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Mein Aufenthalt im Kindersanatorium „Helmut Just“


in Bad Frankenhausen, im Frühsommer 1957.


Gute Erholung im kleinen Kyffhäusergebirge am großen Thüringer Wald


Bearbeitung: Oktober 2022 Kontaktpartner: christoph@janecke.name

Zur Einstimmung in diesen Bericht gibt es einige Bilder – bitte hier klicken.


Die Einladung zum Verreisen kam wieder von der Sozialversicherungskasse. Sie kam, weil ich angeblich zu dünn und recht lang gewachsen sei und außerdem in dem elterlichen Geschäftshaushalt ständig die „beißende Ammoniak-Luft“ von der Lichtpausen-Entwicklung einatmen muss. Die SVK hatte vom Arzt aus der Kinder- und Jugendfürsorgestelle in der Babelsberger Karl-Liebknecht-Straße 113 den Bescheid über die Zweckmäßigkeit einer solchen Kur für mich bekommen.

Eine sechswöchige Erholungskur im Kindersanatorium „Helmut Just“, im Solbad

Bad Frankenhausen am Südhang des Kyffhäuser-Gebirges, das in der Diamantenen Aue liegt. Das also steht für mich ganz oben auf dem Plan. Das hört sich doch sehr gut an. Ein Teil der Zeit wird in den großen Sommerferien liegen, so versäume ich nicht zu viel vom Unterrichtsstoff in der Schule. Wäre es aber anders, würde ich das ebenfalls „aushalten“.


Ankunft und Begrüßung

Nach langer Busfahrt, denn das kleine Kyffhäuser-Gebirge liegt zwischen dem Harz und dem thüringischen Mittelgebirge, kommen wir in Bad Frankenhausen an. Der Bus bringt uns direkt bis vor das Heim in der Thomas-Müntzer-Straße. Am Treppenaufgang zum Haus stehen kräftige Fliederbüsche, die vor einiger Zeit noch süß-aromatisch geduftet haben sollen. Wir kennen das.

Das Kurhaus ist ein riesiges Gebäude. Etwa 100 Kinder können sich hier in jedem Sechs-Wochen- Durchgang erholen und jene, die ernsthaft krank sind, sollen auch möglichst wieder gesund werden. Das Haus steht am „Weinberg“. Wein sehen wir momentan nicht so recht, vielleicht wird er gerade deshalb auch noch Fliederberg genannt. Direkt rechts neben dem Grundstück (wenn man von der Straße aus auf den Hang sieht) befindet sich der „Schlachtberg“. Keine schöne Bezeichnung. Der Berg erhielt diesen Namen zum Gedenken an die kurzen, grausigen Kämpfe am Ende des Bauernkrieges 1524/25.

Gleich nach dem Aussteigen aus dem Bus werden wir freundlich von der Leiterin des Sanatoriums begrüßt. Es ist Frau Ruth Liesegang. Sie schaut bereits auf eine Reihe von Jahren ihres Leitens dieses Sanatoriums zurück. Man kann also sagen, alles ist ihr hier sehr vertraut, nur wir sind für sie im Moment neu. Nun werden wir nach Altersstufen in Gruppen aufgeteilt.

Zu unserer Gruppe gehören neben der Erzieherin, die wir ja zuerst nennen möchten, 26 Jungen. Zu den größeren, aber eben besonders zu den längeren, gehöre auch ich. Ich bin elfeinhalb Jahre alt und habe etwa die gleiche Größe wie unsere nette Erzieherin, Fräulein Jödicke, die aber auch Regina heißt. Die Erzieherinnen tragen eine Art Berufsbekleidung: Wir sehen sie stets mit weißen, gestärkten Schürzen in Haus, Hof und Garten – beim Wandern aber nicht. Acht Erzieherinnen sind im Sanatoriums-Heim tätig, zwei Krankenschwestern und ein Arzt. In meiner Gruppe sehen die Jungen allerdings nicht besonders krank oder schwächlich aus. Alles fröhliche Kumpel – so ist mein Eindruck.


Einige Worte zum Haus und zur Kur

Seit 1818 wird diese Art von Heilkunst in Frankenhausen schon gepflegt. In diesem Sanatorium aber noch nicht solange, denn es ist bedeutend jünger. Das erste Kurheim für Kinder richtete Frau Minna Hankel im Jahre 1879 an der Wipper ein, an dem kleinen Flüsschen, das sich seinen Weg durch Frankenhausen bahnt. Der Minna Hankel zu Ehren trägt eine Straße ihren Namen. Der Bau „unseres“ Erholungsheimes wurde vom Gewerkschaftsbund der Angestellten unter dem Vorsitz des Herrn Hermann Hedrich (* 1853 bis † 1927) in Auftrag gegeben und in den Jahren 1926 und 1927 errichtet. So schnell ging das damals. Und im gleichen Jahr 1927 verlieh man der Stadt auch den Titel „Bad Frankenhausen“. In jener Zeit leitete dieser Herr Hedrich in Hamburg eine große Krankenkasse für weibliche Angestellte. Das Haus ist also seinem Bemühen und seinen Geldquellen zu verdanken. Der Architekt des Hauses war der Leipziger Herr Georg Wünschmann (er lebte von 1868 bis 1937). Errichtet hat das Gebäude die „MIMA“, das war die Mitteldeutsche Massiv-Sparbau GmbH aus Frankenhausen, unter der Führung des Herrn Carl Boettger, der zum Bau noch weitere Auftragnehmer einbezog. Das Bauwerk besteht im Wesentlichen aus dem heimischen Muschelkalksandstein. Meeresmuscheln in höheren Mittelgebirgslagen! – wer hätte das als Laie schon gedacht? Ein Haus aus versteinerten Schnecken und doch kein Schneckenhaus. Ja, ich würde gern auch ein Architekt oder Bauingenieur werden und solche schönen Bauten entwerfen.

So, nun wissen wir es: Das von Natur aus schneeweiße Gebäude ist gerade 30 Jahre jung, kein großes Alter für ein Haus. Und gut gepflegt ist es. Deshalb sieht es ja außen genauso wie innen auch noch ziemlich neu aus.

Im Jahre 1929 erhielt das Kurhaus, das „Hermann-Hedrich-Heim“, wie es hieß, eine eigene Solewasserleitung für die Kuranwendungen gelegt. Herr Hedrich brachte auch die Oberin (die Vorsteherin, die Leiterin) für das Haus aus Hamburg mit und außerdem die ersten betreuenden Krankenschwestern. In den folgenden Jahren erholten sich deshalb hier auch besonders viele kranke und schwache Kinder aus dem Hamburger Gebiet. Im Jahre 1935 erfolgte dann links am Haus der Anbau einer Salzwasser-Badehalle.

Als leider schon bald im Zweiten Weltkrieg (1939 bis 1945) erste Bomben auf Bad Frankenhausen abgeworfen wurden, schloss man das Erholungsheim. Es wurde wohl erst 1949 wieder eröffnet.

Vor wenigen Jahren bekam das Sanatorium einen anderen Namen, obwohl der Herr Hedrich, der ja das Heim bauen ließ, ein sehr gutherziger und großzügig-sozial denkender Mensch war, wie man hört. Doch diese Geschichte ist mit Makeln behaftet: Der Herr Hedrich war weder ein Arbeiter, noch ein Bauer und auch kein sozialistischer Soldat und um nun das Sole-Fass zum Überlaufen zu bringen, hatte er auch noch hoch im Norden gelebt – wir wollen es hier besser aktuell-politisch benennen: er lebte in Hamburg, also eher im Westen. So musste das Gebäude gründlich entmakelt und neu benamst werden.

Das Sanatorium heißt deshalb jetzt „Helmut Just“. Dieser Helmut Just hat allerdings mit dem Gebäude nichts zu tun. Er war wohl auch noch nie in Bad Frankenhausen zu Besuch. Das Hedrich-Heim erhielt diesen neuen Namen als Denkmal, zur Erinnerung an ihn, denn Just war ein ganz junger DDR-Berliner Grenzpolizist. In Berlin am 02. Juli 1933 geboren – er war also gerade nur ein Jahrzehnt älter als die Ältesten von uns. Er hatte den Beruf eines Malers gelernt und diente anschließend in Berlin bei der Grenzpolizei. Bei diesem Dienst wurde er am 30. Dezember 1952 bei kurzem Schusswechsel von der Kugel eines illegalen Grenzgängers tödlich getroffen. Er war noch nicht einmal 20 Jahre alt. Diese Geschichte ist für seine Familie und auch für uns furchtbar traurig. Es hätte genauso schlecht auch umgekehrt geschehen können, denn das Überschreiten der DDR-Grenze ohne eine staatliche Genehmigung ist streng untersagt. Es ist unter Lebensgefahr verboten, sich auszusuchen, wo man gerne wohnen möchte oder wohin man reisen will. Die meisten der republikflüchtigen Bürger besitzen aber wohl keine Waffen und bei uns kann man auch keine im Laden kaufen. Das ist gut so – wenn es auch nicht immer hilft.

Wir hatten gerade noch im Mai vor dem Ende des Schuljahres die Schul-Wandzeitung unter dem Motto fertig gestellt: „Wir steh'n im Kampfe Tag und Nacht – der Grenzschutz unser Land bewacht“. Es gibt immer wieder schreckliche Nachrichten über schlimme Vorkommnisse. – Dieser neue Ehrenname für das prächtige Gebäude hat Herrn Hedrich im fernen Westen aber nicht gewurmt, denn erstens weilt er nicht mehr unter den Lebenden und auch sonst hätte ihm eine Aufregung nichts genutzt, denn er hätte gar nichts dagegen tun können „gestürzt“ zu werden.


Doch nun zurück in unsere 1957-er Gegenwart

Wir wohnen in freundlichen hellen Zimmern. Das gesamte Haus ist sehr sauber, gepflegt und es riecht überall ein wenig ähnlich wie in der Schwimmhalle. Aber es ist kein Chlor. Einen ganz treffenden Geruchsvergleich habe ich nicht. Das macht die Sole ohne „h“, der Salzwassergeruch, der von den Behandlungsräumen, die im Keller liegen, auch nach oben dringt.


Bald nach der Ankunft werden wir gemessen, gewogen und ärztlich beäugt.

Die medizinische Behandlung für uns alle bezieht sich im Wesentlichen auf das Baden in den großen Holzwannen, die mit dem warmen, fünfprozentigen Salzwasser gefüllt sind. Es ist also ein halbstündiges Herumliegen oder Aalen, dabei die Seele baumeln lassen, dösen oder auch mal etwas schwatzen. Zweimal in der Woche. Das ist das Wesentliche der Kur für mich.


Je nachdem, was der Arzt des Heimes so für günstig hält, bekommen andere Kinder auch noch zusätzliche Einzelbehandlungen, zum Beispiel Hautbehandlungen, weitere Inhalationen oder auch die künstliche Höhensonne, die wieder ganz anders riecht: nach Ozon, dem besonderen Höhensauerstoff, der mit drei „O“ geschrieben wird.


Aber es gibt auch einen Raum, in dem zweiprozentige Sole in der Raumluft vernebelt wird. Darin halten sich vorwiegend die Kinder auf, die mit erkrankten Lungen oder Bronchien anreisten. So ähnlich wie die Kapuziner-Mönche sehen sie in den weißen Igelitumhängen inmitten des „Waschküchennebels“ aus und atmen und atmen eine halbe Stunde lang tief durch. Alle Bronchien-Verästelungen und auch die Lungenflügel mit den kleinen Lungenbläschen nehmen den heilsamen Sole-Nebel auf, der dort mit seiner guten, heilenden Wirkung beginnt.

Salzig ist das Wasser deshalb, weil darin viel Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium, aber auch Fluoride, Sulfate und Chloride gelöst sind. Alles also, was sich so im Frankenhäuser Untergrund an Salzablagerungen befindet.

Die ganze Welt scheint inzwischen davon zu wissen, denn sogar der amerikanische Elvis Presley singt das italienische Lied: „O sole mio“. Der Elvis ist, wie wir wissen, noch nicht so sehr lange in den USA beheimatet, denn seine Vorfahren, die Familie Pressler / Preßler, die wohl in Thüringen lebte, war nach Nordamerika, ausgewandert – aber weit vor der Gründung der DDR – deshalb war es auch gestattet und er ist kein Republikflüchtiger.


Vom Grundwasser wird der Gips, das Anhydrit, aufgeweicht und es werden diese wertvollen Salze einfach aus dem Gebirge ausgewaschen. Dabei entstehen im Berg natürlich große Hohlräume. Deshalb stürzen auch obere Schichten des Gebirges von Zeit zu Zeit ein. Wohin das führen kann, sehen wir beispielsweise an der Oberkirche „Unserer lieben Frauen am Berge“, die schon schräger steht, als der „Schiefe Turm zu Pisa“ – aber trotzdem noch immer nicht ganz so berühmt ist. Wer soll das verstehen? Diese Kirche wurde wohl im Jahr 1385 gebaut. 56 Meter hoch ist sie – aber wegen der zunehmenden Schrägstellung wird das natürlich weniger. Wenn das so weiter geht mit „dem-sich-Verneigen“ und sie das bald nicht mehr aushält..., wird sie wohl ihre längste Zeit hinter sich haben, wenn man sie nicht rettet. Von 1385 bis 1539 war es eine katholische Kirche mit lateinisch dargebrachter Liturgie, doch dann wurde plötzlich evangelisch gepredigt und das Volk konnte tatsächlich in deutsch-thüringischer Art verstehen, was der gute Pastor so mitzuteilen hatte.

Außer dieser Oberkirche gibt es noch die junge, erst 1703 erbaute Unterkirche und wieder ein Stückchen weiter südlich, die Altstädter Kirche, die dem Heiligen Petrus geweiht wurde. Dieses Gebäude gilt als das zurzeit älteste Haus von Bad Frankenhausen.


Der Tagesablauf

Für sechs Wochen dürfen wir hier sein. Da möchte man die Tage schon schön einteilen und auch manches Wissenswerte notieren (falls man es nicht behalten kann). Die Last des Einteilens nimmt uns die Heimleitung beziehungsweise nehmen uns die Erzieherinnen ab und das geht etwa so:


Um 7.00 Uhr tut man so, als müsse man uns wecken. Für die meisten ist die Nacht schon vorher vorbei. Wir stehen nach dem Wecken mehr oder weniger flink auf, waschen uns, räumen ein wenig Krimskrams fort, machen die Betten so, dass es zum Zimmerdurchgang möglichst nur ein gelächeltes Lob gibt.

Nach dem Frühstück gehen wir entweder zu den Kur-Behandlungen oder auf eine Wanderung, schreiten zum Spielen im Freien oder bleiben auch mal im Haus.

Im Anschluss an die schmackhafte Mittagsmahlzeit um 12.00 Uhr, ist dann eine Mittagsruhe angesagt.

Um 14.30 gibt es für uns eine kleine Vesper mit Milchkafé und einem Stückchen Kuchen. Ich finde, dieses Wort „Vesper“ das wir zu Hause gar nicht benutzen, hört sich schon so richtig nach „knabbern“ an. Bestimmt vespern Mäuse auch ständig – wenn sie etwas haben. An Festtagen werden die Erzieherinnen vielleicht auch mal richtigen Kaffee von Bohnen trinken, falls sie nicht den guten grusinischen Tee bevorzugen, der früher in Georgien wuchs.

Bis 18.00 Uhr haben wir dann erneut Freizeit für Spaziergänge oder Spiele. Nach dem Abendessen, dem Waschen und Zähneputzen wartet bereits wieder das kuschelige Bett auf jeden von uns. Bis 20.00 Uhr, also bis zum Beginn der Nachtruhe, können wir noch Erfahrungen über den zu Ende gehenden Tag austauschen oder Fräulein Jödicke liest uns eine spannende Geschichte vor oder es wird ein Abendlied gesungen. So schnell ist ein Tag vorbei.

Nach kurzer Zeit merken wir: Wir Jungs vertragen uns eigentlich alle recht gut miteinander.


Unsere Wanderungen und Spaziergänge – Natur und Kultur (was wir so sahen und lernten)

Wir Kinder zwischen 6 und 14 Jahren sind in vier Altersgruppen eingeteilt. Jede Gruppe hat einen Gruppenraum für sich. Neben dem guten Essen und den Spielen (Regen kommt kaum mal vor) gehen wir viel in der Umgebung spazieren. Dabei erzählt uns unsere Erzieherin auch manches. So lernen wir viel Neues kennen, denn Fräulein Jödicke weiß sehr viel.

Eine recht weite Wanderung von etwa 9 Kilometern war es bis zum Kyffhäuserdenkmal. Interessantes begegnete uns: versteinertes Holz, also verkieselte Baumstümpfe und Stämme, links am Straßenrand, am Chausseestein 1.44 zum Beispiel. Diese steinernen Hölzer sollen schon 300 Millionen Jahre alt sein, in einer Zeit gelebt haben, als es noch keine Menschen gab. Das sieht man ihnen nicht an – sie sehen ziemlich frisch aus. Die längsten Stämme sind etwa 15 m lang und besitzen einen Umfang von mehr als 3 m. Vor dem ersten Besichtigen mussten sie damals allerdings wegen der Erdüberdeckung und des darauf stehenden Unterholzes erst einmal gefunden und freigelegt werden. Aus solchen Stammrollen wurde auch der wegweisende Obelisk zusammengesetzt, der an der Wegegabelung zum Kyffhäuserberg steht. Aus Stammrollen – also aus Abschnitten zusammengesetzt – deshalb, weil ein Gesamtstück, weil solch ein Baumstamm aus Stein für die heutigen Auto-Kräne viel zu schwer ist. Ja früher, bei den ägyptischen Pyramiden zum Beispiel, da ging den Arbeitern sowas leichter von der Hand.

Vorbei gingen wir am Ententeich, im Moment ohne Enten, aber mit einer guten Aussicht zum nahen Kulpenberg, der 473 m hoch ist. Beim Aufstieg zum Kyffhäuser-Denkmal besichtigten wir die ruinösen Reste der Reichsburg Kyffhausen aus dem 11. Jahrhundert, mit Unterburg, Mittelburg und Oberburg. Von der Oberburg besteht noch die Ruine des Bergfrieds (Wohn-Veste und Aussichtsturm). Das ist der Barbarossa-Turm aus rotem Sandstein, der zu seiner Zeit aber mit

35 m mehr als doppelt so hoch war, wie die heutigen Reste. Diese damals feste Burganlage hatte eine Ausdehnung von etwa 600 x 60 Metern und befindet sich in 457 Metern über dem Meeresspiegel. Man hätte auf dieser Fläche also auch ein kleineres Dorf unterbringen können. Alles ist sehr gut anzuschauen. Von oben hat man die Möglichkeit eines ausgezeichneten Rundblicks. Zum Süden über die Wälder, in nördlicher Richtung über die Goldene Aue mit den eingestreuten Ortschaften bis hinüber zum Harz. Den Brocken können wir deutlich erkennen.

Auf dem Gelände der Burg gibt es auch einen Brunnen zur Wasserversorgung – dieser war eine Grundvoraussetzung dafür, dort überhaupt eine Burg zu bauen. Es handelt sich um einen Kesselbrunnen der 176 m senkrecht nach unten durch den roten Sandstein „gegraben“ wurde, bis man auf Wasser stieß. Das Wasser wurde mit einem Eimer am Seil, aufgewickelt auf einer Windenrolle, hochgekurbelt. Man sagte uns, dass dieser der tiefste Burgbrunnen auf der gesamten Erde sei. Man darf die lange Zeit vom Loslassen eines Steinchens bis zu dessen Aufklatschen staunend abwartend verfolgen. Ich weiß ja nicht – dann wird die Brunnenröhre wohl bald voll sein und kein Wasser mehr fließen können?

Dann stärkten wir uns erst einmal am mitgenommenen Proviant.

Das Kyffhäuser-Denkmal ist rund 81 Meter hoch. Man baute es von 1890 bis 1896. Vor dem Denkmal sitzt der steinerne Staufer-Kaiser Friedrich I, „Barbarossa“, also der Kaiser „Rotbart“ (er lebte von 1122 bis 1190). Als Reiterstandbild sehen wir auch den Hohenzollern-Kaiser Wilhelm I. (1797 bis 1888), der in Berlin, Babelsberg und Potsdam (also direkt bei mir zu Hause) lebte, aber sogar hier verewigt wurde. Beide Kaiser lebten somit vor der Errichtung des Denkmals, hatten also selber nicht viel davon.

Wir erklommen die 366 Stufen des Denkmals bis zur Aussichtsplattform. Wären wir täglich nur eine Stufe vorgerückt, dann hätten wir in einem Jahr immer noch hier gestanden. Soviel Zeit haben wir aber nicht, denn zurück nach Bad Frankenhausen fuhr dann bald unser Bus. –


An einem anderen Tag: Auf dem Weg in Richtung Rottleben gehen wir am Ende der Thomas-Müntzer-Straße am Stadtpark vorbei und nach einem Schlenker in die Rottleber oder Rottlebener Straße immer weiter geradeaus, dann durch die Wiesen, um zur Barbarossahöhle zu gelangen. Das ist eine Anhydrit-Höhlenanlage, hat also auch schon wieder etwas mit Gips und altem Kaiser zu tun. Man stieß auf die Hohlräume am 20. Dezember 1865 bei der Suche nach Kupferschiefer. Diese Entdeckung war wie ein riesiges Weihnachtsgeschenk. Die natürlichen Höhlenräume bieten ihre An- und Einblicke nun schon seit 1866 „dem staunenden Publikum“. Die Menschen dürfen sie also seit rund 90 Jahren besuchen. Etwa 800 Meter der Höhle werden von den Besuchern in einer Stunde durchlaufen und sie lauschen dabei den Erklärungen des Personals, denn allein dürfen Besucher hier nicht herumstrolchen – und vielleicht dabei verlorengehen. Diese Höhle zählt zu den größten Gipsgesteinshöhlen von Europa und ist die eine von nur zwei Anhydrit-Schauhöhlen auf unserem europäischen Kontinent. Die Höhle hat Naturräume, die bis zu 30 m hoch sind. Die Höhlenausdehnung beträgt ungefähr 25.000 Quadratmeter, hat kristallklare Seen und von der Decke herabhängende Anhydritlappen aus Stein (die „Gerberei“) und ganz natürlich entstandene „Sonderformen“ an Gestein, wie Schlangen oder kuglige Gebilde aussehend.

Die Barbarossa-Höhle erinnert an die Legende um den Stauferkaiser Friedrich I, für den man hier einen Thron und einen Tisch aus dem Höhlengestein aufgeschichtet hat, damit es für ihn so richtig gemütlich ist. Denn in dieser Höhle, „seinem Schloss“, soll der alte Rotbärtige wohnen und ruhen, solange die schwarzen Raben noch um den Kyffhäuser-Berg fliegen, wird uns erzählt. (Wir aber haben draußen vor allem Sperlinge, die Singspatzen beobachtet). Abend wird ihm in der Höhle jedoch das Licht abgeschaltet.

In Wirklichkeit, so richtig wissenschaftlich, sagen andere, ist der alte Kaiser gar nicht hier, sondern auf einem Kreuzzug nach Palästina, nach „Kleinasien“, beim Baden am 10. Juni 1190 in dem Fluss Saleph ertrunken, denn stille Wasser sind manchmal tief. Seinen 69. Geburtstag hatte er vorher auf jener Reise gefeiert. Der 70. wäre bestimmt noch prächtiger begangen geworden, wenn nicht ... ja, und so wurde nichts mehr daraus. Sein toter Körper aber wurde gerettet und sein Gedärm im Ort Tarsos bestattet, das Muskelfleisch in Antiochia und seine Knochen in Tyrus. So hatte viele ein Andenken an ihn und er sitzt hier nur in unseren Gedanken. Zu seinem Gedenken. Wie es auch gewesen sein mag – wir alle haben schwimmen gelernt und unser Leben ist ja nicht so sehr gefährdet wie das eines ritterlichen alten Kaisers. Und unser Leben mit seiner Gesundheit wird wohl auch immer besser, weil wir hier im Sanatorium sein dürfen.


Das Sole-Freibad in Bad Frankenhausen wurde in den Jahren 1936 bis 1938 von der „MIMAS“, also auch wieder von der Mitteldeutschen Massiv-Sparbau-GmbH, errichtet. „MIMAS baut alles für Sie!“, so hieß es damals in der Reklame, ähnlich wie heute in der sozialistischen Werbung: „Der KONSUM hat alles“. Der leicht erscheinende Sprungturm hat eine Schwindel erregende Höhe. Sprungbretter sind in 1, 3, 5 und 10 m Höhe über der Wasseroberfläche montiert. Das Becken sieht bestimmt von oben sehr klein aus. Das Schwimmbad wird auch mit Salzwasser aus dem Gebirge gespeist und ist deswegen recht kalt. Man fühlt sich fast wie am Meer. Nur musste das Becken wohl schon mehr als einmal erneuert oder zumindest abgedichtet werden, weil wegen der Hohlräume durch Auslaugung und der Verwerfungszone der Erdkruste, Risse und damit Undichtigkeiten entstehen. Klar ist: Wenn das Becken leer läuft, darf man nicht springen, dann kann man auch nicht schwimmen.


Einige Stadtrundgänge unternehmen wir. Die Ziele werden von Fräulein Jödicke hübsch aufgeteilt, damit für die nächsten Tage immer noch was Neues übrig bleibt, denn Bad Frankenhausen ist ja kleiner als beispielsweise Berlin. Das Heimatmuseum im früheren Schloss ist unser heutiges Ziel.

Wir besichtigten schon einen Betrieb der Knopfherstellung. Davon gibt es eine ganze Menge, die meisten davon sind sehr kleine Familienbetriebe.

Die Herstellung von Natur-Perlmuttknöpfen ist in Frankenhausen etwa seit dem Jahr 1700 angesiedelt. 1831 gründete dann der Herr August Zierfuß die erste größere Knopffabrik.

Viele Perlmutt-Reststücken (Stanzabfälle) von Muschelschalen, die von der Knopfherstellung übrig geblieben sind, sehen wir. Der glänzende Abfall liegt zur Befestigung auf vielen Wegen. Seit langer Zeit sind viele Schuhe darüber hinweg gelaufen oder auch geschurrt, vielleicht geschlurft. Trotzdem sind die harten Perlmutt-Oberflächen, die die Muscheltiere gefertigt haben, völlig blank. Bei unseren Spaziergängen durch die Umgebung von Bad Frankenhausen denke ich deshalb immer wieder an das Märchen der Grimm-Brüder von Hänsel und Gretel (die wohl eigentlich nach ihrer Geburtsurkunde amtlich Johannes und Margarete hießen) und dabei auch an den Besuch unserer Familie in der Berliner Staatsoper vor sechs Jahren, wo wir dieses Märchen sahen und die Musik von Herrn Engelbert Humperdinck dazu hörten. Den Text der Oper kannten wir ja sowieso schon fast auswendig, so dass wir selbst die gesungenen Worte gut verstanden.

Die weißen Kieselsteine, die Hänsel auf dem Waldweg ausgestreut hatte, schimmerten im Mondenschein wie neu geschlagene Batzen und wiesen den Kindern den Weg aus dem tiefen Walde hinaus, zurück zu ihres Vaters Haus“, schrieben die beiden Grimm-Brüder uns auf.

Hier, für Bad Frankenhausen, müsste das Märchen nur ein wenig umgeschrieben werden – etwa in der Art: „Die Perlmuttstückchen, die der gute Junge auf dem Weg durch den Wald vorsorglich ausgestreut hatte, glänzten im Sonnenschein, wie auch in des Mondes Licht hell in allen Farben und halfen Grete und Hans, den Rückweg aus dem Wald zu finden.“

Aber die Familie Grimm lebte eben nicht hier und deshalb erzählten sie uns auch 'was von Batzen.

Von diesen Perlmutt-Abfällen habe ich einige eingesammelt und sie werden dann zu Hause in einem Bilderrahmen hängen oder ich werde diese ins Fotoalbum einkleben – noch viel schöner zur Erinnerung, als ein bloß gekauftes Andenken.

Auf den Spaziergängen durch den Wald kommt mir in den Sinn:

Auf den besonnten Wegen, gleißt der Glimmer uns entgegen“.

Zugegeben, es wäre nur eine zu kurze Zeile für ein prächtiges Lobgedicht auf die Stadt

Bad Frankenhausen und ihre Umgebung.

Wir sehen und hören hier so viel Interessantes, dass jeder Tag wie ein Feiertag scheint. Ich meine, Verschiedenes werde ich nie wieder vergessen können und wollen.


Ein sehr trauriges Thema: Die Bauernkriege fanden in den Jahren 1524 und 1525 statt. Etwa 70.000 bis 100.00 Menschen verloren in den Kämpfen ihr Leben. An dem uns benachbarten Schlachtberg tobte der letzte große aber kurze Kampf, die wohl entscheidende Schlacht der Bauernkriege am 25. Mai 1525. Die Bauern unterlagen dabei, auch, weil die Fürstenheere den vereinbarten Waffenstillstand brachen, sagt man. Die Bauern und Arbeiter hatten außerdem keine solch gute Aus-Rüstung, Aus-Bildung und keine so strenge geordnete Führung wie die fürstlichen Landsknechte (Soldaten). Das bedeutet: Die Bauern rückten im Wesentlichen mit ihren landwirtschaftlichen Arbeitsgeräten, mit Hacken, Äxten und Mistgabeln als Waffen an, kannten aber überhaupt nicht die fürchterliche Wirkung von Feuerwaffen, beispielsweise die der Kanonen. Zwar kamen sie kampfesmutig vom Berg herab, wollten aber angesichts der Übermacht des Gegners schnell in Richtung Stadt flüchten. Die Flucht wurde ihnen jedoch vereitelt, der Weg ihnen abgeschnitten. Unter den Bauern richteten die Landsknechte ein grauenvolles Gemetzel an. Es gab in kürzester Zeit etwa 6.300 Tote. Die im Kampf unerfahrenen Bauern hatten ihre schwachen Kräfte völlig überschätzt. Ein Weg zwischen dem Schlachtberg und der Stadt wird seit dieser Zeit „die Blutrinne“ genannt.

Der radikale Bauernführer und Pastor Thomas Müntzer (* 1489 bis † 1525) hatte sich für Rechte der Bauern, für deren besseres Los in der feudalen Leibeigenschaft, für die Versorgung von Obdachlosen und für die Einrichtung von Armenspeisungen eingesetzt – für sehr soziale irdische Vorhaben. Er rief die unterdrückten Bauern zum Kampf gegen den Adel auf, ohne aber zu erkennen, dass sie gegen das Berufsheer der Landsknechte eben keinerlei militärische Siegeschancen hatten, sondern einfach nur geopfert würden. Thomas Müntzer wurde als Aufrührer in Frankenhausen gefangen. Wenig später folterte man ihn im Keller der Wasserburg Heldrungen und am 27. Mai 1525 enthauptete der Henker den gerade erst 35-jährigen. Wir verehren Thomas Müntzer heute noch sehr. Eine Gedenktafel hängt für ihn in der Stadt.


Vor knapp zwei Jahren (vom 03. August bis zum 16. Dezember 1955) stellte die DEFA in meinem Heimatort, also in den Babelsberger Studios, den Film „Thomas Müntzer“ her. In den Studios entstanden sämtliche Innenaufnahmen und auch das Organisatorische wurde dort erledigt. Die Regie führte Herr Martin Hellberg, der im thüringischen Bad Berka wohnt. Für die künstlichen Film-Bauten wie Schänke und Bauernhaus usw., also für die Kulissen, war Herr Otto Erdmann der Chef. Die Außenaufnahmen für den Film wurden in Magdeburg, Quedlinburg, in Allstedt, in der Stadt Bad Frankenhausen und am Frankenhäuser Schlachtberg (also direkt neben unserem schönen Erholungsheim) gedreht.

Die Zeit für die Aufnahmen im Raum Bad Frankenhausen dauerte vom 25. August bis zum 15. September. Die Kinder des Sanatoriums konnten vom 8. bis 12. September 1955 das Filmen am Schlachtberg beobachten (aber damals war ich ja nicht dabei).

Weiter voran ging es mit der Filmherstellung anschließend in der Ruine der Rothenburg/Kyffhausen und am Rennsteig bei Saalfeld. Ferner entstanden Aufnahmen in Mühlhausen, in Kapellendorf bei Weimar, in Meißen, bei Trebbin im Bezirk Potsdam (einer sehr beliebten Gegend für DEFA-Film-Teile), in der Nähe von/und in Meißen, im Schloss Heldrungen mit Schlossverlies und Folterkammer sowie zum Schluss in Gorma auf dem Richtplatz, wo im Film alles endete.


Dr. Martin Luther, auch ein Theologe und Mönch, der genauso die Ausbeutung und Unterdrückung der Leibeigenen erkannte, sah jedoch früher die Unterlegenheit der Bauern, riet vom bewaffneten Kampf mit unsäglichen Verlusten ab und mahnte zum Gehorsam gegen die Herrschenden. Er lehnte grundsätzlich kriegerische Gewalt ab. Der Kampf war nicht sein Thema, er wollte (nur) Reformen und die hauptsächlich in der Kirche. Er selbst war ja auch von einem Fürsten geschützt worden (von Friedrich dem Weisen), der ihn als Schutzmaßnahme auf die Wartburg „entführen“ ließ. Als Luthers Mahnen und Warnen nichts fruchtete, rief er sogar dazu auf, strengstens gegen die Aufständischen vorzugehen, gegen die Bauern, die sich trotzdem, nur mit Spaten, Sense und Morgenstern ausgerüstet, gegen die gut bewaffneten Feudalherren erhoben. So waren diese beiden Pastoren sehr unterschiedlich in den Bauernkrieg und dessen blutigen Verlauf maßgeblich verstrickt. Beide sahen für das Volk Wege zu einem jeweils vertretbar erscheinenden Ziel und doch war keiner der beiden ohne Schuld an diesem Ausgang der Aufstände. So etwas trat nicht erstmalig auf. Vieles wiederholt sich in der Geschichte.

An Martin Luther soll (deshalb) in der DDR jetzt nicht so sehr gedacht werden, bloß höchstens für den kleineren Teil seines Bemühens um die deutsche Sprache, eine einheitliche Grammatik und Rechtschreibung, die er zusammenstellte, nachdem er dem Volk „aufs Maul“ geschaut hatte. Solche Sachen wie: dass auch er das erste große weit über 1.000 Seiten dicke Buch, die Bibel, aus der griechischen und lateinischen Sprache in die deutsche Sprache übersetzte, damit man auch im Volk lesen lernen konnte und die Leute in der Kirche nicht immer mehr oder weniger interessiert zuhören mussten, was der Pastor da so unverstehbar gelehrt lateinisch vorlas, das spielt natürlich keine Rolle. Bei diesen Arbeiten bildete er viele Worte, die es vorher in der deutschen Sprache gar nicht gab und führte auch neue volkstümliche Redewendungen ein. Aber man spricht davon, dass sein Vater (eigentlich wohl mit Namen „Luder“), der Chef einer Mansfeldischen Kupfergewinnungsstätte war, womit der Sohn Dr. Martin Luther also einer Ausbeuterfamilie entstammte – das weiß ich aus der Schule. Er selber war auf der Kanzel und in der Schreibstube ein eher dicklicher Mönch, mit derben Sprüchen, der aber kaum einer Fliege etwas zu Leid tun mochte – der Müntzer war dagegen ein schneidiger Kämpfer für den Frieden der Arbeiter und Bauern. Dazu fällt mir das Lied „Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm“ ein, die einige große Teilerfolge der Bauern besingen, um sich selber Mut zu machen:



Text: Börries von Münchhausen Melodie: Hans Wendelmuth

Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm, der Regen durchrauschte die Straßen.

II: Und durch den Regen und durch den Sturm ertönte des Urhorns Blasen.:II


Das Büffelhorn, das so lange geruht, Veit Stoßberg nahm's aus der Lade.

II: Das alte Horn, es schrie nach Blut und wimmerte „Gott Gnade“. :II


Ja, Gnade dir Gott, du Ritterschaft! Der Bauer stand auf im Lande,

II: Und tausendjährige Bauernkraft macht Schild und Schärpe zu Schande. :II


Die Klingsburg hoch am Berge lag, sie zogen hinauf in Waffen,

II: Auf rammte der Schmied mit einem Schlag – das Tor, das er fronend geschaffen. :II


Dem Ritter fuhr ein Schlag in's Gesicht, ein Spaten zwischen die Rippen.

II: Er brachte das Schwert aus der Scheide nicht und nicht den Fluch von den Lippen.:II


Auf rauschte die Flamme mit aller Kraft, brach Balken, Bogen und Bande.

II: Ja, Gnade dir Gott, du Ritterschaft, der Bauer stand auf im Lande. :II



Solche Lieder üben wir „in unserer Bad Frankenhäuser Kulturzeit“ aber nicht. Fräulein Jödicke darf ja schließlich keinem kleinen kranken Kind andauernd 'was von Blut und Bauernfolterei erzählen oder vielleicht das auch noch gar lieblich vorsingen. Wenn das Kind sich dann grämt und davon noch kränker würde, könnte wohl der Heimarzt gewiss nur ziemlich ratlos seinen Kopf schütteln, denn er käme ja bestimmt nicht von allein auf den Gedanken, woran das liegen könnte.


Nicht weit von uns, am Fuße des Schlachtberges als Teil der Oberburg, einer Burg der Franken, besichtigten wir den Hausmannsturm, aber leider nur von außen. Innen mag er noch viel interessanter sein, doch er ist verschlossen. Auf den meisten der Ansichtskarten ist er abgebildet.

Das schlimmste, was uns Fräulein Jödicke über den Turm erzählte, war, dass einmal beim Decken des Turmdaches ein Dachdecker abstürzte und sein Leben nicht mehr gerettet werden konnte.

(Ach nein, das bringe ich jetzt mit unserer eigenen Familiengeschichte durcheinander. Mein Urgroßonkel August Gericke war es, der als junger Zimmermann 1856 beim Bau des Flatow-Turmes im Babelsberger Schlosspark vom Dach abstürzte. Das ist aber eine ganz andere Geschichte, wenn sie sich auch ähnlich anhört).

Hier in Frankenhausen war es wohl damals so, dass der „Türmer“, also der Turmwächter- und Turmbewohner, nach einem Schuh seines lieben kleinen Kindes langte, der aus irgendeinem Grund auf das schräge Dach geraten war – wir wissen ja wie Kinder nun 'mal so sind. Dabei verlor er, der Vater, wohl das Gleichgewicht und stürzte hinunter in die Tiefe. Wie unsagbar traurig. Hätte er doch besser vorher gründlich nachgedacht, sich vielleicht eine Angel gebastelt oder eine Harke mit Stiel- Verlängerung genommen. Oder nur den Schuh (allein) mit einer Stange hinunter geschubst und unten wieder eingesammelt. Aber nein, so tat er es nicht und deshalb zählte man in Frankenhausen ein armes Waisenkind mehr.

Aber wenn es am spannendsten ist oder sehr gräuslich wird, muss Fräulein Jödicke abbrechen, damit keiner von den anfälligen Kleineren vielleicht vor Schreck einen Asthmaanfall oder einen Hautausschlag bekommt.

Die echten Eingeborenen“ – ich schreibe das mal so ganz vorsichtig, weil ich beinahe „die echten Frankenhausener“ geschrieben hätte. Die richtige Benennung darf wohl ausschließlich „die Frankenhäuser“ sein, obwohl es sich ja tatsächlich nicht um die Häuser der Franken, sondern um die thüringischen Menschen selber handelt. Es ist wohl aber trotzdem so, dass die Alten, völlig echten, über sich lieber als „die Frankenhisser“ reden.

Mit den Bewohnern des Nachbarortes ist man da wie's scheint nicht so streng genau zimperlich, denn im Stadtplan nennt man sie „Rottleber“ aber auf dem Straßenschild heißen sie „Rottlebener“. Mancher Nichtbetroffene mag das als gleichgültig, egal oder als spitzfindig ansehen. Aber ich habe beispielsweise noch nie eine Rott-Leber gegessen. Also, zurück zum Turm: die Frankenhäuser sagen zu diesem Turm in der thüringischen Sprache wohl „Husmannstorm“ oder so ähnlich. So gehen besonders alte Leute, die die Sprache pflegen, auch seltener „in oder auf den Hof des Hauses“, sondern „uffn Husplan nus“, wenn ich das richtig verstanden habe. Manches wird auch in verschiedenen Orten sowieso unterschiedlich gesprochen, dann wird es noch schwieriger. Ist ja klar: Wenn höhere Thüringer Berge dazwischen sind, sehen sich die Leute nicht oft und sprechen nur ihre eigene Sprache oder auch „de Sproch“. Deshalb lohnt es sich hier überhaupt nicht über eine „richtige“ Aussprache zu streiten. Andere Worte könnten wir gar nicht begreifen, aber unsere Erzieherinnen sprechen einfach so mit uns, dass wir alle sie gut verstehen können – egal aus welcher Gegend wir kamen. Auch das haben sie sehr gut gelernt.


Fräulein Jödicke erzählt uns auch etwas über andere natürliche Merkwürdigkeiten aus ihrer Heimat. Zum Beispiel über die Possenwiesen in der Nähe von Sondershausen, wohin wir jetzt nicht kommen. So besitzt sie zum Beispiel hart versteinerte Kerne von früheren echten kleinen Kopffüßern. Das waren wirbellose aber umschalte Weichtiere, Tiere aus der Gruppe der Ammoniten, die sie liebevoll „Ceratites nodosus“ nennt. Diese Versteinerungen stammen aus dem Erdzeitalter des Trias und die ehemaligen Tiere sind heute mindestens 240 Millionen Jahre alt. Unvorstellbar. Ihr Durchmesser kann durchaus bis zu 20 cm betragen. Erstaunlich, dass nicht alle in dieser langen Zeit von Interessenten weggesammelt worden sind? Nein, man findet sie erst wenn man einen Berghang glatt abschürft, mitten im Berg, also in der Tiefe, in einer ziemlich waagerechten Schicht, in einem „Leithorizont“, wie es heißt. Und nicht jeder Sammler kommt dort hin. Diese Tiere belebten damals die Fläche über dem Muschelkalk so zahlreich, dass man sie heute noch – aber eben inzwischen leider schon tot und versteinert – als eine „Leitschicht am Bodenhorizont" sehen kann. Manchmal liegen sie aber auch unter den „Lesesteinen“ (das Wort kommt von Aufsammeln, Auflesen) am Rain, also zwischen Acker und Weg. Nicht jeder erkennt sie, weil die lange Zeit sie mit einer dicken Schicht aus hartem Kalk ummantelt hat.


Unser freundliches Fräulein Jödicke erzählte heute – nur als weiteres Beispiel – auch von den „Bonifatiuspfennigen“. Gut, bezahlen kann man damit heute schlecht. Es sind in den Muschelkalk eingebettete versteinerte Scheibchen mit einem Riffelrand und mit sichtbarer Stern- oder auch Rad-Oberfläche, aus denen sich der Stängel einer Seelilie zusammensetzte. Ähnlich einer Münzrolle (in verkleinerter Form) sehen sie aus, jetzt gefunden, aber aus unvorstellbar lang zurückliegender Zeit stammend, als es noch keinen Menschen auf der Erde gab. Aber eine „Blüte“ dieser Seelilie aus diesem Muschelkalkmeer konnte Fräulein Jödicke uns nicht zeigen. Das hole ich zu Hause nach, vielleicht ist sie in Meyers Lexikon abgebildet. Gewiss sollte ich noch anmerken, dass die Seelilie mit ihrer „Blüte“ in Wirklichkeit ein Tier war. Einige „Pfennige“ der Münzrollen-Seelilie, von Fräulein Jödicke gespendet, bewahre ich „als ewiges Andenken“ in meiner Schatzkiste auf.

Ich wette, dass Fräulein Jödicke sehr viel mehr weiß, als sie zur Beschäftigung mit Kur-Kindern unbedingt braucht. Und das ist gut so.


Zur Halbzeit haben wir ein Bergfest und auch sportliche Wettkämpfe. Es macht Spaß, sie sind keine Leistungsprüfung. Zu meinem Glück ist überhaupt kein schwieriges Geräteturnen dabei.


Wieder Schreibstunde. Ich nehme heute die farbige Ansichtskarte mit dem Weinberg-Flieder-Panoramablick und den Gebäuden: Sanatorium, Hausmannsturm und Frankenburg, dahinter ein Stück vom Schlachtberg. In der Frankenburg hat unser Fräulein Jödicke einen Teil ihrer gewiss ganz schön schweren Ausbildung zur Kindergärtnerin gehabt, bevor sie die Arbeit als Erzieherin im Sanatorium aufnahm. Sie hat also sogar zwei Berufe und das will schon 'was heißen.

Als Porto kleben wir auf eine Ansichtskarte eine 10-Pfennig-Marke. Der Brieftransport kostet 20 Pfennige oder 0,20 Mark. Wir haben zurzeit die blauen Marken mit den Arbeitern drauf und dem „Fünf-Jahresplan-Emblem“.


Weitere kulturelle Erlebnisse

Wir singen verschiedene Lieder. Schöne Volkslieder wie:

- „Kein schöner Land in dieser Zeit“, eine alte Volksweise, von W. v. Zuccamaglio

- „Im Frühtau zu Berge“, eine Musik aus Schweden, Text: Olof Thunman

- „Ich wandre ja so gerne“, von den Thüringern Herbert Roth und Karl Müller

- „Das Wandern ist des Müllers Lust“ von Carl Friedrich Zöllner und (diesmal) Wilhelm Müller

- „Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“

- und weitere Lieder.

Diese Lieder kenne ich schon. Das macht alles recht leicht – man ist gleich voll mit drin. Natürlich kennt das Fräulein Jödicke noch viel mehr Lieder, auch Scherz- oder Tanzlieder, aber die kann ich nicht alle aufzählen. Sie muss ja auch für jedes Kindesalter und für die verschiedenen Jahreszeiten etwas anderes bereithalten.


Eine interessante Zauberveranstaltung ließ mich nicht in Ruhe – wie der Zauberkünstler das nur machte? Ich habe ganz genau aufgepasst und nicht gemerkt wie das ging (und dabei hat er noch so getan, als verriete er uns ganz kumpelhaft nun seine Tricks – aber auch das war eben bloß Trickserei.)


Und schon naht das Ende unserer Erholungszeit

Für das große Abschiedsfest haben die Kinder der Gruppen Beiträge eingeübt, die nun vorgetragen werden können. Wenn ich aber an den Abschied denke, ist mir gar nicht so festlich zumute. Es war doch eine sehr abwechslungsreiche Zeit. Wir haben viel gesehen, neues gelernt, was weitaus über einen normalen Schulunterricht hinausgeht. Die Jungen haben sich alle gut miteinander vertragen, so wie man es von unserer Schulklasse Daheim nicht durchweg kennt. Hier ist es immer ganz lustig und fröhlich – besonders vielleicht auch, weil wir in den Ferien sind, in einer anderen Gegend, zusammen mit anderen Leuten, die uns die Zeit recht schön gestalten – kein Alltag eben. Ja, alle Erwachsenen im Heim bemühen sich mit Erfolg, uns auch in der Woche Sonntage, viele Sonnentage zu bereiten.

Wie bei der Ankunft und bei der Halbzeit werden wir auch vor der Abfahrt gewogen. Trotz des guten Essens habe ich kaum messbar an Gewicht zugenommen (kleiner bin ich auch nicht geworden), sehe also ähnlich aus wie bei der Ankunft – aber das soll dann die „Nachkur“ noch im Selbstlauf verbessern. Ich fühle mich zumindest sehr wohl. Geist, Seele und Körper haben sich erholt. Das kann vom Arzt aber nicht so recht gemessen werden.

Beim Packen des Koffers wird einem nach sechs Wochen etwas schwermütig ums Herz, als das Inhaltsblatt verglichen und abgehakt wird, damit wir hier auch bloß nichts zurücklassen. Kein einziges Andenken an uns wird hier gebraucht – die nächsten Kinder kommen schon bald.

Ich dagegen nehme als Andenken viele Erinnerungen mit, die mich bestimmt lange begleiten werden: unser Gruppenbild, Ansichtskarten, einige Perlmuttabfälle, ein Stückchen vom Glimmer-Gestein aus dem Waldboden (vom versteinerten Holz konnte ich kein Stück ernten) und ein kleines Abziehbild mit der Ansicht der Stadt.

Vieles haben wir hier gesehen. Was für die Einwohner der Stadt Bad Frankenhausen das Alltägliche ist, was man möglicher Weise übersieht, scheint uns als etwas ganz Besonderes, Neues, Anregendes – was unsere Erinnerung an die schönen Tage lebhaft wach halten wird.

Wir fahren nun wieder, ich anfangs in etwas gedämpfter Stimmung. Unsere netten Erzieherinnen bekommen bald wieder andere Kinder, an die sie sich gewöhnen und von denen sie ganz schnell die Namen auswendig lernen müssen. Und auch denen werden sie wieder viel zeigen und erzählen, was diese dann mit nach Hause nehmen zu den Eltern, Verwandten, Schulkameraden – man, 100 Mann alle sechs Wochen, so muss Bad Frankenhausen ja bald weltberühmt werden.

Natürlich freuen wir uns aber auch schon auf unser Zuhause.



Vielen Dank für die erlebnisreichen Wochen, liebes Heimpersonal.

Vielen Dank besonders an Fräulein Jödicke und die anderen Erzieherinnen,

an Frau Liesegang und an die Damen in der Küche, an die Raumpflegerinnen,

den Hausmeister, die Schwestern und den Arzt!


Auf Wiedersehen, Diamantene und Goldene Aue, Gietenkopf und Kulpenberg.

Tschüss Hainleite, Windleite, Barbarossahöhle und Kyffhäuserdenkmal

sowie Stadt Bad Frankenhausen!


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Stunden der Fahrzeit vergehen.

Als ich Daheim ankomme, ruft meine Mutti:

Junge, hast Du aber frische Farbe bekommen – und Du quasselst ja so, wie ein

Thüringer Wasserfall rauscht.“


Sehr viel später ergänze ich:

Für viele Kinder waren die Zeiten des Aufenthaltes im Sanatorium „ein Segen“, für das betreuende pädagogische und medizinische Personal oft eine Lebensaufgabe, an der viel Liebe und Herzblut hing. Eine große Leistung der Sozialversicherung des Landes in Verbindung mit dem staatlichen Gesundheitswesen der DDR. Von ihnen und mit den geschaffenen Werten vieler fleißiger Menschen, konnte auch dieser Aufenthalt ermöglicht werden. Ein Grund, dafür dankbar zu sein!



Einige Nachworte:

1992, bald nach der politischen Wende, dem Ende der DDR (Deutsche Demokratische Republik) und dem Beitritt ihrer Bevölkerung zur Bundesrepublik Deutschland, wurde das Kindersanatorium aufgelöst. Geschlossen. Die Anzahl von Kureinrichtungen im Land reduzierte man drastisch. Medizinisch-therapeutische Kinderbehandlung und vorsorgende Erholung in dem Maße, wie in der Vergangenheit betrieben, „rechne sich nicht“, besonders nicht, wenn man an Kurzsichtigkeit leidet.


Es blieb von den Erholungserfolgen offenbar nicht viel davon im Frankenhäuser Ortsgedächtnis lebendig. Zu wenig der Erinnerung an das Sanatorium. Das Stadtarchiv und das Museum in Bad Frankenhausen haben kaum nennenswertes Material über das Heim und seine Geschichte aufbewahrt oder aktiv zusammengetragen (eine Selbsteinschätzung seitens des von mir befragten Leiters dieser Einrichtungen); auch an einem schriftlichen Beitrag über das Leben im Erholungsheim war kein Interesse erkennbar. Kaum etwas aufgezeichnet, bewahrt und erhalten, was die Menschen damals bewegte, was jene geleistet und erreicht hatten. Gründe mag es dafür geben? Ein paar alte Ansichtskarten haben die Zeit vielleicht überstanden. Im Tourismus-Büro gibt es z. B. ebenfalls keine Kenntnis über Hermann Hedrich, den Bauherrn des Heimes, keine Erinnerungsblättchen, wie es viele andere Städte über besondere, verdiente Bürger oder Leistungen zur Information vorrätig halten. – Lediglich das leere Haus grüßt uns vom Berge.


Ende Oktober 2009 habe ich die Region erneut besucht, wanderte durch Bad Frankenhausen mit seinen neueren Sehenswürdigkeiten besuchte das Rundgemälde im Panorama-Museum, den Kurpark, das Kurmittelhaus, die Kyffhäusertherme, die Reha-Klinik der Rentenversicherung, ging nach Rottleben zur Barbarossahöhle und zur Burg Kyffhausen.

Mein schönes Sanatorium“ habe ich aufgesucht um es wiederzusehen, noch einmal durch die Räume zu gehen, um Erinnerungen aufzufrischen, „damit auch dieser Kreis in meinem Leben sich schließen möge“. Ich fand das Gelände leer und verschlossen, das Gebäude von Wildwuchs zugewachsen, vereinsamt, von Spuren des Vandalismus gezeichnet.

Ernüchterung und Wehmut breiten sich aus, immer wieder mit neuer Nahrung versorgt, denn genauso wie diesem Kindersanatorium ging es vielen Erholungs- und auch Kultureinrichtungen nach der damaligen politischen Wende, ebenso erging es Stätten von Aus- und Weiterbildung, die damals „blühten“. Benötigt Deutschland in diesen Zeiten keine jungen Fachleute mehr?

Die Zahlen des Arbeitsmarktes sprechen eine ganz andere Sprache.

Benötigt Deutschland keine (vorhandenen) Heimplätze für Übergangszeiten? Die Zahlen der Menschen, die aus Kriegs- und Hunger-Gebieten zu uns kommen, sagen uns etwas völlig anderes.


Mit dem Eintritt in sein Rentenalter, begann das hier schreibende, damalige Kur-Kind seine Lebenserinnerungen zu notieren. Dazu gehört auch der vorstehende kleine Bericht, der erst nach mehr als einem halben Jahrhundert entstand. Manches ist nach jener Zeitspanne in der Erinnerung etwas verblasst, anderes steht noch deutlich vor Augen. Der Autor denkt jedoch, dass er das Wesentliche hinreichend richtig wiedergegeben hat.

Die Suche nach der damaligen Heimleiterin Frau Liesegang und der Gruppenerzieherin Frau Regina Kolb, geborene Jödicke, hatte unerwartet schnelle Erfolge. Es entwickelte sich ein anregender Briefwechsel. Diese Korrespondenz war für den Schreiber dieser Zeilen eine wertvolle Erinnerungshilfe und wurde hier inhaltlich einbezogen. Auch dafür sei den beiden engagierten Pädagoginnen an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.

Der sechswöchige Aufenthalt in Bad Frankenhausen war für ungezählte Kinder eine Zeit schöner Erlebnisse und guter Erholung. Wertvolle Erinnerungen, die ein Leben lang erhalten bleiben. Und mit dem frischen Aufleben dieser Gedanken an damals schließt sich nun der Kreis nach mehr als einem halben Jahrhundert.



Besucht doch Bad Frankenhausen auch einmal – es lohnt sich bestimmt!




Chris Janecke, Potsdam, im Mai 2016.

E-Mail-Anschrift: christoph@janecke.name








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Anfang des Jahres 2018 erreichte mich die frohe Nachricht der bekannten Fotografin Andrea Schremmer, dass sie kürzlich einige Fotos in den verlassenen Räumen des stillgelegten Sanatoriums fertigen konnte, da sie den Grundstückszugang und auch das Gebäude (leider und zu ihrem Glück) völlig unverschlossen, gleichsam einladend vorfand. Das versetzt uns in die Lage die von ihr gestaltete Bildergalerie hier anzusehen.

Für Interessenten ist sie erreichbar unter Facebook Andrea Schremmer photography.

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Frau Susanne Ko., in Michigan, USA, lebend, las meinen Bericht im Internet. Sie schrieb ebenfalls 2018 dazu:


23. April 2018: Hi, Chris, ich dachte gerade über Bad Frankenhausen nach. Das schöne, grosse Haus sollte renoviert und wieder in den guten Zustand gebracht werden in welchem es war, als ich es sah.

Ich denke viel an Bad Frankenhausen. Als ich vor längerer Zeit in Deutschland war, wohnte ich bei einer Freundin in Berlin-Kreuzberg. Sie fuhr mich durch die frühere DDR. Vor dem Mauerfall mochte ich das nicht. ... Herzliche Grüße, Susie – hier meine Erinnerungen:


Meine Familie, also die Eltern und meine Geschwister wohnten in der Zeit unserer Kindheit in Berlin. Unter den Kriegsverhältnissen mit Flugzeug-Bomber-Angriffen durfte ich zu Erholungsaufenthalten fahren. Ich war 1942 und 1944 im Hermann-Hedrich-Erholungsheim in Bad Frankenhausen und verbrachte dort zwei Mal vier Wochen des Aufenthalts. Nur das Heimweh nach Mama beeinträchtigte diese Zeit. Vorbildlich war es dort. Wir wurden wir durch das ganze Haus geführt, um es kennen zu lernen. Wir sahen dabei auch die Küche und die Krankenstation. Zu den Mahlzeiten kamen alle Kinder in den riesigen Speisesaal. Die älteren Kinder mussten bei der Essenausgabe helfen. Die Jungs saßen auf einer Seite des Saals, die Mädchen auf der anderen. Jungs und Mädchen kamen nie richtig zusammen. Wir waren in verschiedene Gruppen eingeteilt. Das war auch so bei den Wanderungen. Es wurden viele Wanderlieder gesungen. Nach so einem Spaziergang mussten wir im Keller unsere Stiefel putzen und die Hausschuhe anziehen. Das Heim hatte ein grosses Spielzimmer mit Klavier.

Auch in der Kriegszeit gab es dort nie eine politische Propaganda, denn die DAK (Deutsche Angestellten-Kasse) leitete dieses Programm.

Morgens mussten sich manche von uns Hustensaft oder Eisentropfen holen. Ein Zimmer war für die künstliche Höhensonnenbestrahlung eingerichtet. Für diese Behandlung bekamen wir Augenschutzbrillen und mussten im Kreis um die blendende Lampe laufen. Auch eine große Veranda hatte das Haus. Dort im Heim sollten wir Mittagsschlaf halten. Ich war das aber nicht mehr gewohnt, denn Mama brachte uns lieber abends früher in's Bett, damit sie und mein Vater noch ein wenig Ruhe hatten.

In der Küche hatten die Frauen für unseren letzten Tag sogar eine Art Krapfen gebacken. Zur Abreise bekam jedes Kind eine Tragetasche mit Reiseproviant, dabei sogar Apfelsinen, die wir schon lange nicht mehr gesehen hatten!

Ich denke oft und gern an Bad Frankenhausen. Susanne Ko. ———————————————————————————————————————

Meine damalige Erzieherin dieses Kindersanatoriums, Frau Regina Kolb, geborene Jödicke , fasste im Jahr 2018 ihre Erinnerungen und auch die Nachwende-Gedanken zusammen. Diese bringen ihre damalige Freude aber auch heutige Wehmut und fragende Hoffnung zum Ausdruck:


Was in der Erinnerung lebt


Von der Stadt Bad Frankenhausen hat man auf das Kindersanatorium eine herrliche Aussicht.

Einst belebte frohes Kinderlachen das Sanatorium – wie aber ist es heute?

Man lebt in der Erinnerung – mehr ist es derzeit nicht.

Unsere Kinder waren die Seele vom Haus – ist's denn für immer damit aus?

Die Kleinen fanden das Glück in der Kur: Wochen der Erholung und Behandlung – pur.

Sie hatten Spaß und süße Träume – manch einer vor Freude schlug Purzelbäume.

Die wertvolle Zeit – ist sie für immer vorbei? Der Genesung Quell' – langzeitig versiegt.

Kein sprudelndes Kinderlachen hört man mehr, denn das große Hauses steht heute leer,

Gibt es zu den besseren Zeiten keine Wiederkehr?

Die Räume des Hauses seit Jahren verlassen, man kann das wirklich nicht gut fassen.

Hatte bei der Schließung des Heims denn niemand ein Herz –

ein Kurhaus aufzugeben ist doch kein Scherz.


Die Skulptur der Kinder im Foyer auf dem Podest – noch heute zu sehen, als trauriger Rest.

Wenn die Sonne scheint, sendet zu ihnen die Strahlen hernieder.

Die wertvolle Zeit – kommt sie denn niemals wieder? Das wäre ein Wunschtraum,

anders ist heut' noch die Realität. Ist es denn wirklich für alles zu spät?


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Dohna (Sachsen), Pfingsten (30. Mai 2020)

Sehr geehrter Herr Janecke,

mit Interesse habe ich Ihren Bericht über Ihren Kuraufenthalt gelesen. Leider kann ich nicht so viel Erinnerungen an meinen Aufenthalt in Bad Frankenhausen aufbieten.

Geboren bin ich 1958 in Dresden und war lang und viel zu dünn für mein Alter. 1965 kam ich im Sommer vor meiner Schuleinführung auch für 6 Wochen nach Bad Frankenhausen in das Sanatorium. Es war mein erster langer Abschied vom Elternhaus und mit der Zeit wich die Traurigkeit und der Spaß gewann die Oberhand. Ich entsinne mich, dass die Gruppen in der wir lebten, Namen von Singvögeln bekamen. Ich war ein „Spatz“! Einer meiner Freunde die ich dort kennenlernte hieß Jonathan mit Vornamen – wie die Apfelsorte.

In Erinnerung habe ich auch noch die Zimmer, die durch faltbare Trennwände unterteilt wurden und zu einem großen langen Saal verbunden werden konnten. An die Erzieherinnen habe keinerlei Erinnerung mehr, aber ich entsinne mich, da ich noch nicht lesen konnte, stand an der rückwärtigen Seite des Zimmers ein kleiner Tisch, wo uns die Briefe von zuhause vorgelesen wurden. Da war man für ein paar Minuten ungestört und die Erzieherin hat dann auch mal eine Karte zurück geschrieben.

Die Ausflüge waren für uns Kleinen immer in die nähere Umgebung. Damals stand ja das Bauernkriegspanorama noch nicht und der Berg war fast täglich unserer „Spielplatz“. Sehr weitläufig, so dass man sich richtig austoben konnte. Für mich als Stadtkind ohne eigenen Hof war das eine unglaubliche Erfahrung. Wer den Schillerplatz in Dresden kennt, weiß wovon ich spreche.

Am Weg dorthin waren, soweit ich mich noch erinnere, im Berg lauter Höhlen oder eher Löcher zum Teil mit Gitterstäben am Eingang. Ich glaube, hier wurden gefangene Bauern aus dem Krieg festgehalten. Das ist jetzt aber meine Interpretation. Es war alles verrostet und verwildert. **

Meine Erinnerungen enden hier leider schon. Vielleicht kommt später noch einmal das eine oder andere Detail zurück.

2013 war ich bei einer Reise in den Kyffhäuser noch einmal Vorort. Auch das Bauernkriegsgemälde habe ich mir noch ein zweites Mal angeschaut. Den Weg über die Thomas-Müntzer-Straße bin ich wie früher aus und in die Stadt gegangen. Das Sanatorium sieht jetzt so erbärmlich aus, dass mir die Tränen gekommen sind. Das Gelände wie bei Dornröschen.

Eigentum verpflichtet. Dieses Haus hat es nicht verdient, so zu enden. Wie Vieles ist es verfallen, was nicht hätte passieren müssen. Mit uns stirbt einmal die Erinnerung an glückliche Kindertage in diesem Heim.

An den schiefen Kirchturm gegenüber habe ich gespendet, damit wenigstens er eine Zukunft hat.

Harald S., Dohna



** Anmerkung von Chris Janecke zu den Höhleneingängen: Diese sind verschlossen, um Unfälle

wissbegieriger Abenteuer-Besucher zu vermeiden. Nicht alle heutigen Gitterstäbe stammen aus

den Jahren um 1520.

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