daran bestand, mich ein Jahr später zum Jugendlichen zu weihen. Der Druck-Termin war ja vorbei. So lebte ich staatlich-ungeweiht weiter. Auch zur Freien Deutschen Jugend (FDJ) hat man mich nicht mehr gebeten. „Eine gewisse politische Grundunzuverlässigkeit“ meiner friedliebenden Kriegstreiber-Person wurde da wohl postuliert, ich mit einem kleinen, dauerhaften Stigma gekennzeichnet.


Was lehrte mich dieser Auftritt der Hohen-Dreier-Gruppe? Im Grunde ging es also gar nicht darum zu schauen, ob der heranwachsende Jugendliche die Reife zur Weihe hatte. Es ging nicht darum, was er, als Hauptperson, sich wünschte. Es ging nicht darum, was seine leiblich Nächsten, was die Eltern dachten. Es ging ausschließlich darum: Die Zeit ist (nach Geburtsdatum oder nach „Klassensatz“) reif für das uneingeschränkte Gelöbnis der unkritischen Treue zur aktuellen Politik des Staates und seiner führenden Partei. Der Machtanspruch war zu festigen und durchzusetzen! Und was passiert da? Kommt doch da plötzlich solch ein junges Menschlein und spricht: „Hoppla, Moment mal, es geht um mein Leben – da möchte ich doch gern noch etwas über das Was und Wie und Wann mitentscheiden“. Hat die Welt so 'was schon mal gesehen? Unerhört. Kriegstreiber!


Eines der bei der Jugendweihe für die anderen Mitschüler ausgegebenen Bücher „Weltall – Erde – Mensch“ las ich trotzdem. Natürlich.

Es hat mir alles nichts geschadet – mich nur schneller positiv reifen lassen. Das gehörte zum Erfolg jenes „Erziehungsbeitrages“. Ich vertraue meinem eigenen und wohl eher weniger verbogenen Gespür und handle im Wesentlichen nach meinen Erkenntnissen, nach meinem Willen. Ich vertraue meiner eigenen und hoffentlich gesunden Gestaltungskraft. Keine Werbung oder Drohung hat mich je daran gehindert.

Ich habe später trotzdem weiterführende Schulen besucht, auch habe ich mich in mehreren Fernstudiengängen weitergebildet, mein gesamtes Leben lang gelernt und dabei viel gewonnen.


Am 15. Mai 1960 findet meine Konfirmation statt. Ich bin in der Gruppe der Konfirmanden der Einzige meines Jahrgangs, die anderen sind älter. Ein festlicher Tag. Ich habe nichts versäumt.

Komisch: Ich bin trotz alledem völlig unspektakulär in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen worden. Mit Pflichten und Rechten – allein schon wegen des Abfallens der Blätter vom Kalender.


Der Alltag in der Schule verlief so, als hätte überhaupt nie solch ein Gespräch stattgefunden.

Ich dache mir, wenn ich mal Kinder habe, dann soll es, wenn sie 14 sind, eine familiäre Feier sein, ein Gedenken an das geistige und körperliche Reifen, an die Übernahme von mehr Verantwortung, vielleicht schon mit Gedanken zu den Vorstellungen an eine künftige berufliche Tätigkeit versehen, zu der man sich hingezogen fühlt. Heranziehen der Gedanken von Geistesgrößen, die dazu schon gescheiteres gesagt hatten, als ich es zu formulieren in der Lage bin.

Späterer Nachtrag: Genau so haben wir es als Eltern gehalten! Und das ging ganz ausgezeichnet!


Wie schön ist doch unsere DDR-Nationalhymne denke ich beim Lesen und singen.

Schade, wenn die Worte anders aussehen, als die ausgeübte Praxis es lehrt.

Hier ist deren dritter Vers oder die dritte Strophe:



Lasst uns pflügen, lasst und bauen, lernt und schafft wie nie zuvor,

und der eignen Kraft vertrauend, steigt ein frei Geschlecht empor.

Deutsche Jugend, bestes Streben, uns'res Volks in dir vereint,

wirst du Deutschland neues Leben,

und die Sonne schön wie nie II: über Deutschland scheint. :II


Text: Johannes Robert Becher (* München 1891 bis † Berlin, DDR 1958)

Melodie: (Johannes) Hanns Eisler (* Leipzig 1898 bis † Berlin, DDR 1962)



Den Vorgang der Jugendweihe-Werbung habe ich so ausführlich geschildert, weil er für mich ein zwar kurzes aber doch ein einschneidendes Erleben war., was mich auch prägte. Es hat mich jedoch keinesfalls „bockig“ gemacht. Der „Kriegstreiber“ wird mir gegenüber nicht wiederholt. Von der Direktorin nicht und von ihrem Stellvertreter schon gar nicht. Vielleicht hat ihnen das nicht vorher abgestimmte Vorpreschen des Genossen Kleibier auch nicht so sehr gut gefallen? Ich werde es nie erfahren. Nun, er ist kein Pädagoge. Er ist ein menschlich Kleiner, Unbeherrschter, wenn auch vielleicht ein Großer in seiner Arbeitsstelle, der Druckerei der „Märkischen Volksstimme“, dem „Presse-Organ“ der SED.

Werde ich es nie erfahren? – Mein Zweifel wird gestillt. Ich erlebe das, was man so einen zwar bestätigenden, wenn auch etwas hinkenden Vergleich nennt. Unter der ersten Septemberwoche dieses Jahres (also weiter unten) werde ich es notieren. Dann weiß ich es erneut ganz aktuell: Nicht nur der Genosse Kleibier versucht Menschen ohne einen tatsächlichen Grund in unwürdiger Art klein zu machen. Die hochstudierte Pädagogin, die Schulleiterin tut es genauso ... und Tausende und Abertausende anderer Kleingeister ebenfalls ... werde ich erst später wissen.

Wir werden erfahren, dass jene Genossen versuchen, ihre Ziele gegen normale, fleißige, vernunftbegabte Bürger selbst mit krimineller Energie durchzusetzen, obwohl das objektiv gesehen, überhaupt „nicht nötig“ wäre, ja sogar kontraproduktiv wirkt! Die Staatsführung, die leitenden Köpfe der führenden Partei begreifen das nicht, weil nur sie sich im Recht sehen. –

Jeder aus seiner Sicht, wird diese bestehenden Verhältnisse völlig unterschiedlich bewerten.



Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten.

Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Es bleibet dabei:

Die Gedanken sind frei.


Ich denke, was ich will und was mich erquicket. Und das in der Still und wenn es sich schicket.

Mein Wunsch und Begehren kann niemand mir wehren, wer weiß, was es sei?

Die Gedanken sind frei.


Ja fesselt man mich in finstrem Kerker, so sind das doch nur vergebliche Werke.

Denn meine Gedanken, zerreißen die Schranken und Mauern entzwei.

Die Gedanken sind frei.


Ich liebe den Wein, die Mädchen vor allem, und dies' tut mir allein am besten gefallen.

Ich sitz nicht alleine bei einem Glas Weine, mein Mädchen dabei.

Die Gedanken sind frei.


Text: 18. Jahrhundert, Melodie um 1815



Wir alle sollen kämpfen. In der Schule den harten Kampf für Frieden und Sozialismus, in der evangelischen Gemeinschaft – den guten „Kampf“ des Glaubens und der Friedfertigkeit.

Und ich? Ich starte meine nächste „Große Initiative“. Ich kämpfe im Moment auch noch gegen Hugo Leichtsinn.


Mein Kampf gegen Hugo Leichtsinn

Meine Mutter fragt besorgt: „Junge ist das nicht zuviel? Damals mit den Jungen Sanitätern ließ es sich ja gut an. Dazu die Essen- und Milchgeldkassierung, die Kaninchen der Schule täglich und ganztags, die eigentliche Schul-Unterrichtszeit halbtags, Schularbeiten, häusliche Aufgaben, Redakteur der Wandzeitung im Gruppenrat, manchmal Unterstützung für die Gestaltung von Nachmittagen anderer Klassen und jetzt auch noch ... Du solltest vielleicht nicht so viel in der Schule machen, Du weißt doch, Du solltest mehr für die Schule tun. Denk mal vor allem an Mathe und auch in Russisch könntest Du mehr üben ... denk auch mal an die spätere Bewerbung für eine Lehrstelle.“

Ich erwidere: „Na, na, es ist ja nicht alles zeitgleich. Die Sanitäter sind ja schon lange ausgelaufen und das Milchgeld gebe ich zum Schuljahreswechsel an einen Jüngeren ab. – Ja, ja, alles klar – aber erst mal das Wichtigste und Interessanteste.“ Natürlich hat Mutti recht. Ich sollte mehr tun. Ich gehöre durchaus nicht zu den Schülern mit Spitzenzensuren. Ich schwimme im Mittelfeld. Aber ach – große begründende Ausrede: Ich sehe eben nicht Spitzenzensuren als wichtig an, sondern die gesamte Schule und das pralle Leben in meiner Gegenwart.


Und es ist so: Es verunglücken immer wieder Kinder bei Unfällen im Straßenverkehr und in der sozialistischen Tagespresse lese ich regelmäßig die Notizen: „Was sonst noch geschah“ und die Beiträge über „Hugo Leichtsinn“. Das ist entweder ein Verkehrsrowdy oder manchmal ist er auch nur sträflich nachlässig – menschlich oder technisch oder unaufmerksam, abgelenkt. Da muss man 'was tun, einfach ein Beispiel geben. Vielleicht schließen sich sogar andere Schulen an.

Dieses Thema habe ich gerade als einen der Artikel für die Wandzeitung gewählt. Natürlich reicht das nicht im Sinne einer aktuell politische Rundschau. Ich habe es aber immerhin mit einer weiteren hohen Selbstverpflichtung gewürzt. Ich rege an, in der Schule einen „Zirkel zur Verkehrserziehung“ für jüngere Schüler zu gründen. Und die Lehrkraft dazu bringe ich gleich wieder mit: Ich bereite mich doch auf die Mopedprüfung vor. Ich bin zwar erst 14 geworden aber Vaters Behinderten-Dreiradfahrzeug versagt ab und zu und er kann es dann allein nicht in jeder Situation im Straßenverkehr ... kurz, Vati stellte einen schriftlichen Antrag an die Genossen des Volkspolizei-Kreisamtes Potsdam, ob ich nicht ausnahmsweise schon vor dem regulären Alter ... denn er (der Vater) – brauche mich dringend als Begleiter. Die Sicherheit im Straßenverkehr ... erfordere dieses.

Der Leiter des Volkspolizeikreisamtes (VPKA) antwortete, das sei nicht üblich, kaum verantwortbar und es gäbe schließlich bindende gesetzliche Regelungen ... aber der Sohn solle mal mit dem Moped dann und dann vorbeikommen. Schieben!!! Und dann werde man sehen. Und man sah. Man sah eine strenge Sonderprüfung seitens zweier freundlicher weißbemützter Genossen Volks-Verkehrs-Polizisten. Ich hatte

1. Eine Reihe von Fragen zur Straßenverkehrsordnung zu beantworten. Das war recht nett.

2. Dann ging es zu den Vorfahrtsproblemen („an den Sandkasten“) mit kleinen Autos auf Straßen.

Das rollte zügig und fehlerfrei.

3. Es waren dann mit dem noch ungewohnten Moped (SR 1) einige Kreise und Achten zu

rollen („wo hast du das geübt, he?“) und

4. hätte ich ihnen noch gern Vergaser und Auspuff zerlegt und dann wieder zusammengesetzt, doch das wollten sie nicht mehr. Strahlend kam ich also mit dem Moped-Berechtigungsschein zurück gefahren, mit der Mini-Fahrerlaubnis. Viel später wird man wieder Führerschein sagen, als der Begriff nicht mehr so stark politisch-ideologisch belastet scheint. Ich habe diesen, meinen persönlich-sozialistischen Plan reichlich vorfristig erfüllen dürfen. Nun will ich das Wissen nicht nur für mich behalten, sondern mache in der Schule nebenbei Verkehrserziehung, in der Hoffnung, dass weniger Kinder unter die Räder kommen. Eine Landschaftsplatte mit allen möglichen Straßensituationen habe ich mir schon vorbereitet – auch mit einem Bach, der Eisenbahnstrecke und dem Bahnübergang, mit grünen Wiesen (alles mit Leim und eingefärbten Sägespänen gestaltet, sowie mit Häuschen von der elektrischen Eisenbahn). Es wirkt daher nicht so nüchtern-amtlich und nicht nur aufgemalt, wie bei der Polizei. Aber auch dort war es sachlich und gut.

Und auch diese neue Aufgabe des Verkehrsunterrichts macht mir Freude. Wir beschäftigen uns „im Zirkel“ mit unserem Verhalten gemäß den Feinheiten der Straßenverkehrsordnung. Wir bauen auf dem Schulhof einen kleinen Parcours für das Fahrrad-Geschicklichkeitsfahren auf mit Kreisen, Slalomstrecke, Spurrinne, Einhandfahren mit Wasserbecher (ohne Ausschwappen des Inhalts) und mit einer Wippe. Die Schüler können auch ihre Fahrräder mitbringen, damit wir sie gemeinsam auf technische Sicherheit prüfen und zusammen Kleinreparaturen durchführen. Die Erste medizinische Hilfe binde ich immer wieder mit ein und mit diesem Programm unterstütze ich auch mal in Gruppennachmittagen anderer Klassen.


Warum, frage ich mich nur, muss man den sozialistischen Lehrern alles fachlich-spannende aufdrängen, fertig-mundgerecht präsentieren, obwohl es doch gerade die Genossen sind, die so große markige Worte hören lassen. Das Einzige hier sichtbare was von ihnen kam, war die Sache mit den Kaninchen – aber auch nur, weil der Befehl oder die Anregung der Partei von oben als Druck kam und einige Schüler unten bereitwillig waren, kostenlos alle Arbeiten zu erledigen.


Ausflug nach Blankensee am blanken See

Noch im April hat Herr Gnerlich für uns eine Fahrradfahrt in die Jugendherberge Blankensee organisiert. Der Ort liegt etwas nördlich einer gedachten Linie zwischen Beelitz und Trebbin. Man kann ihn gut über Rehbrücke, Saarmund und Tremsdorf erreichen. Der Blankensee ist etwa 3 km² oder 300 Hektar groß. Es ist ein Verlandungs-See, der nur eine Tiefe von 1,5 bis 2,0 m aufweist. Leider kann man darin nicht baden. Viele heimische Vögel leben am See aber auch Zugvögel finden hier einen geplanten Rast-Aufenthalt. Das Flüsschen Nieplitz durchquert den See aber man kann ihm dabei nicht zuschauen, ihn nicht sehen. Wir besuchen das Bauernmuseum mit seiner historischen Inneneinrichtung und einigen landwirtschaftlichen Geräten sowie die alte Schmiede. Der Ursprung der Kirche reicht bis in das 14. Jahrhundert zurück. In Schloss und Park wohnte der Schriftsteller Sudermann. Auch diesen Park hat Peter Joseph Lenné gestaltet. Wir übernachten in der Jugendherberge. Ich dachte eher an das Schlafen im Heu aber wir sind in Zwei-Bett-Zimmern ganz vornehm untergebracht.

Es ist ein prima Ausflug, der letzte gemeinsame, denn unsere Klasse wird sich Anfang Juli, zu Beginn der Großen Ferien aufgliedern. Vier Mitschüler gehen auf die EOS, auf die Erweiterte Oberschule, die zum Abitur führt. Ein Schüler verlässt uns mit dem Ende des achten Schuljahres, weil er ab September Landwirt lernen möchte und dort sowieso gleich wieder zur Berufsschule geht. Der Rest bleibt zusammen weiter auf der Schule 17. In der Parallelklasse ist es vergleichbar. Ab September werden die entstandenen Schüler-Lücken erstmals planmäßig mit Mädchen aufgefüllt, so auch für die jetzigen, bereits „schmaleren“ 9. Klassen, die dann im September das 10. Schuljahr beginnen.


Meine Schwester und ich mieten uns für einige Stunden mal wieder ein Paddelboot in der Potsdamer Burgstraße. Die Grundstücke führen bis zum Wasser hinunter, bis zur „Alten Fahrt“, dem älteren der beiden „Havelarme“, welche die Freundschaftsinsel umschließen. Die Häuser der Burgstraße sind nach den Bombentreffern vom 14. April 1945, 15 Jahre ist das jetzt her, zum Teil unbewohnt, sind teilweise Ruinen, aber die Paddelboote, die vermietet werden, sind in Ordnung.


Große Ferien – Schierke im Harz

Im August halten wir uns in Schierke im Harz auf. Ach, wie ist unsere Heimat doch schön!

Wir, das sind aber nur ein Teil unserer Familie, das sind Vati, meine Schwester und ich. Wir dürfen zwei Wochen im Handwerker-Erholungsheim in Schierke verbringen, weil der Familien-Kleinstbetrieb unserer Eltern als Handwerksbetrieb mitgezählt werden kann.

Vati hat die Hälfte seines 60. Lebensjahres überschritten. Meine Schwester ist 17½ Jahre jung.

Ich habe das 8. Schuljahr am Anfang des vorigen Monats vollendet und bin 14½ Jahre alt.

Somit haben Vati und meine Schwestern Urlaubszeit, ich aber bin in den Großen Ferien.

Nur Mutti kann leider nicht mitfahren. Sie muss zu Hause bleiben und führt inzwischen in Babelsberg das Geschäft und den Haushalt ganz alleine weiter – ohne Erholung.

Sie hat aber unseren Jüngsten, zur Unterhaltung und als tüchtige Hilfe. Er hat gerade die Kindergartenzeit zurückgelegt und freut sich schon gespannt auf das erste Schuljahr.


Mutti war auch in Schierke zur Erholung – allerdings im Jahr 1928, als sie etwa so alt war wie ich jetzt, mit ihrer Mutter Margarete, ihrer Tante Johanna Seehafer, ihrem Vater Max und ihrer jugendlich-gleichaltrigen Potsdamer Freundin Annemarie („Mausel“) Muster, der Tochter ihres Tauf-Patenonkels, des Architekten Paul Muster. Gern hätte sie den Ort noch einmal gesehen und sich bestimmt an viele Einzelheiten des damaligen Aufenthaltes erinnert. Aber über ihr in-Babelsberg-bleiben-müssen klagt sie nicht. Wir aber sollen statt ihrer nachschauen, ob die damalige Pension „Waldesruh“ der Wirtsleute Massow heute noch steht und ob in der Bode noch der große „Sofastein“ liegt, auf dem die damaligen Mädels sich gerne aalten und auch ein Erinnerungsfoto knipsten. Zumindest werden wir ihr schon mal per Post und dann nach unserer Rückkehr, über alles ganz genau berichten, vielleicht sogar bildlich vorführen können.


Der 1. Urlaubs- und Ferientag

Unsere Fahrt in den Urlaubsort ist „nicht so ganz ohne“, denn außer unseren zwei großen Koffern und der Ein-, Um- und Aussteigehilfe für Vati, haben wir ja in Potsdam, Magdeburg, Halberstadt, Wernigerode und Schierke auch immer den „Selbstfahrer“, den langen Rollstuhl mit dem schweren Stahlrohrrahmen, fix in den Gepäckwagen des Zuges zu bugsieren, bzw. beim Aussteigen schnell wieder in Empfang zu nehmen, weil die Bahnen bei unserem Umsteigen auf den Bahnhöfen, nicht lange halten. Wir aber sind ja verhältnismäßig gut aufeinander eingespielt, so dass alles klappt.

Aber ein Kunststück ist das wohl sowieso nicht. Zu den zurückliegenden Kuraufenthalten von Vati hatte Mutti das mit Unterstützung der guten Leute von der Bahn alleine zu bewältigen. Und auch das schaffte sie.

Also, bei uns fing es damit an, dass wir diesen Selbstfahrer halb rollend, halb tragend die Treppe zur S-Bahn des Bahnhofs Babelsberg hochwuchteten. Das sind 36 Stufen, zwischendurch mit 2 Absätzen „zum Erholen“, um von Höhenniveau der Straße auf die Bahnsteighöhe von 5,40 m zu kommen.


Ich notiere euch mal unseren Fahrplan, damit ihr unseren Weg kennenlernt: Die Verbindung war ja aus dem Kursbuch schnell herauszulesen und ein freundlicher Bahnangestellter half mir dabei:


Bahnhof

Zugart

ab / an

Fahrzeit (min.)

Entfernung (km)

Bf Babelsberg

S-Bahn

08.10



Bf Potsdam Hbf


08.13

3

3






Bf Potsdam Hbf

D-Zug

08.38



Bf Magdeburg Hbf


10.00

82

125






Bf Magdeburg Hbf

Beschleun.

Pers.-zug

10.26



Bf Halberstadt

10.56

30

60






Bf Halberstadt

Eil-Zug

11.03



Bf Wernigerode


11.17

14

22






Bf Wernigerode

Pers.-Zug

11.40



Bf Schierke


12.41

61

23


Reisezeit:

4 Stunden u. 31 Minuten

Reine Fahrzeiten:

3 Stunden u. 10 Min.

Reiseweglänge: 230 km


Am Fahrplan erkennt ihr schon, dass der erste Ferientag, bezogen auf den Urlaubsort, eigentlich nur ein halber Tag ist.


Zur Erläuterung: Diesen Fahrplan schätzte ich erst im Jahre 2011 nach üblichen Fahrzeiten. Die Entfernungen sind etwa gleich geblieben. S-Bahn ist die elektrische Schnell- oder Stadtbahn – hier auf der Strecke zwischen Berlin und Potsdam. Der D-Zug ist eine schnelle Durchgangsbahn, die nur auf wenigen Hauptstationen hält. Für den D-Zug wird ein Fahrkarten-Preiszuschlag von 3,- DDR-Mark erhoben. Der beschleunigte Personenzug hält nicht auf allen Unterwegsbahnhöfen – ähnlich wie der noch etwas schnellere Eilzug, für den ein Kostenzuschlag von 1,50 DDR-Mark erhoben wird (bei uns ist er aber im D-Zug-Preis bereits enthalten). Der Personenzug ist der langsamste. Er hält auf jedem Bahnhof. Der Reisekilometer kostet 8 Pfennige in unserer 2. Klasse. Für die Fahrt in der 1. Klasse wären 11 Pfennige pro km zu entrichten. Wir bezahlen also etwa 21,40 Mark je Person (230 km x 0,8 Mark / km = 18,40 M zuzüglich 3,00 Mark D-Zug-Zuschlag).


Die Fahrzeit verging schnell – wir spielten „Stadt-Land“ und „Käsekästchen“ sowie „Onkel Otto plätschert ...“, betrachteten die besonnte, erntereife Sommerlandschaft und achteten natürlich darauf, das wir uns jeweils rechtzeitig auf das Umsteigen vorbereiteten. Ich hatte ja zur Konfirmation von den Eltern eine Armbanduhr geschenkt bekommen, in Glashütte hergestellt.


Am Zielbahnhof angekommen. Auf dem Wege vom Bahnhof Schierke zum Ort, auf dem es stets abwärts geht, werden dann die Bremsen des Selbstfahrers glühend heiß und irgendetwas verzieht sich am Fahrzeug und schleift – eine Begleitmusik, dem Zirpen einer Grille ähnlich. Vom Bahnhof bis zum Ortsbeginn sind es etwa 1,25 km und von dort aus bis zum Heim in der Dorfstraße nochmals etwa 1,14 km. Könnten wir vom Bahnhof aus wie die Vögel oder die Brocken-Hexen, die Luftlinie zum Erholungsheim wählen oder zumindest den steilen, für uns aber zu schmalen Waldpfad, dann wären wir bereits nach 670 m am Ziel. So aber, wie es ist, ist unser Weg 3,6 x so weit. Insgesamt legen wir, den größeren Koffer quer auf dem Selbstfahrer-Rahmen liegend, den abwärts führenden Weg recht zügig zurück. Einmal fragen wir sicherheitshalber zwischendurch nach dem Weg, um mit dem Gepäck nicht etwa einen Umweg zu riskieren.

Das Erholungsheim für die Handwerker steht in Unterschierke, im tiefer liegenden Süden, in der Dorfstraße 9. Unterschierke ist nur ein Teil des Ortes, aber wohl schon seit Ausgang des Mittelalters die Dorfmitte, denn hier standen auch schon immer die Kirchen. Zurzeit die dritte der nachweisbaren Bauten solcher Art.

Das Handwerker-Erholungsheim war früher das private Hotel der Familie Hoppe. Heute gehört es der Handwerkskammer Potsdam und scheint uns schon deshalb von weitem ein bisschen vertraut. Viele der Erholungssuchenden kommen deshalb auch aus dem Bezirk Potsdam. Es war wohl nicht leicht, diesen Urlaubsplatz zu erhalten, denn die Urlauber müssen „zuverlässige und ehrliche Menschen“ sein, weil der Ort Schierke im Grenzgebiet liegt. Bis an die Grenze zur BRD ist es nicht weit. Braunlage ist der naheste West-Ort und sogar der Brocken ist ja „geteilt“, also „begrenzt“ kann man sagen und wird so zur doppelten Freude – für die West- und die Ostdeutschen, gemeinsam getrennt. Der gesamte Gipfel gehört aber ausschließlich zur DDR. Wieso wir den Urlaubsplatz trotzdem bekommen haben, nach diesem schwierigen Schuljahr – hatte denn niemand Sorge, dass wir mit dem Versehrten-Rollstuhl eventuell die DDR-Staatsgrenze anschubsend verletzen oder gar durchbrechen könnten? Aber solche trüben Gedanken quälen uns hier nicht so sehr. Vielleicht wechselten die Informationen nicht zu schnell und nicht so sehr hin und her. Wer weiß dazu mehr?


Bei der Ankunft mahnt oder ermuntert ein großes Transplakat an der Fassade des Heims alle Erholungssuchenden mit der Losung: „Vorwärts zu neuen Erfolgen im 2. Fünfjahrplan“.

Ja, nun, gewiss, was denn sonst? Sind wir nicht deshalb extra hierher gekommen?

Im Hause bekommen wir in der Etage über dem Hochparterre, also über der Club-Veranda und dem Kultur-Speisesaal, links am Ende des langen, breiten Ganges und somit ganz außen, ein hinreichend großes, zweckmäßig eingerichtetes Zimmer mit drei Betten, Nachttischen, Schrank und dem Tisch mit Stühlen. Alles Wesentliche ist vorhanden. Es ist freundlich, sauber und das Schönste: Ein großer Eck-Balkon. Vom Balkon aus blicken wir in das Elendstal, auf Bäume (das ist aber heutzutage gar nicht so schlimm, wie es sich anhört – ich schreibe später noch etwas Beruhigendes dazu) ... auf Bäume also, zwischen denen sich die schmale Bode (dieses Flüsschen) schlängelt – vielleicht 70 bis 80 m vor uns, aber von den Baumkronen überkront.


Die Feriengäste treffen nach und nach im Heim ein. Wir gegen 13.20 Uhr. Deshalb gibt es heute noch kein gemeinsames Essen und jeder kann dort Platz nehmen, wo er möchte und nach längerer Reise gleich mit dem Essen beginnen. Erst morgen werden wir platziert, wie es sich gehört. Weil sich eine andere aufwändigere Mahlzeit ungünstig zu allen möglichen Zeiten der Ankunft servieren ließe, gibt es zur Begrüßung eine kräftigende Brühnudelsuppe mit Weißbrotscheiben, so viel wie jeder essen möchte und ein Schälchen Obstkompott. Diese Verfahrensweise ist mir aus den Kindererholungsheimen in denen ich sein durfte, vertraut.


Ein Radio gibt es nicht im Zimmer aber wir (also Vati nicht) summen oder trällern auch mal die gängigen Melodien, die zu Hause mittwochs die „Schlager der Woche“ von und mit Fred Ignor bringen. Dazu gehören beispielsweise: – Ach nein, ich merke schon beim Zusammenkritzeln – das wird jetzt zu lang. Ich weiß es aber schon – wir brauchen nicht ganz dringend ein fremdes Radio für unsere eigene Musik.

Nun ist das Auspacken der Koffer angesagt und bei den ersten Mahlzeiten heißt es, die anderen Handwerksleute in der Umgebung unseres künftigen Stammplatzes „zu beschnuppern“. Ob denn viele vom Alltag mit Sägemehl bestaubte Tischler, wettergegerbte Zimmerer in schwarzen, perlmuttknopfbesetzten Cordanzügen und Hut, Maurer mit ausgearbeiteten schwieligen Händen und Schmiede, so stark wie Bären aussehend, darunter sind?


Der 2. Tag

Schierke liegt auf etwa 580 bis 640 m Höhe über dem Meeresspiegel N. N. (Normal Null). Das ist keine ungefähre Angabe, sondern sie will uns zeigen, dass es im Ort sehr bergauf und bergab geht. Die Gesamtlänge des Dorfes mag reichlich 3 km betragen. Im Ort leben ungefähr 600 Einwohner. Viel mehr Platz und in größeren Häusern ist aber für Urlaubsgäste vorgesehen, die in ihrer Anzahl die Einwohner um ein Mehrfaches übertreffen.

Im Jahre 1590 wurde der Name des Ortes erstmals in den alten, also damals neuen Urkunden erwähnt – allerdings noch nicht als Urlaubsort.

Recht schnell merken wir, dass nur die Gäste „Schierke“ sagen. In der Harzer Mundart wird der Ortsname „Schirrke“, also ordentlich gesprochen. Das hat aber nichts mit Geschirr, nichts mit Ski (Schier) und Rodel zu tun, denn der Ortsname bedeutet „Blankes Holz“. Warum – fragen wir uns, denn die gesunden Bäume sind nicht blank, sondern besitzen eine Rinde, die auch meist rau ist. Häufig sind das wohl Fichten. Zumindest heute. Es besteht ein Harzer Urwald heut' nicht mehr. Aber vielleicht haben sich auch nur die sprachforschenden Wissenschaftler ein bisschen geirrt und ein sehr ähnliches Wort bedeutet 'was ganz anderes? Ich werde mal unseren darin bewanderten Großonkel, den Philologen, Sprachforscher und Volksbuchwart, Dr. Wernher Bauer, zu seiner Meinung befragen.


Wir wollen den Ort und die Umgebung möglichst gut erkunden, zumindest soweit, wie wir mit Vatis Selbstfahrer kommen, denn wir wollen und können ihn ja nicht im Erholungsheim sitzen lassen und dann nur allein wie die Gemsen oder Steinböcke .... das wäre nicht die Erholung.

Erkunden, ja, mit den Augen, denn eine günstige und wirklichkeitsgetreue Karte der Umgebung gibt es nicht – hier für die Wege im Grenzgebiet. Eine genaue Wanderkarte könnte ja zum Fluchthelfer in Richtung BRD werden. Zugelassen ist unsere übliche Harz-Karte im Maßstab 1:100.000 – doch diese ist mehr für schnelle Autos geeignet, als dass sie uns den Ort abbilden würde und die Fußwanderziele der näheren Umgebung zeigte. Macht nichts – so haben wir mehr echt zu erforschen.


Der 3. Tag

Es dauert nicht lange, bis wir uns mit anderen Gast-Familien anfreunden – aber in solch einer eher seltenen „Handwerksbranche“ wie unser Vater, ist keiner dieser anderen guten Leutchen tätig. Somit findet er keine direkten Anknüpfungspunkte für eine Fachsimpelei – muss ja im Urlaub auch nicht unbedingt sein.

Oft sind wir mit der Familie des Bäckermeisters H. aus Jüterbog, mit ihrer hübschen, frischen, kräftigen Tochter zusammen. Dann ist da noch das Bäcker- und Konditormeister-Ehepaar S. aus Potsdam, mit ihrer schwarzhaarigen, ebenfalls schönen, lebhaften Tochter. Aber auch für diese bin ich, weil noch zu jung, sowieso nicht weiter interessant. „Leider“ könnte ich anfügen ...

... aber, Kopf hoch, es gibt ja noch mehr Menschen, die sich hier versammelt haben.

So gehe ich durchaus nicht leer aus, sondern freunde mich, mit Herzklopfen, mit der süßen, blonden, zarten Ursula aus Nordhausen an. Ursel ist ein knappes Jahr jünger als ich, und somit bin ich diesmal der Große. Schon jetzt bin ich also dafür gewappnet, falls im September das Aufsatzthema „Mein schönstes Ferienerlebnis“, als Hausaufgabe kommen sollte. Na ja, im Ernstfall würde ich natürlich trotzdem nichts darüber aufschreiben. Ursels Vater muss wohl irgendeinem Büro-Handwerk nachgehen, zumindest ein Chef sein, denn er trägt selbst im Urlaub stets einen Anzug mit Schlips oder Krawatte. Er ist kein Waldwanderer. Auch Ursels Mutter sieht recht vornehm aus – nach meiner Ansicht. Ursel nicht.


Der 4. Tag

Heute ist es regnerisch und daher ist ein Briefschreibe- und Lese-Tag angesagt. Fix beschaffen wir einige Ansichtskarten aus dem Kiosk, grad' gegenüber. Die Tochter unseres Vaters schreibt zuerst an Mutti und Bruderkind in Babelsberg, wir setzen unsere Grüße dazu. Ich schreibe an diesen und auch an jenen, an die Klassenkameraden nicht – es sind ja Ferien und die Post würde in der Kellerwohnung der Babelsberger Schule 17 bei Hausmeister Roelofsen liegen bleiben (er sagt aber immer, dass er im „Souterrain des Schulgebäudes“ lebe). Bei ihm muss jeder vorbei. Aber unserem Biologielehrer Fritz-Peter Gnerlich sende ich eine Karte. Er wohnt in der Potsdamer Lennéstraße 12 a, im Hinterhaus oder besser beschrieben: im Gartenpalast. Mit einem Sprung über den Zaun könnte er schon im Park Sanssouci sein. Wegen seines Rheumas springt er jedoch wenig. In den schönen Park kann er ja zumindest immer dann ungehindert blicken oder gehen, wann er es möchte. Im kommenden Schuljahr wird er dann den guten Herrn Donath als Klassenlehrer ablösen. Das wissen wir schon.–


Wir spielen heute gemeinsam „Stadt – Land“ und „Mensch ärgere dich nicht“. Die Bibliothek des Erholungsheimes haben wir natürlich bereits besucht und uns manches ausgeliehen, uns „reich eingedeckt“, falls eine Serie von Regentagen folgen sollte.

Doch schon kommt die Sonne aus dem Wolkengetürm wieder heraus und wir erledigen einige Erinnerungsfotos, damit Mutti später sehen kann, wie gut es uns hier ging. Meine kleine „Pouva-Start“ ist nicht dabei. Vor einiger Zeit hat sich Hartwig einen besseren Fotoapparat zusammengespart und ich habe seine „Exa 1“ geerbt. Dieses schwarze Bakelit-Gerät probieren wir jetzt aus. Wir benutzen einen gleichen Rollfilm wie für Muttis Agfa-Box von 1927, aber es passen auf den Film nicht nur 8 Bilder des Formates 6 x 9 cm, sondern 12 Stück im Format 6 x 6 cm. Es ist eben eine moderne Kamera.

Zuerst fotografiert meine Schwester uns, Vati und mich, im Zimmer vor dem hellen Fenster sitzend. Also von mir ist so eine Art schwarzer „Scherenschnitt“ erkennbar und von Vati der durchsonnte, etwas schüttere Haarschopf. Sehr schön. Dann das große Hin- und Herrücken auf dem Balkon, bis das gnädige Fräulein die richtige Positur eingenommen hat. Wie auf einem Zeitschriftentitelbild und ganz doll gefährlich über dem Abgrund, so mit halber Po-Backe auf der Balkonbrüstung „im Damensitz reitend“ – recht fotogen, damit kann sie sich brüsten.

Anschließend unternehmen wir einen Spaziergang, um den Ortsteil Oberschierke zu erkunden.


Am Abend des 5. Tages

Es strömen ungewohnt viele Leute zum Kino und wir strömen den für uns nur kurzen Weg mit, leisten uns das Vergnügen. Es wird ein westdeutscher Farbfilm gezeigt: „Ich schwöre und gelobe“, Geheimnisse in einer Frauenklinik, ist sein Titel. P 18. Zwar bin ich, wie schon angemerkt, 14 ½ sehe aber doch recht verständig und vernünftig und vor allem groß aus, etwa so wie 18-jährig. Außerdem komme ich ja nicht als neugieriger, halbstarker Zuschauer, sondern als unerlässliche Begleitperson und Stütze meines Vaters. Die Kontrolle am Einlass führt zu einem ähnlichen Ergebnis wie meine vorzeitige Mopedprüfung. Der Film handelt von werdenden Müttern, einer Geburtskomplikation, chirurgischen Schwierigkeiten mit Todesfolge und einer Gerichtsverhandlung. Mit dem Chefarzt Dr. Feldhusen, dem Dr. Neugebauer und der Patientin Frau Roth, die mit der roten Baskenmütze – es ist also wahrlich kein Lustspiel.

Tags darauf muss ich der wissensdurstigen Ursel, die ja nicht mitdurfte, alles genauestens berichten, habe aber dann doch einiges weggelassen, was die allerinnersten Frauensachen betraf. Wahrscheinlich wäre ihr das Fortgelassene am Wichtigsten gewesen – aber das so richtig zu erkennen und zu benennen, war für mich schwierig und ein wenig schüchtern-gehemmt war ich auch ihr gegenüber, um darüber nun große Reden zu führen, alles noch besser darzustellen, als die Ärzte es vor Gericht konnten.


Vom Heim zum Kino haben wir es nur etwa 200 m weit. Das Lichtspieltheater liegt an der Verlängerung der Dorfstraße (Sackgasse) in Richtung Bode, es ist ein Anbau an der „Alten Burg“. Das Kino trägt keinen eigenen Namen. Es sieht schlicht und einfach aus, wie eine große, fensterlose Holz-Baracke. Ganz links befindet sich der doppeltürige Eingang mit Kartenverkauf und strenger Alters-Gesichtskontrolle.

Die „Alte Burg“ ist noch ziemlich jung. Sie wurde „recht verspielt“, eben wie eine uralte Burganlage mit Türmchen und Söller (mit Schießscharten) aber erst 1888 als Wohnanlage errichtet. Der Bauherr war der Oberstleutnant Schumann aus Magdeburg. Nicht lange hat er hierin gewohnt, denn bereits 1892 verkaufte er das Anwesen mit den Gebäuden an einen Herrn Emil Nickel. Unter diesem wurde dann die „Burg“ wohl zum ersten Hotel in Schierke. Heutzutage wohnen darin aber ganz normale Menschen wie du und ich und wenn sie einen Mauerziegel (oder zwei) aus der Wand ihres Wohnzimmers lösen würden, könnten sie jeden Abend vom Sofa aus einen Film sehen. Fernsehen. Aber das tun sie nicht. Wir wollen sie auch nicht dazu verführen. Sie sind hoffentlich alles ausgezeichnete Sozialisten – was ja ziemlich garantiert sein wird, wegen ihrer Dauerwohnberechtigung im Grenzgebiet ... und wer möchte denn aus dieser herrlichen Gegend auch schon fortziehen wollen?


Am 6. Tag

Nach dem Frühstück gehen und rollen wir in Richtung Kirche.

Betrachten wir erst einmal die „Nicht-mehr-Kirche“: Am 21. August 1691 wurde die vorige Kirche geweiht. Diese, für die geistlich-geistige Erbauung und auch eine benachbarte Wirtschaft für das leibliche Wohl, ließ Graf Heinrich-Ernst zu Stolberg-Wernigerode errichten. Die Kirche stand näher am Wasser, als die heutige. Sie war also fast schon deshalb ein Kirchenschiff. Eine Art von Arche. Ohne Turm. Ein gesondertes Gebäude, der „Glockenstuhl“ genannt, setzte man rund 40 Jahre später, als wieder etwas Geld vorhanden war, ein Stück weiter neben die Kirche. Dem Schulmeister, der die Kinder ja ohnehin in der Religion unterwies, wurde nun zusätzlich die Aufgabe übertragen, auch den Erwachsenen „aus der Schrift“ zu lesen.

Ab 1716 gab es dann einen höher geschulten Pastor. 190 Jahre lang tat dieses Kirchengebäude seinen Dienst. Heute aber (1960) beherbergt die ehemalige Kirche Sommerferienwohnungen und auch der Glockenstuhl ist als dringend benötigter Wohnraum umgebaut. Interessantes Wohnen – wenn auch vielleicht nicht ganz so romantisch wie mein Wunsch mit der Babelsberger Gerichtslaube.


Die neue Kirche errichtete man in der Zeit von 1876 bis 1881 im Auftrage des Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode. Dieses neue Gebäude steht auf einem Berg, der seit dieser Zeit Kirchberg heißt. Evangelische „Bergkirche“ ist daher ihr einprägsamer Name. Sonntags kann man hier (manchmal) die Bergpredigt hören. Das sakrale Bauwerk wurde am 17. Juli 1881 geweiht. Es ist völlig aus Granitblöcken errichtet. Wie von außen, so sieht man die Steine auch von innen. Das Gebäude ist also unverputzt und schmucklos. Es kann kein Putz abbröckeln und den Anblick mindern.

Angenehm „warm“ wirken als Kontrast dazu die Holzbänke, das Kreuz, die hölzerne Kanzel mit den figürlichen Darstellungen von vier Aposteln und der ebenfalls geschnitzte Holz-Ständer für die Taufschale. Diese Arbeiten kamen aus Hand und Werkstatt eines alten Wernigeroder Holzbildhauer-Meisters.

Den recht stabilen Altar fertigte der Schierker Steinhauermeister Wilhelm Wenzel aus rotem Granit. Darauf darf man also getrost und gefahrlos mehr als eine schwere Bibel ablegen. Dieser Tisch hält was er verspricht! Die heute noch genutzten Taufgerätschaften stammen aus dem Jahre 1691 und das Abendmahl-Geschirr ist mit 1730 datiert. Die vorhandene Orgel wurde mehrmals umgebaut, modernisiert.

Im Kirchturm befinden sich zwei Glocken. Die kleinere aus Bronze wurde 1742 gegossen. Aus dem 13. Jahrhundert stammt die größere der Glocken. Beide blieben, wer weiß warum, von den mehrfachen kriegsbedingten „Metallsammlungen“ verschont.

Verschiedene Stifter sorgten für die schönen farbigen Fenster des Kirchenschiffes.

Beheizt wird das Gebäude mit einem Ofen aus der Zeit um 1600, der aus der Eisenhütte zu Ilsenburg kam. Die gusseisernen Platten tragen bildhaften Reliefschmuck mit biblischen Motiven. Ein wahrer Kunstguss – für viele Sehende auch ein Kunstgenuss. –

Weil wir anschließend bis zum Mittagessen etwas noch Zeit haben, besuchen wir wieder den kleinen Stein-Kur-Park und den Heiligen See. Das passt doch so recht zum vorherigen Thema.

Das Essen mundet uns wie stets recht gut. Ein großes Lob den fleißigen Köchinnen und Köchen!


Der 7. Tag

An diesem sonnigen Tage brechen wir nach dem Frühstück zum Brocken auf, dem höchsten Berg des Harzes. Würden wir zum Brocken zu Fuß wandern, dann würden wir durch Oberschierke gehen. Doch wir fahren mit dem Zug. Es ist eine gute Kräftigungsübung, Vati mit dem Selbstfahrer die knapp zweieinhalb Kilometer zum Bahnhof bergan zu schieben. Unter-Schierke liegt etwa
580 m hoch aber der außerhalb des Kurdorfes angeordnete Bahnhof in rund 685 Metern Höhe. Vatis Selbstfahrer hatte ja inzwischen genug Zeit, sich wieder „zu erholen“, nur ich war bereits zu Beginn dieser „Reise“ nach dem Bergauf-Schieben nass. – und das nicht nur unter der Zunge.

Am Bahnhof bleibt dieses Muskelfahrzeug dann stehen, wird abgestellt. Der schöne Tag entschädigt uns für die Mühe.

Wir fahren mit der Brockenbahn nach Norden und nach oben. Nur eine Station – weiter geht es nicht. 14 km beträgt die gesamte Streckenlänge, Fahrzeit 31 Minuten. Diese Strecke ist etwa doppelt so lang, als der kürzeste der verschiedenen Wander-Aufstiege zum Brocken, dafür aber weniger steil. Die Fahrzeit vergeht bei dem Schneckentempo von durchschnittlich 27 km/h aber trotzdem wie im Fluge.


Seit reichlich sechs Jahrzehnten rollt diese Schmalspurbahn auf 1.000 mm breiten Gleisen täglich durch das harzige Gebirge. Diese geringere Spurweite ermöglicht engere Kurvenradien, als die Normalspurweite mit ihrem 1.435 mm Schienenkopfmittenabstand. Seit dem 20. Juni 1898 rollt die Harzquerbahn von Wernigerode nach Nordhausen, im Süden des Harzes liegend – aha, daher dieser Name – und dann ab 4. Oktober 1898 auch die Brockenbahn. Von Drei Annen Hohne
(* Anmerkung zum Ortsnamen am Tagesende) über Schierke bis zum Brocken-Gipfel.

Vom Bahnhof Schierke bis zum Bahnhof Brocken haben die Züge mit den emsige Lokomotiven etwa 440 Höhenmeter zu überwinden. Die wandernden Leute aber auch. Die durchschnittliche Streckensteigung für die Bahn beträgt reichlich 3%, dass bedeutet, die Gleise steigen auf jedem Meter ziemlich gleichmäßig um etwas mehr als 3 cm (zwischen 30,00 – 33,33 mm Höhendifferenz je 1.000 mm Länge des Gleises) an. So genau wurde das Bahn-Gelände in der wilden Gesteins- Landschaft nivelliert und das Schotterbett geschüttet und verfestigt.

Der Bahnhof Brocken liegt in 1.125 m Höhe. Bis zum Gipfelpunkt sind es dann nochmals rund 26 Höhenmeter – die Gelehrten streiten sich wohl ein bisschen darum, ob der höchste Berg des Harzes und damit auch der höchste von Norddeutschland, nun 1.141 oder 1.142 m hoch ist. Auf einigen Ansichtskarten wird sogar mit 1.143 m geprahlt. In jedem Fall aber ist er der höchste Berg Deutschlands, der von einer Bahn erklommen wird, die keine Zahnrad-Kletterhilfe nutzt. Ebenfalls zeichnet sich der Berg durch „höchste Dominanz“ aus, er steht „solitär“, da ihm an Höhe in weitem Umkreis kein anderer Berg gleichkommt oder seine Höhe überbietet. Das tritt dann erst in einer Entfernung von rund 200 km auf. An meinen Ausführungen erkennt ihr wohl, dass der gesamte Berg „Brocken“ genannt wird und nicht nur der große Felsbrocken, der oben auf dem Gipfel liegt, gemeint ist. Vielleicht ist es möglich, dass man diesen extra herauf geschleppt hat, um auf die 1.143 m zu kommen. Eine praktische Korrektur scheint sowieso ab und zu angemessen, denn die Herbst- und Winterstürme schleifen ja auch immer etwas von der Kuppe ab, machen den Berg im Laufe der Zeit niedriger aber der Stolz der Harzer lässt das wohl nicht zu.

Für die Schmalspur-Lokomotiven der 99-er Baureihe, hat sich Vati recht begeistert. Derartige bergfreudige Maschinchen stellte man ja auch bei Orenstein & Koppel in Drewitz / Neuendorf her, dort wo Vati und sein Vater August in diesem Betrieb eine Reihe von Jahren gearbeitet hatten. Heute tragen diese Orte den gemeinsamen Namen: Potsdam-Babelsberg. Die neuesten Schmalspur-Loks für die Harzer Bahnen wurden 1956 im Folgebetrieb: VEB Lokomotivbauwerk „Karl Marx“ gebaut, also ebenfalls bei uns zu Hause. In den gleichen Hallen wie früher.


Fleißige Maurerhände errichteten das Gebäude des Brocken-Bahnhofs im Jahre 1924 aus Granitblöcken. Wir sehen es auf dem Bild, auf welchem Vati und meine Schwester so einsam zu sehen sind. Obwohl – wir sind durchaus nicht die Einzigen hier. Allein im Monat Juli, also neulich, beförderte die Brockenbahn etwa 90.000 Fahrgäste. Solch eine Anziehungskraft besitzt also der Brocken, obwohl man auf oder in ihm noch kein Magneteisenstein gefunden hat.


Der hohe Holzturm der Wetterwarte steht seit 1895 auf dem Brocken – dem Regen, der Sonne und den eisigen Schnee-Stürmen trotzend.

1938 erbaute man den ersten Fernsehturm der Welt (das ist ein Sendemast für die Bilder und natürlich auch den Ton dazu) auf dem Brocken. Das muss einmal festgehalten werden! Zu jener Zeit hatten aber erst wenige Menschen einen Fernsehapparat, so dass es leider nicht weiter auffiel.

Das Klima hier oben soll etwa mit der Insel Island vergleichbar sein. Im Jahresmittel beträgt die Temperatur ungefähr +5°C. Am 1. Februar 1956 war es -28°C kalt.

Im Durchschnitt liegt auf dem Berg an 120 Tagen Schnee. Meist ist es viel Schnee, bis über

3 m hoch. Schwere Stürme fegen über den Gipfel hinweg und an etwa 300 Tagen im Jahr hat man viele Wolken, Nebel, dazu angebliche Brockengespenster, die die Augen der ängstlichen Besucher narren und für trübe Aussichten sorgen.

Wir aber sind bei sehr gutem Wetter hier oben. 1912 schien die Sonne auf den Brocken nur 972 Stunden lang, also eine kurze Zeit, aber 1921 gab es 2005 Stunden eitel Sonnenschein.


1890 legte man den Brockengarten an. Wegen des besonderen Klimas, von dem auch die Pflanzen- und Tierarten abhängen, wird er auch stolz „Alpengarten“ genannt. Der Brocken-Gipfel liegt knapp über der Waldgrenze, so dass hier oben zerzaustes Gesträuch und zahlreiche flachliegende Gräserarten wachsen und zu sehen sind aber keine Bäume.


Johann Wolfgang v. Goethe würdigte nach seinem Besuch des Brockens im Jahre 1771 diesen Ort in seinem Dichtwerk „Faust“. Und auch Heinrich Heine schrieb in seiner „Harzreise“ über den Brocken. Den Mathematiker Carl Friedrich Gauß interessierte hier mehr die Landvermessung. Er legte über die markanten sichtbaren Punkte „Brocken“, „Hoher Hagen“ und „Großer Inselsberg“ ein gedachtes großes Dreieck und rechnete allerhand aus. (Hierzu nichts Näheres – ich habe Ferien).


Zurückgekommen ins Handwerker-Erholungsheim, fallen wir nach dem guten Essen am Abend bald müde in die Betten. Auf dem Brocken, dem hechsten Barg, gewesen zu sein war schön. Ein erlebnisreicher langer Ferientag. Doch uns ist auch bewusst, dass nichts ewig währt, dass leider schon wieder Halbzeit des Urlaubs ist, so dass wir heute unser „Bergfest“ im doppelten Sinne begingen.


Ach so, bevor ich es vergesse: Einige Worte noch wollte ich ja zu dem Namen des Umsteige-Bahnhofs Drei Annen Hohne notieren.

Nein, nein, keine Sorge. Hier wurde nicht etwa die Anne 3x verhöhnt. Also, das war damals in Wirklichkeit so: Um 1770 bekam die Gattin des Grafen Christian Friedrich zu Stolberg-Wernigerode eine Tochter. Etwa zeitgleich aber auch die Schwester des Grafen. Beide Töchter, also die Cousinenbabys erhielten den gleichen schönen Taufnamen „Anna“ zu Ehren ihrer bereits längere Zeit vorhandenen gräflichen Großmutter Anna. Somit gab es drei Annas oder Annen in der Familie. Zu deren Gedenken erhielt die spätere, am Waldesrand gelegene Gaststätte, den Namen „Drei Annen“. Das „Hohne“ stammt dagegen nicht von den Grafen. Es wurde einfach nur so angefügt nach dem sich in der Nähe befindenden „Forsthaus Hohne“, an der flüssigen Hohne gelegen.


Am 8. Tag

Mit der lieben Ursel an meiner rechten Hand, wandere ich,vielleicht etwas linkisch aber mit einem gutem Gefühl und heißem Herzen, an der Kalten Bode entlang. Ein ähnliches Stimmungsbild beschrieb Friedrich Schiller damals, 1782 war's, mit folgenden Worten:

„Noch ganz wie aus den Händen des Schöpfers, unschuldig, die schönste, weichste, empfindsamste Seele, und noch kein Hauch des allgemeinen Verderbnisses am lauteren Spiegel ihres Gemüts ... und Wehe demjenigen,

der eine Wolke über diese schuldlose Seele zieht!“

sprach unser Arzt und Dichterfürst. – Und genauso war Ursel auch am Ende des Urlaubs, erwidere ich. Ich schwöre und gelobe! Das Gesagte mag auf viele Holde zutreffen, doch nicht immer ist ein Schutzengel in der Nähe, lieber Herr Dr. Friedrich Schiller. Das wusste er natürlich.

Seit Menschengedenken nutzen Pilger, Kräuterweiblein und Jagdleute, Pilzsucher wie auch Holzsammler diesen Weg an der Kalten Bode, gerade so, wie jetzt wir.

Der Weg an der Bode führte zur Kaiserstraße. Jene wurde damals so genannt, weil sie die Kaiserpfalzen Nordhausen und Goslar miteinander verband. Der Kaiser hatte nämlich keinen festen Regierungssitz, sondern wurde mal hier, mal dort im Lande gebraucht und also dort tätig, eben auf diesen Pfalzen. So wie die Situationen es erforderten. Reisekaiser also. So war es üblich.

Im Mittelalter wurde bei Elbingerode bergmännisch der Roteisenstein gebrochen. Die Schmelzhütte, in der das Roheisen aus dem Erz erschmolzen werden sollte, stand aber 12 km weiter in Schierke. In schweißtreibender Arbeit für Mensch und Zugtier, brachten die Karrenmänner das Erz also auf genau diesem Weg, den wir heute unbeschwert spazieren, vom Bergwerk zu den Schmelzöfen. Wegen der herab rieselnden Wässer und wegen kleiner Bäche, führte der Weg teilweise über Holzknüppeldämme. Kaiserliche Verhältnisse.


An dieser Stelle scheint es mir höchste Zeit zu sein, zwei Versprechen einzulösen – also nicht bei Ursula, denn sie hat keines von mir verlangt. Nein, der „Steinforschung“ muss ich mich zuwenden. Irgendwo in der Bode lag nämlich schon damals ein besonderer Stein, als unsere Mutti mit ihren Eltern (Max und Margarethe Sommer), ihrer Tante Johanna Seehafer und Annemarie Muster, im September des Jahres 1928 hier in Schierke in der Pension „Waldesruh“, bei Familie Massow weilten (ich erwähnte das schon am Anfang). – „Manometer“, ist das eine kaum vorstellbar lange Zeit her –, damals war Mutti 15 Jahre jung, so alt wie ich bald werde. Also, dieser Stein war kein gewöhnlich aussehender. Es handelte sich um einen großen Felsen, der die Form eines überdimensionierten Sofas hatte und der zur Ruhe einladend, mitten in der Bode lag. Wir wollen nun nachsehen, ob ich wirklich in der Vergangenheitsform sprechen muss (er lag in der Bode), weil er vielleicht heute in irgendeinem warmen Wohnzimmer herumliegt – oder aber doch noch in der Kalten Bode?

Einige Zeit vergeht. Vieles Wasser rauscht durch die Bode. Das ist jetzt das Zwischenspiel des Suchens –

Ja, tatsächlich. Wir werden fündig. Das zu suchende Objekt hat sich uns förmlich aufgedrängt. Das „Sofa“ liegt auch nach 32 Jahren noch an der gleichen Stelle und wir fertigen ein Vergleichsfoto von seiner momentanen Beschaffenheit. Der Spaziergang ist somit ein voller Erfolg – sonst aber passiert weiter nichts Aufregendes. Na ja, zwischen der Bode und dem Weg sehen wir eine Schlammsenke (so etwa wie eine Badeanstalt) und viele frische Wildschweinspuren, die hinein und heraus führen. Trittsiegel der Hufe, sagt der Waidmann. Hier wollen wir dann doch nicht verweilen – man stört ja nicht gerne und wie sollte ich die Ursel retten? All' überall glitschige oder bemooste Felsen, senkrecht bergauf. Aber ansonsten, an günstigerer Stelle – das Ursel retten dürfen – keine schlechte Idee. Dann aber vielleicht besser vor einem der Nebelgespenster, als vor Wildschweinen. Denn wir wissen ja: Durch ein Nebelgespenst kann man ungestraft hindurch gehen aber bei Wildschweinen sind mindestens! 20 m (besser mehr) Abstand erforderlich, weil das Tier sich sonst nicht zur Flucht wende, sondern sich eher zum Angriff entschließt.

Ach so, ja. Der zweite heimatliche Wunsch: Die Pension „Waldesruh“ können wir für die Daheim gebliebene Mutti nicht finden. Hat der Zahn der Zeit sie vielleicht zernagt? Wir sehen nur eine Villa, die eine Ähnlichkeit mit dem Haus „Waldesruh“ hat, gleich hinter dem Knick der Dorfstraße, gegenüber dem FDGB-Heim „Heinrich Heine“. Sie hat nur den Nachteil, dass sie auf den Namen „Charlotte“ hört und ein wenig anders dreinschaut. Vielleicht war es zumindest der gleiche Architekt, der dieses Haus schuf? Doch, doch, Ähnlichkeit hat „Charlotte" schon mit „Waldesruh“.


Am 9. Tag

Nachdem wir am Nachmittag vom Regen etwas eingeweicht wurden, erlaubt Vati uns, (also nicht Ursel, sondern meine Schwester, gilt hier als einbezogen), etwas von dem „Schierker Feuerstein“ zu kosten, um einer drohenden Erkältung vorzubeugen. Dieser ist hier sehr berühmt und gefragt. Gebraut nach einem uralten Geheimrezept aus Harzer Kräutern. Bestimmt haben früher die Brockenhexen schon solch ein köstlich' Gebräu zusammengerührt. Heute aber befindet sich die neue Magenbitterfabrik an der Hauptstraße und kann besichtigt werden. Verkostung inclusive.


Am 11. Tag

Nachdem wir vorgestern in der Familie den Schierker Feuerstein-Kräuter probiert hatten, besuchen wir, Ursel und ich, heute die Feuersteinklippen. Sie befinden sich nur wenige Schritte nördlich des Bahnhofs, ihr „Fuß“ auf etwa 690 m über dem Meeresspiegel. Sie bestehen aber in Wirklichkeit überhaupt nicht aus Feuerstein, sondern aus mächtigen, von der Natur übereinander geschichteten Granithärtlingen. Die ortsübliche Feuerstein'sche Bezeichnung soll eher daher kommen, meinen die Kundigen, weil dort oben am Berge früher gern Feuer zu kultischen Zwecken entfacht wurden, wie beispielsweise ein Osterfeuer oder ein Sonnenwendfeuer oder ein kleines Lagerfeuer gegen die grimmige Winternachtkälte. Auch hätte man, so sagen andere Wissende, sehr vielleicht von diesem Orte aus mittels eines Signalfeuers Nachrichten übermitteln können, so ähnlich wie ein Heliogramm nach dem Morsealphabet. Herr Morse wurde aber erst viel später geboren – es ist daher also ein nur unverbindliches Beispiel.

Somit ist die Namensherkunft ziemlich wissenschaftlich geklärt. Man braucht also gar nichts mehr fragen, sondern nur noch beides glauben oder sich für eins entscheiden. Hauptsache, man weiß es. Diese Granithärtlingsklippen an den Feuerstellen wurden von den Einwohnern des Ortes als markantes Wahrzeichen für den Ort gewählt und ebenso hielt es auch der Eigentümer der Magenkräuterbitterfabrikation.

Aber nicht nur wir waren hier bei den Klippen, sondern zum Beispiel auch Johann Wolfgang von Goethe. Allerdings hatte er gar keine Zeit, anders als ich, hier mit einer schönen Ursel Urlaubstage zu verbringen, da er viel zu tun hatte. Vielmehr betrieb er, gemeinsam mit dem Maler Melchior Kraus, am 04. September 1784 geologische Studien an den hohen Klippen. Ernsthafte Forschungsarbeit. Er hatte dabei wohl nicht derart tiefe Empfindungen wie Schiller. In Herrn Goethes Lebenslauf steht, dass er sogar zweimal den Harz besucht hatte. Ach. Auch Heinrich Heine war hier und hat darüber eine viel schönere Abhandlung geschrieben, als ich es jetzt tue. Wir sollten sie wieder 'mal lesen.


Auf dem Rückweg gehen wir die lange Straße nach Elend. Das ist kein Grund traurig zu sein, denn es ist ein hübscher kleiner Ort, der überhaupt nicht so „elendiglich“ aussieht. Die Ortsbezeichnung kommt als „eli-lenti“ aus dem Althochdeutschen und bezeichnet nur „ein anderes, uns noch fremdes Land“. Später wurde es im Mittelhochdeutschen in „Ellende“ gewandelt und im Neuhochdeutschen entschied man sich eben für „Elend“. Noch zu Goethes Lebenszeit benannte man mit dem „elenden Lande“ deshalb einen fremden Landstrich, mochte er auch noch so lieblich aussehen, noch so fruchtbar sein. Das sollte man wissen, noch ehe man des Namens wegen ausreißt, bevor man es überhaupt gesehen hat.

Wir besichtigen dort die kleine, helle Holzkirche. Nur von außen, denn leider ist sie verschlossen. Es soll das kleinste Holzkirchlein der DDR oder sogar ganz Deutschlands sein. Große Eichen stehen am Haus. Man darf die Jahresringe ja nicht zählen aber Botaniker schätzen ihr Alter auf mehr als 700 Jahre. Die Bäume standen also lange Zeit vor der Ortsgründung schon dort, die die Urkunden auf 1782 beziffern. Sie wurden nicht etwa erst nach dem Bau der Kirche dort gepflanzt, wie es oft üblich ist. Die Kirche wurde als Fachwerkbau im neogotischen Stil errichtet und das Balkengestell mit Holzbrettern beplankt. Das 1897 gebaute Kirchenschiff misst 11 x 5 m und ist auf den rund 55 m² mit 80 Sitzplätzen ausgestattet.

Am 27. Juni 1897 fand der Weihe-Gottesdienst statt. Als 1904 das Spendenaufkommen ausreichte, wurde die Kirche wegen des nun angebauten Turmes 2 m länger. Die schlichte, ebenerdige Kanzel ist aus schönem Schnitzwerk gearbeitet, ebenso der Altar. Dieser ist mit Rädern versehen. So kann der Altar verfahren werden und die Kirche kann „stets gut gefüllt“ wirken – der Pastor steht nie allein, nie zu weit entfernt von seiner Gemeinde. Beachtung verdienen auch die farbigen Bleiglasfenster. Die Firma Friedrich Ladegast, aus Weißenfels an der Saale, baute auf einer schmalen Empore die Orgel mit 400 Pfeifen in den Abmessungen von
15 mm Kürze bis 2.400 mm Länge. Die Bronzeglocke im Holzturm hat eine Masse von knapp 200 kg. Erstaunlich. Schwerer dürfte sie für den Turm auch gar nicht sein. Ich hätte ihm eine nur wesentlich geringere Glocken-Masse zugemutet. Die Harzer aber haben es sich einfach getraut.

Bevor diese Kirche gebaut wurde, wanderten die Gläubigen zum Gottesdienst tapfer die 12 km nach Elbingerode und zurück – eine wahre sonntägliche Pilgerstrecke für den Ruhetag als Entspannung von der harten Arbeitswoche. Ihr wisst ja, es ist die moddrige, ausgefahrene Erztransportstrecke –. Sie gingen nicht etwa in die Kirche des nur reichlich 2 km entfernten Ortes Schierke. Das verhinderten damals schon Grenzen. „Kirchengrenzen“. Nur gehunfähige Alte und Kranke erhielten ersatzweise den Segen, aber sehr selten, in der Schulstube von Elend. –

Dann wählen wir den Rückweg durch das Elendstal und tauchen in Schierke am Mühlweg wieder zur Straße am Kirchberg auf.


Der 12. Tag

In dieser Gegend ist der Rothirsch zu Hause. Auch Rehe sind vertreten. Sie müssen wegen der Unfallgefahren sehr aufpassen, denn die großen nebeneinander liegenden Felsen bilden oftmals Spalten. Unter dem Gestein entstehen Löcher, gar Höhlen. Wie schnell kann man sich da die Beine verstauchen oder sogar brechen. Mufflons und Hasen sind da weniger gefährdet. Allerdings bieten diese Hohlräume auch unzählbare Wohnunterschlupfkammern und für die Bäume Wasserspeicher. Der schwarz-weiß-graue Frech-Dachs streift durch das Gelände. Über die Wildschweine sprachen wir schon kurz und wie wo überall, darf auch der Fuchs nicht fehlen. Vor kurzem wurden Waschbären gesichtet. Sie kommen eigentlich aus dem Norden des Doppelkontinents Amerika. Also nicht, dass sie bis hierher geschwommen wären – nein, weit gefehlt, sie wurden in westdeutschen Pelztierfarmen, also im Westharz gehalten, sind von dort ausgebüxt, und haben sich hier angesiedelt, weil es ihnen hier offenbar sehr gut gefällt. Leider rauben die Waschbären nachts Vogelnester aus und schlagen sogar Niederwild nieder. Putzig sehen sie zwar aus aber solche Komplimente über diese Räuber sind nicht angebracht. Selten geworden sind wohl der Auerhahn und auch die Auerhühner. Der Rote Milan und der Habicht gelten als die Polizei der Luft mit ihren scharfen Augen. Selten, aber im Prinzip hier heimisch, sind der Sperlingskauz, der Gartenschläfer und die Ringdrossel.

Doch Tiere leben ja nicht allein auf dem Erdboden oder in der Luft. In der Bode fand und fing man von alters her Forellen, Schmerlen und Ellritzen. Als um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Hotelgewerbe erblühte, legte man im Elendstal neben der Bode, am Weg zwischen Schierke und Elend, Forellenteiche an. So waren die Wirte in der Lage, die „reicheren Luftschnapper“ stets mit Frischfischfleisch versorgen zu können. Das liest sich fast so schwer wie „Fischers Fritze fischt frische Fische, nicht wahr? So war es aber eben wirklich! Im Winter wurde dann dort Eis gehackt und gesägt, um es in den Eiskellern einzulagern. So konnte es zur Kühlung der Speisen im Sommer verwendet werden. Soweit also mein neues Wissen zur Fauna – der Tierwelt.

Jetzt aber noch einige Worte zu den pflanzlichen Gewächsen oder zur Flora. An die Begriffe muss ich mich erst gewöhnen, denn auch in der sozialistischen Werbung spielen „Flora und Jolante“ eine wesentliche Rolle, wobei erstere aber eine Kuh ist, die Pflanzen isst aber selber keine Pflanze ist und Jolante stellt das gemeine intelligente Hausschwein dar, das wir hier aber nur in der ursprünglichen Wildform finden oder auch mal vorliegen haben. Andererseits gibt es auch Leute, die in einer Botanisiertrommel Raupen, Schmetterlinge und anderes Getier sammeln, die ja nun wirklich völlig unbotanisch sind. Verkehrte Welt.

Also gut. Flora: Die Gelehrten sprechen davon, dass in den Hochlagen des kleinen Harzer Mittelgebirges „Hochmontane beziehungsweise subalpine Bedingungen“ herrschen, was sich wesentlich auf die vorkommenden Pflanzenarten auswirkt. Schon seit der mittleren Steinzeit, so ermittelten es die Forscher, herrscht in den oberen rauen Lagen die Fichte vor, deren Nadeln ringförmig um die Zweige angeordnet sind und deren Zapfen hängen. Nach unten. An geschützteren Hängen, wie im Elendstal, herrscht dagegen ein Buchenmischwald vor, in dem außer den Rotbuchen ebenfalls Fichten, aber auch der Bergahorn und die Eberesche (Vogelbeerbaum) sowie weitere Gehölze gedeihen. An den wassernahen Standorten wachsen besonders die Erle und der Bergholunder ganz prächtig.

Andere Forscher haben herausgefunden, dass es hier, in diesem schmalen, tief eingeschnittenen Tal auch oft Klima-Umkehrverhältnisse gibt (Inversionen). Dann ist es auf den besonnten oberen Hängen viel milder und die kalte Luft liegt unten, schwer, in dem fast 200 m tief eingeschnittenen dunklen Kerbsohltal der Bode.

Zahlreiche Kräuter und Gräserarten bieten ein abwechslungsreiches Bild und eine gesunde Wildtiernahrung. Es gehören dazu: Das Hainkreuzkraut, weit gefächerte Farne, die Heidel-, Blau- oder Schwarzbeere, der Alpen-Milchlattich, der Waldsauerklee, das Milzkraut, das lustige Springkraut (wenn's erst mal reif ist), der Storchenschnabel, der Baldrian, den auch die Katzen so sehr gern mögen, der weiße Pestwurz, der platanenblättrige Hahnenfuß, die Buschwindröschen. Den rauhaarigen Kälberkropf habe ich noch nicht gekannt. Es lohnt sich also, von den Pflanzen, sofern diese nicht streng unter Naturschutz stehen, ein kleines Herbarium anzulegen, beispielsweise für den Biologie-Unterricht (da könnte unser Bio-Lehrer Fritz-Peter Gnerlich staunen) oder für die Schul-Wandzeitung oder für das Gestalten des Fotoalbums. Also für's Album nur Vertreter der Flora – bitte nichts von der großwüchsigen Fauna.

Unsere Kaninchen auf dem Schulhof würden eine Auswahl jener Pflanzen gewiss ebenfalls zu schätzen wissen. Goethe hatte wohl seine Sammlungen mit der Postkutsche voraus nach Hause geschickt. Unser Freund Alexander von Humboldt vertraute sie auch mal dem Schiff für eine weite Reise an. Wir aber übernehmen gern eine tragende Rolle und schleppen im Koffer alles eigenhändig gen Heimat. Na gut, die Bahn hilft uns auch dabei.


Der 13. Tag

Nun aber neigen sich die schönen Ferientage ihrem Ende zu. Heute werden, bis auf das Nötigste, die Koffer gepackt, denn morgen, nach dem Frühstück, geht es schon wieder fort von hier.

Nicht ohne Abschiedsschmerz.

Wir werden lange an diese schöne Zeit denken. Ursel und ich verabreden ganz unnötiger Weise, dass wir uns bald schreiben werden. Kurze Zeit später hat uns der Alltag wieder.


Einige Nachträge

Nach der Rückkehr: Als wir Ende August 1960 wieder in Babelsberg eintreffen, empfängt uns Mutti mit einem herzhaften Festessen. Trotz all ihrer Arbeit mit dem Geschäft, ist die Wohnung auf Hochglanz geputzt und für die Glasscheiben der Wohnungstür hat sie neue Scheibengardinen angefertigt. Nun wird es Zeit, dass sie sich ein wenig erholen müsste, was aber kaum denkbar ist.

Zu Hause wartet schon Post auf mich. Eine farbige Karte von Grit „schöne Grüße aus West-Berlin“. Niemand von uns ahnt, dass jener Berlin-Besuch der Letzte für die nächsten drei Jahrzehnte war, denn ein Jahr später, am 13. August 1961 und in den darauffolgenden Zeiten, wird ja die innerdeutsche Grenze enorm befestigt, mit den nach innen, auf die eigene Bevölkerung gerichteten Selbst-Schussanlagen, von den Erbauern offiziell vorerst als „die Mauer“, später lieber als „der Antifaschistische Schutzwall“ (also gegen nachbarschaftliche Einflüsse) benannt, obwohl es ja in Wirklichkeit viel mehr war.

So wird es dann auch für Schierke weitere drastische Besuchereinschränkungen geben und auch der Brocken kann überhaupt nicht mehr besucht werden, ist durch Stacheldraht in Ost und West fast unüberwindbar geteilt. Aus politischen Gründen ist der Brocken nun wohl der einzige nicht besteigbare Berg dieser Erde. So wird auch der Personen-Zugverkehr zum Brocken am 13. August 1961 eingestellt. Während des Zerfallsprozesses der DDR (Deutsche Demokratische Republik) erreichen die Bürger am 13. Dezember 1989 die Öffnung der Grenzanlagen am Berg. Damit wird auch der Abbau dieser Anlagen zwischen Ost und West „eingeläutet“. In der Folge wird die Sanierung der teilweise marode gewordenen Strecke vorgenommen. Am 15. September 1991 wird dann nach drei Jahrzehnten wieder der erste Personenzug der Brockenbahn fahren.


Empfindungen am Rande von Zeitabläufen

1928 war unsere Mutti mit ihren Angehörigen hier in Schierke. Damals war sie 15 Jahre jung.

32 Jahre später, also 1960, verleben wir hier unseren Urlaub. Eine schier unermesslich lange Zeitspanne, liegt dazwischen – mehr als das Doppelte meines eigenen Lebens, – denn 14 ½ Jahre alt bin ich zu dieser Zeit.

Die erneuerte Brockenbahn werde ich am 16. September 2011 nochmals nutzen – nach mehr als

5 Jahrzehnten nach unserem hier beschriebenen Besuch, 50 Jahre nach der Stilllegung der Bahn und 20 Jahre nach der Wiederinbetriebnahme der Strecke.


Aktuelle Eindrücke aus dem Jahr 2011

Am 16. und 17. September 2011, also nach einem halben Jahrhundert, huch – schwupps, war das aber eine kurze Zeit, zieht es mich wieder nach Schierke zurück, um dort „nochmals nach dem Rechten“ zu sehen, zu schauen, zu erkunden, was sich so seit neulich, seit 1960, verändert hat. Einfach – um die Erinnerungen „aufzuwärmen“. (Am Morgen um 9.00 Uhr haben wir 6°C).

Bunter ist der Ort geworden, wie die Hausfassaden zeigen. Nett ist Schierke anzusehen, ist gut gepflegt.

Das nach der deutschen Wiedervereinigung leerstehende Handwerker-Erholungsheim wurde im Jahre 2005 von „zündelnden älteren Kindern oder jungen Jugendlichen“ abgebrannt. Die Ruine riss man im Frühjahr 2009 ab. Nichts blieb davon, als nur die Erinnerung und ältere Fotos. Ähnlich ging es anderen großen Heimen, wie dem benachbarten Erholungsheim „Heinrich Heine“.

Der Barackenanbau an der „Alten Burg“, das Kino, steht zwar noch, ist aber ungenutzt.

In der alten früheren Kirche, dem baulich vernachlässigten Kirchenschiff von 1691, befindet sich der Schierker Kindergarten. Der daneben stehende ursprüngliche Glockenturm, Am Kirchberg 8, dient als Ferienwohnung, wird von Frau Helga Thorndike aus Babelsberg vermietet.

Das große Rathaus steht leer, denn Schierke ist inzwischen zur Stadt Wernigerode eingemeindet.


Für den Hin-Weg, für eine Strecke, von Schierke zum Brocken wähle ich aus Zeitgründen die Bahn. Fahrpreis 18,00 EURO. 1960 bezahlte ich wohl etwa 1,12 DDR-Mark, für diese Wegstrecke. (14 km x 8 Pfennige je km in der 2. Wagen-Klasse).

Auf den Brocken, für den die Höhe von 1.141 m ermittelt wurde, schleppte man einen Granitfelsen, der nun die Höhenmarke 1.142 m ausweisen kann, die eher „als volkstümlich“ bekannt ist. Auf dem Brocken verspricht man eine momentane Sichtweite von 50 km – doch bald ziehen dunkle Wolken auf.

Zurück laufe ich auf dem felsenübersäten Waldweg, dem Eckerlochstieg. (Knochenbrecherweg).

Auch eine Waldwanderung vom Brocken und über den „Erdbeerkopf“ ist Balsam für die Seele.

Am Naturlehrpfad erfahre ich lesend, dass sich die menschenscheuen Wildkatzen wieder angesiedelt haben und auch ein größerer Katzenvertreter, der Luchs, hier inzwischen seine Reviere betreut.

Die Kirche in Elend sieht noch genauso aus, wie vor 50 Jahren.

Die Melodien der damals gängigen Unterhaltungsmusik kann ich natürlich auch heute noch aus dem Kopf und teilweise „wesentliche“ Textpassagen.

Einige Tage später skizziere ich die Erlebnisse dieser „Exkursion“, einiges von dem, was ich sah, für unsere Enkeltochter. –


Doch das 1960-er Jahr ist ja noch nicht zu Ende – also geht es weiter:

1. September 1960. Weltfriedenstag. Das 9. Schuljahr beginnt

Beim ersten Fahnen-Appell werden wir daran erinnert, dass die Zeit für uns gereift sei, nun nach der „Trommel“ den gedruckten, aktuell-politischen Wissensspeicher „Junge Welt“ zu abonnieren. Mit Beginn des 9. Schuljahres werden wir plötzlich von den Lehrern mit „Sie“ angesprochen. Das ist nach der Jugendweihezeit, nach dem Hinübergleiten in den Erwachsenenstatus so üblich aber es ist auch genauso üblich, dass man (nicht individuell aber klassenweise) Ausnahmen vereinbart, und mit den Lehrern, mit denen „man gut kann“, die „neue Üblichkeit“ zurück dreht und beim „du“ bleibt.


Jeden Montag haben wir jetzt morgens die „Aktuelle Stunde“. Das geht von der Zeit des Fachunterrichts ab. Zur Vorbereitung wählen wir zu Hause aus der Zeitung einige politische Überschriften und Grobinhalte und bringen sie für eine positiv-fortschrittliche Diskussion, also indem wir die Zeitungsaussagen bestätigen, in die Schule mit.


Einige Tage später:

Was uns schon im Juli angekündigt wurde, tritt nun auch ein. Unsere Schule bekommt Zuwachs durch Mädchen und somit unsere Klasse auch, – unsere Klasse allerdings mit leichter Verspätung. Neun Mädchen. Dass nun aber gerade diese Mädchen zu uns kommen, ist so eine Sache, hat eine ganz unerhörte Vorgeschichte! Diese Mädchen waren nämlich der Schule 16, die nach unserem Volksastronomen Bruno Hans Bürgel benannt wurde, zugewiesen worden. Dort haben ihnen weder das Gebäude noch die Jungen gefallen und sie haben protestiert, „gestreikt“, wollten sofort wieder fort von diesem Ort. So etwa also wie die unterdrückten Arbeiter in den USA, in England oder nebenan in der BRD. – Und, mag wagt es kaum zu erwähnen – sie haben sich durchgesetzt, sind umgetauscht worden, sind nun bei uns. Ob sie es damit besser erwischt haben ist fraglich – aber sie konnten ja sowieso nicht mehrmals nacheinander streiken und prüfen, ob es endgültig die genehme Schule ist und die dort lebenden Zeitgenossen die richtigen sind. Nicht wahr? Die Jungen der Schule 16 bekamen als Ersatz andere, wohl weniger renitente Mädchen. –

Einige Kräfte meinen, so etwas könne man nicht durchgehen lassen und es müsse zum Beginn ein festes Zeichen gegen derartige Tendenzen gesetzt werden. Frau Christa Wieland, unsere Schuldirektorin und Deutschlehrerin, gestaltet dazu eine Möglichkeit: In der ersten schönen Stunde fordert sie dazu auf, dass wir Jungs uns kurz namentlich vorstellen. Sie selbst kennt natürlich alle Namen: Die unseren und die der hinzugekommenen Mädchen. Dann bittet sie recht herzlich die „neuen“ Mädchen sich ebenfalls vorzustellen, damit wir schnell kameradschaftlich miteinander warm würden. Bei dem dritten Mädchen, das direkt vor ihr in der ersten Reihe sitzt, und ihren Namen nennt, greift die Pädagogin (mit vorbereiteter Rede und zusammengekniffenen Augen) unterbrechend ein: „Sagen Sie uns, stammen Sie aus der Familie des faschistischen Generals, dieses Kriegsverbrechers mit gleichem Namen?“ Das Mädchen antwortet nur ein leises „Nein“ – Es wird so sein, dass ich auch diese wenigen Sekunden, die Dauer der Fragestellung, nie wieder im Leben vergessen werde. Und ich bin gedanklich sofort bei dem damaligen Elternbesuch in unserer Wohnung, als wir als Kriegstreiber bezeichnet wurden und vorher als das Buch, mein Eigentum, eingezogen wurde.

Die Direktorin hatte die einzig mögliche Antwort zu ihrer Frage gewiss bereits recherchiert, um diese zu wissen. Wäre das Mädchen durch ihren Vater belastet gewesen, hätte die Partei im Verbund mit den anderen Staatlichen Organen und der vorherigen Schule, die Schuldirektorin darüber ausreichend informiert. Auch hätte die wissbegierige Direktorin die Schülerin „unter vier Augen“ fragen können. – Huch, könnte man meinen, mal wieder ein kleiner Ausrutscher einer reifen Lehrperson. Nein, das war es durchaus nicht. Die hochstudierte Pädagogin fühlte sich bemüßigt, geplant vor „versammelter Mannschaft“ an einem unschuldigen 14-jährigen Mädchen am Tage des „warmherzigen Willkommens“ in deren noch fremder Umgebung ein demütigendes Exempel ihrer Macht zu statuieren: „Seht! So geht es hier bei uns lang!“ Kein Versehen – es hat System. Es liegt am System und dessen ausgewählten Leuten. Was hätte sich die Schulleiterin wohl für eine rot geschriebene Rede zurechtgelegt, wäre der Fall eingetreten, dass das Mädchen hätte mit „Ja“ antworten müssen?

Wie in der Vergangenheit wird es auch in der Zukunft bleiben. Es fehlt in dieser Ideologie das Einfühlungsvermögen, die Vertrauensbildung, das wahrhaft Pädagogische – auch wenn man dieses Fach an der Hochschule studiert hat, es fehlt das soziale Verständnis für ein harmonisches demokratisches Miteinander. „Das Kollektive“ wird lediglich vordergründig-plakativ herausgestellt „vor sich hergetragen“ aber kaum ausgelebt. Schaut man etwas tiefer, sieht man stets erneut deutlich und hässlich den Hang zur Konfrontation, das Durchsetzen-wollen nur der eigenen oder eben der „führenden“ Meinung, für die der willenlose Anschluss gefordert wird. Das Säen von Unfrieden und Zwietracht. Selbstverständlich gibt es auch viele Menschen, die es anders halten.


Unser bisheriger Russisch-Lehrer, dem ich versuchte sein „Partei-Soll“ zu erfüllen, damit er wieder ruhiger schlafen kann, also der Herr Kuleschir, ist nicht mehr zu sehen. Uns wird keine Auskunft zuteil, ob er (und wenn ja, warum) an einer anderen Schule lehrt oder während der Ferien, wie so viele, in den Westen gegangen ist. So 'was fragt man auch nicht! und wen auch sollte man fragen ... alles Personen des allgemeinen Vertrauens in der Umgebung.

Wir bekommen einen neuen Russisch-Lehrer. Es ist Herr Pianowski. Herr Pianowski sieht ein bisschen so aus, als stamme er von dem jüngeren Lenin ab. Er unternimmt gerne Hausbesuche für einen „großen Aufriss“. So passierte es ihm in seiner Erregung, dass er nicht immer unbedingt die richtigen Eltern aufsuchte, wenn er diesen Unbescholtenen Vorhaltungen über ihren ungeratenen Sohn machte, der aber zu anderen Eltern, nicht zu den gegenwärtig besuchten gehörte. Eine schöne Bescherung – eine schöne Erleichterung für die Eltern. – Kann alles im Leben passieren. Ich halte ihn für einen guten Lehrer. Er ist stolzer Besitzer eines neuen roten Trabant 500. Sieht etwa aus wie eine Feuerwehr. Diese Limousine ist eine Neuentwicklung, die den „P 70, das erste Auto mit Kunststoffkarosse“ ablöst. – Frau Sadowski wird bei uns nur mal einige Vertretungsstunden halten. Sie ist allein, also eine sich allein erziehende Lehrerin.

Von der Schule aus sehen wir den Film: „Fünf Patronenhülsen“, über den Bürgerkrieg in Spanien.


Mandeln - Zähne - Rheuma – hier lauern große Gefahren. Es gibt Mittel dagegen. Manchmal.

Wir hatten schöne Große Ferien. Unser Bio- und Chemielehrer Fritz-Peter Gnerlich nicht. Mit ihm hatte man Großes vor, wollte ihm gern helfen. Er quält sich bereits in seinem jugendlichem Alter von 25 Jahren bei starken Schmerzen mit Beschwerden, die als Rheuma diagnostiziert wurden. Während wir frohe Tage verlebten, entfernte man ihm im Polizeikrankenhaus in Berlin, Scharnhorststraße, die Rachenmandeln und sämtliche Zähne und versorgte ihn mit starken Medikamenten und auch mit einem künstlichen Gebiss – auf dass es ihm besser gehen möge. Ein großer körperlich und auch psychisch belastender Aufwand. Dort in der Klinik habe ich ihn kürzlich besucht. Genutzt hat es ihm alles leider nichts. Es war ein sehr gut gemeinter Versuch – ohne den erhofften Erfolg.


ESP

Mit dem Beginn des 9. Schuljahres wechselt auch eine praktische Tätigkeit. Wir haben jetzt nicht mehr den Unterrichtstag in der landwirtschaftlichen Produktion, sondern die „Einführung in die sozialistische Produktion“. Diese findet im Karl-Marx-Werk statt. Das ist die Lokomotivbaufabrik, in der schon mein Vater und Großvater tätig waren, als das Werk noch „Orenstein & Koppel“ hieß. Heute werden dort aber keine Dampflokomotiven mehr hergestellt, sondern es wird an Dieselloks gearbeitet. Nur bis vor einigen Jahren gab es hier noch den Bau von Schmalspurloks der 99-er Baureihe, wie sie im Mittel-Gebirge und an der Ostsee fahren. Außer den Lokomotiven kommen aus dieser Spezialfabrik des Schwermaschinenbaus momentan „1.000 Kleine Dinge“ für den Alltag der Menschen innerhalb der Konsumgüterproduktion. Flexibilität ist gefragt. Bald wird man sich auf die Herstellung von Autodrehkränen orientieren. Da ist schon gedanklich in Vorbereitung.

Anfangs sind wir dort im Konstruktionsbüro. Denn bevor man baut, muss man denken und dann das Gedachte aufzeichnen – die beredte Sprache des stummen Konstrukteurs. Erst war der Geist – dann die Materie. Oder wurde es andersherum gelehrt. Unser Betreuer ist der Herr Turban. Er wohnt direkt neben dem Betrieb in der Ernst-Thälmann-Straße, Nr. 107. Den ersten Tag verbringen wir mit den Versuchen, eine Streichholzschachtel fachgerecht zu skizzieren und dann zu zeichnen. In allen Ansichten, die sie uns zur Verfügung stellen kann und dann versuchen wir uns auch an einer Perspektiv-Zeichnung. Bald aber wird es an die Bearbeitung kleinerer Metall-Werkstücke mit feilen, bohren und so weiter gehen. Ich habe noch heute, nach 60 Jahren meinen Lötkolbenständer, der als mein privates Zusatz-Erzeugnis (eine Pausenarbeit) dort entstand.


Fröhlich sein und singen. Schwingt euch wie die Lerchen ... und tirilieret bitte auch so

Eine Neuigkeit! Wir haben jetzt schon wieder einen Musiklehrer! Er macht das nur so nebenbei. Hauptberuflich ist er der Chef der Siegfried-Leonhardt-Combo. Sein Gebiet ist die zeitgemäße flotte Tanzmusik. Für einen Lehrer ist sein Umgang mit uns sehr locker und entspannt – er redet uns stets mit „Männer“ an. Aus einem uns nicht bekannten Grund wird er jedoch bald abberufen. –

Aber ich kann bald über eine Neuigkeit berichten: Wir haben jetzt schon wieder einen Musiklehrer! Er macht das nur so nebenbei. Hauptberuflich ist er Altersrentner. Er ist 69 Jahre jung. Es ist der Herr Wilhelm Lö. Wurde er so sehr dringend zu uns gebeten? Warum hat er sich das bloß angetan? Warum nun ausgerechnet mit unserer Klasse? Er war doch ein Erfahrener. War ihm ein Schutzengel abhanden gekommen? Drohte ihm zu Hause vor Langeweile das Dach auf den Kopf zu fallen? Er hat etwas Besseres, hat Ruhe verdient.

Hatten wir vor Zeiten noch Kampflieder der Arbeiterbewegung, kürzlich fröhliche Thüringer Eigenschöpfungen, gefolgt von etwas flotter Tanzmusik und nachmittags Schlager, oft Rock'n Roll,

so versuchte jetzt der gute Herr Lö. uns als würdiges Kontrastprogramm ausgerechnet in der DDR das württembergische Liedgut des vorigen Jahrhunderts ans Herz zu legen – oder mochte es badischer Herkunft sein? Das konnte ja nicht gut gehen! Er gab uns als Einstand das Liedl vor:

I fahr, i fahr, i fahr mit der Poscht, fahr mit der Schneckenposcht, die mi koa Kreutzer koscht“. Wer oder was mag den Guten bloß dazu bewegt haben? War das seine eigene Idee? Wurde er von besonderer Seite beraten? Im Lehrplan stand das wohl so nicht ausdrücklich ... vermute ich.

Damit rutschte er aufgrund böslicher Schülerreaktionen, die ihm das Leben unverdient schwer machten, knapp an einem Nervenzusammenbruch vorbei. Er hat sich sehr bemüht. Eine kurze Episode, die für ihn nicht länger hätte währen dürfen.

Eine Neuigkeit! Wir haben jetzt wieder keinen Musiklehrer.


Wir haben ein Anrecht darauf

Für dieses Schuljahr haben wir von der Schule ein Theateranrecht für das Hans-Otto-Theater in der Zimmerstraße vermittelt bekommen. In der Folgezeit sehen wir beispielsweise „Gasparone“, „Frau Luna“, „Rigoletto“, „Der Zigeunerbaron“, mit herrlichen Darstellungen und Kulissen, wie ich solche, ein halbes Jahrhundert später bei neuen Kunstauffassungen in den Inszenierungen, sehr vermissen werde. Zum „Freischütz“ waren wir in der Park-Oper im Park von Sanssouci, nahe beim Drachenhaus gelegen.

Auch wurde mal „ein neuzeitliches Stück, ein Gegenwartswerk“ von bleibendem Wert, gegeben, was leider Unruhe und Buhrufe zur Folge hatte. Das hatte nicht der Stückeschreiber auszuhalten, sondern die Akteure, so dass die armen Schauspieler verzweifelt und kurz davor waren, die Vorstellung abzubrechen. Es „schrammte“ mit einer Beruhigungs-Zusatzpause und einigen ernsten Worten an die jugendlichen Zuschauer gerade noch so am Abbruch vorbei. Das war mir persönlich sehr unangenehm, auch wenn ich mein Missfallen nicht geäußert hatte, denn die Leistung der Schauspieler, besonders in dieser schwierigen Situation, unter erschwerten Bedingungen, war ohne Zweifel anerkennenswert. Wie das Stück aber hieß oder welchen Inhalt es uns vermitteln wollte, hat sich mir nicht eingeprägt. Nein, darüber schrieb ich auch nichts für die Wandzeitung. Ähnlich verhielt es sich bei dem Stück: „Ein irrer Duft von frischem Heu“.


Ernste Kriegsspiele für den Frieden

Keine Produktion von Kriegsspielzeug mehr, nie wieder Krieg – hieß es noch vor wenigen Jahren. So global gesehen, wäre das inzwischen ein Ausdruck totaler ideologischer Unklarheit, ein Tritt ins Fettnäpfchen. Man muss es differenzierter sehen: Es kommt schließlich nur darauf an, in wessen Händen sich die Waffen befinden! Und es gibt ungerechte und gerechte Kriege.

Wir stärken jetzt unsere Verteidigungsbereitschaft, „um vor den blitzkriegslüsternen Bonner Ultras“ unsere Errungenschaften zu schützen. Für heute wurde zu Schaukämpfen auf dem Weberplatz , direkt vor der Kirche eingeladen. Panzerspähwagen / Schützenpanzerwagen rollen zwischen den Eichen über den Platz. Deckung der mit Kleinkaliber und Platzpatronen ausgestatteten Kämpfer hinter den Bäumen. Platzpatronen platzen, Rauch, Pulverdampf und natürlich die souveräne Überwältigung aller neuen „Faschisten“ durch unsere Kasernierte Volkspolizei – ohne eigene Verluste.

Vor weniger als zwei Jahrzehnten wurde bei Streit und Händel zwischen „Rechts“ und „Links“ an dieser Stelle auf dem Kirchplatz der Lehrling und Jungkommunist Herbert Ritter erschossen. Heute wird geballert, um die Verteidigungsbereitschaft und den großen Sieg darzustellen. „Soll'n die mal von >Drüben< ruhig zugucken und unruhig werden, damit sie erkennen, was ihnen so blühen würde!“


Der „Rummel“, das Schausteller-Gewerbe, ist mir an gleicher Stelle lieber.


Der Rummel

Was ist das nur für ein Wort? Ein typisch berlinerisches? In anderen Gegenden sagt man „Jahrmarket“, in Thüringen gerne „Vogelschießen“ (natürlich ohne echte Vögel) und so hat jede Region ihre eigene Ausdrucksweise. Das ist nicht weiter schlimm. Man muss sich nur friedlich einigen, worüber man eigentlich sprechen möchte, um erkennen zu können, was man denn so meint.

Hier treffen wir gar viele Vergnügungsmöglichkeiten an. Die Überschlagschaukeln in Bootsform reizen mich nicht so sehr. Schön sind dagegen die elektrischen Autoscooter in der Formgebung der längst vergangenen 1950-er Jahre. Allerdings wird es von verschiedenen Leuten immer wieder darauf abgesehen, starke Zusammenstöße der gummiwulstgeschützten Fahrzeuge zu provozieren. Mit einer bewundernswert ruhigen Stimme ertönt zwischen den begleitenden Musiktiteln immer wieder die Aufforderung des Besitzers der Autos: „Bitte rechts halten und links herum fahren“.

Interessant ist auch das Zuschauen beim Motorradfahren an der Wand „im Zylinder“, Mann und Fahrzeug von der Fliehkraft an die senkrechte Fahrbahn-Wand gedrückt, die in diesem Falle aber eine Straße aus Holzbrettern darstellt. Und dann kandierte Äpfel, Würstchen, Zuckerwatte, Losbuden, Gespensterbahn. Schießstände für Luftdruckfreunde, Spiegelkabinett, Kinderkarussells, und und und ... Manchmal sogar Riesenrad und Achterbahn – diese finden dann aber auf dem Weberplatz nicht genügend Raum.


Hier noch eine Information, bevor es zu spät ist

Wenn ein noch Uneingeweihter die Preise für S-Bahn-Fahrkarten benötigt, hier sind sie:

Preisstufe 1 (zumindest bis zum nächsten Bahnhof): 0,20 DM; Pr. 2: 0,30 DM; Pr. 3: 0,50 DM;
Pr. 4: 0,70 DM – (für eine Fahrt von Potsdam bis Mitte Berlin), Preisstufe 5: kostet 1,10 DM.


Kartoffeleinsatz

In den Herbstferien befinden wir uns im Kartoffelerntesammeleinsatz. Eine volle Weiden-Kiepe mit

25 kg Inhalt bringt uns, wenn ich mich richtig erinnere, 15 Pfennige = 0,15 DM. Beim Kiepenwechsel, wenn die Kiepe voll abgeholt wird, gibt es jeweils einen Wertbon, wie etwa eine Kinokarte von der Abreiß-Rolle und diese wertvollen Schnipsel tauschen wir dann später zum Schluss in richtiges Geld um, in bare blanke Münze, sozusagen. Das füllt die Kassen wieder auf.


Schulunterricht kann schön sein

Wir haben in Biologie die Aufgabe bekommen, einige Blätter zu sammeln, zu pressen und zu bestimmen. Das war so ein schön gestaltbares Herbst-Thema, eine angenehme Aufgabe nach meinem Geschmack. Eine größere Anzahl schön aufgeklebt und beschriftet, in durchsichtige Hüllen eingelegt. Ein richtiges Herbarium.

Das machte vergleichbar viel Freude, wie in Erdkunde das Zeichnen farbiger Länderkarten (mit Überschrift in „plastischen“ Buchstaben). Hatte man sich mit dem Land richtig auseinandergesetzt, dann war es in der Klassenarbeit nur noch ein Klacks, die „Stummen Karten“, mit einigen blauen Linien (Flüsse) zur Hilfe, auf dem weißen Grund, mit Leben zu füllen – ein Spaß ohne Zaudern, Raten oder Bangen. Richtig schön! In diesem Fach Erdkunde unterrichtet uns nun Herr Ziegener, genannt: Skizzen-Paulchen. Wir halten ein wenig mehr Abstand von ihm. Er transpiriert kräftig und seine Aussprache ist ausgesprochen untrocken. Ständig zieht er mit der bekreideten Rechten nervös-ruckartig seine Hose hoch. Zur Zeit eilt er mit uns in seinen 1.500-km-Etappen durch die ruhmreiche Sowjetunion. Und die Etappenstädte, die auf seiner gedachten Achse liegen und deren Besonderheiten, prüft er dann in seinen „Blitzarbeiten“. Blitzkontrollen sind seine Spezialität. Wir brauchen / dürfen keine Sätze schreiben, weil er bei deren Zeitdauer einen Informationsaustausch der Schüler untereinander wittert. Nein, er nimmt sich diese Angst davor, indem er eine Kurzfrage stellt und unsere Antwort darf eine blumenreiche Umschreibung nicht sein – nur ein bestimmter Begriff ist als Antwort richtig. Drei Sekunden Zeit, dann die nächste Frage. Entweder man weiß es – oder man weiß es nicht. So ist eine längere Klassenarbeit in wenigen Minuten geschafft und angeblich kann niemand abschreiben – denkt Herr Skizzen-Paulchen. Und er hat die Zeit, weiteren Unterrichtsstoff zu vermitteln. Und sein Aufwand zur Kontrolle und Bewertung der Arbeiten hält sich schön in Grenzen. Vor dem Ende des Unterrichts stellt auch immer wieder interessante Schnellfragen in dieser Art: Jeder wievielte Mensch ist ein Chinese? Welcher ist der tiefste See? Welcher ist der zweitgrößte Kontinent? Wie groß ist Indien? usw.


31. Oktober. Reformationstag. Verlängertes Wochenende.

Mein Vater und ich, wir sind wieder in Wittenberge in der Prignitz zu Gast. Ich diesmal nicht mit dem Fahrrad, sondern mit dem Moped. Zwar wollen wir nicht faul werden aber die rund 150 km rollen sich auf diese Art viel bequemer.

Bloß gut, dass ich dieses Fahrzeug habe, denn auf dem Rückweg kommen wir in ein anhaltendes Unwetter und Vatis stolzes Fahrzeug versagt auf der F 5 zwischen Wusterhausen und Kyritz. Sein „Krause-Piccolo-Trumpf“ ist mit einem unüberdachten Seitenbord-Mopedmotor ausgestattet und stellt in dem Starkregen seinen Dienst ein. Bei der Fehlersuche habe ich über meinem Kopf und dem notdürftig abgetrockneten Motor einen schwarzen Folien-Regenmantel. Darunter sieht man fast nichts mehr. Aber man kann fühlen und ich habe die kleine Taschenlampe zwischen den Zähnen. Ich hocke also dort und wechsle die Zündkerze, unternehme Wiederbelebungsversuche am Motor. Ergebnislos. Ich wechsle Zündkerzenstecker und -Kabel, mit gleichem Erfolg. Ich zerlege den Vergaser, reinige ihn innen (es war nichts zu reinigen) und setze ihn wieder zusammen – alles in der Hocke, im fast Dunkeln, ringsum außerhalb der Folie das Rauschen, innerhalb nur das Tropfen. Inzwischen wurde es auch außerhalb der Regenfolie dunkel. Nach längeren Versuchen des Anschiebens, sagt der Motor ein paar Takte, ich eile zurück, hole das Moped – und Vatis Karre bleibt stehen – mitten auf einem Bahnübergang. Der gefährlichste Moment der Reise. Der aufmerksame Schrankenwärter hilft aber nicht etwa das Fahrzeug vom Gleiskörper zu schieben. Er tut warnend und mahnend so, als ließe er die Schranke wegen eines (nicht wirklich) herannahenden Zuges herunter (lässt die Schrankenglocke ertönen), auf das der Fremdkörper sich beeilen möge diese Gefahrenzone schleunigst zu verlassen. Das geht aber erst, als ich mit dem Moped nachkomme und das Gefährt mit Vater vom Bahnkörper hinweg schiebe. Mit Hilfe der Blendlaterne des Schrankenwärters er war dann doch ganz freundlich probierte ich nochmals trocknend alle potenziellen Schwachpunkte durch ... und der Motor sprang tatsächlich an. Und so ging es etwa 23 km bis kurz hinter Friesack – dort aber ein neuer Streik des Fahrzeugs. Ich also schiebe den Vater weitmöglich abseits der Fahrbahn und lasse ihn mutterseelenallein im Dunkeln, im Regen unter dem Folienmantel stehen. Bestimmt ein Bild zum Lachen, wäre es Tag und die Welt in Ordnung gewesen wäre. Ich fuhr also indessen zurück in den Ort (Friesack) um ein Fuhrwerk, ein Gütertaxi oder einen Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr oder des DRK zu ermuntern, eine Heldentat zu vollbringen – alles vergebens, weil kein Kranker, kein Toter, kein Unfall, kein Brand, überhaupt nichts in Sichtweite vorhanden und zu retten war. Alle Pferde schlafen brav im trocken Stall. Das haben sie verdient (es war inzwischen 20.30 Uhr). Ein Gütertaxi wäre am folgenden Tag vielleicht in Kyritz oder Nauen erreichbar. Geistesgegenwärtig frage ich im HO-Hotel des Ortes, im „Goldenen Stern“ an. Tja, das Haus sei fast leer, ein Zimmer können wir zum gegenseitigen Vorteil gern sofort bekommen. Dankend per Handschlag besiegelt. Nun konnte ich mein Moped in einem Schuppen des Hotels unterstellen und begab mich zu Fuß auf den Weg, den Vater in der Dunkelheit irgendwo neben dem Straßengraben wieder aufzuspüren und ihn zum „Goldenen Stern“ zurück zu schieben. Ein Kinderspiel, denn es ging leicht bergab. Das Fahrzeug untergestellt und dessen sensible Areale trocken gerieben. Hernach gleiches bei uns.

Das Zimmer war zwar eingedenk unseres sehr plötzlichen Erscheinens kalt aber wir konnten „uns auswringen“, abtrocknen und unsere sämtliche, völlig durchnässte Kleidung in der Küche abgeben. Dort wurde sie an Herd und Ofen getrocknet – fast wie „bei Muttern“. Wir bekamen als sehr späte, einsame Gäste sogar noch etwas Warmes zu essen und konnten ein Telefongespräch nach Babelsberg führen, dass wir erst am kommenden Tage auf der Bildfläche erscheinen würden. Am nächsten Morgen war draußen alles trocken und drinnen unsere Kleidung auch. Och, bei der Schnell- und Starktrocknung ein bisschen angesengt, was machte das schon. Kleines gutes Frühstück und der Plan, eine Werkstatt zu suchen, die bessere Diagnosemöglichkeiten hat als ich.

Vorerst aber mit erfrischtem Mut dem Motorchen gut zureden und nochmals probieren. Und siehe da, welch Wunder, die Karre läuft, sie schnurrt wieder – die restlichen 64 km bis nach Babelsberg.

Ich habe einen Tag Schulversäumnis ohne vorherige Entschuldigung. Aber schön war es doch!

Reisen bildet – was lehrte uns die Aktion? Was lernte ich aus ihr?

1. Fahren bei Regenschein – das lass möglichst sein. Wenn 1. nicht einhaltbar ist, dann:

2. Für unseren guten Schlosser, Herrn Erich Quast, Fultonstraße 5, fertige ich eine Zeichnung und er macht daraus eine ausgezeichnete Blechüberdachung für diesen Außenbord-Motor, besonders wertvoll für dessen Vergaser. Passt wie angegossen. Und vermeidet gleiche Probleme „für alle Zeiten“.

3. Hinzu kommt die Halterung für einen 5-Liter-Benzinkanister als Notreserve.

4. Wir lassen bei der Fahrzeugelektrik-Werkstatt „Rückheim“ in der Wattstraße 11, eine Akku-Standlichtanlage einbauen, damit man nicht mehr im Dunkeln unbeleuchtet und hilflos auf der Straße herumstehend, sich und andere gefährdet.

Dieses Dreirad ist zwar als Versehrten-Fahrzeug konzipiert und verkauft, doch an derartige Ausrüstungen hat niemand gedacht. Nun haben wir das Fahrzeug mit kleinem, die Zuverlässigkeit erheblich erhöhenden Mindestkomfort nachgerüstet aber natürlich ist die Einzelanfertigung dann doch wieder teurer, als bei einer Produktion in der Serie.

5. Ich habe für mein Bildungs- und Erziehungsprogramm im Verkehrsunterricht der Schule, einige interessante neue Aspekte zu besprechen und eine Geschichte, die sich in Bezug auf unseren Verkehrsunterricht ausbauen lässt.

6. Kurz, wir sind schon wieder ein Stück zufriedener, ja, fast glücklicher. Gewappnet für eine noch schönere und pannenärmere Reise. Wohin das bloß noch führen soll wenn das so weiter geht?


Die Löwen sind los. Die Löwen sind wir los.

In der Nacht ist in unserem Miet-Haus ein ganz gemeines Verbrechen geschehen. Neben unserer Wohnungstür haben wir an der Wand ein schönes dickes Holzbrett mit geschwungenen Kanten – so ähnlich wie alte Wappenschilde aussehen. Das Brett hatte ich erst vor einiger Zeit frisch farblos lackiert. Es wird mit zwei Messingschrauben mit blumenblütenartigen Zierköpfen an der Wand gehalten. Genauso sah es noch bei fast allen Mietern aus. Es ist der Originalzustand von 1912. Gewesen. Auf dem Brett befestigt ist unser Name, von Vati in Kunstschrift geschrieben und mit einer dicken Glasplatte überdeckt, die geschliffene Kanten aufweist. Die Kanten zeigen uns in der Sonne alle Regenbogenfarben. Als „Klingelknopf“ war darunter (bis gestern Abend) ein schöner Löwenkopf aus dickem, massiven Messing. Er erinnerte mich – bis auf die Nase – etwas an Beethoven, mit einem Beißring, der zur Betätigung der Klingel anzuheben war und somit den elektrischen Kontakt schloss. „Ist noch aus Friedenszeiten“, wie der Hauswirt gern sagte. – Eingedenk der Tatsache, dass man ja auch offiziell davon spricht, dass wir uns im „Kalten Krieg“ befinden, ist das wohl gar nicht so falsch (?), auch wenn es sich schrecklich altmodisch anhört.

Über Nacht ist er nun verschwunden (unser Beethoven), wie von den anderen Wohnungstüren auch. Nun schauen nur noch zwei abgerissene Drähte traurig aus dem Loch des Brettes heraus.

Seit dem heutigen Nachmittag ziert das Brett ein 08 / 15-Klingelknopf aus schwarzem Duroplast, den ich aus dem Elektro-Konsum holte. Bloß gut, dass Klawons (als Hauseigentümer) das nicht mehr erleben mussten. Den Hausvertrauensverwalter scheint das nicht arg zu kümmern, auch kein Polizist nimmt eine Spur auf.

Waren die Täter kleine fleißige Buntmetallsammler – wie leicht hätte doch beim Klauen versehentlich der Drahtkontakt geschlossen werden können und die Klingel hätte es einer nächtlichen Sirene gleich getan. Es waren offenbar Könner mit Zeit und Nacht-Ruhe. Oder waren es vielleicht eher große Kunstraubhändler? Man hört ja so einiges, dass es im Westen immer vornehmer werden soll und gegen „harte Währung“ von unserer Seite gern vieles hinübergeschoben wird. In solch einem Falle erübrigt sich dann eine polizeiliche Verfolgung.


Spätere Anmerkung: Damals wusste ich noch nicht, dass die sozialistische Staatsführung selbst, uns ausblutend, alle möglichen Kunstschätze, auch von jenen aus privatem Besitz, die dem Staat also nicht gehörten, beschlagnahmte und gegen West-Geld, also Valuta, Devisen, „harte“ konvertierbare – dass heißt tauschbare, weltmarktanerkannte Währung, in den bösen Westen verschleuderte, sogar hin bis zum superschweren historischen Straßenpflaster, sagte man und dazu ein regelrechtes Imperium, verquickt mit dem Staatlichen Kunsthandel und dem Ministerium für Staatssicherheit betreibt. Bekannt wird in späteren Jahren die KoKo (Kommerzielle Koordinierung) zur Devisenbeschaffung unter dem treuen Genossen Oberst der Staatssicherheit Dr. jur. Alexander Schalck-Golodkowski. Dessen Promotionsthema ebenfalls im Rahmen und im Interesse der Stasi-Belange. Zu seinen betreuenden und anleitenden „Doktorvätern“ gehörte auch der Genosse Erich Mielke, der General der Staatssicherheit mit dem wohl mittleren Schulabschluss, der also selber kein Dr. jur. war. Die bisherigen Besitzer der Kunstgegenstände wurden enteignet, wohl oft genug in den Tod getrieben. Das kümmerte die SED-Staatsführung nicht.

Es ist schon nicht einfach. Man sieht es immer wieder an bestimmten Beispielen: Stets wird von uns Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, ein einwandfreier fester Arbeiter-Klassenstandpunkt gefordert und andererseits sieht man stets auf's Neue, dass jene, die es von uns einfordern, es selbst ganz anders halten. Das gehört wohl so zum sozialistisch-dialektischen Widerspruch.


Besondere Alltags-Artikel aus der DDR


Das Glas Fassbrause kostet immer noch 12 Pfennige.

Für das Bier, Hell 0,3 l, zahlen wir 48 Pfennige, das Pilsener Bier kostet 51 Pfennige.


Besondere Gerüche und Düfte – und das nicht nur im Dezember

Zum Jahresende mal einen Rückblick auf bestimmte Sinneseindrücke – in den vergangenen Jahren gesammelt. Aktuelle Geruchseindrücke lassen lang zurückliegende Erinnerungen frisch aufleben. Man kann diese Sinneseindrücke oftmals anderen Menschen für eine Gleichempfindung nicht genau mitteilen, nicht erschöpfend mit Worten beschreiben aber für den Betreffenden sind sie da. Eindeutig und unverwechselbar. Es gehören unbedingt und unauslöschlich dazu:


Nun neigt sich das Jahr 1960 seinem Ende zu. Wir bereiten das Weihnachtsfest vor, lassen das vergangene Jahr noch einmal Revue passieren und freuen uns auf viele noch nicht absehbare Erlebnisse in der kommenden Zeit. Bestimmt hält das Jahr 1961 einen Sack, prall gefüllt mit Überraschungen, für uns bereit.




Liebe Leserinnen, liebe Leser,


der 2. Teil des Berichtes über das Leben dieses Menschen endet hier.


Die Fortsetzung "janecke-chris-3" ist als Datei bereits vorrätig und begleitet uns

durch die Jahre 1961 bis 1965.


Freundliche Grüße,

Chris Janecke