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Zur Ahnenliste "Janecke" gehörend:


Alfred August Richard Janecke (1900 bis 1982)

Lebensorte: Rixdorf Kreis Teltow, Berlin, Nowawes-Neuendorf = Potsdam-Babelsberg


oo


Anne-Marie Sommer (1913 bis 2003)

Leben in Nowawes = Babelsberg, Potsdam und Ferch, Kreis Potsdam-Mittelmark.



Notizen zu unserer Lebenszeit

Ein Beitrag zur Familienforschung und Heimatgeschichte


Autor und Kontaktpartner für Fragen, Meinungen oder Hinweise: Chris Janecke,

Stand der Bearbeitung: September 2017, E-Mail: christoph@janecke.name


Der hier vorgestellte Text ist im Papier-Original mit zeitgenössischen Bildern ergänzt,

die beim Autor liegen.

Wenn du Interesse hast, mehr darüber zu lesen, was sich in dieser Zeit im Leben der Menschen abspielte, so sieh’ bitte auch in die Dokumentationen „Zeitgeschichte“ und „Zeitgenossen“.




Das Gärtchen


Jeder muss ein Gärtchen haben

und wär's auch noch so klein,

wo er hacken kann und graben,

selber Herr und Schöpfer sein.


Eine stille Blumenecke,

die er treu bestellt und

beschützt durch eine Hecke

vor der Außenwelt.


Wo im Schatten eines Baumes,

den er selbst gepflanzt,

ewig seines Jugendtraumes

Reigen ihn umtanzt.


Wo der grelle Tag ins Läubchen

nur verstohlen schaut

und aus goldnen Sonnenstäubchen

goldne Brücken baut.


Dankbeschwingtes Festgeläute

klingt durch sein Gemüt,

wenn von Samen, die er streute,

manches grünt und vieles blüht.








Die Erinnerung, das ist ein Paradies,

aus dem wir nicht vertrieben werden können.“


Jean Paul






Generation: 04 Ahn: 8.2

Generation: 04 Ahnin: 9.3

Die Großeltern

Generation: 04 Ahn: 10.5

Generation: 04 Ahnin: 11.5


Janecke


Dittwaldt



Name


Sommer


Runge


Karl Friedrich August (der Jüngere)


Pauline Klara Antonie



Vorname


Max


Margarethe


Osterburg, am 18. Sept. 1869



Berlin, am

03. Nov. 1872



Geboren


Potsdam,

21. Sept. 1875


Berlin, am

05. Jan. 1880


Carl Friedrich August Janecke

oo

Dorothee Elisab. Neumann



Carl Ludwig

August Dittwaldt

oo

Alwine Pauline

Zinnow


deren Eltern,

(also die Urgroßeltern)



Karl Johann Friedrich Sommer oo

Marie Elisabeth Weltzer


Carl Heinrich Franz Runge

oo

Marie Josephine

Glaeser


Fuhrherr, Geschäftsführer, Kaufmännischer Angestellter,



Hausfrau und Mutter



Beruf


Schlosser, Elektrotechniker


Hausfrau und Mutter


Berlin-Kreuzberg,

am 15. September 1896



Heirat


Neuendorf bei Potsdam,

am 29. Juli 1905



Potsdam-Babelsberg, am 02. Febr. 1950


Nowawes, am


25. Febr. 1933



Gestorben


Potsdam-Babelsberg, am 23. Nov. 1945


Potsdam- Babelsberg, am

03. Nov. 1949








Das Ehepaar = die Eltern = die Probanden

Alfred Richard Janecke oo Anne-Marie Sommer





Vater:

Generation: 03 / Ahn: 4.2


Mutter:

Generation: 03 / Ahnin: 5.2

Die Bedeutung dieser

Familien-Namen:

Ableitungen von Kurzform Jan. -eke, -ecke, -icke ist Verkleinerungs-Suffix: "Der kleine Jan", Johann, Johannes (hebr.) "Gott ist gnädig, hilfreich" oder "Gabe Gottes".

Gefühlsverbindung zu Sonne, Wärme Reife, Ernte. Namensträger eventuell im Hochsommer geboren. Ein Übername mit der Begriffswahl für diese Jahreszeit.

Name:


Janecke

Sommer


Vornamen:




Alfred August Richard

Kurz genannt: A. Rich. = Arich.



Anne-Marie Margarethe





Deren Eltern

(Großeltern):



Der Vater:

Carl Friedrich August Janecke, Fuhrherr, Geschäftsführer, Kaufmännischer Angestellter


Der Vater:

Max Sommer

Schlosser und

Elektrotechniker

Die Mutter:

Pauline Klara Antonie Dittwaldt

Hausfrau und Mutter


Die Mutter:

Margarethe Runge

Wirtschafterin, Hausfrau, Mutter


Geburt:



Rixdorf bei Berlin, Jägerstraße 69 (das ist die spätere Rollbergstraße), 01. Oktober 1900,

um 10.30 Uhr am Abend. Geburtseintrag des Standesamtes Rixdorf 2685/1900.



Nowawes, Priesterstraße 68, (das ist die spätere Karl-Liebknecht-Straße 121), am Sonntag,

06. Juli 1913, um 8.30 Uhr.

Geburtseintragung Standesamt, Nowawes, Peschel, Nr. 317/1913.


Taufe:




Berlin-Kreuzberg. Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ an der Zossener Straße, am 04. November 1900 um 3 Uhr nachmittags. Paten:

1. Frau Zelm,

2. Frau Weiland,

3. Frau Zocher,

4. Fräulein Zocher.

KB Seite 268, 2132/1900.


Nowawes Friedrichskirche, am So., 21. September 1913 (an ihres Vaters 38. Geburtstag),

Pfarrer Dessin. Die Paten:

1. Herr Emil Seehafer, Niederschönhausen,

2. Herr Paul Muster, Potsdam,

3. Herr Herrmann Blohm, Nowaw.

4. Herr Ferdinand Pehlke, Nowaw. 5. Herr Ernst Meyer, Nowawes.

KB Nowawes 185/1913,

Standesamt Now. 317/1913.



Beruf/Stand oder Gewerbe:




- Maschinenbauzeichner

- Grafiker

- Techniker des Maschinenbaus



Hausfrau und Mutter,

Licht- und Fotopauserin.


Wohnanschriften vor der Ehe:




- Rixdorf bei Berlin,

- Britz, Werderstraße 53

- 1903 in Neuendorf b. Potsdam,

Wiesenstraße 20–22.

- 1912 in Berlin-Britz,

Hannemannstraße 32a

- 1916 Nowawes Mittelstraße 9, - - 1917 Mittelstr. Nr. 22 (spätere Wichgrafstraße 22).



- Nowawes, Priesterstraße 68

(Ortsbezeichnung ab 01. April

1938: Babelsberg,

- ab 01. April 1939: Potsdam-

Babelsberg).


Eheschließung:

(Standesamt)



Nowawes, im Rathaus, am 05. April 194. Zeugen der Eheschließung: Ihr Tauf-Patenonkel Ferdinand Pehlke und Pfarrer Viktor Hasse. Standesbeamter Richter. Reg.-Nr. 111/1941.



Trauung:

(ev.-lutherisch)



Nowawes, Friedrichskirche am 06. April 1941, am Sonntag Palmarum, während der Zeit der Kinderkirche, Pfarrer Viktor Hasse.


Wohnanschriften, gemeinsame:




- 1941 Potsdam-Babelsberg, Lindenstr. 39 = (nach 1945): Rudolf-

Breitscheid-Str. 46,

- 1956 Potsdam-Babelsberg, Wattstraße 12,

- 1976 Potsdam-Babelsbg, Am Stern, Keplerplatz 2, Wohnung 35, 5 Et.

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

- 1984 Albert-Klink-Str. 3 = ab 1993: Burgstraße 3,

- 1997 Johannes-R.-Becher-Straße 13.

- ab Dez. 2001 in Ferch.



Tod / Gestorben:

Bestattet:


Babelsberg, am 02. März 1983, 0.45 Uhr. Herzversagen, 82 Jahre / 5 Monate / 1 Tag alt.

Andacht in der Friedrichkirche.

Bestattet in Potsdam-Babelsberg, Friedgarten in der Wichgrafstraße, am 15. März 1983, Pfarrer Opitz.



Seniorenheim in Ferch, Kreis Potsdam-Mittelmark, am

12. Dez. 2003, 90 Jahre alt,

Andacht in der Friedrichskirche.

Bestattet in Potsdam-Babelsberg,

Friedgarten in der Wichgrafstraße,

am 09. Januar 2004. Pfarrer Flade.




Die Kinder (Generation 2) von

Alfred Richard Janecke oo Anne-Marie Sommer


Anmerkung zu den Kindern dieses Ehepaares:

Die Namen und Daten sind uns bekannt, unterliegen aber noch dem Datenschutz.




Lebensläufe Janecke oo Sommer

Der Inhalt:



Teil 1: Die Kinder- und Jugendjahre des Alfred Richard Janecke


Wir helfen dem kleinen Richard vorerst beim Erzählen – einverstanden?

Der Inhalt von Klammerausdrücken und kursiv Dargestelltes wird als Ergänzung einfach ganz frech von dem Nachkömmling Chris Janecke hinzugesetzt).


Die Jahre 1896 und 1897

Auch meine künftigen Eltern sind August Janecke und seine Frau Klara, eine geborene Dittwaldt. Die beiden sind seit diesem Jahr verheiratet. Ein reichliches Jahr später, am 13. Oktober 1897 bekamen sie ihr erstes Kind, meine große Schwester Elisabeth Käthe. Später sagte man einfach Käte zu ihr, weil's moderner schien und so unterschiedlich sieht uns ihr Name auch im Schriftlichen entgegen. Sie wurde in der Berliner Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ evangelisch-luthrisch getauft. Es ist ein gewaltiges Gebäude im Berliner Südosten, das neun Jahre vor dieser Taufe fertig gestellt wurde. Ich erwähne das so ausführlich, weil man auch mich drei Jahre später, im Jahr 1900, über das gleiche Taufbecken halten wird.


1899

Lassen wir unter den Vielen, die mit Bedacht einen Toast ausbrachten, nur mal zwei Ausgewählte für uns zu Worte kommen. Der meisterhafte Musiker Wilhelm Kempff sinnierte: „Tausende und abertausende feuriger Raketen waren zum Himmel gestiegen, um die Geburt des neuen Jahrhunderts ins hellste Licht zu rücken. Ein großer Teil der Menschheit hielt den Atem an, als die Silvesterglocken das Jahr 1900 einläuteten“.


(Ja, genauso war das damals.So eine schöne runde Zahl steht nun vor uns – man hatte aber auch deutlich Stimmen gehört, die da sagten, 1900 sei das letzte Jahr des alten und erst 1901 wird das erste Jahr des neuen Jahrhunderts sein – hinfortgewischt, egal, heut schon woll'n wir feiern. Besser zweimal als keinmal und die Verhältnisse werden ohnehin sehr ähnlich sein. Nun gut, wenn ihr es so wollt – bitte).


Man hätte meinen können, dass nun wirklich das Nahen eines neuen Zeitalters, des goldenen, sich ankündigte. Die Vision einer geeinten Menschheit, von Schiller und Beethoven vorausgeahnt, schien erfüllt werden zu können. Das >Seid umschlungen ihr Millionen, dieser Kuss der ganzen Welt<, ließ auf einige Augenblicke vergessen, dass am fernen Horizont der politischen Wetter, sich erste Kumuluswolken auftürmten.“

Zitat aus dem Buch: „Unter dem Zimbelstern – das Werden eines Musikers“ – von Wilhelm Kempff.


Der begnadete Arzt Theodor Brugsch beschrieb diese Tage so: „Allgemein galt wohl die Meinung, dass die Geburt des neuen Jahrhunderts mit besonderem Lärm gefeiert werden müsse. Damals gab es noch keinen Rundfunk und kein Kino aber es gab für die Straße Feuerwerkskörper. Die Menschen hatten anscheinend ihre Sorgen vergessen und prosteten voller Begeisterung dem neuen Jahrhundert zu, wohl in der hoffnungsvollen Erwartung, es werde ihnen ein schöneres Dasein bescheren. Vorläufig sah es noch danach aus: Auf dem Verdeck der Pferdeomnibusse kostete eine Fahrt 5 Pfennige, ein Glas Bier 10 Pfennige und wenn man bei Aschinger für 30 Pfennige eine Bockwurst bestellte, dufte man sich ohne Zuzahlung an Brötchen sattessen – so viel man wollte. Allerdings waren 30 Pfennige (oder 0,30 Reichsmark) viel Geld wenn man bedenkt, dass ein Arbeiter als Familienvater oft nicht mehr als 20,- RMark Wochenlohn bekam.

Das Geld der kleinen Leute war meist aus Metall: Kupfer-, Nickel, Silber-, manchmal Goldmünzen. Einen Hundert-Mark-Schein hatten nur wenige bei sich.

Niemand von all den Menschen, die so laut und lärmend das neue Jahrhundert feierten, ahnte, dass in den nächsten Jahrzehnten zwei Weltkriege – von Deutschland begonnen – für unendlich viele Menschen Tod und Verderben bringen würden.“

Dem Buch: „Arzt seit fünf Jahrzehnten“, von Theodor Brugsch, sinnentsprechend nacherzählt.


1900

Neunzehnhundert oder Eintausend neunhundert – was für ein Jahr!

Mein Geburtsort, Rixdorf bei Berlin, ist eines der größten „aller Dörfer“ in Deutschland.

Als das jüngste Neugeborene des 1. Oktober 1900 erhielt ich von meinen lieben Eltern die Namen


Alfred – August – Richard Janecke




Was erinnert uns in Rixdorf heute noch an die Gründungszeit des Ortes? Da sind zum Beispiel:



Meine Mamá und ich hatten es mit meiner Geburt nicht leicht, sogar sehr schwer, weil ich mich in einer so genannten Steißlage befand und im mütterlichen Becken nicht gedreht werden konnte. Da wollte das gewaltsame Hantieren mit Händen, Zangen und weiteren Hilfsmitteln kaum ein Ende nehmen. Es war für alle Beteiligten sehr schwer. Die Folgen werden mich mein Leben lang begleiten.


Am Sonntag, den 04. November 1900 werde ich evangelisch in der noch ziemlich neuen Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ getauft. Das ist nun aber nicht im vorher beschriebenen Rixdorf, sondern einige wenige Spazierschritte weiter, in der Reichshauptstadt Berlin (dem späteren SO 36, dem noch späteren Berlin-Kreuzberg). Die Vorbereitungen zur Taufe erfordern einige Umstände, denn wieso will man einen Säugling aus der platten Provinz, aus dem Kreis Teltow, in der Hauptstadt Berlin taufen lassen? Warum und weshalb bitte? Doch, wer hätte das gedacht, die kirchlichen Genehmigungen werden letztlich erteilt.


1901

Im Sommer entsteht das erste gemeinsame Bild mit Mamá, Käte und mir, damit sich später Jedermann erinnern kann, wie wir zu jener Zeit aussahen (ich bin auf dem Bild der Jüngste aber Papá, als der älteste unserer Familie ist nicht zu sehen). Aus dem Foto schaue ich freundlich, offen in die Welt hinaus. Dabei ist auch dieses erste Lebensjahr ein Schweres für mich. Weil man eine Beinsehnenverkürzung festgestellt hat, komme ich ins Krankenhaus, völlig allein, fort von Mamá, Papá und Käte. Es ist das Jüdische Krankenhaus in Berlin, das mich aufnimmt, mit besten Chirurgen. Die schneiden mir die Beine in der Achilles-Region auf und setzten Sehnen-/Bänder-Verlängerungen ein. Das sind große Einschnitte in mein Leben, nach denen ich mich eigentlich gar nicht gesehnt hatte. Aber alles geschieht zu meinem Besten, ohne dass mich jemand fragt.


1903

Wir wohnen jetzt in Britz, Werderstraße 53. Das Grundstück gehört den Großeltern Dittwaldt. Hier ist mehr Platz, als wir bisher hatten, besonders für das Fuhrgeschäft unseres Vaters.

Onkel Alfred Zocher erzählte dem Papá, dass für die nagelneue Kalkbrennerei in Neuendorf bei Potsdam dringend ein versierter Verwalter gesucht wird. Als Angestellter weniger Arbeit und höherer Verdienst. Alfred habe schon mit dem bisherigen Eigentümer des Grundstücks, Herrn Russow gesprochen. Und schon ist Onkel Alfred Mitinhaber dieser Firma und wohnt dort in Neuendorf in der Potsdamer Straße 9, gleich rechts neben dem „Deutschen Wirtshaus“. –

Im Mai wird in Nowawes die 150. Wiederkehr der Einweihung der Friedrichskirche gefeiert. Die Festpredigt hält Oberpfarrer Koller – in Anwesenheit von ca. 900 Menschen in der vollen Kirche und des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, den der Kaiser zum Gottesdienste abkommandiert hatte.


1904

Ein Wohnungsumzug nach Neuendorf bei Potsdam, nahe der unsichtbaren Ortsgrenze zu Nowawes, steht im Kalender. Im Wesentlichen besorgen das die braven Braunen „Hans“ und „Liese“, die den Wagen ziehen. Nun leben wir hier in der Wiesenstraße 20–22. Das ist ein (leider) industrie-gewerblich genutztes, herrliches Wassergrundstück an dem kleinen Flüsschen „Nuthe“, das im Fläming entspringt und hier in der Nähe, nachdem es hinter „unserem Grundstück“ noch wenige Minuten des Strömens zurückgelegt hat, gegenüber der Potsdamer Heiligengeistkirche in die weitaus größere Potsdamer Havel mündet. Das Treiben und Spielen auf diesem Grundstück verspricht spannend und lustig zu werden. Die Lage am Wasser ist sehr romantisch. – Aber für die Großen steht die ernsthafte Arbeit im Vordergrund! Das war der Grund des Umzugs. Papá ist nun der Verwalter und Buchhalter der „Kalk- und Mörtelwerke“. Der Eigentümer des Grundstücks in der Wiesenstraße mit kleiner Fabrik, und dem Wohnhaus ist inzwischen der Herr Walter Langhau. Er wohnt in Berlin, Am Treptower Park 21 und hat hier diese Filiale, die er manchmal besucht. Mitinhaber des Betriebes ist Ernst Wilke. Dieser Betrieb hat mehrere “Standbeine“: Putz- und Mauermörtel wird hier hergestellt. Nebenbei werden auch Holz und Kohle verkauft sowie Steingut-Erzeugnisse für die Bauwirtschaft vertrieben. Die Grundstückslage schien dem Herrn Langhau zu recht sehr günstig: Das Produktionswasser liefert die Nuthe kostenlos "frei Haus" und in der Nähe gibt es für den An- und Abtransport der Erzeugnisse die Umschlagplätze des Schiffs- und Bahnverkehrs, so beispielsweise am Schifffahrtskanal, der „Neuen Fahrt“ (einem „Havelarm“) an der Freundschaftsinsel, als auch am Güterbahnhof, nahe der Kaiser Wilhelm Brücke. Weil der Herr Langhau immer mal was mit Papá zu bereden hat, haben wir sogar ein Telephon. Wenn ihr mal … es ist die Nummer Potsdam 32! Das Fräulein stöpselt uns bestimmt gern mal zusammen. Wenn sie euch durch die Hörmuschel fragt :„Hier Amt, was beliebt?“, dann sagt ihr: „bitte ein Gespräch mit Potsdam Nummero 32“. So schnell geht das heutzutage.

Schön ist, dass wir hier eine schmusige Katze haben und auch einen freundlichen, wachsamen Hund.

Natürlich hatte unsere gute Mutter bei der Entscheidung zum neuen Wohnort ihre Bedenken um das Wohl der Kinder: Ein Grundstück ohne Zaun mit dem Zugang zum „magnetisch wirkenden“ Fluss ohne seichtes Ufer. Des Weiteren große Behälter in denen der scharfe Ätzkalk eingesumpft wird (nie: „schön formbare weißlichgraue Modderpampe“ dazu sagen!), die ständige Bewegung und insbesondere das Rangieren mit den schwerstbeladenen Pferdegespannen auf dem Grundstück … und was wusste sie, was noch so auf ihr Gemüt und auf uns Kinder einstürmen würde. Hier ist also immer viel los. Langeweile kennen wir nicht.

In der Adventszeit gibt es auf dem Friedrichskirchplatz auch so einen böhmischen Weihnachtsmarkt wie auf dem Rixdorfer Richardplatz – erzählte mir Mamá, denn an jenen kann ich mich, selbst mit großer Anstrengung, nicht mehr erinnern.


1905

Auf unserem Hof ein fröhlicher Umtrunk gestandener Männer. Sie begehen bei fröhlichen Gesprächen bei einem Fass Bier unser einjähriges Hiersein in der Firma. Es ist ungewöhnlich mild am 19. März 1905.


1906

Eine kurze Bemerkung zu unseren Speisegewohnheiten: Bei uns wurde alles gegessen „was die Kelle gab“, also was auf den Tisch kam. Das war so üblich. Es wurde nicht gemäkelt. Nur eine einzige Ausnahme wurde mir gestattet, weil ich keinen Fisch mochte. Aßen die anderen der Familie ihren Fisch, wurde für mich ein Pudding bereitet – „zwangsläufig“ in einer weißen Keramikschale in Fischform. Wurde der Pudding-Inhalt aus der Form (auf den Teller) „gestürzt“ , so hatte auch ich meinen Fisch, einen Oetker-Fisch, der mir viel lieblicher schmeckte.


Diese schöne Zeit ist jedoch nicht allein damit ausgefüllt spielend zu lernen, das weiß ich ja schon von Käte. Die Welt der Erwachsenen will es, dass man auch in der Schule sitzt und hier Ohren und die Feder spitzt. Dieses Alter erreiche ich nun, sagt man, weil ich bereits im Oktober meinen

6. Geburtstag begehen werde. Ich hatte Euch ja schon von meiner ersten chirurgischen Operation während meiner Babyzeit berichtet – Ursache und Wirkung ließen es nicht so ganz zu, dass ich völlig unbehindert laufe und so werde ich kurzerhand ab Michaelis (September) in die Schule der Nowaweser Oberlin-Klinik gesteckt. Das erscheint der Schulverwaltung praktisch, denn in dieser Zeit besteht ein Mangel an kommunalen Schulplätzen. Das ältere, hundertjährige Schulgebäude in der Priesterstraße wird nämlich gerade abgerissen. So fügt es sich für die Schulverwaltung mit Oberlin recht günstig, mich dorthin zu stecken.

Trotz meiner Wissbegierde ist das kein fröhlicher Schulbeginn in der Oberlinschen Einrichtung. Jeden Tag das Leid der anderen mit ansehen, nicht alles Gleichaltrige, eher nach Alter, Wissensfortschritt und eben auch mit vielerlei Gebrechen, darunter mit Hör- und Sprachproblemen, bunt zusammen gewürfelt. Nein, Schule ist schrecklich. Kaum auszuhalten. Gäbe es doch bloß eine andere Möglichkeit, sehr gern würde ich sie nutzen.


1907

Ein Lichtblick tut sich für mich auf. Eine neue Möglichkeit. Auf sie darf ich hoffen und ich atme frei.

Es ist nämlich so: Das alte zu eng gewordene Nowaweser Schulhaus sah ähnlich aus wie eines der vielen Weberhäuser, nur etwas größer. Das Haus wurde im Jahre 1806 auf der Parzelle 96 errichtet, also in der heutigen Priesterstraße, gleich neben dem Pfarrhaus. Nun wurde dieses Gebäude nicht nur im vergangenen Jahr abgerissen, sondern an gleicher Stelle eiligst ein Schulneubau errichtet, der in der Straßenfront so lang ist wie das alte Haus aber vier Geschosse oder Etagen hoch gebaut ist. Viel größer somit als das alte Gebäude. Mit großen Fenstern in den hellen Räumen. „Eiligst errichtet“ kann ich noch genauer sagen: Schon nach einem Jahr, am

9. April 1907 kann diese neue Schule als I. Gemeindeschule Nowawes eingeweiht werden und ich zähle zu den ersten Schülern! Hier darf ich nun lernen. Adé Oberlin-Schule!

I. Gemeindeschule“ bedeutet aber nicht, dass diese die erste Schule überhaupt ist, denn mit dem Schulunterricht wurde schon bald nach 1750 begonnen. Zwei Grundstücke weiter, auf dem Eckgrundstück des Küsters / Kantors war früher die Böhmische Schule zuhause.

Im neuen Schulhaus ist alles ist noch frisch und sauber und der Duft der Ölfarbe hängt in der Luft. Hier macht das Lernen Spaß! Von Ostern 1907 bis Weihnachten 1911 darf ich hier bleiben. Diese Knabenschule hat eine Turnhalle, einen großen Hof und von diesem einen Hinter-Ein- und Ausgang (mit der Adresse): Friedrichkirchplatz. Unser Rektor ist der Herr Ritter. Zu den Lehrern habe ich schnell einen guten Kontakt. Den meisten Unterricht haben wir bei unserem Klassenlehrer Herrn Trinkaus.

In diesem zweiten Schuljahr haben wir – Religion: 4 Stunden, Deutsch: 10 Stunden (mit Lesen und Schreiben, dabei immer auch Schönschrift), Rechnen: 4 Stunden, Zeichnen: 1 Stunde und Gesang: 1 Stunde. Das sind 20 Unterrichtsstunden pro Woche. („Summa summarum“, sagt unser Lehrer dazu). In Mädchenschulen werden die Schülerinnen 22 Stunden sitzen, weil bei ihnen noch zwei Stunden Handarbeit hinzukommen. In dieser Zeit machen wir 'was Nützliches, was uns gefällt.

Zuerst lernen und üben wir die deutsche Kurrentschrift. In ein paar Jahren lernen dann die Anfänger die Einheitsschrift nach Herrn Sütterlin, die so ähnlich ist, na, noch etwas spitziger. Die Lehrer brauchen sich aber nicht selber ausdenken, was sie uns erzählen wollen, denn der Kaiser des Deutschen Reiches, der gleichfalls auch Preußischer König ist, hat einen umfangreichen Lehrplan für uns erarbeiten lassen, in dem alles drinsteht. Das weiß ich ganz genau – und er wohnt ja auch bei uns – fast nebenan.


Für uns Kinder ist das Grundstück in der Wiesenstraße und seine Umgebung das wahre Paradies. Im Baugeschäft ist für mich besonders das Ersteigen der aufgeschütteten Kiesberge anziehend. Wir zerren auch eifrig lange Bretter an die steile Kiesbergschräge und können nach beschwerlichem Aufstieg fein hinabrutschen. Es bleibt dabei allerdings nicht aus, dass in Po und Händen auch immer mal Holzsplitter stecken bleiben und Schmerzen verursachen. Mamá tröstet uns beim Entfernen mit solchen Sprüchen wie: „Eh' die Katz 'n Ei legt, ist allet wieder jut“. Und damit hat sie recht!

Inzwischen bin ich ja schon etwas größer und darf unser flaches Boot, genannt „Punt“ benutzen, das aber vorerst noch angeleint bleibt. Seiner Form wegen, habe ich es heimlich „Sargdeckel“ getauft. Man muss diesen aber zuerst im eigenen Kopf umdrehen, damit er zuverlässig schwimmen kann. Wiederum etwas später können wir damit selbst bei niedrigem Wasserstand unter der Mühlendamm-Brücke auf dem dort flachen, schnell fließenden Gewässer über die Steine „hinweggleiten“, die nur eine Handbreit Wasser unter dem Boot liegen.

Zu unseren Nachbarn, nur drei Grundstücke weiter, gehört die Firma „Eis-Fix“, die das Stangeneis zum Kühlhalten der Lebensmittel herstellt. Na ja, der Haupthersteller ist die Natur im Winter mit dem gefrorenen Nuthewasser, das in eckige Stangen zersägt wird oder auch in Formen friert. Vielleicht sind die Abmessungen der Stangen so ungefähr 80 x 20 x 20 cm. Bis zum Sommer werden die Stangen im Kühlraum gebunkert und behalten so ihre Temperatur und Form. Mit den Pferdewagen werden die Stangen dann fix zu den Geschäften und Haushalten gebracht. (In drei Jahrzehnten werden die Pferdewagen abgelöst von einem weißen Opel-Blitz „Kofferwagen“, mit dem das Eis noch fixer rollt). Zu dieser Familie haben wir, das sind natürlich erst mal unsere Eltern, einen guten Kontakt, also zu Familie von Paul Fix und zu der des Haupt-Arbeiters, Kurt Trinks und seiner Frau Charlotte, die stets „Lotti“ gerufen wird.

Und noch eine weitere große Neuigkeit gibt es: Ihr wisst ja, dass die Pferde-Straßenbahn durch unsere größere Schwesterstadt Potsdam hindurchzuckelt. Wohl so etwa seit 1882, schon zu einer Zeit, als es mich noch gar nicht gab. In jüngster Zeit wurden jedoch Gleise neu verlegt, ohne dass es auch nur einen Tag Fahrzeugausfall im Fahrplan gab, auch brauchten die Pferde nicht in einem Baugewühle zu straucheln. Alles ging leise und schnell vor sich. Auch elektrische „Oberleitungen“ wurden gespannt und jetzt am 7. September 1907 findet das große Einweihungsfest statt. Was glaubt ihr wohl was das ist? Ich helfe euch mal: >Die Pferde dürfen sich jetzt ausruhen<. Richtig! Wir haben in Potsdam eine elektrische Straßenbahn mit größeren Wagen als bisher. Und ganz ohne Pferde davor. Die bisherigen Wagen nutzt man als „Beiwagen“. Sie werden an die ziehenden „Triebwagen“ angehängt. Heute sind alle Wagen mit Girlanden geschmückt. Radfahrer versuchen bei dem neuen Bahntempo mitzuhalten, Hunde gucken verdutzt, mancher Mensch strahlt, einige schauen ungläubig. Ein mäßiges Summen, keinerlei Pferdehufegeklapper. Na so was aber auch! Man nennt dieses Fahrzeug künftig nur noch „Die Elektrische“, (weil sich „Straßenbahn“ erübrigt, die neue Bezeichnung sich von selbst versteht).



Das Jahr 1908

Kaum komme ich dazu etwas mehr von mir zu berichten – gibt es doch viel, viel größeres und wichtigeres als mich: Weit vor den Toren der Stadt, unmittelbar zwischen dem Ufer des Templiner Sees und dem Waldgebiet „Pirschheide“ wurden „Garagen“ aufgebaut. Keine solche Remise wie für einen Pferdewagen oder für ein Automobil, nein, große Hallen, die man Hangar nennt. Darin „ruhen“ Luftschiffe, riesige Flugkörper, mit einer kleinen Passagiergondel dranhängend. Also „klein“, das sieht nur von weitem so aus – immerhin passen dort der Aufenthaltsraum mit Tischen und Sesseln hinein, man kann darin ruhen wenn man nicht zu aufgeregt ist. Auch eine kleine Küche und das Gepäckabteil sowie alle technischen Anlagen finden darin Platz. Ungefähr 200 Meter lang und fast 40 Meter im Durchmesser – aus der Ferne wie eine silbrige Zigarre aussehend.


Das Jahr 1909

Immer wieder gibt es etwas über Großartigkeiten zu berichten. Jetzt im September haben wir, also wir alle, Besuch. Besuch aus Amerika. Es ist der Fahrradmechanikus Herr Orville Wright. (Es ist wohl üblich, dass man den Amerikanern solche schwierigen Namen gibt, die man völlig anders spricht, als man diese aufschreibt). Er besucht die Städte Berlin und Potsdam. Wer Herr Wright ist, kann nur einer fragen, der noch viel jünger ist als ich und nicht dabei war. Er ist der erste Mensch auf dieser Erde, der sich (in unserer Neuzeit) vor einigen Jahren mit einem motorangetriebenen Aeroplan in die Lüfte erhob. Er ist weltbekannt. Auf und über dem Bornstedter Feld bei Potsdam, also bei uns und fern seiner Heimat, stellte er dieser Tage sogar zwei neue Weltrekorde auf:

1. Den Dauerflug von 95 Minuten bis das Gasolin-Petrol alle war und er runter musste, sonst hätte er es noch länger ausgehalten,

2. den Rekord von über 300 m Gipfelhöhe. Das kann man auch ohne Bergesgipfel messen.

Höher ist das, als wenn man „Das Neue Palais“ oder „Die Orangerie“ im Park von Sanssouci hochkant stellen würde. Einmal durfte sogar einer der kaiserlichen Prinzen mitfliegen. Vergessen wir bei aller Bewunderung darüber nicht unseren stillen, fleißigen Otto Lilienthal, der hier lebte und auch für die neuen Erfolge mit seinen Vogel-Gleitern hüpfte, sprang, glitt, - und flog – also die Grundlagen schaffte. Sagt Papá.


Das Jahr 1910

In der Schule kommen nun zu den bereits oben genannten Fächern im dritten Jahr meines Hierseins Geschichte und Erdkunde hinzu, und ebenso das Fach Naturbeschreibung.

Zu meinem Geburtstag und zum Weihnachtsfest erhielt ich von meinen Eltern eine Eisenbahn geschenkt. Größe „Null“. Das bedeutet aber nicht, dass man sie nicht sehen kann. Im Gegenteil. Sie ist sehr ansehnlich! So richtig mit Feuer und Dampf, mit vielem interessanten „Drum und Dran“. Ganz phantastisch aber viel zu gefährlich, meint Papá und setzt sich zum echten Spielen gern zu uns.

Mein guter Onkel Max (Dittwaldt), der jüngste Bruder von Mamá, ist ein Reichsbahn-Inspektor. Er wohnt weit im Osten, in Westpreußen, genauer: in Deutsch-Eylau und kommt daher nicht so oft zu Besuch. Zu meinem Geburtstag am 1. Oktober schickte er ein Päckchen, das ein Buch enthielt: „Sagen des deutschen Volkes“, Brüder Grimm, – eine Auswahl für die Jugend – Volksausgabe, (Ausgabe für das Volk bedeutet: tatsächlich für mich, nicht etwa für den Preußischen König bestimmt, der nebenan wohnt – ist ja auch richtig bei mir angekommen). Wieder etwas sagenhaftes zum Schmökern und für mich noch viel Neues im Gegensatz zu den grimmigen Märchen.

In der Winterzeit setzen wir uns, wenn Papá nach getaner Arbeit etwas Zeit hat, gerne mal abends zusammen. Manchmal erzählen die Eltern etwas aus ihrer eigenen Kinderzeit, was immer spannend ist, selbst wenn wir es schon mehrmals hörten. Wir haben dann nur eine Kerze brennen und Mamá fertigt dabei einige Handarbeiten „blind“ – das bedeutet: Sie könnte es fast auch im Dunkeln. Oder wir spielen das Würfel- und Kartenspiel „Hammer und Glocke“ – da muss man ganz schön aufpassen. Leichter ist ja „Mensch ärgere dich nicht“.


1911.

Herr Walter Langhau ist in Berlin umgezogen und Papá wird von jenem aufgefordert, ebenfalls nach Berlin zu kommen.


„So“, sagt der Erzähler und lehnt sich zur Entspannung zurück, „unterstützte ich bisher den jungen Richard, so scheint es nun an der Zeit zu sein, dass er selber den Stift in die Hand nimmt und die weiteren Begebenheiten notiert“.



Das Jahr 1912

Leider müssen wir dieses Kinder-Idyll aufgeben, da unser Vater von der Firma Langhau das Angebot und den Auftrag erhält, in Berlin einen größeren Betriebsteil zu verwalten. Deswegen geht für mich leider kurz vor Weihnachten 1911 der Besuch der Schule in der Priesterstraße zu Ende.

Wir ziehen nun in die Nähe meines Geburtsortes Rixdorf, nach Britz, in die Hannemannstraße

32 a. (Jahrzehnte später wird dieses Haus die Nr. 28 tragen). Unsere Drei-Zimmer-Wohnung liegt im Parterre, rechts vom Hauseingang. Zur Hinterfront des Hauses hat die Wohnung einen schönen Balkon. So wild kinderidyllisch wie in Neuendorf ist es hier nicht, eher vornehm, mit einer Parkanlage hinter dem Haus – nur für die Bewohner dieser Häuserzeile – und schön ruhig sowieso, weil gegenüber das Krankenhausgelände liegt – also noch ein Park, für die genesenden Patienten. Wir haben also überhaupt keinen (störenden) Blick auf andere große Miethäuser. In Britz haben wir auch ein Schloss mit einem Park drumherum, wenn dieser auch nicht so groß ist wie die Anlagen in Potsdam oder bei Nowawes. Links von „unserem Haus“ ist die Gaststätte „Zum Goldenen Löwen“. Und auch das landwirtschaftliche Mustergut „die Domäne Britz“ befindet sich ganz in der Nähe.

Ihr werdet verstehen, dass ich jetzt auch wieder eine andere Schule besuchen muss, weil ich ja von hier nicht täglich nach Nowawes ... und das ist für mein Empfinden ziemlich schlimm. Diese neue Schule, ihr könnt es alle wissen, es ist die III. Gemeindeschule in Britz bei Berlin. Der Rektor ist Herr Jung und unser gar sehr gestrenger Klassenlehrer dieser 3. Klasse heißt Herr Sternberg. Das ist keine Schule, das ist eher ein Kasernenhof, zumindest eine Kinderschinderei.

Nur ein Beispiel dazu: Ich kam heute mit rotgeschwollenen Fingern aus der Schule. Und das kam so: Irgendein Schüler hatte aus Spaß eine kleine Missetat vollbracht. Der Herr Lehrer forderte die Schüler auf, dass der Urheber der großen Ungehörigkeit sich melde oder hilfsweise gemeldet, also verraten werde, was aber nicht zum augenblicklichen Erfolg führte, weil wohl fast alle nichts wussten. Um das Erinnerungsvermögen der Schüler zu wecken und zu stärken, nutze er seinen üblen aber üblichen Spruch: „Ein klei-nes Ver-giss-mein-nicht“. Bei jeder Silbe lässt er, durch die Bankreihen laufend, die Spitze seines Rohrstocks über die zwangsweise auf den Tischen ausgestreckten Finger wippen aber bei der letzten Silbe, dem Wort >nicht< schlägt er stets unbarmherzig zu, um seinen Unmut abzureagieren. In den meisten Fällen treffen diese Schläge natürlich die „falschen“, die unschuldigen Schüler. Er hat den potenziellen Empfänger seiner Strafen wohl kaum vorher ausgezählt. So gelten ihm seine wahllos verteilten Hieb-Treffer wohl eher als gottgewollt. Mamá meinte noch ganz aufgeregt zu Papá „Der Herr Lehrer is wohl mit’m Klammerbeutel jepudert“ – aber dann eher lakonisch mit resignierendem Unterton zu mir, ob dieses „Gottesurteils“, das mich wieder einmal ohne mein Verschulden getroffen hatte: „Ach, Junge – lass doch den Heiden toben. Wart's nur ab, et kommen wieder bess're Tage“.

In der Leistungsbeurteilung falle ich ab. In diesem ersten Halbjahr bis Ostern 1912 bekamen wir die Fächer Physik und Raumlehre dazu. Das Zwischenzeugnis von Ostern lasse ich vorsichtshalber und ausnahmsweise mal besser von Mamá unterschreiben. –

Huch, trotz aller Widrigkeiten schnelle ich auf dem Zeugnis, was uns zu Michaelis im September ausgehändigt wird wieder weiter nach oben, so dass ich im Durchschnitt nun erneut auf 1–2 stehe.

Mit uns im gleichen Haus wohnt auch der Kaufmann Schuch mit Frau und Töchterchen „Püppi“. Wir verstehen uns gut und weil ich schon mehr von der Welt weiß, als sie, kann ich manchmal einen guten Rat geben. Deshalb meint sie bald, ich der Richard, sei ihre „Große Denke“.


Am 28. März 1912 stirbt in Wittenberge mein Onkel, der Buchdrucker Franz Jochmann in der Mohrenstraße 4 im Alter von nur 44 Jahren. Nun steht meine Tante Luise Jochmann, geborene Janecke, mit den fünf Kindern alleine da.

Im Frühjahr wird Käti hier in Britz eingesegnet.


Die Orte Rixdorf, Britz, Buckow und Rudow werden zusammengefasst und heißen von nun an „Neukölln“. Die Stadt Berlin schluckte vor Zeiten bei der Zusammenlegung den Namen der Schwesterstadt Cölln. Nun ist er also ein bisschen wieder da, sagt Papá!

Unsere alte Rixdorfer Jägerstraße (meine Geburtsstraße) wird in Rollbergstraße umbenannt. Hier gibt es nichts mehr zu jagen.



1913

Im September wird das Schulsystem in Britz neu geordnet. Viele Kinder, so auch ich, werden zur Auflockerung der Verhältnisse von der bisherigen III. Gemeindeschule, an die I. Gemeindeschule, Britzer Damm 162, übergeleitet.

Es ist also geschafft! Ich darf diese böse, unangenehme Schule verlassen (eigentlich war's ja nur der Lehrer). Hier besuche ich die Klassen 2 und 1, womit dann mein gesamter Volksschulbesuch Ostern 1915 zu Ende gehen wird. Der Wechsel tut mir gut. „Et kommen wieder bess're Tage“ – wie Mamá weise vorausgehofft hatte.

Diese riesengroße Schule ist erst zum Ende des Jahres 1912 fertig gebaut worden, also noch fast ganz neu und ich gehöre so wie damals in Nowawes zu den ersten Schülern, die hier unterrichtet werden. Unser Schulleiter, der auch gleichzeitig unser Klassenlehrer ist, ist der Herr Rektor Schröder. Hier gefällt es mir. Schauen wir aus dem Fenster unseres Unterrichtsraumes, sehen wir die alte Britzer Kirche, aus Feldsteinen errichtet.


Wir beobachten des Öfteren gemeinsam die Zeppelinschen Luftschiffe, die am Himmel brummend vorüberziehen, fahren“, wie der Fachmann sagt. Nicht etwa „fliegen“. Wie winzig sind dagegen die Aeroplane anzusehen, wenn sie vom Tempelhofer Feld in Berlin über Rixdorf und Britz zum Landeplatz „Johannisthal“ beim Dorf Schöneweide fliegen. Im Gegensatz zu den Luftschiffen dürfen diese tatsächlich „fliegen“! Sehr bekannt ist zum Beispiel der Aviatiker Latham. Dieser wurde noch vor einigen Jahren, als er vom Tempelhofer Feld nach Johannisthal flog, vom dortigen Gendarmen mit einer Strafe belegt – wegen groben Unfugs! „Hier so einfach rumfliegen wollen!“ So neu war noch vor kurzer Zeit das Fliegen, – dass es der Schutzmann erstmal ordnen wollte.


Wir machen einige Tage Ferien bei Weilands. Tante Marie ist Mamás große Schwester. Sie führen eine Gastwirtschaft. Da kann man sich sein Essen immer selber aussuchen. Am 24. Juli unternehmen Mamá, Tante Marie und ich einen ausgedehnten Ganztags-Ausflug in den Botanischen Garten. Es ist sehr interessant. Im Freien sehen wir Gewächse die teilweise sonst nur in anderen Erdteilen beheimatet sind. Eine Anzahl von Kakteen, herrliche Seerosen, Lotosblumen. Dann gibt es viele Pflanzenarten, die sonst nur im Hochgebirge wachsen, so sind dort Blumen aus dem Riesengebirge, den Dolomiten, dem Himalaja-Gebirge, dem Kaukasus und von anderen Gebirgen zu bestaunen. Tausende von Blumen. Auch besichtigten wir die „Viktoria regia, die im Jahr nur einen Tag und eine Nacht blüht. In den riesigen Gewächshäusern aus Glas sehen wir Palmen, Bananenstauden, Kokosbäume mit „Nüssen“, Apfelsinenbäume (wisst ihr dass >Apfelsine< „chinesischer Apfel“ bedeutet?), Zitronenbäume und auch Kaffeesträucher und Kakaobäume.


1913

Weil ich nicht in dieser Britzer Kirchengemeinde aufgewachsen bin, sondern die erste Zeit nebenan in Rixdorf aber noch dazu in Berlin getauft, zwischendurch im Kreis Teltow gewohnt, benötige ich bei diesem Durcheinander als Voraussetzung für die Teilnahme am Konfirmandenunterricht die entsprechende Bescheinigung, dass ich ein Heide nicht bin. Der Küster Geisler von der Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ stellt diese meinem Vater geschwind aus. In solchen Dingen soll man den Herrn nicht warten lassen.

Mein Onkel Max Dittwaldt ist stets sichtlich um meine gute Bildung bemüht. Sei diesjähriges Geschenk zur Vollendung meines 13. Lebensjahres ist die entsprechend Weltliteratur:

Neues Vortragsbuch – Vom Guten das Beste“. Erster Band: Ernstes und Heiteres.

Es ist für mich ein „nicht gar zu leichtes Brot“, mich da möglichst heiter hindurchzuarbeiten, denn ich halte ja sonst keine Vorträge und schon gar nicht so „spaßig-komische“ wie Erwachsene es eher ungern tun.

Am 17. November stirbt in Zehlendorf bei Weilands meine herzensgute Großmamá Alwine Pauline Dittwaldt. Sie war in Nowawes als eine der drei Zinnow-Mädchen geboren worden.


1914

Es beginnt ein Krieg. Deutsche Soldaten werden erstmal nach Frankreich geschickt, um dort die Interessen unserer Heimat zu verteidigen. Gewiss wird es mit Gottes Schutz und Dank unserer guten Truppen ein kurzer Einsatz werden. Viele jubeln vor lauter Kampfgeist.

Auch unser Papá und sein Bruder Wilhelm aus Wittenberge müssen etwas später mit – ebenso andere unserer Verwandten und Bekannten. Alles greift zu den Waffen, wenn der Kaiser ruft.


1915

Nach der Zeit des gehörigen Konfirmanden-Unterrichts werde ich am 14. März 1915 in der Evangelischen Kirche zu Berlin-Britz eingesegnet und erhalte damit auch die Zulassung zum Hl. Abendmahl. Ein hl.-freudiger Schreck erfüllt mich nach dem feierlich-steifen offiziellen Akt, denn es gibt ja zu diesem festlichen Anlass sogar noch Geschenke (fast unverdient – ich habe ja nur den Kleinen Katechismus mit den Zehn Geboten und Erläuterungen, das Glaubensbekenntnis und einige Lieder auswendig zu lernen gehabt). Von den Eltern bekomme ich ein in Leder gebundenes Evangelisches Gesangbuch mit meinem eingeprägten Namen. Onkel Max zeigte sich wieder ganz groß – ein Beitrag für meine Pünktlichkeit, auf die er als Kaiserlicher Eisenbahnbeamter besonders großen Wert legt. Er schenkt mir eine Taschenuhr – nur für mich alleine. (Der Leser Chris kann bestätigen, dass sich jene noch 100 Jahre später nunmehr in seinem Haushalt befindet – zu einer Zeit, da der Beschenkte und erst recht der Schenkende schon lange nicht mehr auf dieser Erde weilen).

Post erhalte ich zur Konfirmation eine ganze Menge. Onkel Alfred Zocher (ihr wisst schon: der Mann von Tante Alma, der jüngsten Schwester meiner Mamá) schreibt aus Hanau, wo er zurzeit als Soldat in der Ersatz-Kompanie des 3. Eisenbahn-Regiments stationiert ist. Die Karte zeigt auf der Vorderseite einen schmuck uniformierten Soldaten, einen Feldwebel, im friedlichen Atelier der Fotografin Witwe C. Hirtes in Hanau am Main, Paradeplatz 7, stehend. Im Krieg hat er nun befehlsgemäß den Dienst von der Berliner Straßenbahn zur Eisenbahn gewechselt.


Ende März geht meine Volksschulzeit zu Ende. Mein Zeugnis ist in allen Fächern gut, sehr zufriedenstellend ausgefallen. Die Kinder gehen in die Osterferien aber wir Schüler der obersten Klassen 1 a und 1 b werden hinausgeschickt in den nächsten Lebensabschnitt. Meiner Neigung entsprechend findet sich bald eine Lehrstelle. Ich beginne am 01. April und das ist kein Scherz, in der Graphischen Kunstanstalt „Baudouin“, so heißt der Besitzer und Chef. Das Gebäude steht in Berlin S 42 in der Alexandrinenstraße 35. Hier bin ich „Lehrling für Zeichnen und Retousche“. Die Lehrzeit soll auf den Tag genau vier Jahre währen. Bei der Arbeit haben wir in hellem Hemd zu erscheinen. Gestärkter Stehkragen und Krawatte sind üblich. Das ist für mich als 14-jährigen neu und ungemütlich scheuernd. Darüber ein blütenweißer Arbeitskittel.

Meine Schwester Käte beendet hingegen schon bald ihre Lehre als Putzmacherin, in dem sie vor allem Hüte nach der neuesten Mode schmückt. Na, darauf kann ich gern verzichten.


Aber ach, es kommt schon wieder mal etwas dazwischen, was ich doch so gar nicht beeinflussen kann. Schon nach vier Monaten wird mein Lehrvertrag im gegenseitigen Einverständnis zum 31. August aufgelöst, weil die Eltern wegen Vaters Arbeit mit uns wieder umziehen.


Es geht nach Nowawes bei Potsdam.

Wir wohnen jetzt fast am Friedrichkirchplatz, in der Mittelstraße 7, gerade gegenüber der Gaststätte „Billardheim“. Unser Hauswirt ist der Herr Bosse.

Das Einleben fällt mir nicht schwer, denn ich kann mich ja noch an Verschiedenes der „alten Heimat“ erinnern. Alles ist hier aber einfacher als in Britz! Nach dem Umzug heißt es: Schnell und erfolgreich einen neuen Ausbildungsplatz suchen. Es findet sich eine leere Lehrstelle im Konstruktionsbüro des Lokomotiven-Herstellers „Orenstein und Koppel“, Berlin-Drewitz-Neuendorf und somit, bei Fahrradnutzung, „gleich um die Ecke“. Neben der Arbeit im Betrieb habe ich die berufliche Fortbildungsschule in unserer Straße, uns gleich schräg gegenüber, Mittelstraße 2, zu besuchen. Es ist das Grundstück, auf dem damals der Herr August Wichgraf die Webschule eingerichtet hatte, um die Weber mit neuen, effektiven Techniken in der Textilherstellung vertraut zu machen – mit dem letztendlichen Ziele, deren hartes Los zu erleichtern, Armut, mit Hunger einhergehend, zu mildern.

Am Unterricht an der Gewerblichen Fortbildungsschule nehme ich in der Maschinenbau-Klasse teil. Ich beginne im Oktober 1915 und werde sie Michaelis 1918 beenden. Wir werden unterrichtet in „Maschinenbau-Fachkunde“, „Wirtschaftliche Geschäftskunde“, „Bürgerkunde“, in schriftlichen Arbeiten sowie in der Ausführung unterschiedlichster Schriftarten. Es gibt natürlich auch ferner das Rechnen und das Technische Zeichnen.

So einiges hat sich im Ort in der Zeit unserer Abwesenheit verändert. Als ich „unsere“ kleine Wiesenstraße an der Nuthe wieder besuche, sehe ich nun auf den benachbarten früheren Ödflächen, fünf große Häuser stehen, ab 1912 vom Arbeiter-Bau-Verein errichtet, die von der ebenfalls neuen Havelstraße erschlossen werden.


1916

Inzwischen wurden zusätzlich die älteren Jahrgänge als Soldaten zum Kriegsdienst eingezogen und unser Papá ist nun auch darunter. Der Krieg ließ sich zwar schnell beginnen aber doch nicht so zügig siegreich beenden, wie vordem proklamiert. Mein Vater August Janecke hatte ja seit seiner späteren Kindheit immer mit Pferden zu tun – er hat ein Pferdeverständnis. Den Schießprügel wird er nur selten nutzen. Er ist Trainsoldat im 1. Gardedragoner-Regiment. Seine Aufgabe besteht darin, mit den Pferden, die mit ihrer Größe leider eine „gute“ Zielscheibe bieten, die sich auch nicht in den Schützengraben kauern können, die schweren Geschütze durch das mitunter unwegsame Gelände bis an die vorderste Gefechtslinie zu ziehen und dort zu positionieren, damit dann die Kanoniere …

Auch assistiert er dem Tierarzt bei dem Behandeln von Verletzungen der Pferde, sofern da noch etwas zu helfen ist und sie nicht mit dem „Gnadenschuss“ von ihrem Dienst am Menschen erlöst werden müssen. Seit vielen Jahren hatte er mit Pferden, diesen sensiblen Fluchttieren zu tun, da quälen ihn solche Kriegseinsätze natürlich nicht nur im Hinblick auf die Menschen. Bei seinem kurzen Heimaturlaub erzählte er nichts weiter vom Krieg.

Mein treuer Onkel Alfred Zocher schreibt am 15. März 1916 aus dem tief verschneiten Poniewicz. Dort ist er stationiert beim militärischen Eisenbahn-Streckenarbeitertrupp 11 (Feldpoststation 216).

Viele Städte beginnen in dieser Zeit Notgeldscheine herauszugeben.

Die Lehre bei Orenstein und Koppel ist oft kein wahres Zuckerlecken. Wir Lehrlinge zeichnen vorerst in Bleistift auf weißem Karton. Wegen der Übersichtlichkeit werden dann die Zeichnungen z.B. nach den Materialarten der verwendeten Metalle farbig gestaltet. Auf Transparent zeichnen wir ebenfalls mit Bleistift. Wenn die Zeichnung dann als fehlerfrei bewertet wird, ziehen wir diese in kräftiger tief-schwarzer Ausziehtusche aus. Können wir dann das Ergebnis mit einigem Stolz präsentieren, kommt promt der Auftrag, das Ganze mit dem Schabemesser auszuradieren, ohne dass etwa ein Loch in das Transparentblatt gekratzt wird. Passiert einem solches, fängt alles von vorne an. Die besten Zeichnungen, die dann für die Werkstätten genutzt werden, werden auf Papier gepaust und jene die längere Zeit halten müssen, auf gestärkte Leinwand gezogen (geklebt).


1917

Es ergibt sich für uns die Möglichkeit eines Wohnungswechsels in der gleichen Straße, wo wir es schöner haben. Wir ziehen also von der Mittelstraße 7 in die Nr. 22, schräg gegenüber vom Friedhof. Hauswirt ist der Töpfermeister Max Lüscher. Es ist eines der wenigen neueren großen Häuser in der Straße, die ja ansonsten damals mit den kleinen Zwei-Familien-Häusern für die Weber-bebaut wurde. Beim Umzug nehmen wir alles in unsere Hände. Papá wird staunen, wenn er zum baldigen Kriegsende – oder notfalls nur auf Urlaub – heimkommt. Fürs Erste habe ich schon mal eine Grundriss-Zeichnung der Wohnung gefertigt, mit dem eingetragenen Mobiliar, und ihm diese als Gruß „ins Feld“ geschickt.

Weil für die Kriegserfolge alle Männer benötigt werden, erfasst man auch jene, die noch nicht als Soldaten eingezogen werden. Dazu gehöre ich nicht, weil ich wegen der Gehbehinderung sowieso zum Kriegsdienst ungeeignet bin und ausgemustert wurde. Jetzt heißt die nächste Menschen-Reserve für die aber auch ich vorgesehen bin: „Hilfsdienstpflichtiger für den Landsturm“, für die Truppe, die im Wesentlichen aus ganz „jungen Dachsen“, Ruhegeldempfängern und Invaliden besteht. Ich habe von der ersten und letzten Gruppe etwas mit meinen immerhin bald 17 Jahren.


Zur praktischen Lehre im Konstruktionsbüro habe ich die Berufsschule und ab September 1917 geht es zusätzlich mit Abendkursen in der gleichen Schule weiter. Lange anstrengende Tage aber man kann ohne besondere Beziehungen nur dann etwas im Beruf werden, wenn man sich „auf den Hosenboden“ setzt. Oder wie man im Handwerk sagt: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ – alles will „von der Pike auf“ gelernt sein und bis zum Erlangen der Meisterschaft geübt werden, denn „es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“.

Wir werden also weitergebildet auf den Gebieten:

1917/1918: Mathematik, Technische Mechanik, Projektionszeichnen sowie Plakat- und Kunstschriften. Im 2. Halbjahr 1918 kommt das konstruktive Maschinenzeichnen hinzu und ein Jahr später: Konstruktion der Dampfmaschinen, Dampfdruckkessel, Arbeitsmaschinen und Verbrennungsmotore.


Meinen 17. Geburtstag begehe ich gemeinsam mit meiner Jungengruppe – 20 muntere „Männer“ der Kinderkirchengruppe, deren Helfer ich in der knappen Freizeit bin.


Mein Onkel Wilhelm Janecke, der Zimmermann in Wittenberge (Prignitz) dient als Kanonier. Es hat ihn das Metall von einem Heimatverteidiger erwischt aber er ist mit dem Leben davon gekommen. Er schreibt mir zum Geburtstag aus dem Festungs-Lazarett in Metz (Elsass-Lothringen). Das Lazarett heißt „Blandinenstift“. (Vater liest, als er zur Weihnachtszeit hier ist, hocherfreut Blondinenstift, was ja auch einem guten Heilerfog nicht abträglich schiene. In Wirklichkeit war diese Blandine aber eine Ordensschwester). Hoffentlich heilen die Wunden bald aus – oder was soll man wünschen? Je schneller die Genesung, desto eher wieder an die Front und ins Gefecht. Was er nicht schreibt – aber wir durchaus wissen: „Ein Krieg reicht mir – wenn ich heil nach Hause komme, will ich umgehend nach Amerika auswandern“.


Zur Weihnachtszeit bekommt unser Vater einen kurzen Urlaub. Erinnerungsfoto im Uniformmantel im Hof. Seine Vorfreude auf einen weihnachtlichen Festschmaus muss vorsichtig gedämpft werden. Die Lebensmittelmarken geben nicht Großes zum Verwöhnen her. Auch in der Heimat gibt es nicht viel zu beißen. Mamá tischt vor allem Kohlrübengerichte in verschiedenen Varianten auf.


1918

Feld-Post erhalte ich von meinem Cousin Bruno Weiland aus dem Krieg. Er ist als Soldat in Frankreich, Montmorot (Jura), im Infanterie-Regiment 204. Er schreibt nichts weiter von sich und den Verhältnissen, vermutlich damit die kurze Karte gut durch die postüberwachende Zensur kommt. Der eigentlich wertvolle Inhalt ist das „Lebens-Zeichen an sich“. Auch an Cousine Käte schreibt er in dieser Art – mit dem lapidaren Hinweis „leider kann ich mich wegen des Papiermangels nicht weiter ergehen“.

Beim Abgang von der beruflichen Fortbildungsschule im September 1918 erhalte ich „als Anerkennung für Fleiß und lobenswertes Betragen eine Buchprämie. Es ist die „Hütte“, das Taschenbuch des Ingenieurs. Ein guter schwerer Stoff. Ein dickes Buch, bestehend aus Formeln, Berechnungshinweisen, ungezählten Tabellen. (Dieses Buch wird noch heute, nach fast 100 Jahren in der Familie Janecke aufbewahrt und ab und zu benutzt).

Ja, ich verlasse diese Klasse, nicht aber das Schulhaus, denn schon im Herbst hatte ich neue Abend-Bildungskurse belegt, die ich im Vorjahr erwähnt hatte – und diese laufen weiter.

Käte belegt nach ihrer abgeschlossenen Lehre als Putzmacherin nun einen Kurs in der Kunst des Schneiderns.


1919

Am 16. Januar verabschieden wir den 2. Pastor der Gemeinde, Pfarrer Friedrich Gerhard Kinzel. Eine seiner Hauptaufgaben war es in der Zeit seines Hierseins, die Arbeit in der Kinderkirche zu leiten. Ich wurde auserwählt, stellvertretend für den Kreis der Helfer, eine kurze Abschiedsrede zu halten. Als Erinnerung an diese Zeit überreichten wir ihm ein Photo des Helferkreises.


Am 01. Juli stirbt in Wittenberge meine Tante, die Schneiderin Luise (Janecke) verehelichte Jochmann, Schwester meines Vaters und des Onkel Wilhelm Janecke. Sie war erst 51 Jahre alt. Fünf Kinder haben die Jochmanns – und ich damit 1 Cousine und 4 Cousins aus dieser Familie.


Der Krieg endete im vorigen Jahr, aber von meinem Onkel Wilhelm Janecke aus Wittenberge haben wir keine Nachricht, können ihn auch nicht erreichen. Schon vor dem Kriege sprach er davon, dass er gerne nach Amerika auswandern wolle. Wir trösten uns gegen dunkle Vermutungen damit: Vielleicht hatte der Wilhelm von den Kriegsereignissen so sehr die Nase voll und es ergab sich für ihn eine günstige schnelle Ausreise, so dass seine Zeit zu knapp wurde, um sich von allen zu verabschieden.


Erst im Jahre 2015 gelingt es seinem Großneffen, Chris Janecke, Sohn des A.Rich. Janecke in den im Internet veröffentlichten Kriegsgefallenen-Listen fündig zu werden. Das Ergebnis: Kanonier Wilhelm Janecke fiel 1918 im ersten Weltkrieg, 2 Tage nach seinem 48. Geburtstag, 2 Monate vor dem Ende des Krieges. Er hatte in Wittenberge (Prignitz) als Alleinstehender gelebt, so konnte von seiner militärischen Einheit keine Ehefrau benachrichtigt werden. Seine Eltern in Osterburg (Altmark) waren bereits verstorben und dass noch irgendwo Geschwister existieren – deren Anschriften kannte niemand. Die Familien der Geschwister, selbst auch seine Nichte und sein Neffe starben in der Ungewissheit über den Verbleib des Onkel Wilhelm. So wurde das Schicksal des Wilhelm, der Familie zuverlässig erst nach knapp einhundert Jahren bekannt. Eines der Schicksale, wie es Ungezählte ähnliche gab. Nichts also mit einem schönen Leben in Amerika.


Im Herbst ist meine Lehrzeit in der Lokomotivbau-Firma „Orenstein & Koppel“ beendet. Herr Luttermöller von der Direktion schreibt mir das schlichte, geschäftsmäßig-glatte Lehr-Zeugnis:

Herr Richard Janecke war vom 1. November 1915 bis zum 31. März 1919 in unserem Konstruktionsbüro als Lehrling beschäftigt. Er war sehr fleißig und hat die ihm übertragenen Arbeiten mit Interesse und zu unserer Zufriedenheit ausgeführt. Sein Betragen war stets gut und hat zu Beanstandungen keine Veranlassung gegeben.“ Luttermöller.


Der Herr Ober-Ingenieur Heinrich Gustav Luttermöller wohnt in Neubabelsberg, Domstraße 5.

Aufgrund der guten Ergebnisse in der praktischen Lehrzeit, wie auch in der Berufsschule und ebenso in den zusätzlichen Abendkursen, übernimmt mich das Unternehmen ab 01. April 1919 mit der Stellen-Einstufung als „Techniker der Maschinenbaukonstruktion“.


1920

Meine abendlichen Fortbildungsveranstaltungen, die einige Jahre währten, beende ich nun Ende März 1920. Jetzt erst mal zumindest einen Tag, zwei Tage so richtig ausschlafen, denn nebenbei läuft ja auch seit 1917 die Arbeit in der / für die Kinderkirche. In meine Gruppe gehören unter anderen auch folgende Jungen: Karl und Oswald Henke (Karl wird später im Zweiten Weltkrieg Flieger aber Oswald wird Pfarrer, ebenso Hans Schulz (Pfarrer) der Sohn des Gemüsehändlers und Günther Deutsch (Pfarrer, jüngerer Bruder von Rosemarie, spätere oo Kloppe), genauso gehört dazu Walter Brendler, der später ein tüchtiger Tischler wird und viele andere fröhliche, aufrechte junge Menschen.


In diesem Jahr wächst zum 01. Oktober die Stadt Berlin um ein Vielfaches, nachdem das am 01. April per Gesetz beschlossen wurde. Mit zügigem Schritt konnte man die Stadt bisher in Nord-Süd-Richtung in zwei Stunden durchmessen, von Ost nach West bedurfte es zweieinhalb Stunden. Das geht in dieser Art nun überhaupt nicht mehr – aber wandern darf man trotzdem. Das alte Kern-Berlin wird mit 93 kommunalen Stadt- und Dorfgemeinden zu „Groß-Berlin“ zusammen geschlossen. Die Fläche der Stadt ist damit über Nacht um das Dreizehnfache angewachsen, von bescheidenen 66 km² auf 878,35 km². Es sind statt der bisherigen knapp 2 Millionen Berliner plötzlich 3,86 Millionen Einwohner. Damit ist Berlin die drittgrößte Stadt der Welt, gleich hinter New York und London. Stadtgrenzen werden neu eingerichtet. Vieles, was man in der nahen Umgebung (der Provinz Brandenburg) nachbarschaftlich fußläufig erreichen kann, liegt jetzt in der Stadt Berlin – fast „Ausland“, obwohl ich ja in beiden Städten zu Hause bin. Für das Berlin umgebende Brandenburger Flächenland stellt diese zusammengefasste neue Großmacht einen wirtschaftlichen Aderlass dar.


In der Zeit ab 1914, besonders zwischen 1916 und 1923, also während des Krieges, in der Nachkriegszeit und während der Inflation geben viele Städte eigenes Notgeld heraus. Weshalb wurde diese Maßnahme eingerichtet? Wegen der inflationären Entwicklung lag der Metallwert der Silbermünzen höher, als deren aufgeprägter Nominalwert, so dass die Bevölkerung zum Ansammeln dieser Münzen neigte. Man erkannte die Münzen als Wertreserve für noch schlechtere Zeiten. Der Metallbedarf der Rüstungsindustrie hat bereits zu einem Mangel an Münzen geführt. Städte, Gemeinden und sogar Betriebe füllen diese Lücke und decken den Bedarf mit dem Herausgeben eigener kleiner Geldscheine anstelle der fehlenden Münzen.

Die Notgeldausgabe lässt sich in zwei Zeit-Perioden gliedern:



Einige jüngere Leute und Junggebliebene, alle hochmotiviert und voller Pläne, gründen die „Technische Vereinigung Nowawes 1919“. Viel zur Verfügung gestelltes Wissen, einzeln gesammelte Erfahrungen im kollegialen Gedankenaustausch gebündelt und gemeinsam genutzt, kann zu schönen Erfolgen führen, denken wir uns. Mit meinen 18 Jahren gehörte ich zu den Initiatoren.


Die Einladung zur feierlichen Sitzung, dem Stiftungsfest, zu der ich natürlich auch meine Eltern und Käte einlade, sieht folgendermaßen aus:




Die “Technische Vereinigung Nowawes 1919“ gibt sich die Ehre


Herrn August Janecke nebst werten Angehörigen


zu dem am Sonnabend, den 15. Mai 1920, abends 6 Uhr,

im „Deutschen Wirtshaus“, Wilhelmstraße 15, stattfindenden


Ersten Stiftungsfest


ergebenst einzuladen.


Eintritt: Mk 3,00 I. A.

Gesellschaftsanzug erwünscht gez. A.Rich. Janecke





1921

Meine Base Martha Jochmann heiratet in Wittenberge den Eisenbahnschlosser Karl Giese (der wie ich im Jahre 1900 geboren wurde), der aus Groß Pankow stammt.

Am 15. September 1921 begehen meine Eltern: August Janecke und Klara, geborene Dittwaldt, den Festtag ihrer Silberhochzeit. Mamá ist nun 48 Jahre, Papá 52 Jahre alt.

Der Weihnachts-Familien-Abend, den die Kinder und Helfer der Kinderkirche vorbereitet hatten, findet mit seinem umfangreichen Programm von 17 Punkten einen derart großen Anklang, dass wir die Veranstaltung für alle, die der Saal zu Weihnachten nicht fassen konnte, am 30. Dezember im Parkrestaurant Wilhelmstraße 118 wiederholten. Gewiss sind auch einige dabei, die das Programm nun zum 2. mal sehen – der Saal ist wieder voll gefüllt.

In diesem Jahr wechsele ich innerhalb des Lokomotivaubetriebs vom Konstruktionsbüro in die Offert-Abteilung, in der auch unser Vater, im kaufmännischen Bereich tätig ist. In dieser Abteilung kann ich einen Überblick über das gesamte Angebots- und Vertriebsspektrum bekommen. Hier erledige ich vor allem Projektzeichnungen und kalkuliere Leistungsberechnungen für Angebote.



1922

Am Donnerstag, den 18. März 1922 besuchen wir am Abend um 8 Uhr den Klavierabend des hervorragenden Virtuosen Wilhelm Kempff. Wilhelm Kempff ist Kantor der Potsdamer Nikolaikirche, auch Musiklehrer in der Charlottenschule. Meine Schwester Käthe (und natürlich viele andere ebenso) hatten bei ihm Unterricht.

Unser guter Onkel Max Dittwaldt, der wie ihr wisst, in Deutsch-Eylau in Westpreußen lebt, ist von des Auswirkungen des Versailler Vertrages in der Kriegsfolge betroffen. Das Gebiet wird dem polnischen Staat zugeordnet. Will er kein Pole werden, muss er wie Tausende andere auch, dieses Gebiet umgehend verlassen. Er wählt als Zielort der Umsiedlung Königsberg in Ostpreußen und findet dort eine Wohnung in der Bachstraße 25. (Das Gewässer, das durch Königsberg fließt, ist weitaus mehr als ein Bach und heißt Pregel, der Straßenname bezieht sich auf Johann Sebastian). Wieder lebt er nun ein ganzes Stück weiter von uns entfernt. Wäre er nach Königsberg in Westpreußen gezogen, wäre es bedeutend näher zu uns. Max hat dort im ostpreußischen Kö. aber auch schon eine Stelle als Reichsbahn-Amtmann erhalten.


1923

Im Mai schreibt mir Tante Marie Weiland, also Mamás große Schwester aus Berlin einen Brief und legt eine Drucksache bei. Es handelt sich um die Festpredigt zum 150-jährigen Bestehen der Friedrichskirche Nowawes, die Oberpfarrer Koller vor 20 Jahren gehalten hatte. Hier ist ihr kurzer Brief:


Berlin, 31. Mai 1923


Lieber Richard! 1)


Dieses Büchelchen 2) sandte Onkel Otto 3) damals unserer Mutter. 4)


Sie hatte die Predigt 2) gehört und sie war ihr wertvoll.


Ich fand dieselbe in ihrer Trau-Bibel 5).


Dir, der Du mit dieser Kirche 6) „verwachsen“ bist, ist es vielleicht ein Andenken.


Herzliche Grüße Euch Allen

Tante Marie 7)


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Chris Janecke erläutert die Fußnoten dieser oben abgedruckten Notiz:


1.) Der hier angeredete Empfänger dieses Heftchens mit dem Abdruck des Textes der damaligen Predigt, ist der Neffe der hier schreibenden Absenderin: Alfred Richard Janecke (1900 bis 1983).

Er wohnt während dieser Zeit in der Nowaweser Mittelstraße 22 (spätere Wichgrafstraße 22).


2.) „Dieses Büchelchen“ ist die gedruckte Festpredigt, von Oberpfarrer Georg Paulus Koller (Lebenszeit 1840 bis 1912, Seelsorger in der Gemeinde der Friedrichskirche von 1872 bis 1912). Diese Predigt, die wir hier gerade zur Kenntnis nehmen, wurde am 24. Mai 1903 gehalten. Die gedruckte Ausgabe befindet sich noch nach 110 Jahren im Besitz der Familie Janecke.


3.) Onkel Otto (1855 bis 1936) ist der Möbel- und Sargtischler Otto Gericke, in Nowawes, Priesterstraße 18/19 lebend, Sohn des August Julius August Gericke (1832 bis 1905), der am 22. Oktober 1855 bei der Gestaltung eines der Zinnen des Flatowturmes im Schlosspark Babelsberg als junger Zimmermann abgestürzt war und nach seiner eingeschränkten Genesung die Gericke-Reihe der Nowaweser Möbel- und Sargtischler begann.

Die damalige Priesterstraße 18/19 ist die heutige Karl-Liebknecht-Straße 23/24.


4.) „unsere Mutter“ ist Alwine Pauline Zinnow (1843 bis 1913), verheiratete Dittwaldt. Sie wuchs mit Eltern und den beiden Geschwistern auf dem Grundstück Priesterstraße 18/19 auf; in jenem Weberhaus, in dem heute das kleine Stadtteilmuseum „Weberstübchen“ liebevoll eingerichtet ist.


5.) Die Nowaweserin Alwine Pauline Zinnow und der Wahlberliner Carl Ludwig August Dittwaldt wurden am Sonntag, den 21. August 1864 in Nowawes von Herrn Pfarrer Karl Friedrich Wilhelm Groote (1816 bis 1872, Pfarrer in der Friedrichskirche von 1856 bis 1872) getraut. Dieser Pfarrer war der unmittelbare Amts-Vorgänger des Pfarrer Koller.


6.) Friedrichskirche in Nowawes (Deren Standort wechselte im Laufe der Zeit seine Benennung: Kirchplatz, Friedrichskirchplatz -nach König FriedrichII.- und seit der Nachkriegszeit: Weberplatz).


7.) Tante Marie Dittwaldt, verehelichte Weiland, aus Berlin. Schwester der Mutter des Adressaten.

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In diesen Tagen fertige ich eine Tuschezeichnung unserer Friedrichskirche „Zur Erinnerung an die Jubelfeier zum 75-jährigen Bestehen der Kinderkirche, die im Revolutionsjahr 1848 von Herrn Pfarrer Stobwasser eingerichtet wurde. Meine Zeichnung wird das Titelblatt der Festschrift füllen und schmücken.


Für spätere Leser sieht unser Leben, das ich schildere, „aus der Ferne wohl recht normal“ aus – aber es ist völlig anders, als es scheinen mag. Ich notiere hier mal etwas zur Geldentwertung (Inflation) und ihre Wirkung auf die Warenpreise der Nachkriegszeit.

Die Inflation (lateinisch, zu deutsch: Aufblähung). Es handelt sich um eine Verringerung des Geldwertes durch Verschwendung und den Fehleinsatz von Ressourcen – eine beschleunigte Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, die am Ende zur Verweigerung der Annahme von Geld führt und dafür ersatzweise in die Flucht in Sachen mit voraussichtlich bleibendem Wert.

Die im Weltkrieg begonnene Kreditfinanzierung wurde nach dem Kriegsende beibehalten (Reparationsleistungen) und führte, begünstigt durch den Kampf im Ruhrgebiet 1923, (Französische Besetzung) zu einem Sturz der Reichsmark ins Bodenlose. Die Entwicklung:


Dezember 1918

1 Dollar der USA entspricht 7,- Deutsche Reichsmark

Dezember 1920

1 Dollar der USA entspricht 70,- Deutsche Reichsmark

Dezember 1922

1 Dollar der USA entspricht 7.350,- Deutsche Reichsmark

April 1923

1 Dollar der USA entspricht 20.980,- Deutsche Reichsmark

01. Juli 1923

1 Dollar der USA entspricht 160.400,- Deutsche Reichsmark

01. Oktober 1923

1 Dollar der USA entspricht 142.000.000 Deutsche Reichsmark

01. November 1923

1 Dollar der USA entspricht 130.225.000.000,- Deutsche RM.

20. November 1923

1 Dollar der USA entspricht 4.200.000.000.000 Deutsche RM.


Das bedeutet:

1 USA-Dollar entsprach im November 1923 4,2 Billionen Papier-Mark des Deutschen Reiches oder

1 Billion deutscher Mark war 1 Rentenmark wert, beziehungsweise dem Wert von 10 Milliarden Mark ordnete man 1 Rentenpfennig (Goldpfennig) als Gegenwert / Gleichwert zu.


Um es für das tägliche Leben anschaulicher darzustellen, die folgende Tabelle:


Artikel

(1 Pfund = 500 g.

1914

vor dem Krieg

(Pfennige)

1918

nach d. Krieg

(Pfennige)

1922


(Mark)

1923 im Nov.

(Milliarden Mark)

Nach der Stabilisierung

(Renten-pfennig)

Brot,

1 Pfund

14

25

24

260

22

Fleisch,

1 Pfund

90

200

1.200

3.200

110

Butter,

1 Pfund

140

300

2.400

6.000

220

Kartoffeln,

1 Pfund

4

12

80

50

7

Zucker,

1 Pfund

24

50

400

250

40

1 Hühnerei

8

25

180

80

11

1 Glas Bier

13

17

60

150

34

60 Streich-hölzer

1

5

20

55*

2


*somit kostete ein Streichholz fast 1 Milliarde Mark.


Im Jahr 1923 müssen die Betriebe ihren Beschäftigten bis zu 2x täglich den Lohn auszahlen, der in Waschkörben auf Pferdewagen von der Bank geholt wird. Nach der Auszahlung versucht man das Geld sofort beim Einkauf ausgegeben, weil es am nächsten Tag nur noch einen Bruchteil des „Wertes“ besitzt. Teilweise wird Arbeit auch nur noch mit Naturalien (z. B. Kartoffeln, Brot, Eier) entlohnt. Das Währungs-Karussel dreht sich mit rasender Geschwindigkeit, bei der einem schwindelig werden kann. Die Antiwucher-Polizei geht um.


Bald werden die Geldscheine mit „dem höchsten Wert: 100 Billionen Mark ungültig. Anschließend, am 15. November 1923 werden 1 Billion Mark (alt) gegen 1 Reichsmark (neuer Währung) umgetauscht . „Der Spuk hatte ein Ende“. Die Neuregelung hat jedoch keine Dauer, weil ihr die Stabilität wegen der ungeheuren Reparationszahlungen (Ausgleich von Kriegszerstörungen im Ausland) fehlt.


In der Potsdamer „Bootswerft Zeppelinhafen GmbH“ wird ein 300 kg leichter zweisitziger Straßenflitzer gebaut. Aber auch Fritz Nathan in der Nowaweser Wilhelmstraße 29/30 baut eine Limousine, das NOWA-Auto. Diese Automobil-Fabrikationen halten sich wegen der gesamtwirtschaftlich schlechten Lage aber nur etwa zwei Jahre.


1924

Unser Pfarrer Viktor Hasse hat am 2. Januar Geburtstag – eine ausgezeichnete Verlängerung des Neujahr-Feiertages. Der Helferkreis der Kinderkirche in der Friedrichskirchengemeinde überreicht ihm jährlich eine kleine, oft selbst gestaltete Aufmerksamkeit und ich habe die Ehre für diese Anlässe die Grußkarten zu gestalten, in jedem Jahr in einer anderen Schriftart, so dass es „nicht langweilig“ werden möge. (Die Arbeitskopien dieser Grußkarten sind auch im Jahre 2015, da Absender und Empfänger schon lange nicht mehr unter uns weilen, noch erhalten). Ihnen allen zur Ehre dürfen die Namen der Personen des Helferkreises hier genannt sein. Es ist eine Auswahl, denn ältere verabschiedeten sich im Laufe der Zeit, neue treten hinzu:

Meta Blankenfeldt, Hildegard Bredelow, Walter Brendler, Elise Engels, Ilse Eyselée, Else Fitz, Schwester Elisabeth Gandert, Ilse Heidelberger, Schwester Hella, Emma Hönow, Karl Irrgang, Richard Janecke, Ella Jaeck, Ella Josch, Hermann Kloppe, Anton Krüger/Bernhart, Karl Krüger, Richard Lange, Helene Menzel, Irmgard Nickel, Käthe Ritter, Wilhelm Ritter, Frieda Sarnow,

Adolf Sorge, Hildegard Thomas, Käte Weissenstein, Margarethe (Grete) Wititzky.


Bisher fuhr man, wie seit 86 Jahren üblich, von Potsdam mit der Dampfbahn nach Berlin. Die erste elektrische Berliner Schnellbahn oder auch Stadtbahn, wir sagen kurz „S-Bahn“, nimmt in diesem Jahr ihren Betrieb auf. Einen Speisewagen führt der Zug aber trotz des „S“ nicht mit sich.


Am 13. November 1924 erhält der Ort Nowawes das Stadtrecht. Groß genug war er ja auch schon.



1925

Bei abendlichem Sommergewitter sichteten wir ein für uns seltenes Ereignis: Es blitzte und donnerte. Wir schauten nach getaner Arbeit aus dem Fenster der Parterre-Wohnung den Naturgewalten zu. Da, nach einem Blitzschlag sahen wir plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite bei der Hausnummer Mittelstraße 25, einen mild-warm-gelb-glühenden Feuerball sich in der Regenrinne der niedrigen Traufhöhe der Weberhäuser nach rechts entlangtrollen. So ganz passt er aber in die Rinne nicht hinein, denn er scheint größer als diese, nur etwas kleiner, als es vielleicht ein Fußball ist. Die metallene Regenrinne ist ihm also eher "eine Leitlinie". Schon befindet er sich uns gegenüber und setzt sein Fortkommen in etwas ungleichbleibender Geschwindigkeit fort. Schräg rechts gegenüber von uns, bei dem größeren Haus Nr. 19 fällt er ab, setzt seine Bewegung über dem Erdboden fort aber am nächsten Weberhaus "steigt" er wieder das Regenfallrohr hinauf und "verfolgt" die waagerechte Regenrinne weiter. An dem hohen Haus Nr. 11 angekommen, gibt es einen lauten Knall, der ähnlich einer Feuerwerks-Explosion mit dem Sprühen von Funken einhergeht, bei der sich dieser Feuerball in "Nichts" auflöste. Das gesamte Schauspiel mag etwa die Zeit von einer halben bis zu einer Minute angedauert haben. Einen Kontakt oder Zusammenstoß dieses Kugelblitzes mit Menschen oder Tieren gab es nicht. Jetzt aber rauscht nur noch ein milder Landregen. Solch eine "Kugelblitz-Darstellung" habe ich in meinem gesamten Leben nur dieses eine Mal gesehen.

(Anmerkung: Der genaue Zeitraum des Ereignisses war nicht festgehalten. Auch das Datum nicht. Die "geschätzte" Zuordnung zu 1925 stammt nach der mündlichen Überlieferung des Ereignisses lediglich vom Autoren).

Im August unternehmen Otto Müller und ich einen größeren, mehrtägigen Fahrrad-Ausflug. Unsere erste Übernachtungsstation ist in Mittenwalde, Kreis Teltow. „Deutsches Haus“ (wie sonst?) Inhaber: Ernst Neumann. Unsere nächste große Station ist das Nachtquartier in Lübbenau. Am nächsten Tag eine unbeschreiblich schöne Kahnfahrt durch den Spreewald. Daraufhin folgt der Besuch des Restaurants Wotschofska in Burg im Spreewald, bei Franz Hoef. Sorglose Tage.


Bei Orenstein & Koppel kam es in den vergangenen Jahren infolge der Umstellung der vormals florierenden Kriegsproduktion (Feldbahnen) auf Nachkriegsverhältnisse zu Massenentlassungen, was eine Reduzierung um etwa der Hälfte der Beschäftigten bedeutet.

Wegen dieser zunehmend sehr schlechten Wirtschaftslage, wird auch mir zum 31. Dezember 1925 gekündigt. Eine unschöne Weihnachtsüberraschung. Auch mein Vater, der im gleichen Betrieb als Oekonom in der Offertabteilung tätig ist, erhält den berüchtigten „blauen Brief“, in dem die Kündigung steckt.

So steht die Frage vor mir: Was tun? Meine Antwort: Auf jeden Fall schnell irgend etwas sinnvolles tun. So schreibe ich sogleich mehrere Bewerbungen – aber wer stellt denn jetzt Leute ein, in der Zeit, da es den meisten Betrieben ähnlich geht, diese eher schrumpfen möchten.


Das Jahr 1926

Wir haben jetzt einen Hund, eine kleine zierliche Terrier-Mischlings-Hündin. „Lumpi“ ist ihr bürgerlicher Name.

Die bisherigen beruflichen Bewerbungen führten nicht zum Erfolg. Am 01. Mai des Jahres 1926 gründe ich mit 25 Lebensjahren ein „Technisches Reklame- und Vervielfältigungsbüro“, mit Licht- und Fotopauserei, verschiedenen Druckverfahren sowie der Ausführung jeglicher Kunst- und Plakatschriften und, so die Zeit es ermöglicht, Übernahme von Schreibmaschinenarbeiten. Weiteres könnte noch hinzu genommen werden.Natürlich habe ich ein Geschäftstelephon. Mit Bedacht konnte ich mir beim Amt die (den Kunden) leicht eingängige Nummer „Potsdam 79 80“ reservieren lassen.

Dieses Geschäft bedarf aber einer „Einlaufzeit“, Kunden müssen geworben und die Ausstattung der Arbeitsstätte weiter vervollkommnet werden. Meine Firma muss im Ort bekannt werden. Ich betreibe das kleine Unternehmen erst mal ganz vorsichtig, so nebenbei, und auch deshalb, weil ich jetzt doch noch ein Arbeits-Angebot für eine zeitbegrenzte Anstellung im Rathaus bekomme:

Zum 01. Juli des Jahres 1926 stellt mich „das Rathaus der Stadt Nowawes“, das Stadtbauamt – die Baupolizei, für drei Monate als Hilfstechniker ein. Ich bekomme die regelmäßigen Bezüge von 5,- Mark pro Arbeitstag. Die drei Monate werden später verlängert und kann bis zum 19. April 1927 bleiben. In dieser Zeit gehören zu meinen Schwerpunktaufgaben: Neuaufmaß und Anfertigung von Übersichtszeichnungen (Berechnungen inclusive) für die Kinoanlagen nach dem neuen Lichtspiel-Gesetz. Herstellung von Kataster-Zeichnungen nach vorhandenen Bauzeichnungen und/oder nach dem eigenem örtlichen Aufmaß.

Meine Lumpi hatte ich auch bei den Arbeiten für das Bauamt ab und zu mitgenommen – ins Bureau und auf die Baustellen. Sie freut sich immer unbändig, wenn wir losgehen oder ich mit dem Rad fahre. Schon wenn ich die metallenen, ineinander gesteckten Fahrrad-Hosenklammern auseinanderziehe und das einen kleinen „Klick“ gibt, ist sie aus ihrer Morgendöserei hellwach. Im Bureau sind oftmals große Bauzeichnungen auf dem Fußboden ausgebreitet, weil die Tischflächen nicht ausreichen. Als ich mit der regenfeuchten Lumpi hereinkam, brüllte der Chef, Herr Stadtbaumeister Kuhnert sehr entrüstet: „Nehmen Sie sofort den Hund weg, Janecke“ – und meine brave liebe kleine Lumpi ging in gehörigem Abstand an den Zeichnungen vorbei und setzte sich still in eine Ecke. Es war nichts und niemand wegzunehmen.


Inzwischen hat sich bei zusätzlicher Abend-Arbeit auch mein kleiner Laden gemausert, so dass ich anschließend, nach Ablauf der Zeit im Rathaus nun richtig loslegen kann.

Mein Geschäft befindet sich in der Wohnung unserer Familie. Die Eltern haben dazu das Wohnzimmer geopfert, was ich gar nicht hoch genug schätzen kann. Aus der Dreizimmer-Wohnung wurde eine Zwei-Raum-Wohnung. Nun ist das elterliche Schlafzimmer unser neues beengtes Wohnzimmer. Und wir schlafen alle im so genannten Kinder-Zimmer. Das geht, weil Käte heiratet und demnächst aus der Wohnung auszieht. So brauche ich keine fremden Gewerberäume anzumieten, und auch dort Miete zu zahlen. Und unser Hauswirt, Töpfermeister Max Lüscher ist damit ebenfalls einverstanden.

Meine Schwester Käte heiratet am 06. November. Bräutigam und nun mein Schwager ist der grundsolide Techniker Richard Kümmel, aus einer alten angesehenen Nowaweser Weberfamilie. Er wurde knapp zwei Jahre vor Käte aber drei Tage nach ihr geboren. Wie voraussehbar obliegt es mir, die Hochzeitszeitung zu gestalten – privatcommerziell und kostenlos sozusagen.

Von morgen an dürfen sie „ihr eigenes Nest“ haben in der Mittelstraße 6, über der Gaststätte „Billardheim“, unserer früheren Wohnung gegenüber – und wir haben dank dieser Auflockerung hier mehr Platz zum atmen.

Aus Wittenberge kommt meine Base Martha und ihr freundlicher Mann Karl Giese mit den beiden Töchtern zu Besuch.


1927

Am 04. Mai bekomme ich aus der Hand von Pfarrer Viktor Hasse „als treuer Arbeitskamerad in der Erziehungsarbeit der Kinderkirche“ zum 10. kirchlichen Laienhelferjubiläum ein neues Gesangbuch geschenkt.


Ach, wie traurig, Käte „mit ihrem strikt eigenwilligen Kopf“ hat es mit Richard Kümmel nicht ausgehalten. Beide gehen wieder solo ihre Wege und unsere Wohnung ist wieder gut angefüllt. Wenn aber das Scheidungsurteil rechtskräftig ist, hat sie eine Aussicht auf eine eigene Kleinstwohnung.


Am 20. und 21. Mai wurde der Atlantische Ozean das erste Mal in der modernen Menschheitsgeschichte in der Luft überquert – ja, nicht mehr „durchpflügt“. Der amerikanische Postflieger Charles Lindbergh flog mit dem Flugzeug „Spirit of Sankt Louis“, dieses als fliegender Treibstofftank ausgebaut, völlig alleine, also ohne Ablöse- oder gar Schlafmöglichkeit, von New York in östlicher Richtung nach Paris. Für diese Distanz benötigte er 33½ Stunden. Eine schier übermenschliche Anstrengung.


Im Sommer unternimmt die Helfergruppe der Kinderkirche ihren Jahresausflug mit dem kleinen Motorschiff „Froh“. Eine lustige, frohe Gesellschaft schippert über die Potsdamer Havelgewässer.


Zum 01. November trete ich zur weiteren ehrenamtlichen Arbeit der Ortsgruppe Potsdam der „Technischen Nothilfe“ bei. (Sie ist etwa ein Vorläufer des späteren „Technisches Hilfswerk“). Die Potsdamer Zentrale hat ihren Sitz in der rotbraunen „Hampel-Kaserne“ am Luisenplatz.


Zu den Aufführungen des kirchlichen Weihnachtsprogramms gehört auch wieder der bekannte Flockenreigen, der jedes Jahr neu einstudiert werden muss, weil die Kinder herauswachsen und Nachfolgerinnen geschult werden müssen … und manches verliert sich an Übung ohnehin in dem langen Sommerhalbjahr. Bis 1930, noch drei weitere Jahre, werde ich Helfer in der Kinderkirche sein.


1928

Noch haben wir die erste Atlantik-Überquerung des vorigen Jahres im Kopf. Jetzt, ein knappes Jahr später, waren es am 13. und 14. April die europäischen Flieger H. Köhl, Freiherr v. Hünefeld und C. Fitzmaurice, die den Atlantik in entgegengesetzter Richtung, von Ost nach West, überquerten. Auch ihre Leistung war natürlich in aller Munde. Nach ihrer Rückkehr werden sie in Potsdam auf dem Gelände des vormaligen Luftschiffhafens stürmisch begrüßt.

Käti ist zu Besuch bei der jüngsten Schwester unserer Mutter, bei Alma Zocher in Düsseldorf. Sie schreiben einen Gruß zum Muttertag an Mamá den ich ihr vorlese, denn ihr geht es nicht gut, sie kann schon fast nichts mehr genügend deutlich sehen. Noch wissen wir nicht, dass es ein letzter schwesterlicher Gruß ist, denn Tante Alma stirbt dann am 26. Mai im Alter von nur 52 Jahren.


Morgens, wenn es die Witterung zulässt, arbeite ich bei offenem Fenster, an dem bald die Schulkinder vorbei kommen. Verschiedene Teilnehmer unserer Kinderkirchengruppen befinden sich darunter. Der erste hatten mal eine Frage, dann kamen weitere und hielten an, wurden „zutraulicher“. Im Laufe der Zeit festigten sich diese Vorschul-Fensterbesuche und ich werde gebeten auch mal zu schauen, ob die Hausaufgaben fehlerfrei sind, damit es nicht beim Herrn Lehrer ein „ungutes Erwachen“ gibt. Das „bürgerte sich so ein“, wurde zur lieben Gewohnheit. Ähnlich war es auch mit zweckmäßigen Berichtigungen, wobei ich hier weniger bei der Lösung half, sondern den Weg dorthin aufzeigte – dabei kam mir ein gewisses pädagogisches Geschick zugute, was ich mir ja in dem reichlichen Jahrzehnt der ehrenamtlichen Kinder- und Jugendarbeit angeeignet hatte. Das erinnerte mich so an die Britzer Zeit, als ich „die große Denke“ für Nachbarin Püppi Schuch sein durfte.


1929

Der Große Börsenkrach“ am Freitag den 24. Oktober in New York, ist der Beginn einer weltweiten Wirtschaftskrise, die auch um Deutschland keinen Bogen schlägt und bald besonders hart alle einfachen ehrlichen Leute treffen wird, die ohnehin nur wenig Polster besitzen.


1930

Heute, am 04. September sitze ich mit unserem Kantor Herrn Pohl, zusammen, um über das Leben zu reden, Erfahrungen austauschen (ich bin eher der Zuhörer des regen alten Herrn). Viel sprechen macht hungrig – also veranstalten wir ein ausgiebiges Bratheringessen und lassen diese nahrhaften Wassertiere auch tüchtig schwimmen. Kantor Pohl spielt die Orgel der Friedrichskirche. Er hat etwas gegen einen getragenen und dünnen Gesang. So versucht er gern und erfolgreich kraftvoll gegenzusteuern, hält auch nicht unbedingt die üblichen Tempi ein, sondern spielt das machtvolle Instrument frischauf, „sehr flott“, zieht lebendig alle Register, damit in den Bänken ja niemand einschläft und die Gemeinde-Lungen zügig durchlüftet werden.

Zu meinem 30. Geburtstag am 01. Oktober waren langzeitig anwesend und verewigten sich auf der Rückseite meines Fest-Lieder-Blattes: Natürlich die Familie – die Eltern und Käte, eine Delegation unserer Hauswirtsfamilie Lüscher. Zu den anwesenden Freunden gehörten: Der Ingenieur Reinhold Matzke aus der gemeinsamen Zeit bei Orenstein und Koppel, Rudolf Gerlach, Otto Müller, Günter und Ursula Zweig, Karl Henke, Christlieb Albrecht (Priesterstraße 22, späterer Kantor und Organist der Friedrichskirche, heute noch Organist im Französischen Dom am Gendarmenmarkt in Berlin), Anton Bernhart-Krüger, der aus Tirol nach Nowawes kam und Hermann Kloppe (Mittelstraße 18).

Weiterhin kam eine längere Schlange von Gratulationsgästen, die weniger lange blieben.


1931

1. Mai 1931. Fünf Jahre des Bestehens meiner Firma. Zu diesem Feiertag habe ich mir den Beginn einer weiteren Werbeaktion geleistet: Einen „Schaukasten“: Blechgehäuse mit Glasscheibe und dahinter die Proben meiner Arbeiten. Der Kasten hat ein Größe von ca. 1,50 m Höhe, bei

0,6 m Breite. Er hängt an der Hausfassade bei Ofensetzer Johl // Skirk in der Lindenstraße 47 – nicht weit vom Rathaus entfernt. Alle 14 Tage werde ich den Kasten innerlich neu gestalten.

Zu meinen Arbeiten gehören derzeitig an Auftragsarbeiten: Ehrenurkunden in Kunstschriften, Sporturkunden, Sinnsprüche, Hochzeitszeitungen, Festschriften für Vereine, Buchwidmungen, Geschäfts- und sonstige Plakate, diverse Drucksachen – zu bearbeiten im Einzelblatt-Drucker oder dem Rotationsdrucker, für besonders schöne Ausfertigungen dient der Glasdrucker. Schreibmaschinenarbeiten, Vermessung von Bauten, Technische Zeichnungen und Lichtpausen von Transparentoriginalen. Vermittlung der Anfertigung von Gummistempeln und Clichés.


Das Weihnachtsfest begehen wir in Deutschlands tiefster Notzeit. Wir leben in den Tiefen der Weltwirtschaftskrise. Das macht sich auch bei mir mit abgemagerter Auftragslage bemerkbar.


1932

An meinem Fenster, das wird jedem einleuchten, kommen nicht nur Schulkinder vorbei, sondern auch andere Menschen. Mitunter sehr interessante, recht ansehnliche. Dazu gehört auch eine der Kindergärtnerinnen des Evangelischen Kindergartens der Friedrichskirchengemeinde, Mittelstraße 26. Uns schräg gegenüber, ihr wisst schon – gleich rechts neben dem Friedhof. Das Mädel heißt Hanne B. Ihr Vater, Andreas B., ist ein Schneider im Oberlin-Haus. Ihre Mutter ist eine geborene Schwedin – also nicht mit Namen, sondern von der örtlichen Herkunft. So kann Hanne seit der Kindheit auch jene Sprache fließend sprechen.

In einer absehbaren Zeit heiratet Hanne dann den „Geo“, Georg H., Sohn des Sanitätsrates. Die Familie des Bräutigams ist jüdischer Herkunft und um ihr Leben zu retten, „wandern sie bald fliehend“ vor dem Nationalsozialistischen Staat nach Schweden aus. Das wird die nahe Zukunft wissen. Meine guten Wünsche begleiten sie auf ihrer Reise – möge es ihnen in ihrer Zukunft gut gehen! Wir, die Hiergebliebenen versuchen hingegen mühsam, oft genug zitternd, die Angaben für die rechte „Deutschblütigkeit“, für den „Arischen Nachweis“ zu erbringen. Die elterliche Familie von Hanne bleibt hier, so sind dann Eltern und Kind auf die Dauer der nächsten langen Jahre getrennt. Mit Hannes Schwester, der Inge, die ebenfalls hier geblieben ist, bleibe ich, später unsere gesamte Familie, lebenslang freundschaftlich verbunden.


1933

Am 25. Februar schläft nach langem, geduldig ertragenen Leiden unser gutes Mütterlein, Klara Janecke, geborene Dittwaldt, im Alter von nur 60 Jahren für immer ein.


Kaum hat der Reichspräsident Paul v. Hindenburg die Staatsgewalt an den Reichskanzler Adolf Hitler übergeben, erscheinen einige Gesetzblätter, die für verschiedene Menschengruppen rigoros bisherige Rechte einschränken.


1934

Der Ortsvorsteher von Kohlhasenbrück, Herr Bernhard Beyer, (12. Mai 1858 bis 11. Juli 1940) widmet mir ein Exemplar seiner Schrift über Stolpe/Wannsee, Kohlhasenbrück und Zehlendorf. „Erinnerungen des Ortsältesten Bernhard Beyer in seinem 76. Lebensjahr“.


1936

Olympiade im Sommer in Berlin, im Winter in Garmisch-Partenkirchen. Es wurde dafür viel gebaut. Stellvertretend seien nur erwähnt: Das Olympia-Stadion in Berlin und das Olympische „Dorf“ bei Elstal und Dallgow-Döberitz.

Die größten Luftschiffe unserer Zeit, die LZ 127 und LZ 129 (245 lang, 41 m im Durchmesser) fahren grüßend durch die Luft über Berlin, Potsdam und Umgebung.


1937

Im Vorjahr habe ich vorsichtig Fräulein Anne-Marie Sommer näher kennengelernt. Am 27. März verloben wir uns. Zeit für ein gemütliches Essen und etwas mehr Ruhe. Es wird keine einzige selige Freude werden, denn wir haben immer viel zu tun und sinken abends todmüde in die Betten.

Also, jeder in seins, das in dem jeweiligen elterlichen Haushalt steht.


Unser „Arischer Nachweis“ ist so einigermaßen fertig. Ich bin in der günstigen Lage, dass mir unser Pfarrer Viktor Hasse sehr fleißig hilft, seine Amtsbrüder in allen möglichen Orten anzuschreiben, um Abschriften von Kirchenbuch-Einträgen der Vorfahren zu erbitten. So unterstützt er, „natürlich auch von Amts wegen“, viele Menschen. Wer sollte sich als Laie so schnell in dieser Materie zurechtfinden? Und das während des Arbeitstages – bzw. nach Feierabend? Und wozu das Ganze? (Diese Frage denke ich jedoch vorsichtshalber nur).

Wir haben, meine Generation eingerechnet, 4½ Generationen zusammenbekommen. Das bedeutet vier vollständig, also bis zu den Urgroßeltern. Weiter zurück wird es lückenhaft und unsicher. Vor allem ist es dann schwierig mit der Leserlichkeit der Kurrentschrift und ihrer „Übersetzung“ – und welch ein Pastor hat bei den ungezählten Anfragen die Zeit dazu? Und wieviele Menschen bangen darum, überhaupt so viele (ausreichende) und im Sinne der Obrigkeit „saubere“ Angaben zusammen zu bekommen!


Kürzlich ist die Lichtpausmaschine der Ufa (Universal-Film-Aktiengesellschaft) entzwei gegangen, so bekomme ich einen großen Schwung Aufträge von ihnen. Das wird noch ein bisschen andauern, denn dieses großformatige und gebogene Zylinderglas für die Maschine bekommt man kaum sofort als Ersatz.

Sonntags gehe ich für das Stadtbauamt (die Baupolizei) und andere Interessenten verschiedene Gebäude aufmessen, damit anschließend gezeichnet werden kann. Da bleibt dann für meine Verlobte Annemie kaum Zeit, es sei denn, dass sie mitkommen kann und möchte. Auch meine Schwester Käthe ist doppelbelastet. Sie kümmert sich um den Haushalt, versorgt uns, also auch unseren Vater mit Essen und Wäsche und hilft außerdem noch etwas im Geschäft mit.

1938

Nach dem Willen der Regierung soll der böhmische Ortsname >Nowawes< getilgt werden. Es erfolgt zum 01. April die Vereinigung mit der Villenkolonie Neu-Babelsberg unter dem neuen Stadtnamen >Babelsberg<.

Familien-Nachmittag mit Sommers, den Schwiegereltern in spe, bei uns in der Wichgrafstraße 22. Anne-Marie hätte zu gerne auch meine Mutter Klara kennengelernt, die ja aber bereits am 25. Februar 1933 gestorben war. Jene schaut aber unserer Kaffeetafel aus dem Bilderrahmen der auf dem Vertiko steht zu – ist gewissermaßen mit dabei.


1939

Die Stadt Babelsberg wird am 01. April 1939 in die Stadt Potsdam, als Ortsteil >Potsdam-Babelsberg< eingemeindet.


Heute, am Palm-Sonntag, den 02. April 1939 um 20.00 Uhr, gibt der betagte und hochverehrte Organist und Glockenist Herr Professor Otto Becker in der Stätte seines langzeitigen virtuosen Wirkens, der Garnisonkirche in Potsdam, sein Abschiedskonzert.

Er wird uns Werke von Bach und Händel zu Gehör bringen.


Vom 20. August bis zum 05. September sind wir, Anne-Marie und ich, in den Ferien. Wir fahren mit dem Schiff nach Stettin, sehen uns dort die nähere und weitere Umgebung an. Einen kurzen Bericht dazu, wird Anne-Marie verfassen. Sie ist ja auch die Photographin des Geschehens, unserer Erlebnisse.


Drei Wochen nach unserem Aufenthalt an der See wird schon wieder ein Krieg begonnen. Später wird man ihn den Zweiten Weltkrieg nennen, der wiederum von Deutschland ausging. Unermessliches Leid bringt er über die Völker. Wir hoffen, dass er schnell vorübergeht (aber die Zukunft weiß, dass er wird fünf Jahre dauern wird). Und unsere Urlaubstour werden wir nie wiederholen können.

Eine zeitliche Vorausschau:

Dann, 1945, wird unser Ferienort Alt Damm völlig verwüstet sein. Stettin ist zerstört und in vielen anderen Orten sieht es nicht besser aus.

Das gesamte Gebiet in dem wir uns aufhielten, wird ab Sommer 1945 zum polnischen Staatsgebiet gehören, nicht mehr ein Teil „unserer Heimat“ sein und wird uns verschlossen bleiben. Die deutschen Einwohner werden zwangsweise vertrieben, „umgesiedelt“, sofern sie nicht vorher flüchteten. Die Neubesiedlung der Orte und Wohnstätten wird zum großen Teil durch polnische Flüchtlinge erfolgen, die wiederum vom sowjetischen Staat aus ihren östlichen Gebieten verdrängt wurden, obwohl sie keinerlei Schuld am Krieg trugen.

Aber diese künftigen gewaltigen Ereignisse ahnt jetzt noch niemand!





Teil 2: Die Kinder- und Jugendjahre

der Anne-Marie Sommer

Worte auf den Weg – mein Rückblick aus dem Jahr 2000

Im Laufe der Zeiten sagte man in vielen Familien: „Es wurde früher so viel über die Familiengeschichte geredet. Man könnte noch so vieles aufschreiben und bewahren!“

Tatsächlich aber wurde wohl aus solcher Erkenntnis und jenen guten Vorsätzen seltener etwas verwirklicht.

In meinem Elternhaus wurde kaum etwas über familiäre Beziehungen gesprochen. Wir hatten einen eher kleinen Kreis naher Verwandter und Bekannter. Mit Namen SOMMER kannte ich eigentlich nur die Geschwister meines Vaters hier im Ort. So dachte ich bis ins höhere Alter, wir SOMMERs hier im damaligen Nowawes wären eine "einsame kleine Familie".

Nachdem mein Sohn Christoph J. mit der Ahnenforschung begonnen hatte, gab es häufig etwas zum Staunen. Ich erfuhr, dass bereits zu früheren Zeiten eine Anzahl von Familien des Namens SOMMER im Raum Potsdam gelebt hatten, wenn auch noch unklar blieb, ob es sich lediglich um Namensvettern oder eigene Vorfahren handelte.

So erfuhr ich auch, dass mein Altvater SOMMER in Buckow (Märkische Schweiz) gelebt hatte und genau wie seine Frau im Jahre 1809 viel zu früh verstarb. Ihre vier Kinder wurden zu Vollwaisen und ihre Spuren verloren sich in der Folgezeit (für uns). Der älteste Sohn, mein Urgroßvater Friedrich SOMMER wurde in Potsdam ein Schuhmacher-Meister und gründete hier seine Familie – fand mein Sohn heraus. Mit seiner Frau, Caroline Keilbach, hatte er neun Kinder. Das waren meine Großeltern, Großtanten, Großonkel. Diese hatten später, als Ehepaare insgesamt 38 Kinder, die erwachsen wurden – meine Eltern, bzw. Tanten und Onkel. Hochgerechnet hatten diese über 100 Kinder – also Cousins und Cousinen von mir, die etwa in den gleichen Jahrzehnten leben wie ich und jene hatten ebenfalls im Durchschnitt etwa 2 Kinder. Insgesamt eine riesige gleichzeitig lebende Verwandtenschar von vielleicht 360 verwandte Personen, nur dieses einen Familienverbandes und in einer Stadt!

(Insgesamt sind inzwischen mit Nebenlinien weitaus mehr Personen erfasst.)

Wer hätte das gedacht? Gut, verschiedene zogen fort, andere lassen sich schwerer aufspüren, wenn die SOMMER-Töchter bei der Heirat andere Namen annahmen – aber blutsverwandt blieben sie ja genauso.

Und nochmals – bis ins höhere Alter dachte ich, wir SOMMERs hier im damaligen Nowawes wären eine "einsame kleine Familie". Zu solch einem Fehleindruck kann man kommen, mit diesem das gesamte eigne Leben "verbringen", nur weil sich niemand um die verwandtschaftlichen Beziehungen kümmerte, den Zusammenhalt der näheren und weiteren Angehörigen pflegte.

Fehlende Anregungen für ein Interesse, Zeitknappheit, die Arbeit in Beruf und Haushalt, das Aufziehen der Kinder, die Sorge, die Familie durch schwierige Zeiten zu bringen, gesellschaftliche Verhältnisse, die die Familienforschung eher behinderte, gehören auch zu den vielen Begründungen, warum sich Familien „fremd, einsam, ohne verwandtschaftlichen Rückhalt“ fühlen können.

Ersetzen lassen sich diese verwandtschaftlichen Bindungen selbstverständlich z. B. mit Freundschaften, die nicht als „Ersatz“ anzusehen sind, sondern eine sehr große Bereicherung darstellen können, wie man diese mitunter nicht in der eigenen bekannten Verwandtschaft findet.


1905 – Wie alles (vor meiner Zeit) begann:

Mein Vater Max Sommer, Schlosser und Elektrotechniker von Beruf und in Potsdam geboren, ist jetzt 30 Jahre alt und meine Mutter Anna Margarethe (geborene Runge aus Berlin), 25 Jahre alt. Sie schließen am 29. Juli 1905 den Bund der Ehe. An diesem Tage wurde Ihnen das Familienstammbuch überreicht, ausgestellt vom Standesamt Neuendorf bei Potsdam. Kirchlich traute sie Herr Pfarrer Schlunk in der Bethlehem-Kirche auf dem Neuendorfer Anger.

Der 29. Juli war vor 95 Jahren der Sterbetag der Königin Luise. An jenem Gedenktage (im Jahre 1830) wurden auch bereits andere Sommer-Vorfahren von uns als „Luisenbrautpaar“ in der Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam getraut.

Bisher lebte Bräutigam Max bei den Eltern in der Nowaweser Mittelstraße 9 (der späteren Wichgrafstraße 9), Margarethe hingegen bei dem verwitweten Vater Carl Heinrich Franz Runge in der Neuendorfer Forststraße 15 (heute Dieselstraße 12), sozusagen einen „größeren Katzensprung“ voneinander entfernt.

Den Nachmittag verbringt die Hochzeitsgesellschaft dann in aufgelockerter Weise im Gartenlokal Rindfleisch, so der Name des Besitzers, in der Großbeerenstraße Ecke Jagdhausstraße unweit des alten Jagdschlosses Stern.

Das nunmehrige gemeinsame Heim ist natürlich bereits vorbereitet. Das junge Paar bezieht die Wohnung im Parterre des Hauses Priesterstraße 68 (heute Karl-Liebknecht-Straße 121). Es handelt sich um eine wohl seltenere architektonische Sonderleistung, wie ich euch später erzählen werde. So eine, die nicht jeder ertragen möchte. Hofseitig, im hinteren Teil des Seitenflügels des Gebäudekomplexes, befinden sich die Werkstatträume unseres Elektroinstallationsbetriebes.


1906 – und schon erwacht ein neues Leben

Mein großer Bruder Max Fritz Franz (alle nennen ihn später nur noch Hans), wird als erstes Kind unserer Eltern am 05. Mai 1906 vormittags um 7½ Uhr in der elterlichen Wohnung, Nowawes, Priesterstraße 68, geboren.

Im gleichen Jahr taufte man ihn am 29. Juli, am Hochzeitstag der Eltern, in der Nowaweser Friedrichskirche. Der Herr Küster / Kantor Pohl beglaubigt seine Taufe.


Franzens Paten sind:

1. Marie Sommer (Schwester von Papa), Nowawes, Mittelstraße 19,

2. Frieda Kling, Frau von Rudolf Kling, dem Schuldiener am Gymnasium,

3. Johanna Seehafer (Schwester von Mutti), aus Niederschönhausen bei Berlin,

4. Theodor Steiner (Weber und Bräutigam von obiger Marie Sommer, spätere verehelichte Steiner)


1913 – Das Jahr meiner Geburt

Ich, Margarete Anne-Marie, werde als 2. Kind der Familie Sommer am 06. Juli 1913 in Nowawes, Kreis Teltow, Priesterstraße 68 (nach 1945: Karl-Liebknecht-Straße 121) vormittags gegen 8½ Uhr in der elterlichen Wohnung geboren. Das Gründerzeithaus steht gegenüber dem früheren böhmischen Schulhaus also dem (Kantorhaus Pohl, später der Familie des Kantors Albrecht).

Von den Eltern werde ich stets “Anni“ gerufen.

Getauft werde ich am 38. Geburtstag meines Vaters, am 21. September 1913, von Herrn Oberpfarrer Dessin in der Friedrichskirche.


Meine Paten sind:

1. Emil Seehafer, Ehemann meiner Tante Johanna Seehafer, geb. Runge, Niederschönhausen

2. Herr Paul Muster, Baumeister / Architekt in Potsdam

3. Herr Hermann Blohm, Architekt in Nowawes

4. Herr Ferdinand Pehlke, Stadtbauinspektor im Rathaus Nowawes, Wohnung: Priesterstraße 57a.

5. Herr Ernst Meyer, Bankangestellter, Nowawes. (Offenbar hat er die Branche gewechselt? In Vaters Bekanntenkreis gab es nämlich um 1905 bereits den Elektromonteur Ernst Meyer, der damals 30 Jahre alt, Trauzeuge bei der Heirat meiner Eltern war.

Alle Angaben kann man im Stammbuch meiner Eltern nachlesen oder auch in kurz gefasster Form im Nowaweser Kirchenbuch unter „Getaufte“, Nr. 185 des Jahres 1913.

Von 1913 bis 1941 – 28 Jahre lang werde ich in diesem Haus Priesterstraße 68 wohnen.


1916

Papa zieht in ein fremdes Land, in den Krieg, obwohl er das gar nicht will und er hier viel zu tun hat. Der Kaiser braucht ihn da noch mehr, als wir ihn zu Hause. Wahrscheinlich oder hoffentlich muss er aber nicht auf andere Menschen schießen. Mit mir wird er später über seine Kriegserlebnisse nie sprechen. Als Elektriker ist er in einer Starkstromkompanie vorerst im badischen Süden Deutschlands eingesetzt. Und muss Elektroleitungen zwischen allen möglichen Orten ziehen – aber meist nicht allein.


1917

Unser Papa ist im Krieg verletzt worden. Er liegt in einem Krankenhaus, das Lazarett genannt wird, aber eigentlich eine Schule für Mädchen war, die man für verwundete Soldaten leergeräumt hat. Mutti kann ihn dort in Freiburg, im Breisgau, im Lazarett „Hildaschule“, besuchen. Sie schickt uns am 5. Juni eine Karte und fragt an, ob wir (Hans 10 Jahre und ich, knapp 3 Jahre) artig sind und ob die Blumen nicht vergessen werden. Natürlich vergessen wir sie nicht. Wir sehen sie doch an jedem Tag. Und artig – gewiss, gegen wen sollten wir es nicht sein.

Papas Verwundung ist auf dem Wege der Heilung.

Im Juli hat Hans Schulferien und darf auch nach Freiburg reisen. Er wohnt da mit Mutti in der Klarastraße 61. Von seinem Lehrer des Realgymnasiums in der Althoffstraße, Herrn Professor Hübner, erhält er dort einen Kartengruß.

Gut verstehen sich die Jungen während der Schulzeit auch mit dem Hausdiener / Hausmeister, dem Pedell des Gymnasiums, Herrn Kling. Kein Wunder: Dessen Ehefrau wurde ja schon vor 11 Jahren zu des Franzens Patentante.


Zu meinem vierten Geburtstag, am 06. Juli, bekomme ich eine Puppe geschenkt. Mit echtem Haar.

Meine Cousine Trude Eschert besitzt ein wunderschönes Puppenhaus. Drei Etagen hoch, die Fenster mit Blumenkästen, Terrasse usw. Die Vorderfront kann man aufklappen und dann in allen Zimmern spielen. Hübsch sind auch die kleinen Möbel für die Puppen.

Größere Jungen, so wie auch mein Cousin Günther Eschert haben, wenn die Eltern es sich leisten können, beispielsweise eine Dampfmaschine, die mit Spiritustabletten betrieben wird. Wir kleineren Mädchen, werden dann immer des Zimmers verwiesen, weil „es zu gefährlich sei“. Mädchen bekommen eher eine kleine Kochmaschine, ebenfalls mit Spiritus betrieben, auf denen man richtig kochen kann. Das ist dann nicht zu gefährlich – es sei denn, die Eltern sind da anderer Meinung, dann muss man „eben nur so tun, als ob….“


1918

Was alles wird uns das neue Kriegsjahr bringen? Vielleicht den Frieden? Doch zuvor meine erste große Nordlandreise! Im Sommer dürfen wir Urlaub in Trassenheide (Usedom) machen. Ich werde dort an der See im Laufe der Jahre vieles gut kennenlernen und lieb gewinnen, da wir mehrmals dort sein dürfen. Wir wohnen bei der Familie des Fischers Drews. Gut essen können wir in der Bahnhofsgaststätte Jager in Karlshagen. Von unserem Nachbarn Ückmann bekommen wir Räucherfisch, der sich sehr gut hält, so dass wir auch solche Leckerbissen, in den schnellen Päckchen zu den Verwandten nach Berlin schicken. Der Förster, Herr Loof, präpariert und verkauft Möwen, was mir sehr leid tut. Er selbst aber war bei diesem Geschäfte fröhlich. Die Möwen sehen auch ausgestopft sehr vergnügt aus. Bei Seehafers in Niederschönhausen hängt beispielsweise im Korridor über dem Trumeau eine fliegende Möwe zur Erinnerung an schöne Urlaubstage. In der Wohnung sieht sie viel größer aus, als hier draußen in der freien Natur.


Der große Krieg geht zu Ende. Papa kehrt aus dem Krieg zurück. Er lebt – hat eine ausgeheilte Verletzung davon getragen über die er noch klagt wenn das Wetter sich ändert und hat in jener unguten zurückliegenden Zeit viele, viele Elektroleitungen gespannt oder verbuddelt.


1919

Im September dieses Jahres (zu Michaelis) werde ich in der Gemeindeschule in der Nowaweser Auguststraße (spätere Tuchmacherstraße) eingeschult – in die 8. (unterste) Klasse. Das Fortschreiten der Jahre des Schulbesuchs zählt man rückwärts – wie auch sonst? Die früher sieben-stufigen Klassen wurden durch Einführung der Oberklasse ab 1913 zur achtklassigen Volksschule. Und auch ich kleine Anne-Marie da nun mittendrin.


Advent: Zu Hause bei uns brennen auf dem Adventskranz rote Kerzen. Aufgehängt ist der Kranz mit roten Bändern auf einem roten senkrechten Stiel, der in einer Ständerplatte steckt, die als Stern geformt ist. Die Kerzen auf dem Kranz brennen in geordnet ansteigender Folge: Erst 1, dann 2, dann 3, dann 4 … dann steht das Christkind vor der Tür. Das ist Tradition aber hatte bei meinen Eltern nichts mit einem Ausdruck von Religiosität zu tun.


Weihnachten in der Schule: Bis 1919 ist der schulische Unterricht mit dem Religionsunterricht verbunden. In jeder Klasse werden Weihnachtslieder und Gedichte gelernt und dazu die altvertraute Weihnachtsgeschichte vorgetragen: (Lukas 2.1 „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. …“

Und wie klopften unsere Herzen vor Ehrfurcht und Freude, wenn wir den weiß gewandeten Hauptengel aus dem 1. Schuljahr, Goldband im offenen Haar und mit großer brennender Kerze in der Hand, begleiten durften wenn der diese Worte der Weihnachtsgeschichte sprach. Jede Klasse wetteiferte, um es gut und schön zu machen – in den mit Tannenzweigen geschmückten Klassenräumen.


Weihnachten zu Hause: Der Weihnachtsbaum erstrahlt im Lichte der 12 Wachskerzen hell, im wahrsten Sinne des Wortes ungewöhnlich hell, denn es ist ja die Zeit, da man zur abendlichen Beleuchtung, nie früher, als unbedingt nötig, hauptsächlich Petroleumlampen nutzt. (Wieviel weniger mag später den Kindern der Lichterbaum bedeuten, wenn am gesamten Tag die elektrischen Lämpchen brennen, als gewohnte Normalität wahrscheinlich bald weniger beachtet.)

Den geschmückten Weihnachtsbaum dürfen wir Kinder erst „zur Bescherung“ am Heiligen Abend sehen. Sind die Wohnverhältnisse der Familie „besser gestellt“, steht der Baum in der „guten Stube“. Diese wird in dieser Zeit, wenn möglich, als Weihnachtszimmer abgeschlossen. Sind die Verhältnisse einfach und eher eng, müssen die Kinder zumindest solange bis der Baum fertig geschmückt ist, „hinaus expediert“ werden. Aber nicht jede Familie kann sich ein Bäumchen leisten.

Den Weihnachtsbaum schmückt man nach den Verhältnissen, also nach der Größe des Geldbeutels und dem „Geschmack“ der Leute mit Weihnachtsengeln, bunten Kugeln oder anderem Glasbläsers-Schmuck, Süßigkeiten (vor allem mit „Kringeln“), Äpfeln und „vergoldeten“ Nüssen. Oft erhält das Bäumchen einen künstlichen Aufsatz für seinen Spitzenzweig. Selbst gebastelte Ketten aus Buntpapierstreifen oder Strohsterne können genutzt werden. Lametta, bestehend aus langen dünnen Stanniolstreifen oder aus Bleifasern sowie „Engelshaar“ gehört mitunter auch zum Beiwerk.

Beim vergoldenden bronzieren der Nüsse oder dem Fertigen der Buntpapierketten dürfen die Kinder oft helfen. Dabei werden dann Advents- und Weihnachtslieder gesungen und spielerisch Gedichte gelernt.


1921

Mein großer Bruder Hans wird am 13. März 1921 von Herrn Pfarrer Hasse in der Friedrichskirche eingesegnet. Nun zählt er schon mehr zu den Großen.


Ich beschreibe euch mal unsere Wohnsituation und die Arbeitsstätte im Haus Priesterstraße 68:

Befinden wir uns in der Priesterstraße vor dem Hause, so stehen vor der großen Haustür mit einer Durchfahrt zum Hof. Links von der Haustür befindet sich der Laden mit Schaufenster der Drogerie Bode, rechts der Durchgangstür das Schaufenster des Geschäfts, von Herrn Brillen-Schäfer. Wiederum davon rechts der Verkaufsraum mit Schaufenster der Elektrofirma Sommer.

Geht man nach dem Durchschreiten der Hauseingangstür nicht die Treppe hinauf in das Wohnhaus, sondern passiert die zweite große Tür, dann betritt man den Hof, an dessen Ende sich unser Garten anschließt. Begrenzt wird dieser lange schmale Hof rechts und links von den Gebäude-Seitenflügeln.

Im rechten Seitenflügel, der sich an unseren Verkaufsraum anschließt, liegt im Hochparterre unsere Wohnung. Die Durchgangszimmer sind wie Zugabteile der Eisenbahn hintereinander gereiht, nur dass bei uns der Korridor fehlt. An die Wohnung schließt sich im Seitenflügel fast unmittelbar, nur unterbrochen von einem schmalen „öffentlichen“ Treppenhaus, die Werkstatt mit Lager und Büro an. Unter dem Büro befindet sich die Waschküche für alle Mieter.

Vom Werkstattbüro und vom Ende des Hofes kann man gut in den Garten sehen. Die rückwärtig gelegene Seite des Gartens „stößt“ mit den Gärten in der Auguststraße zusammen – durch die Gärten hätte ich also einen nur ganz kurzen und lieblichen Weg zur Schule aber wegen des Zaunes und des Nachbargartens muss ich natürlich brav die viel längere Straßenstrecke gehen.

Zwischen dem Hofdurchgang und dem „Seitenhaus“ hatten meine Eltern einen breiten Pflanzstreifen angelegen können, also einen „Zusatzgarten“ einrichten dürfen. Eine besondere Liebhaberei meines Vaters ist es, einige eigentlich im fernen Süden beheimatete Pflanzen hier anzusiedeln (so wie man es in Sanssouci oder im Botanischen Garten in Berlin sehen kann). So haben wir vor dem Zimmer zwar ein Kräuterbeet, vor dem Schlafzimmer den Flieder (darunter eine Bank stehend) aber eben auch Oleander, die Yucca-Palme und Kaffeebäume. Vor der Werkstatt hingegen sind Lebensbäume gepflanzt. Dazu später mehr.


Nun gehen wir 'mal kurz durch diese gesamte „D-Zug-Wohnung“:

Alle diese Räume müssen (wie auch sonst?) mit Kohleöfen beheizt werden.


Der Laden

Er ist etwa 5 x 4 m groß, besitzt also eine Fläche von rund 20 m². Die Einrichtung kann als einfach gelten; als schön empfinde ich dagegen die monatlich wechselnde Schaufenstergestaltung mit den elektrischen Geräten, Lampen, Uhren und so weiter. Der Ladentisch dient zum präsentieren der Waren, aber nicht wie sonst oft üblich zum Unterteilen des Raumes in ein Verkäuferabteil und einen Kundenraum.

Schreibarbeiten während der Geschäftsöffnungszeit werden grundsätzlich am Stehpult verrichtet. Häufiges Laufen ist üblich, denn im Laden befindet sich beispielsweise vorsichtshalber keine Kasse für das Wechselgeld. Diese steht sicher hinten im Büro beim Chef. Der Chef, ihr ahnt es, ist mein Vater. So ist das Geld vor eventuellen Dieben geschützt, doch wenn meine Mutter Geld wechseln geht, sind eben dafür die Kunden allein mit den ausgestellten Waren. Das erinnert mich so ein bisschen an die Geschichte mit Wolf, Ziege, Kohlkopf und dem Kahn. Wer kann da so richtig wem trauen? Wer hat wann welche Vorteile? Mit derartigen kindlichen Gedanken gaben sich meine Eltern nicht ab. Sie hätten diese als kindisch empfunden. Aber einen gefährlichen Raubzug gab es wohl in all den Jahren in unserem Laden nicht.


Weiter in dem Besichtigungsgang: Vom Laden führt eine kurze Treppe hoch in das Wohnzimmer, denn unter den Zimmern ordnete man beim Bau die Kellerräume der Mieter an. Das Wohnzimmer – „die gute Stube“, ist etwa 7 x 4 m = 28 m² groß. Es ist damals beim Bau leider nur mit einem Fenster ausgestattet worden. Wahrscheinlich hatte der Bauherr befürchtet und vermieden, dass sich die Mieter „über Eck“ gegenseitig auf den Tisch sehen könnten (zu unserer Zeit also Brillen-Schäfer als Nachbar). Dadurch ist es immer etwas düster im Zimmer, zumal die gegenüberliegende Bebauung auch keine Sonne ins Zimmer lässt. Ein zweites Fenster wäre gut gewesen. Eine geeignete Gardine hätte alle Bedenken für „unerbetenes Fensterln zerstreut“, doch die baulichen Verhältnisse sind eben nicht so gestaltet. Als „Ausgleich“ ist die Türfüllung zum Laden mit einer Mattglasscheibe ausgestattet, welche etwas Licht hindurch lässt.

Die Wohnung unserer Familie ist „bürgerlich“ eingerichtet. Der große schwere Esstisch hat zwei Ausziehplatten, das Tischgestell ist eine solide Kreuzsteg-Konstruktion. Bis zu zwölf Personen können bequem daran Platz nehmen. Der Tisch könnte viel größere Lasten aufnehmen, als sie ihm jemals zugemutet werden. Dann das schwarze Klavier. Vor dem einsamen Fenster der Korbtisch mit zwei Korb-Stühlen. Das Nussbaum-Buffett (mit reichem Schnitzwerk) beschließt die Möbelausstattung dieses Raumes.


Das kleine Wohnzimmer (Kinderzimmer) hat die Größe von ungefähr 4,50 x 3,00 m = 13,5 m².

Für Hans und mich gemeinsam ist es schon recht beengt. Es gibt keine Möglichkeit, sich in eine eigene Ruhe zurück zu ziehen, zumal wir bei unseren Unterschieden von Alter und Geschlecht auch unterschiedliche Ansprüche haben und Hans früher der fast alleinige „Herr“ dieses Zimmers war. Der ständige Durchgangsverkehr erleichtert unseren Eltern die Aufsicht.

Die Einrichtung ist eher einfach gehalten. Ein kleiner rechteckiger Tisch mit grünem Linoleum auf der Platte, mit gedrechselten Beinen und Ausziehplatten, das Sofa als Schlafstelle für Hans, zwei Stühle, die Sitzflächen aus Rohrgeflecht. Mein Kinderbett mit engmaschigem Metallgeflecht, die obere Hälfte der Vorderfront herab klappbar. Aus diesem bin ich herausgewachsen, so dass in absehbarer Zeit ein größeres Bett aufgestellt werden muss. Geheizt wird dieses Zimmer nur an sehr kalten Tagen. Aus Abstands-Platzmangel ist zum Hitzeschutz eine Marmorplatte zwischen Ofen und Bett geschoben. In der Kiste für das wenige Spielzeug werde ich später „Aussteuersachen“ aufbewahren. Für einen eigenen Kleiderschrank reicht der Platz nicht.


Der nächste Raum ist das Schlafzimmer der Eltern, etwa 4.80 x 3.80 m, also ca.18 m² groß:

Im Gegensatz zur Einrichtung der Wohnungen meiner Schulkameradinnen finde ich das helle sachlich-schlichte Schlafzimmermobiliar bei uns, als „dem Zeitgeschmack von 1905“ voraus. Im Mittelteil der Kleiderschranktür ist bereits ein Spiegel in voller Höhe eingearbeitet. Im Schlafzimmer kann außer den Betten der Eheleute notfalls noch das hölzerne Ziehharmonika-“Feldbett“ für einen Gast aufgestellt werden. Die Nachttische und die Waschkommode sind mit hellen Marmorplatten belegt. Auf der Platte der Waschkommode stehen wie üblich die helle Keramikschüssel, der Wasserkrug und die Schälchen für Handwaschbürste und Seife zur Körperreinigung im Schlafgemach bereit. Das Wasser für die Körperpflege wird aus der Küche vom Wasserhahn (oder richtig: vom Zapfventil) über dem Ausgussbecken geholt sowie bei Bedarf zwischendurch auf dem Kohleherd angewärmt. Dann steht im Schlafzimmer noch der „Wäsche-Puff“ aus Weidengeflecht.

Die Toilette befindet sich im Treppenhaus.


Wenn unsere jungen Kätzchen den Spiegel des Schlafzimmerschrankes kennen lernen, gibt es erst mal einen krummen Buckel, dann versuchten sie das Gegenüber mit den Pfötchen zu tasten und sind erstaunt, dass sie nicht auf ein warmes Fellchen kommen, sondern auf das harte Glas stoßen. Auch dahinter zu gucken gelingt ihnen nicht. Es ist immer ganz possierlich anzusehen, wie auch die kleinen Katzenkinder lernen müssen. Unsere Katze ist die schwarz-weiße Itze (mit lang gesprochenem i), ihr erster Sohn der getigerte Peter. Zur Familie gehört auch noch der Terrier Lux. Lux und Itze wuchsen gemeinsam auf. Als Itze in der Zeit als junge Mutter einmal nicht rechtzeitig von einem Jagdausflug heimkehrte und ihre Kleinen schon hungrig mauzten, legte sich der treue Lux zu ihnen, um sie zumindest zu wärmen und ihnen etwas Trost zu spenden, wenn auch keine Milch. Als Itze dann atemlos in gewaltigen Sprüngen zurück kehrte und den Lux bei ihren Kleinen liegen sah, erntete der Gute nur einige Backpfeifen-Pfotenhiebe von ihr. – Undank ist oft der Welt Lohn.


Die Küche – circa 6 m² groß.

Dem kleinen Raum ist ein noch kleinerer Korridor vorgelagert. Die Küche enthält einen Kohleherd, das rundliche Ausgussbecken, am Fenster den Geschirrspind mit dem Alltagsgeschirr – denn das gute Geschirr für Sonn- und Festtage steht im Buffett im Wohnzimmer. Gegenüber der kleine Frühstücks- und Abwaschtisch, an dem wegen der Raumenge nur in Etappen gegessen werden könnte. Deshalb werden gemeinsame Mahlzeiten im Wohnzimmer eingenommen, auch wenn das Geschirr und das Essen von der Küche durch das Schlaf- und das Kinderzimmer getragen werden muss. In der Ecke hinter der Küchentür hat noch das Lebensmittelregal mit der Fliegengaze-Tür seinen Platz.

Mutti kocht die Mahlzeiten während der gesamten Zeit ihrer Ehe nach Art der Altvorderen auf dem Kohleherd, obwohl wir in unserem Laden moderne Elektroherde verkaufen. Ja, so sind diese häuslichen Verhältnisse, gar manche eigenartig anmutend.


Will man in die Werkstatt und zum Chef ins Büro, geht es von unserer Küche durch das Treppenhaus des Seitenflügels in eine frühere andere Wohnung – heute ist es eben der Gewerberaum. Somit ist es erforderlich, selbst bei den Gängen „innerhalb“ unserer Geschäfts-Wohnung, jedes Mal Schlüssel zu nutzen – diese können also nie Rost ansetzen.


Das Lager, 6 m² groß – war die Küche jener früheren Wohnung:

Der hier vorhandene Herd wird nicht genutzt. Im Wesentlichen nimmt der Raum die Leitern, den Handwagen und die große Kiste mit Gips auf, aus der sich die Elektro-Mechaniker bedienen. Wegen des Gipses müssen die Gesellen beim Waschen der Hände am Ausgussbecken achtsam sein, dass nicht mit Wasser umher gespritzt wird.

Die Werkstatt, Größe ungefähr 5 x 3,5 m = 17,5 m²

Wichtigster und größter Ausstattungsgegenstand ist die Werkbank mit zwei Schraubstöcken, die damals beim Einrichten durch das Fenster gereicht werden musste, weil das Treppenhaus zu eng ist. Die Bohrmaschine und der Schleifapparat bilden die Maschinentechnik. Weiterhin gehören zur Einrichtung des Raumes der Arbeitstisch für die Abrechnungen der Monteurleistungen, der „Arbeitszettel“, das Regal für Verbrauchsmaterialien und zur Zwischenlagerung von Material der vorbereiteten Aufträge, sowie mit der oben offenen Kiste für Leitungsumhüllungen aus Metallrohr für die Aufputz-Installation. Hier stehen auch die „Panzerrohre“, Schutzrohre für Elektroleitungen.


Das Büro, für den Chef „das Allerheiligste“, ist knapp 20 m² groß.

Es ist ausgestattet mit dem Schreibpult für unseren Buchhalter, Max Hasait. Dieser war schon in den Kindertagen Nachbar und zeitweiliger Spielkamerad meines Vaters. Dem Pult ist ein höhenverstellbarer Drehhocker zugeordnet, dessen Sitzfläche mit schwarzem Wachstuch bezogen. Am Nachbartisch sitzt Papá auf einem rustikalen Holzstuhl. Das schwerste Möbelstück im Raum ist der Geldschrank, der braun gemasert gestrichen ist, als handele es sich um ein leichtes Holzschränkchen. Eigentlich hat seine Bezeichnung kaum eine wichtige Bedeutung, denn in ihm werden hauptsächlich die Geschäftsbücher: Die Kladde, Aufträge „in Arbeit“ / Abrechnungen und die Kopierfolianten aufbewahrt. Neben diesem kleinen Stahlschrank steht der Schrank mit den neuen Werkzeugen, die vom Chef nur gegen die Rückgabe des begründet Verschlissenen ausgegeben werden. Je ein Schrank für Materialien der Schwachstromtechnik (Klingel- und Telefonanlagen) sowie für die Starkstrominstallationen (also von 110 und 380 Volt) schließen sich an. Noch wichtiger als der Tresor, scheint der Innungs-Schrank (mit Rolljalousie anstelle von Holztüren) zu sein, denn Papá ist Schriftführer der “Elektroinnung Potsdam und Umgegend“ und Mitglied des Prüfungsausschusses. Später wird zum Rauminventar (welch ein Segen) noch eine Schreibmaschine hinzu kommen.


Der Pflanzstreifen-Garten vor unseren Fenstern:

Der Gartenteil vor der Werkstatt nimmt zwei Lebensbäume und Blumen auf.

Die Fenster vor den Wohnräumen sind mit Blumenkästen geschmückt.

Der Gartenteil der Wohnung enthält als einheimische Gewächse die beiden Fliederbüsche (ein Geschenk zur Hochzeit der Eltern im Jahre 1905) und Rosen sowie ein Kräuterbeet. Des Weiteren stehen hier vor allem exotische Gewächse, wie der Oleander und die beiden Kaffeebäume. Papás ganzer Stolz ist es, wenn die Yuccapalme in voller Blüte steht. Um diese Pflanzen in den Kübeln kümmert sich der mit uns befreundete Gärtner des Schloss-Parks Babelsberg, Herr Monje, den man richtig als Herr Monjé ansprechen soll. Er ist wohl hugenottischer Abstammung mit der ursprünglichen Namensschreibweise „Monier“. Herr Monje bietet den Kübelpflanzen auch ein geeignetes Winterquartier an, weil sie zu dieser Jahreszeit nicht draußen stehen können. So ziehen sie zweimal jährlich um. Der Sohn von Herrn Monje wird aber kein Gärtner, obwohl das ein so schöner Beruf ist. Ich weiß das, weil Ferdinand Monje Elektriker-Lehrling in unserer Firma ist.

In diesem Hof-Gärtchen ist aber noch Platz für eine Gartenbank mit einem Tisch davor. Sogar ein Liegestuhl lässt sich noch aufstellen.


Kleine Anmerkung: Als unser Sohn Christoph etwa 5 Jahrzehnte später seine Abschlussprüfungen in einem der Fernstudiengänge ablegt, bekommt er die Übersetzungsaufgabe aus dem Russischen ins Deutsche, mit dem Titel: „Charles Monier“, natürlich nicht französisch in lateinischen Lettern, sondern in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Es ging dabei um die Geschichte eines französischen Gärtners dieses Namens, der seine Blumenschalen wahlweise aus gebranntem Ton und Be-ton immer größer und prächtiger herstellen wollte, bis jenes Material der Flächenausdehnung nicht mehr standhielt und zerbrach. Nun zerbrach sich der Gärtner für eine Lösung seinen Kopf und ersann das Prinzip, diese Schalen mit steifem Eisendraht zu verstärken. Somit war die Bewehrung / die Verstärkung des Baustoffs erfunden, das nach ihm benannte „Moniereisen aus der Taufe gehoben“.

Ob unser Gärtner Monje diese hübsche Geschichte kannte?

1922

In diesem Jahr wechselt unsere gesamte Mädchen-Schulklasse zum 6. Schuljahr in die Doppelschule (4. Gemeindeschule) in die Scharnhorststraße, in den Schulpalast.

Hans besucht wie mein Vetter Helmut Runge das Realgymnasium in der Althoffschule, das direkt rückseitig an unser Schulgelände grenzt.


Was treiben wir nachmittags in der Freizeit nach der Erledigung von schulischen Aufgaben und häuslichen Arbeiten?

Natürlich spielen wir sehr gerne mit dem Triesel oder Kreisel, mit Stock und Schnur (Peitsche) angetrieben. Am besten tanzen natürlich jene Kreisel, in deren Fußspitze ein Rundkopfnagel eingetrieben ist. Mehrere Ballspiele gibt es, wie Treibeball oder „Jäger und Hase“. Beim Alleinspiel wird der Ball von allen denkbaren Körperstellungen an die Hauswand geworfen – unter der Kniekehle hindurch, hinter dem Rücken, über die Schulter, mit dem Kopf, beim Werfen sich umdrehen usw. und den zurück prallenden Ball immer wieder auffangen. Sind mehrere Kinder dabei, so wechselt der Akteur, sobald der Ball nicht aufgefangen wird und auf die Erde fällt. Beliebt ist auch „Kaiser, König, Edelmann, Bürger Bauer, Bettelmann“ sowie die Hopse über aufgemalte Quadrate „mit Himmel und Hölle“.

Mit Holzreifen spielen wir gerne, die etwa einen Durchmesser von 75 cm haben, die zum Rollen mit der Hand oder dem Stock getrieben werden. Wer es schafft, praktizierte das Straßenlang ohne Unterbrechung – ohne jemanden umzurennen – was aber auch mal passierte.

Beim Kerbholz-Fliegen der Jungen, handelt es sich um ein Kantholz mit zugespitzten Enden, was mit Kerben gekennzeichnet ist. Auf das Ende wird mit einem schweren Stock geschlagen und das spitzige Kantholz fliegt dann ein Stück weit fort (auch in manche Fensterscheibe). Nach dem Aufschlag werden Kerben (Punkte) zusammengerechnet.

Murmeln spielen wir – mit hart gebrannten, bunt gefärbten Tonkügelchen, die mit möglichst wenigen Zügen in eine Murmelgrube geschubst werden müssen. Jeder Spieler besitzt sein Murmelsäckchen. Größere Kinder, erfahrene Kämpfer, haben sogar große, bunte Glaskugeln, Kugeln mit innen kunstvoll gewundenen Farbfäden, so genannte Bucker, die sich nicht jeder leisten kann. Ganz preisgünstig sind luftgetrocknete Murmeln, die möglichst nicht gekauft werden, weil sie zum „Tinneff“ zählen, schnell kaputt gehen.

Vater, Mutter, Kind“ wird wohl in jeder Generation gespielt – wir mit uns selbst oder mit Puppen. Auch Teddybären eignen sich natürlich gut als “brave Kinder“. Puppen gibt es bei den Spielkameraden in einem bunten Sortiment verschiedenster Ausgaben und Preislagen: So, als Stoffpuppe, als „Lederbalg“, sehr selten welche mit Porzellanköpfen („Bisquit“), die meisten aus Pappmaché, mit aufgemalten Haaren, auch mit echten oder künstlichen, mit aufgemalten Augen oder sogar blinkernden, bewimperten Lidern (Schlafpuppen). Später die naturalistischen Käthe-Kruse-Puppen aus teurer Handarbeit.

Puppenwagen – sind genauso wie bei den Menschenmüttern, nur etwas kleiner. Meist hochrädrig, mit großen Speichenrädern, deren Umfänge sich überschneiden, weil der Wagenkasten kürzer ist, als die zwei Raddurchmesser.


Mein Bruder Hans hat aus seiner Kinderzeit noch eine der üblichen Ritterburgen mit Turm und Zugbrücke. Nach dem Zeitgeschmack ist die Burg aber auch schon von Bleisoldaten bevölkert, mit Gewehren, Trommeln, Pauken und Trompeten bestückt .


Ich spiele im Hof des Hauses gern mit den Brückner-Kindern: Richard, Heinz und Lisa, die eigentlich Elisabeth heißt aber so ruft sie niemand, mit Herbert Radensleben, Gertrud Otto und Ilse Bein, Ille genannt. Traute Timman war in der ersten Zeit als älteste immer unsere Bestimmerin. Als wir noch jünger waren, besuchte sie bereits das Lyceum. Die unterschiedliche Interessenlage lockerte dann allmählich unsere „Spielbande“ aber es kamen dann „neue Kinder“ hinzu.

Der Herr Brückner geht einer aufregenden Tätigkeit nach. Er ist Maschinist auf dem Dampfer „Wannsee“ von der Teltower Kreis-Schifffahrt, die auf unseren Havelgewässern Ausflügler spazieren fährt.


Zu Weihnachten bekomme ich ein ungewohnt aufwendiges Geschenk. Einen Schlitten. Trotz des hohen Anschaffungswertes, der ja bei uns Kindern ohnehin eine untergeordnete Rolle spielt, werde ich damit nicht recht froh aber das ist keine Undankbarkeit, sondern hat einen Grund: Meine Schulkameradinnen und die Kinder der Nachbarschaft haben, wenn es sich die Eltern leisten können, Volksrodelschlitten, mit denen sie im Schlosspark Babelsberg umher toben. Meine Eltern sind in vielen praktischen Dingen des Lebens eher so komisch konservativ eingestellt und so erhielt ich einen Stuhlschlitten geschenkt, also einen Metallstuhl auf Kufen mit einer Holzsitzfläche, auf der man stocksteif sitzt und darauf zu warten hat, dass ein anderer Mensch dieses Gerät schiebt. Ich soll also, wenn es den Großen mal passt, wie ein kleines Kind, bei einem Spaziergang mit den Eltern artig darauf sitzen – falls dann gerade Schnee liegt. Bei dem Gedanken kann es einen richtig frösteln.

Aber ich bekam noch ein weiteres Geschenk – ein Poesiealbum; ein noch leeres, in das alle befreundeten Menschen gern etwas hineindichten können, was dann viel, viel länger hält als eine Geburtstagskarte und der Schlitten, der neu bleiben wird. Etwas fürs ganze Leben also.


1923

Mein erstes Jahr der kleinen Poesie – Der Inhalt meines Poesiealbums




Der Erde köstlichster Gewinn,

ist reines Herz und froher Sinn.


Zur freundlichen Erinnerung

Dein Vater

Nowawes, den 8. 1. 23


Dein ganzes junges Leben

sei heitrer Sonnenschein;

Dein weiteres Lebensdasein

stets klar und wolkenlos;

Dein späteres Lebenslichte

sanfte, milde Abendröte.


Dies schrieb zur Erinnerung

Deine Mutter

Nowawes, den 8. 1. 23


Jetzt kommt die etwas entferntere Verwandtschaft:


Marie Steiner geb. Sommer, Wichgrafstraße 19


Ein Album ist der Menschen inn’res Leben,

das aufbewahrt in Gottes Händen bleibt.

Ein leeres Blatt wird jeglichem gegeben

und jeder ist nur, was er darauf schreibt.


Zur freundlichen Erinnerung

Deine Tante Marie

Nowawes, d. 18. 2. 23



Und nun ihr Mann –Theodor Steiner


Wenn einst auf deinem Pfade,

das Schicksal Rosen streut,

und dich des Himmels Gnade

mit stillem Glück erfreut,

wenn in des Lebens Stürmen

dich schützend Gott umhüllt,

dann ist auf dieser Erde

mein Wunsch für dich erfüllt.


Zur freundlichen Erinnerung,

Dein Onkel Theodor.

Nowawes, d. 25. 2. 23



Jetzt meine Tante Hedwig Knoll, geb. Sommer,

Wichgrafstraße 19


Sanft wie die Morgenröte

Im schönen Mai erwacht

Und auf dem Blumenbeete

Die Pracht der Rosen lacht –

So wandle du im Segen

Mit immer heit’rem Sinn,

auf blumenreichen Wegen

dein schönes Leben hin.


Dies schrieb zur Erinnerung

Deine Tante Hedwig Knoll.

Nowawes, d. 27. 2. 1923


und nun deren Söhne:


Dem kleinen Veilchen gleich,

das im Verborg’nem blüht,

sei immer fromm und gut,

auch wenn Dich niemand sieht.


Zur Erinnerung an Deinen Vetter Felix Knoll

Nowawes, d. 4. 3. 1923



Wie Blümchen im Mai,

so lieblich und rein,

so möge o Anni

Dein Leben stets sein.


Zur Erinnerung an Deinen Vetter Walter Knoll

Nowawes d. 7. 3. 1923


An dieser Stelle kommen jetzt unter anderen auch meine Lehrer zu Wort:


Willst du immer weiter schweifen?

Sieh, das Gute liegt so nah’.

Lerne nur das Glück ergreifen;

denn das Glück ist immer da.

Goethe


Meiner lieben Annemarie zur Beherzigung!

Elli Hoppe

Potsdam, 8. I. 23



Leg’s dem Leben nicht zur Last,

dünkt sein Wert dich Plunder!

Wenn du Märchenaugen hast,

ist die Welt voll Wunder.

Viktor Blüthgen


Zur freundlichen Erinnerung,

Dein Lehrer O. Drathschmidt


Nowawes, den 10. I. 23



Schneller Gang ist unser Leben

Laßt uns Rosen auf ihn streun!

Herder


Zur freundlichen Erinnerung!

R. Weiland, L.


Nowawes, 14. 3. 23




Es geht ein Hauch von Wonne Duft,

durch Blätter, Knosp’ und Blüten,

ein Wunsch für Dich:

Gott mög’ Dich stets behüten.


Zum bleibenden Andenken an

Deine Mitschülerin A. Ziolkowski




Leben heißt: mit heißem …

Aufwärts nach der Wahrheit ringen,

heißt: in nimmermüdem Streite

musst das eigene Ich bezwingen.


Leben heißt: mit starkem Arme

Fest und froh sein Glück sich schmieden,

jauchzend nach den Sternen greifen

und der Welt die Stirne bieten.


Leben heißt: in Kampf und Stürmen

Zuversicht im Herzen tragen,

heißt: im Hoffen niemals wanken

und im Leiden nie verzagen.


Heißt: mit immer vollen Händen

Liebe spenden, Liebe geben

Und für seine…..

Kämpfend sterben; das heißt Leben.

M. Straßner


Zur freundl. Erinnerung

Deine Lehrerin N. Casparius, geb. Wohlfarth

Nowawes, den 19. III. 1923




Es wächst ein Blümlein Bescheidenheit,

der Mägdlein Kränzel und Ehrenkleid.

Wer solches Blümlein sich frisch erhält,

dem blühet golden die ganze Welt.


Zur Erinnerung an Deinen Lehrer

Ed. Hübner


Nowawes, den 22. März 1923





Zwei Lebensstützen brechen nie:

Gebet und Arbeit heißen sie.

Sie mögen auch auf Deinen Wegen,

Dir schaffen tausendfachen Segen.



Zur freundlichen Erinnerung an Deine Schulfreundin Luzie König.


Nowawes, den 9. 3. 1923


Hier lesen wir die Worte weiterer etwa gleichaltriger, neun- bis zehnjährigen Mitschülerinnen:


Rosen, Tulpen, Nelken,

alle Blumen welken,

nur die eine welket nicht,

diese heißt Vergissmeinnicht.


Zur frdl. Erinnerung

Deine Mitschülerin

Gertrud Fröhlich


Nowawes, den 13. 1. 23


Ich lag im Garten und schlief,

da kam ein Engel und rief:

Annemarie du sollst aufersteh’n

und zu Deiner Freundin geh’n.“


Zur freundlichen Erinnerung,

Deine Mitschülerin

Herta Harz.


Nowawes, den 13. 1. 23


Wenn Du von Jemand schlechtes hörst,

sollst Du’s nicht andern verkünden.

Wie leicht ist Menschenglück gestört

Und schwerer ist’s wieder zu gründen.


Zur freundlichen Erinnerung

Deine Mitschülerin

Charlotte Oehter

Nowawes, d. 17. 1. 23



Hoffnung sei Dein Wanderstab,

von der Wiege bis zum Grab.


Dies schrieb zur frdl. Erinnerung

Deine Mitschülerin

Charlotte Kurtz


Nowawes, d. 17. 1. 23


Sei Deiner Eltern Lust und Freude,

mit Dank erfülle ihr Bemüh’n

und tu ihr niemals was zu Leide,

so wird auf Dir der Segen ruh’n.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Schulfreundin

Margarete Richter

Nowawes, d. 18. 1. 23



Dein Müssen und Dein Mögen,

die steh’ n sich oft entgegen,

Du tust am besten, wenn Du tust,

nicht was Du magst, nein, was Du musst.


Zur freundlichen Erinnerung an

Deine Schulfreundin

Margarete Busack

Nowawes, den 21. 1. 23




Ist der Tag auch trübe,

sei Du heiter!

Sonn’ und frohen Sinn,

sind Gottes Streiter.


Zur Erinnerung

An Deine Mitschülerin

Gertrud Rinkau

Nowawes, d. 11. 2. 1923



Ein Blümlein mach ich Dir

aus treuer Liebespflicht.

Nimms gütig an von mir,

es heißt Vergissmeinnicht.

Pflanz’ es in Deiner Brust

und laß es für mich blühn.

Dann wird in Glück und Lust

Dir jeder Tag beschied'n.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Mitschülerin Therese Gille

Nowawes, den 24. März 1923



Auf Gott, doch nicht auf fremden Rath,

sollst Du Dein Glück bauen.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Mitschülerin Herta Zielke

Nowawes, den 8. 3. 23





Noch schmückt die Unschuld Deine Wangen,

Du kennst des Lebens Trug noch nicht,

zehn Jahre sind Dir jetzt vergangen,

in Freude, wie in glänzend Licht.

Ach, möchte doch, so lang Du lebest,

die Sünde nie Dein Herz entzwei'n,

dann wirst Du, wenn Du aufwärts schwebest,

bei Gott ein guter Engel sein.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Freundin Lielo Balke



Flieget hin, ihr zarten Täubchen,

flieget über Berg und Tal.

Flieget hin zur lieben Anni

Grüßet sie viel tausendmal.


Zum steten Andenken an

Deine Freundin Gertrud Otto

Nowawes, den 27. März 1923





1923

Im Juli lebe ich nun schon 10 Jahre in dieser Welt.

Nun erzähle ich etwas von den Tanten Hedwig und Marie, den Schwestern meines Vaters, die ihr von ihren Einträgen in das Poesiealbum schon ein bisschen kennt:

Tante Marie ist klein und zierlich wie ihre ältere Schwester Hedwig. Meine Tanten Hedwig und Marie sind sehr lieb und religiös veranlagt, wie nicht alle ihre Geschwister. Max, mein Vater, beispielsweise hat nichts mit der Kirche im Sinn und sein älterer Bruder, Onkel Paul Sommer, der Schuhmachermeister (und am Sonntag Tanzmeister) hält es als Freigeist eher mit den Sozialisten.


Die Lebensverhältnisse bei meinen Tanten Hedwig und Marie sind eher einfach, gewiss auch von den finanziellen Bedingungen durch den Verdienst der Ehemänner bestimmt.

Beide Tanten haben mich, ihre kleine Nichte, recht gern. Zu meinen Geburtstagen bekomme ich von ihnen immer einen Blumenstrauß aus ihrem Garten und frische Eier von den eigenen Hühnern aus der Mittelstraße 19.

Wohl selten kommen aber die Tanten zu Besuch zu meinen Eltern. Auch habe ich nicht bemerkt, dass meine Eltern und ihre Geschwister sich gegenseitig beschenken.

Die Tanten suchen allerdings meinen Vater, also ihren Bruder Max auf, wenn sie Hilfe benötigen, um Schriftverkehr mit Behörden zu erledigen weil er in Diesen Dingen wohl gewandter ist.

Hedwig wollte gern Lehrerin werden. Männliche Lehrer haben die Schulen in deutlicher Überzahl. Warum aus diesem Berufswunsch nichts wurde und sie Hausfrau blieb, habe ich nie erfahren.

Beide Tanten nahmen am Handarbeitskreis der Hofdame Fräulein von Gersdorff (am Hof des Kaisers Wilhelm II.) teil, in dem nicht nur Handarbeiten gefertigt wurden, sondern ein reger Gedankenaustausch stattfand über vieles, was über Kinder, Küche und Kirche hinausging.


Wenn Tante Hedwig ein Brot frisch anschneidet, ritzt sie mit der Messerspitze auf der Unterseite des Laibes drei Kreuze ein, die etwa bedeuten sollen: Danke, Herr, für das gute Brot und lass uns alle satt werden – denn das war und ist in den Weberfamilien keine Selbstverständlichkeit.

Bin ich bei Tante Hedwig zu Besuch, bietet sie gern selbst gefertigtes Schmalz an. Die Hauptbestandteile bilden Schweineliesen oder Rückenfett. Zwiebel und Apfel sowie gewürfelter Speck kommen hinzu. Dieser gibt schöne Grieben und das Schmalz hat einen seidigen Glanz.

Aus notwendiger Sparsamkeit werden mit Schmalzgrieben (statt Fleisch) auch Erbsen, weiße Bohnen oder Kohlrüben gekocht. Manchmal gibt es auch frische Blut- und Leberwurst oder Wurstsuppe als schmackhaftes Gericht.


Am 21. Oktober 1899 hatte Hedwig mit 36 Jahren den Witwer, Webermeister und Handelsmann Friedrich Hermann Knoll geheiratet, der am 20. Oktober 1855 in Belzig geboren war.

Gemeinsam wohnen sie im Hause Mittelstraße 19 (nach 1930: Wichgrafstraße 19).

Hedwig gebar zwei Söhne (meine Vettern oder Cousins):

Meine Tante Marie und ihr Ehemann, der Weber Theodor Steiner, sind sehr liebenswert, wohl etwas schüchtern und zärtlich miteinander. Marie zog zur Hochzeit aus dem elterlichen Haus aus und seither wohnen sie gleich nebenan in dem halben Weberhaus links neben dem großen Knollschen kubischen Gebäude der Mittelstraße 19, also in der 19a. Sie bewohnen dort ein Zimmer zur Straße, eine Kammer zum Hof und eine winzige Küche. Steiners haben keine Kinder. In ihrer Stube hängt ein wunderschönes Ölgemälde in einem schwerem vergoldeten Rahmen, ihnen von der ominösen „Vogeltante“ aus Berlin geschenkt. Meine Tanten erzählen, dass es immer ein Erlebnis war, wenn sie dort in Berlin bei ihrer „Tante“ in dem vornehmen Haushalt mit großem Garten zu Besuch sein durften. Leider ist mir darüber nicht mehr bekannt – wer wohl diese Tante ist/war oder ob man sie nur so nennt? Sehr gute Bekannte noch aus der gemeinsamen Belziger Zeit wohnen in Berlin – die Familie Georgino, vielleicht gehört die Tante dorthin – oder noch eher zu der verwandten Berliner Familie Rutschmann? Oder gehen meine Vermutungen in eine falsche Richtung spazieren?

Onkel Theodor Steiner hat die Zeit der Inflation, bei der die hart erarbeiteten Ersparnisse verloren gingen, seelisch nicht ertragen. Er glaubte die Verantwortung für die Versorgung seiner Frau nicht tragen zu können und ging als Nichtschwimmer in den Griebnitzsee, um sein Leben zu beenden. Geholfen hat seiner Frau dieser Akt der Verzweiflung aber nicht. Eine traurige Geschichte. Theodor Steiner war ein Onkel des späteren Buchdruckermeisters Theodor Steiner in der Yorckstraße 13, (der späteren Kopernikusstraße).


Mein Aufwachsen in unserer Familie ist durch Strenge, Herbheit und statt Herzlichkeit eher von Distanz untereinander gekennzeichnet. Mein Vater ist also stets der Chef, weniger der Papá. Mehr Zuwendung und familiäre Wärme finde ich bei den Tanten Hedwig Knoll und Marie Steiner wie auch bei Johanna Seehafer geb. Runge, also Muttis Schwester. Besonders väterlich zugeneigt und ein Vertrauter ist mir der Buchhalter unseres Elektrobetriebes, Herr Max Hasait.


Zu Weihnachten fertigt der Chef für Mutti einen praktischen Nussknacker aus Metall an (der aber nicht elektrifiziert knackt). Die Zukunft weiß, dass jener noch nach nunmehr 90 Jahren im Haushalt seines Neffen Chris J. „geehrt“, gern genutzt wird und trotzdem so gut wie neu aussieht.



1924 – Nun fängt das schöne Neu–Jahr an …

Während der Schulzeit werde ich 3 x ein halbes Jahr vom Unterricht frei gestellt zu Liegekuren im Sanatorium in der Böckmannstraße (der späteren August-Bebel-Straße), vorbeugend wegen der Schwierigkeiten mit der etwas schwachen Lunge.

und weiter geht’s mit freundlichen Eintragungen in mein Poesiealbum:




Ein Körbchen voll Rosen,

ein Täubchen dazu,

die Liebe daneben

meine Freundin bist Du.


Zur Erinnerung an

Deine Mitschülerin Herta Zinnow


Gedenke mein!!!


Nowawes, den 22. 2. 24


Bleibe stets ein gutes Kind,

Deiner Eltern Freud und Wonne,

fromm, wie es die Englein sind,

dann lacht dir des Himmels Sonne.

Und am Abend still und rein,

schläfst du ohne Sorgen ein.


Zur freundlichen Erinnerung Elly Zinnow

Nowawes, den 22. 2. 24




Heute traurig, morgen munter,

das ist der Dinge Lauf,

Sinkt auch die Sonne unter,

so gehen die Sterne auf.

Gewidmet von Herta Fritze


Nowawes,

im Juni 1924


Du bist wie eine Blume,

so zart, so hold, so rein.

Ich schau Dich an und Wehmut

schleicht mir ins Herz hinein.


Mir ist's, als ob ich die Hände

aufs Haupt Dir legen sollt,

betend, dass Gott Dich erhalte,

so schön, so rein, so hold.


Zur Erinnerung an Gerd Walter.

Nowawes im Juni 1924



Verrichte allerwegen getreulich Deine Pflicht,

dann fehlt Dir Gottes Segen und seine Gnade nicht.


Zum Gedenken an Franz Kogge.


Nowawes, den 26. 6. 24



Ermatte nie in Deinen Pflichten, wenn mancher Tag auch Sorgen bringt,

Geduld und Mut kann viel verrichten, auch wenn's nicht immer gleich gelingt.


Zur freundlichen Erinnerung, Hildegard Tillack

Nowawes, Oberlinhaus, im Juni 1924



Kannst dem Schicksal widerstehen,

aber manchmal gibt es Schläge,

will's nicht aus dem Wege gehen,

ei, so geh Du aus dem Wege!

(Goethe)

Zur frdl. Erinnerung an Hildegard Stuwe.

Nowawes, d. 7. III. 1925



Wie der Herr die zarten Blüten hütet unter Frost und Schnee,

so auch mög’ er dich behüten, in des Lebens Freud und Weh.


Zur freundlichen Erinnerung an Deine Mitschülerin Hilda Witt.

Nowawes, den 14. Januar 1926



In diesem Jahr hatte mein Bruder Hans beim Hockeyspielen einen bösen Unfall. Ein Mitspieler schlug ihm im Kampfgewoge des Spiels versehentlich derb mit dem Schläger an das Knie. Es waren aufwändige Behandlungen, so auch beim Sanitätsrat Dr. med. Hecht in der Lindenstraße, die aber nicht zum Heil-Erfolg führten. Letzten Endes musste das Bein bei Herrn Dr. Stahlschmidt in unserer Nowaweser Oberlin-Klinik am Oberschenkel amputiert werden. Für Hans und uns brachen die Vorstellungen über seine Zukunft zusammen. Es bestehen nun keine Aussichten mehr, dass Hans völlig gesundet. Es schwinden somit auch die Vorstellungen der Eltern, ihm später das Elektro-Geschäft zu übertragen. Hätte er sich nur gründlich genug befleißigt, sich den Pflicht-Aufgaben zuzuwenden, als dem von Papá ungern gesehenen, eigentlich untersagten Hockeysport zu frönen, so wäre es nicht zu diesem gesundheitlichen Fiasko gekommen. Doch diese Überlegungen ändern nun auch nichts mehr.

Bald darauf stellen die Ärzte die uns zusätzlich erschütternde Diagnose "Lungenkrebs" fest, was Unheilbarkeit bedeutet. Ganz rührend sorgt sich der junge Arzt, Herr Dr. Fritz Heim, der Hans bereits in der Berliner Charité behandelte, auch jetzt noch darum, ihm die Lage zu erleichtern und kommt oft mit dem Motorrad von Berlin extra zu uns nach Nowawes. Dr. Heim rät zu einem Erholungsaufenthalt, beispielsweise im Schwarzwald. So fahren wir nach Badenweiler und finden dort im Hotel Saupe eine gute Unterkunft. Ein angenehmer Ort- und Klimawandel. Eine Besserung der Gesundheit will sich, wie befürchtet, jedoch nicht einstellen.

(Beide Ärzte, Dr. Hecht und Dr. Heim sind jüdischer Herkunft. Die Zukunft wird wissen, dass sie im „Dritten Reich“ Deutschland verlassen werden, bevor es ihnen unmöglich wird. Dr. Hecht wird nach Schweden auswandern, Dr. Heim nach China).


Mein Großvater Franz Runge schickt uns durch seine jetzige Lebenspartnerin Frau Zborowski aus Berlin-Charlottenburg W 57, Kirchbachstraße 19, seine Weihnachtsgrüße. Er jetzt 79 Jahre alt. (Aber kann er an seine Tochter, meine Mutti, wirklich nicht mehr selber ein Karte schreiben?)



1926 – ein trauriges Jahr.

Mein Bruder Hans stirbt am 3. September 1926 im Alter von 20 Jahren an Krebs in unserer Wohnung Priesterstraße 68. Wir beerdigen ihn auf dem Friedhof an der Goethestraße am

07. September 1926. Bis zum Grab sind es vierzig Schritt vom Eingang, auf der linken Seite des Hauptweges zur Kapelle. Ein schlichter grauer Stein aus poliertem Spremberger Syenit trägt die Aufschrift „Familie Sommer“ und ist mit einer Sommer-Blume verziert.


In der „neuen Schule“, dem Schulpalast in der Scharnhorststraße, tragen sich weitere Klassenkameradinnen in mein Poesiealbum ein:



Schiffe ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht.

Gott ist Dein Begleiter, Er verlässt Dich nicht.


Von Deiner Mitschülerin Marianne Sydow

14. 1. 26


Arbeit und Fleiß, das sind die Flügel,

dich zu führen über Tal und Hügel.


Zu freundlicher Erinnerung,

Deine Schulfreundin Gerda Köhler

Nowawes, den 15. 9.27



Das ist das beste Herz, das edel denkt und spricht,

behutsam Freunde wählt und nie die Freundschaft bricht.


Erinnerungsworte an Deine Mitschülerin

Luzie Vicum


Nowawes, den 15. 6. 27



Wie immer sich gestalte auch Dein Leben, ob schwer und tränenreich,

ob voller Sonnenschein, laß mich dies Sprüchlein auf den Weg Dir geben:

Mach andere glücklich und Du selbst wirst glücklich sein!“


Zum steten Andenken an Deine Mitschülerin

Elli Oeter

Nowawes, den 9. 2. 27


Sei stets der Eltern Freude,

beglücke sie mit Fleiß,

dann erntest Du im Alter,

dafür den besten Preis.


Zur freundlich. Erinnerung an Erika Döberin

Nowawes, den 10. 2. 27



In Sturm und Wetter sei Gott Dein Retter!


Zur freundlichen Erinnerung,

Deine Schulfreundin Berta Oeter


Nowawes, den 15. 9. 27



Und auch die Lehrer im Schulpalast Scharnhorststraße (Goetheschule 30/31) tragen sich ein:


Keiner kann im leichten Spiel

dieses Lebens Preis erjagen;

fest ins Auge fass' dein Ziel,

bis die Pulse höher schlagen

und sich dir an Fuß und Hand

wieder straff die Sehne spannt!


Zu frdl. Erinnerung

M. Frohberg



20. IX. 27




In allem, auch dem Kleinsten und Unscheinbaren liegt eine Welt von Schönheit verborgen,

man muß nur die offene, liebeerfüllte Seele haben und vielleicht auch den Willen, alles schön und gut zu sehen.


Dir, liebe Annemarie, mit den herzlichsten Wünschen für Dein späteres Leben!


Deine Lotte Splettstoeßer


Potsdam, d. 8. 4. 27





Oh, nimm der Stunde wahr, eh sie entschlüpft!

So selten kommt der Augenblick im Leben,

der wahrhaft wichtig ist und groß.

(Schiller)


Zur frdl. Erinnerung an Deine Mitschülerin

Charlotte Bergemann

Now., d. 26. 11. 27



Es grüne die Tanne,

es wachse das Erz,

Gott schenke uns Beiden

ein fröhliches Herz.


Zur freundlichen Erinnerung

an Walli Wildegans



Mit diesen Sprüchen enden vorerst die Einträge in das nun fast gefüllte Poesiealbum. Erst in 25 Jahre, 1952, werden die letzten beiden Seiten gefüllt.


1927

Eine riesige Neuigkeit, die in die Weltgeschichte eingeht: Am 20. und 21. Mai 1927. Der erste Flug mit einem Flugzeug von Amerika nach Europa über den Atlantischen Ozean! Ohne irgendeine Pause, ganz alleine, also ohne Schlaf oder Ablösemöglichkeit, flog der Postflieger Charles Lindbergh mit dem Flugzeug „Spirit of Saint Louis“, in 33,5 Stunden von New York nach Paris. Eine schier übermenschliche Anstrengung und riesige technische Leistung. Und der Flug gelang!


Anläßlich meines nun schon 14. Geburtstages erhielt ich von den Eltern einen Fotoapparat geschenkt. Eine AGFA-Box, 6 x 9 cm Bildgröße, 4,- Reichsmark. Bisher war ich nur auf zwei, drei Fotos zu sehen. So zum Beispiel auf unserem Hof im Herbst 1914. Ich, reichlich ein Jahr alt, stehe auf dem Stuhl und habe somit die Größe meines damals schon achtjährigen Bruders. Verwackelt bin ich auf einem Gruppenfoto zur Silberhochzeit von Schuhmachermeister Onkel Paul Sommer und seiner Frau Emma am 25. April 1916 zu sehen, weil ich nicht ganz so lange stillstehen konnte, wie es der Belichtungszeit bedurfte.

Von jetzt an, ausgerüstet mit diesem herrlichen Fotoapparat, werde ich wichtige Erlebnisse meines Lebens, meines Lebens Lauf, selber im Bilde festhalten, alles selber in die Hand nehmen.

Die Negative lassen wir bei unseren Ladennachbar im gleichen Hause, „Brillen-Schäfer“ entwickeln und Abzüge anfertigen. Das Geld dafür muss ich mir aber selber verdienen. Was macht das schon?

An diesem Geburtstag veranstalten meine Eltern einen Ausflug nach Kohlhasenbrück und dann weiter nach Alsenbrück in Stolpe-Wannsee. Auf diesem Wege entstand mein allererstes Foto: Ein Schleppdampfer im Gegenlicht (der mit Rückenwind vorwärts fuhr – die Rauchfahne zeigt es uns an). Für meinen Apparat eine anspruchsvolle Aufgabe. Mit von der Partie waren außer den Eltern, Tante Johanna Seehafer auch unsere Haus-Mitbewohnerin Frau Brückner (die Frau vom Dampfer-Maschinisten) und meine Spielfreundin, ihre Tochter Lisa. Des Weiteren: Herr Architekt Paul Muster (mein Patenonkel 1), seine Frau Melanie, ihre Tochter Annemarie, genannt „Mausel“, Sohn Ernst Muster, Cousine Dörte und mein Patenonkel 2: der Stadt-Bauinspektor Ferdinand Pehlke vom Nowaweser Rathaus. Ein schöner Tag.


Nun bin ich 14 Lenze jung, Mutti 47 Jahre und mein Vater 52 Lebensjahre alt.


Unsere Reise in den lieblichen, sonnigen deutschen Süden steht bevor. Der Chef wälzt das Kursbuch und bereitet den Reiseplan vor. Etwa 15 Stunden werden wir bis zum Schwarzwald unterwegs sein. Das ist wichtig zu wissen, damit Mutti und ich ausreichend Reiseproviant vorbereiten können, wir wissen, wo man sich beim Umsteigen beeilen muss oder wo Zeit für die Besichtigung der Bahnhofsumgebung ist, bei der wir uns die Beine vertreten können.

Einige Tage später beginnt für uns eine wunderschöne Urlaubszeit im Schwarzwald. Seit mein Vater dort in der Zeit des Krieges war, in Freiburg im Lazarett gelegen hatte, zog es ihn immer wieder dorthin. Mutsch war ja auch schon dort und selbst Hans vor zwei Jahren. Einige Ausflüge, so zur Ravennaschlucht und zum Feldberg, wie auch Spaziergänge durch den Kurpark Badenweiler, unternehmen wir gemeinsam mit der Familie des Herrn Dr. Sohl, einem Textilfabrikanten aus Krefeld. Seine Ehefrau wird mit Frau Dr. Sohl angeredet. Ich weiß aber nicht genau, ob dieser Titel von ihrem Mann nur „auf sie abgefärbt“ hatte? – wie es eben so bei der Textilfarbgebung aber auch anderswo vorkommen kann. Familie Sohl besitzt ein Auto. Diese (momentan offene) Sohl-Limousine hat acht Sitzplätze. Dass sie uns überhaupt mitnehmen – man kommt sich richtig klein vor. Wir haben zu Hause das ältere Fahrrad und einen Handwagen.

Bei einer der Fahrt nach Basel, kehren meine Eltern mit mir bei einem Juwelier ein. Sie schenken mir eine gemeinsam ausgesuchte künstliche, aus „Elfenbein“ geschnitzte Enzianblüte, an einer Halskette zu tragen. Die Blüte ist auch ganz naturgetreu blau eingefärbt. Mit Enzian-Lapislazuli.


Am 01. August 1927 heiratet mein Cousin Walter Knoll seine Hedwig Benkner, die Tochter des Sattlermeisters Paul Benkner.


Gestern noch Kind – morgen schon eine junge Erwachsene. Konfirmation und Schulabschluss.

Konfirmiert werde ich am 4. September 1927 von Herrn Pfarrer Viktor Hasse in der Friedrichskirche – ein Jahr und einen Tag nach dem Todestag meines Bruders.

Ich erhalte den Konfirmationsspruch Galater 5, 22:

Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit“, (der im Jahre 2004 auch der Aussegnungsspruch sein wird). Nach jenen Grundsätzen zu leben, ist und war mir stets eine Leitschnur und ein Bedürfnis.


Von meinen Vettern (Cousins) Walter und Felix Knoll (Söhne von Hermann Knoll und seiner Ehefrau, meiner lieben Tante Hedwig, erhalte ich zur Konfirmation einen schönen zarten Ring in der Mitte mit einer kleinen Perle, rechts und links von einem Rubin flankiert. Überreicht im Schmuckkästchen der Fa. Wilhelm Müller, Uhren und Goldwaren, Berlin-Südwest, Kommandantenstraße 15. Dieser Ring wird mich gewiss mein ganzes Leben begleiten.


Trotz des Unterrichtsausfalls wegen der Liegekuren im Sanatorium Böckmannstraße (3 x ein halbes Jahr Ausfall während der Schulzeit), kann ich bei fleißigem Selber-Nacharbeiten des Unterrichtsstoffes das Ziel der Klasse mit allen anderen Mitschülerinnen zur gleichen Zeit erreichen und die Gesamtschulzeit abschließen. Zu Michaelis 1927, also Ende des Monats September 1927, geht die Zeit der Volksschule zu Ende.


Nach dem Schulabschluss bleibe ich zu Hause in der Firma, habe sie sofort im väterlichen Geschäft mitzuarbeiten, da es im Geschäft und im Haushalt immer viel zu tun gibt. (Mutti ist öfter krank, hat auch lange Zeit „offene Beine“ und außerdem bin ich zum Teil ein Ersatz für meinen Bruder Hans). Zeitweilig hilft auch Frau Brückner aus, Mutter meiner Spielkameraden, die im gleichen Hause wie wir wohnt, direkt über uns.

Schon während der Schulzeit hieß es für mich: Rechnungen austragen – lange Wege, im Allgemeinen natürlich zu Fuß zu bewältigen, möglichst auch die Rechnungsbeträge für die Elektrikerarbeiten kassieren. Das ist für mich durchaus nicht immer ein reines Vergnügen, weil nicht jeder das Geld „sofort zur Hand“ hat – dafür aber Begründungen und Ausreden, die ich dann zu Hause ja darlegen muss.


Viel lieber wäre ich noch zur Fortbildungsschule (Berufsschule) gegangen, wie die meisten meiner bisherigen Mitschülerinnen, die eine Lehre begonnen haben. Oder zumindest eine allumfassende hauswirtschaftliche Ausbildung (wie Mutsch sie in Berlin im Haus des Lette-Vereins erhalten hatte). Oder noch besser: fundierte Schneiderkenntnisse erwerben zu dürfen, wie meine Freundin Luzie Vicum, selbst Schneidern zu lernen ... vielleicht später auch künstlerischen Neigungen zum Beispiel des bildnerischen oder literarischen Schaffens nachgehen zu dürfen. (Dazu wird später leider nie die Zeit reichen) – aber die Eltern wollen nicht – und dagegen gibt es keine Widerworte, nur das sich Fügen. Weitere Kenntnisse und Interessen konnte ich mir also nur „woanders abgucken, manchmal auch anlesen“. Ich bin wie unsere Lehrlinge und Gesellen fest in das Geschäft eingespannt, mit dem Unterschied, dass diese eben praktisch – handwerklich arbeiten ich aber im buchhalterischen, im organisatorischen Bereich sowie für Boten- und hauswirtschaftliche Dienste eingeteilt bin. Nur ist es Gesellen und Lehrlingen freigestellt, während der Zeit des Feierabend ihren eigenen Interessen nachzugehen. Da bleibt bei mir jetzt nicht viel Spielraum. Von dieser Zeit an, nehme ich die Gewohnheit an, kaum noch von Papá zu reden, sondern genauso wie die anderen, nur noch vom Chef. So kühl und distanziert war ja auch das Verhältnis, so dass die Wortwahl leicht fällt und recht getroffen scheint.


Aber es gibt auch herrliche Neuigkeiten:

Im Sommer sind mein Cousin Walter Knoll und seine Frau Hedwig in den Bund der Ehe eingetreten und schwupps, heute am 17. November wurde ihr erstes Kind geboren. Ja, wenn die Liebe so groß ist, kann das schnell gehen. Christel soll das Kind heißen.


Weihnachtszeit – schöne Zeit

Besonders schön werden von unserer Kirche die Weihnachtsfeiern ausgestaltet. Mitunter bedarf es aber außer dem Kirchenraum (für 900 Leute) einer großen Bühne, um beispielsweise den wunderschönen Schneeflocken-Reigen aufzuführen. Für diesen sind etwa 20 weiß gekleidete Mädchen erforderlich. Die Aufführungen werden wegen großer Beliebtheit und dem Andrang der Besucher auch mehrfach zwischen Weihnachten und Neujahr gezeigt, meist in „Klemms Festsälen“ in der Wilhelmstraße. In diesem Jahr tanzen beim Schneeflocken-Reigen wieder mit:

Margot Baumert, Charlotte Denkel, Grete Jacob, Ursel Strauß, Elfriede Domineok, Elisabeth Brückner. Hertha Schlieback, Erika Mielke, Gertrud Schönicke, Gertrud Schneider, Irmgard Bowitz (des Bäckers Töchterlein, Priesterstraße 39), Gertraud Mielenz, Ursel Meister, Erna Schulze, Anni Neubauer, Gerda Kurjahn, Ilse Heidelberger, Anneliese Müller, Maria v. Dobbeler und Ruth Webers.


1928. Allen meine guten Wünsche für das neue Jahr!

Am 13. / 14. April waren es (ein Jahr nach Lindbergh) nun europäische Flieger: die Herren Köhl, Freiherr von Hünefeld und Fitzmaurice, die den Atlantik in umgekehrter Richtung, von Osten nach Westen überflogen. Auch deren Leistung war natürlich in aller Munde. Nach ihrer Rückkehr wurden sie auf dem Gelände des Potsdamer Luftschiffhafens an der Pirschheide stürmisch begrüßt. Und wie wir an den Fotos sehen, war ich als 14jährige Fotoreporterin bei diesem großen Ereignis dabei.


Traditioneller Vorfrühlingsausflug, diesmal mit Familie Struwe nach Alsenbrück / Kohlhasenbrück.


Später: Himmelfahrt – arbeitsfrei! Das ist unser Mädeltag. Mit meinen ehemaligen Mitschülerinnen Elfriede Lentzsch und Luzie Vicum. Das heißt Luzie hat gleich noch die Schwestern Hilde und Irmchen mitgebracht. So wars noch lustiger. Wir durchstreifen fröhlich den Park Babelsberg. Sehr schön ist vom Ufer aus vor dem weißen Lucca-Schlösschen die Große Fontaine anzusehen. Hier sogar noch einige Zentimeter höher als jene vor dem Schloss Sanssouci . Das rauscht – wenn im Maschinenhaus an Feiertagen mal volle Leistung gefahren wird!


Ein anderes Mal wandern wir, dann allerdings „gemessenen Schrittes“, denn wir befinden uns beschützt und behütet* in mütterlicher Begleitung von Frau Lentzsch, Frau Vicum und Frau Sommer nach Kohlhasenbrück und Albrechts Teerofen. Einen guten Kaffee kann man an beiden Orten trinken. (* Die älteren Damen tragen diese „modischen“ Topf-Hüte).


Mein 82-jähriger Großvater Franz Runge wünscht mir von Berlin per Kartengruß alles Gute zum neuen Lebensjahr.

Meinen 15. Geburtstag begehen wir wieder in der Gaststätte „Rudererheim Alsenbrück“ am Ortseingang zu Stolpe-Wannsee. Ich durfte mir Luzie Vicum und Elfriede Lenztsch mit einladen. Auch Ernst Muster und Mausel sowie Peter Kühnbaum waren dabei.

Dieser Tage hat sich etwas Komisches ereignet. Kommt doch da ein Mann in den Laden gehinkt, der den Chef sprechen will. Beide kennen sich, verhandeln im Kontor eine Weile unter vier Augen. Als er wieder geht, schenkt er mir eine Tafel Schokolade. Erst nachdem er fort ist, erfahre ich, dass das „der sehr entfernte“ Franz Runge war (der jüngste Sohn meines gleichnamigen Großvaters, aus dessen zweiter Ehe). Gerade zehn Jahre älter als ich es bin, ist er. Er hatte mit seinem Motorrad (einer Harley-Davidson) einen Unfall gehabt und brauchte in diesem Zusammenhang wohl vom Chef eine leihweise finanzielle Unterstützung für das Auskurieren. Sein Besuch hatte offenbar ein erfolgreiches Ergebnis.


Ferientage im September 1928 im schönen Ort Schierke im Ostharz. Die Einwohner sagen Schirrke. Wir wohnen am Ende des Ortes in der Pension Waldesruh, bei den Hauseltern Massow. Wir, das sind Papa der Chef, Mutsch, Mausel Muster, Tante Hannchen Seehafer und ich. Nochmals zum Auffrischen: die „Mausel“ heißt eigentlich auch Annemarie. Sie ist die Tochter meines Patenonkels, des Potsdamer Architekten Paul Muster.

Wir, die beiden Anne-Maries unternehmen ausgedehnte Spaziergänge und entdeckten unweit unseres Quartiers inmitten der Bode ein Felsensofa, das uns, wie bestimmt schon manch anderen auch, zur Pause einlädt. Wir erkunden den Ort gründlich und besuchen auch die Kirche, das „steinerne Häuschen“ am Fuße des Kirchberges, ferner die nahe „Burg“. Natürlich steht auch eine Fahrt zum Brocken auf dem Programm. Das heißt: Zum Brocken geht es per Pedes den Knochenbrecherweg hinan. Der Name stammt daher, weil es sich nicht um einen glatten Wanderweg handelt, sondern jener mit vielen größeren und kleineren Felsbrocken übersät ist. Leichter haben es da die Brockenhexlein, die flugs auf dem Besen darüber hinweg fliegen. Auch durch das Elendstal wandern wir und ein Ausflug nach Altenbrak bringt viele schöne Sinneseindrücke.


Wie in jedem Jahr, so ist auch in diesem Jahr zur Advents- und Weihnachtszeit unsere Friedrichskirche ein traulicher Ort. Weihnachten wird besonders festlich begangen. Ist es in diesem Jahr doch die 175ste Wiederkehr der Weihe dieser Kirche, deren Bau der König Friedrich II., der Große, für die Spinner- und Weberkolonie Nowawes angeordnet hatte und als deren Namens- und Schutzpatron er gilt. Die Liederblätter zur Feier habe ich aufgehoben.


Auch in diesem Jahr: Zwischen Weihnachten und Neujahr, am 28. Dezember, führen die Kinder der Friedrichs-Kinderkirche in „Klemms Festsälen“ ein umfangreiches Programm mit dem Schneeflocken-Reigen auf, eine Vorstellung die wegen ihrer Beliebtheit in einer Reihe von Jahren immer wieder mit „neuen Kindern“ einstudiert wird. Schöne Aufführungen.


Viele Hoffnungen für das neue Jahr. Ob sie sich auch so erfüllen oder erfüllt werden?


1929

Ab und zu sind wir bei Muttis Geschwistern in Berlin zu Besuch, bei Tante Gertrud Eschert, geborene Runge, bei Tante Hannchen (Johanna Seehafer geborene Runge) und auch bei deren Töchtern, meinen Cousinen Friedel Dankhoff / Liebnow und Kühnbaums (bei Cousine Dörthe und ihrem Mann Peter K.). Die Wege sind zwischen den Geschwistern über viele Jahre recht nah, denn ihre Familien finden günstig in dem Miethaus Platz, dass ihr Vater, mein Großvater, der Maurer- und Zimmer-Meister Franz Runge in Berlin-Moabit, Spener Straße 32 errichtet hatte.


Im späten Frühjahr haben wir das Familientreffen in Stolpe-Wannsee zum 83. Geburtstag von Großvater Franz Runge, betreut von Frau Zborowski, mit Betty und Ferdinand Pehlke, ihrer Schwester mit Mann (Schröder) aus Hamburg-Großborstel, meinen Eltern und den Töchtern von meiner Tante Hannchen (Johanna Seehafer) Dörthe Kühnbaum und Friedel Liebnow mit ihren Männern. Nun, solch ein 83. ist einmalig.


Im Sommer halten wir uns wieder im Schwarzwald auf. In diesem Jahr sind wir in Badenweiler im Haus „Kleinod“: Pension und Buchdruckerei. Mit letztgenannter haben wir nichts weiter zu tun.

Mit uns fährt wieder Muttis Schwester, Johanna Seehafer. Zur Vermieterfamilie gehören neben den Eltern: der Sohn des Hauses und eine Tochter. Sohn Fritzi ist gerade in der Ausbildung zum Konditor und Anni, seine Schwester, ein wenig älter als ich. Es sind frohe Ferientage – im Kurpark, in der Stadt am Rosenbrunnen, auf den vielen Ausflügen. Die Anni, das Annele und ich werden schnell wie ein Herz und eine Seele. Und so wechseln nach unserem Besuch viele postalische Grüße zwischen Nowawes und Badenweiler hin und her, so dass Anni, sie schreibt auch öfter Anny oder Any, zu meiner vertrauten Freundin wird.


In diesem Jahr gibt es auch noch eine schöne Sommerfahrt nach Altheide, in der Nähe von Rostock, zwischen Gelbensande und Ribnitz-Damgarten gelegen.


1930

Mein Vetter Walter Knoll und seine Frau Hedwig (Benkner) haben jetzt nach ihrer Tochter Christel, ihr zweites Kind. Diesmal ist es ein Junge, der Fritz genannt wird. Hermann Walter Fritz. Am 21. April wird in der Friedrichskirche die Taufe sein und ausgerechnet ich soll / darf schon zu den Taufpatinnen gehören. Bei dieser Frage an mich konnte ich nichts weiter als jubelnd zustimmen. Eine große Ehre für mich, verbunden mit einer aufgabenbesetzten Verantwortung – wenn man es so ernst nimmt, wie es schließlich gedacht ist.


Pfingsten. Das liebliche Fest ist gekommen. Für unsere Jungmädchengruppe vom CVJM (Christlicher Verein Junger Mädchen oder CVJM-Zopp, zur Unterscheidung bzw. „parallel“ zum CVJ Männer) ist es die Zeit zu einer Reise – diesmal bis ins Riesengebirge zur Schneekoppe, in des Riesen „Rübezahls Garten“. Wegen der Entfernung und des umfangreichen Programms wird eigens für uns das Pfingstfest erweitert – auf acht Tage!, für 30,- Mark Kosten (Übernachtungen und Verpflegung). Unsere gesamte „Corona“ wird angeleitet von unserer Diakonissenschwester Sophia Heubült, die uns „im Zaum“ halten soll. Wegen ihrer schwarzen Tracht mit weißem Kragen und weißer, gestärkter Kopfhaube wirkt sie älter und gesetzter, vielleicht auch wegen ihrer Verantwortung – für uns stellt sie eine Respektsperson dar. Sie ist wohl aber nur einige Jahre älter als wir, immer frisch, jung im Wesen und guter Dinge, stets die Klampfe mit dabei. Wir nennen sie einfach „unsere Mutte“ (ohne das „r“ erschien uns die Anrede weicher und weiblicher. Einen längeren Bahnaufenthalt haben wir in Hirschberg und können uns die Gegend ansehen.

Krumhübel durchwandern wir später. Und wie wir mit Rucksack, Brotbeutel und Feldflasche durchs Gebirge wandern!: Hoch zum Kynast ging es. Bei einer Übernachtung in der alten Erlbachbaude, fressen Ziegen unsere Seife auf , die in der Sonne trocknen sollte – in einem unbeobachteten Moment. Wohl bekomm's! Die Baude ist ein einfacher Schuppen mit einer Heuschüttung zum Schlafen, in die wir todmüde, gemeinsam mit unserem Muskelkater, einige mit Sonnenbrand, fallen. Weiter geht’s am nächsten Tag über gewaltige Bruchfelsen (freundlich „die Mädelsteine“ geheißen) in Richtung Spindlermühle. Zwischendurch aber besteht auch die Gelegenheit, sich im Gebirgsbach beim Bade zu erfrischen, sich kurz zu erholen. Wir besuchen auch die Holzkirche „Wang“. Es hört sich zwar chinesisch an, ist aber ein Stabholz-Gebäude norwegischer Bauart (ganz ohne Schrauben und Nägel – aus dem 12. Jahrhundert). Wir halten ein gemütliches Picknick an der Schlesischen Baude. Etwas Moos und Wollgras nehme ich von dort oben „als ein Andenken für immer an diese Zeit“ – fürs Photoalbum mit. Wunderschöne Tage der Gemeinsamkeit in unseres Herrgotts freier Natur.

Natürlich schreibe ich von hier nach Nowawes, denn meine Mutter hatte ja auch in jungen Jahren ihre Riesengebirge-Erfahrungen gewonnen, kannte diese Gegend ebenfalls ein bisschen.

Dass wir hier durchaus nicht die ersten Besucher sind wissen wir natürlich – ich kenne dieses Bild der Schneekoppe, das einst Caspar David Friedrich (1774 bis 1840) malte.


1930 ist das Jahr der Silberhochzeit meiner Eltern. Was hat sich in diesen vergangenen Jahren nicht alles für sie, für uns, ereignet!


Im Hochsommer veranstaltet die Kinderkirche unter der Leitung von Pfarrer Viktor Hasse den großen Sonntagsausflug über Kohlhasenbrück nach Albrechts Teerofen. Das ist für die jüngeren Kinder eine ganz schöne Wanderstrecke – wir vier Großen: Margot Dahms, Gretel Degenhardt, Luzie Vicum und ich, immer vorneweg.

An ein früheres Kinderkirchenfest, es fand auf dem Potsdamer Brauhausberg statt, entsinne ich mich auch gerne. Es waren damals hunderte von Kindern, die begeistert mitmachten.


Zu meinen momentanen Lieblingsbüchern gehört: „Heideschulmeister Uwe Karsten“ und „Ursula“, von Felicitas Rose. Letzteres ein inhaltsreiches Tagebuch. Es gibt einen Einblick in das Leben von Ursula für die Zeitspanne von 2½ Jahren. Romane aus dem norddeutschen Heideland.


Ein tiefer Einschnitt in unsere Kinder- und Jugendarbeit: Unsere „Mutte“, die Diakonissenschwester Sophia Heubüldt, wird unsere Gemeinde verlassen. Trotz aller bisherigen religiösen Selbstbindungen möchte sie dann doch nicht ihr ganzes Leben (mit uns) alleine bleiben. Sie zieht nach Emden an die Nordsee, um dort einen völlig neuen Lebensabschnitt zu beginnen.


Das Jahr 1931

Auf große Fahrt – für uns Größere. Pfingsten sind wir von der Kirche aus im Harz, diesmal unter der Führung von Pastor Mehlhase. Dort besuchen wir viele Orte und Sehenswürdigkeiten, die ich hier gar nicht alle aufzuzählen vermag. Unsere Unterkunft ist das kirchliche Sankt-Theobaldi-Stift in Nöschenrode bei Wernigerode. Von hier aus beginnen unsere Wanderzüge mit frischem Mute und dort enden sie auch – wir dann meist recht müde aber erlebniserfüllt. So ging es beispielsweise zum Komkerfall, zur Rosstrappe, durch das Bodetal, zum Brocken (den ich ja schon kannte), quer durch die „bunte Stadt am Harz“ Wernigerode und so weiter.

Vor acht Jahren hatte Gustav Büchsenschütz auf einer Wanderung in der Jugendherberge Wolfslake das Lied „Märkische Heide“ gedichtet und komponiert. Das kleine Werk wurde auch zu einem unserer „Leib- und Magenlieder“, was heißen soll: wir singen es oft und gerne.


Seit diesem Jahr gehöre ich zu den ersten Mitgliedern der Nowaweser Gruppe der Christoffel-Blindenmission und darf neben anderen jungen Mitgliedern mit dessen Gründer Pastor Ernst Jakob Christoffel durch die Potsdamer Wälder wandern. Auf diesen Wegen schildert er lebendig die Missionsarbeit im Orient, besonders eben für Blinde, Behinderte und anderweitig langzeitig Erkrankte, damit sie erstmals oder wieder für ihren Lebenserhalt aufkommen können. Der erste Stützpunkt der Mission befindet sich in der persischen Stadt Isfahan.

(Diesem Interesse an der Missions-Mitarbeit und deren Unterstützung wird Anne-Marie bis zum letzten Lebenstag die Treue halten).


Margot Dahms, Elfriede Lentzsch, Luzie Vicum und ich unternehmen einen Ausflug über Nedlitz Römerschanze, Neufahrland nach Sacrow zur Heilandskirche, die gleich einem Schiff am Ufer des Jungfernsees ruht. Sie wird natürlich von einheimischen Fischern und ebenso gern von Bootswanderern aufgesucht. Diese gemeinsam verlebten Sonntage geben mir Kraft für die gesamte Alltagswoche.


In diesem Jahr heirateten Erich Füssel und die zierliche Schneiderin Johanna Ranglack. Sie wohnen nun gemeinsam in der Mittelstraße 18.


Das Jahr 1932

Über die Pfingstfeiertage sind wir als CVJM-Mädchengrppe mit Pfarrer Mehlhase in Rheinsberg. Dort unterhält der CVJM auch ein Vereinshaus mit Garten zur Beherbergung und für die Veranstaltungen. Wir allerdings schlafen im Stallgebäude oben im Heu, von außen über eine Leiter zu erreichen. Fröhlich singend, mit Klampfenbegleitung ziehen wir durch die Stadt, wandern auch nach Zühlen und durch die Wälder. (Zu dieser Zeit wusste Anne-Marie noch nicht, dass ihre Familie auch dort Vorfahren hatte).


Else und Karl haben geheiratet. Sie heißen nun beide Kummerow. Hochzeitswanderung in großer Gruppe durch die Ravensberge.


Vom Juli 1932, von meinem 19. Geburtstag an, beginne ich, vorerst zwei Jahre lang, ein Tagebuch zu führen. „Herr der Herrlichkeit. Immer stärker fürs Leben der Erden, immer bereiter für Deine Ewigkeit, lass' Du mich bitte werden“, das ist mein Geburtstagswunsch, an dem ich selber tätig sein will. Zur Zeit meines Geburtstages verleben wir wieder einige Tage in Badenweiler bei Familie E. Die Burgruine, Kälbelescheuer, der Triberg mit dem über 160 m langem Wasserfall, Kurpark und andere Ziele besuchen wir wieder auf unsern Wanderungen.


Tagebuch, 14. August '32: Das Missionsfest auf der Insel Hermannswerder, zur ersten Jahres-Wiederkehr der Gründung der Christoffel-Blindenmission im Berliner Raum. Ein Tag voller Sonne, Freude und Dankbarkeit. Dieser eine Tag gibt wieder Freude für die ganze Woche. Mit dabei sind die Mitglieder unseres ersten Jahres aus Nowawes: Kurt Freydank, Kurt Ziehe, „Bumchen“ Schmidt, Walter Kloppe, Alfred Schmidt, Anton Krüger-Bernhart, N. Urbach, Friedel Sarnow, Rosemarie Deutsch, Hermann Kloppe, Herbert Letz, „Meister“ Neumann, Hilde Thomas, Werner Letz, Emma Hönow, Karl Trippler, Anne-Marie Sommer, Hilde Weiß, Erich Rahn, Irma Nickel und Fräulein Meier aus Potsdam.

21. August: Mit Else und Karl zum Plessower See. Eine herrliche Tour. Aber auch anstrengend – am frühen Nachmittag 38°C im Schatten.


Mo., 22. August: Es ist also tatsächlich wahr: Unsere Mutte, unsere liebe, liebe Sophie (Heubült, sie heißt inzwischen Richter), – ein Kindchen hat sie bekommen Der Vater des Kindes heißt Hans Richter und ist Goldschmiedemeister in Emden. So fand sich das. Mag der liebe Gott sie und ihre Familie segnen und begleiten alle Tage. Ich hab sie doch so herzlich lieb und kann sie nimmer vergessen. (Spätere Anmerkung: … Die Zukunft weiß, dass sie sechs Kindern das Leben geben wird).


So., 28. August – war ich mit Else und Karl Kummerow auf „Fahrt“. (Das bedeutet im Allgemeinen eine Fußwanderung. Die Klammerausdrücke und Kursiv-Anmerkungen setzt Chris J. des leichteren Verständnisses wegen – für spätere Leser). War dieser Sonntag herrlich! Ich 7.18 Uhr ab Nowawes, in Potsdam haben wir uns getroffen. Dann nach Werder. Da ziehen wir munter los in die Natur und denken: Na, heut kann uns die ganze Kultur gestohlen bleiben. Wie durch den Urwald geht’s dann den Froschweg bis zum Plessow-See. Dort ein schöner Rastplatz – eine Haselnusslaube. Gegen Mittag ist die Feldflasche mit Zitronenwasser leer (wir haben einen heißen Tag, 38°C) und Kaffee aufbrühen geht nun mal ohne Feuer nicht. Wie oft haben wir früher mit Brillengläsern und auch altem Film-Material flugs Feuer angefacht. Ganz stolz kommen wir dann später mit einer Schachtel Streichhölzer aus dem Dörfchen zurück (also doch nicht ganz ohne „Kultur“). Und müde und erschöpft, unter großem Gepuste und Gequalme wird im Kochgeschirr Kaffee gebrüht. So gut hat lange keiner geschmeckt. Eine Foto-Aufnahme hat Karl auch gemacht. Gut ist sie geworden, werden wir später feststellen können. Und dann heimwärts. Vor uns über Werder der Himmel schwarz, hinter uns zartblau. An der Ruine müssen wir den Regen vorüber lassen und kommen trocken nach Hause. Es wird nicht die letzte fröhliche Fahrt sein, die wir zusammen unternehmen.


Mi., 31. August: Mit Else war ich (ihre Einladung) gestern per Dampfer nach Paretz. Die Fahrt war herrlich. Oh, unsere schöne blaue Havel unsere herrliche Heimat. Wie dankbar kann man da sein! Als wir nach Hause kamen, gab es noch eine weitere Überraschung, denn Else hatte ja gestern Geburtstag, geboren am 30. August 1913.

Luzie Vicum hat sich mit Alwin Barth verlobt. So verkleinert sich der Kreis der Ungebundenen aus der gemeinsamen Mädelzeit.


Do., 08. September: Am Sonntag hatten wir mit Traudel aus Rheinsberg eine feine Fahrt nach Petzow und Glindow. Nach der Regennacht war die Welt an diesem Morgen wie frisch gewaschen. Am Abend mit Traudel zum CVJM.


Mo., 12. September: Vormittag Park Babelsberg, am Nachmittag Sanssouci. Nun ist Traudel wieder fort. Von der Mutte (Heubült, also Richter) ist ein Brief gekommen. Am Do. den 8. hatte ich nach Emden geschrieben und heut ist schon eine so liebe Antwort da. Mit einem herzigen Bildlein: Die Mutte und ihr Töchterchen: Ingeburg. Ich bin dankbar und so froh für sie.


Fr., 23. Sept.: Am vergangenen Sonntag mit Kummerows auf Fahrt (zu Fuß) gewesen: Teufelssee, Bergholz, Saarmund, Langerwisch, Wilhelmshorst, Moosfenn, Potsdam. Im Wald hinter Saarmund kamen wir in ein Gewitter. Oh, wie hat es gegossen und gestürmt! Da musste Papas abgelegter Mantel (den ich bei hatte) noch mal tüchtig was aushalten. Karl war auch total durchnässt. Feuer haben wir nicht anbekommen – aber Pfefferlinge haben wir gefunden – eine Menge! Da konnte das Elslein wieder lachen. Auf dem Rückweg kam hinter dem dunklen Ravensberg rotgolden der Mond hervor. So still war es im Walde. Nur manchmal blies ein Windstoß einige Tropfenschauer aus den regenschweren Kiefern. Weiß im Nebel lag das Moosfenn und hoch ragte die mächtige Kiefer an der Hochzeitswiese.

Der Herrgott ging durch den Wald. >Guten Abend, gute Nacht ...<“


Vorgestern am 21., hatte Papa Geburtstag. Ob er sich wohl ein bissel gefreut hat? Man sah's nicht so recht. Ach Paps, ich wünsche Dir ja so viel Gutes und hab Dich lieb. Warum kann ich’s immer nicht so zeigen?

Großpapa (Franz Runge) war auch hier und Pehlkes mit Frau Bauer (Mutter von Betty Pehlke). Die liebe alte Dame. Des Weiteren: Paul und Melanie Muster (mein Patenonkel) und Tante Hedwig (Knoll, geborene Sommer) und Tante Marie (Steiner, geborene Sommer) waren ebenfalls gekommen – ein neues Jahr hat für Papa begonnen. Mög's doch gut werden. Hoffentlich ist Tante Dörthe bald wieder gesund – sie konnte wegen ihrer Erkrankung nicht kommen.


Am 02. Oktober war Reichsjugendtag der Hitlerjugend in Potsdam. Allerhand Volk unterwegs.


Mi. 05. Okt.: Am Sa. und So. war Volkstanz-Reichstagung. Es war sehr gut – überhaupt die Sturmfahrt über den Schwielowsee nach Werder. Auf der Bismarkhöhe war es so nett, wie schon lange nicht. Waren das Menschenmengen! – aber ich habe trotzdem das Gefühl, die große Zeit des unbeschwerten Tanzens ist bald vorbei. Im Verein wird tüchtig geübt für das Jahresfest. Ob unsere Tänze klappen? Wie stellen sich manche Mädels bloß steif an. Da wird noch manche Arbeit sein. –


Sonntage, 09. und 16. Oktober 1932: Mit dem Missionskreis auf Fahrt gewesen. Am 9. war es sehr schön. 8.00 Uhr, Treffpunkt “An der großen Klamotte“ (Nowawes, Findling) hieß es mehr deutlich, als schön. Rosemarie Deutsch, Hilde Weiß, Hirtelchen und ich waren die Mädels, Hermann Kloppe, Herbert Letz, Alfred Schmidt, Walter Kloppe und Bummchen, die Jungs. Durch die Rohrlake über Notbrücken und dann querfeldein (nahe Stern und Parforceheide) mit großen und kleinen Pilzen, dann durch Nudow nach Saarmund auf den Butterberg. Was für ein schöner Herbsttag wurde uns da geschenkt. Vom Berg schauend, lag breit das Land zu unseren Füßen. Das möchte ich wieder sehen, wenn die Heide blüht.


Es läuten die Glocken der Blumen so fein

Es blitzt ihr diamantenes Geschmeide

In der Frühe, im goldenen Sonnenscheine

Am Morgen in der Heide.


Kein Lufthauch – der Kiefern- und Birkenduft

Liegt über dem Feld und der Weide

Von Sonnenstrahlen erzittert die Luft

Am Mittag in der Heide.


Im Haselbusch die Nachtigall singt

Von Freuden und dem Leide,

Vom Dorfe her das Glöcklein klingt

Am Abend in der Heide.


Dann ging’s über die Wiesen und mit Sprung über einen Bach, breit genug, dass mein Bein im Morast der Ufernähe stecken blieb. In Bergholz haben wir großartig Kaffee getrunken.

Gestern war im Tanzkreis Mitgliederversammlung.


Am 23. Oktober: Volkstanz-Jahresendfest. Hat alles gut geklappt. Bloß sprechen (vor den vielen Leuten) möchte ich nicht noch mal. Wie einem da das Herz im Halse schlägt.

An Anny, Traudel und Edith habe ich geschrieben und an Mutte. Blumen will ich ihr schicken. Ob sie’s wohl freut?


Do., 03. November: Beinah hingesetzt habe ich mich heut, kaum zu glauben. Doktorchen ist wieder im Lande, ganz wirklich. (Dr. med. Fritz Heim, der vor allem den Bruder Franz vor sieben Jahren nach dessen Unfall betreut hatte und dazu immer mit dem Motorrad von Berlin aus herüber nach Nowawes kam). Vor einigen Jahren lebte er in Berlin, am Zoologischen Garten, in der Burggrafenstraße 6 und inzwischen – in Machnow (Kleinmachnow) soll er jetzt wohnen. Gestern erst hatte ich seine Postkarten und Bücher von damals angesehen. Ob er sich mit seiner Frau wohl mal sehen läßt? Ach, das wär’ doch nett.

Emma H. hat mir heute erzählt, dass ich bei einem unserer Jungen „einen Stein im Brett“ hätte. So, so. Was die Leutchen sich so denken und herumschwatzen. „Stille Post“.


Auf der diesjährigen Muster- und Verkaufs- Messe für elektrotechnische Haushaltgeräte

(vom 22. November – 09. Dezember 1932) haben wir einen gemeinsamen Stand auf der Ausstellung. „Wir“, das sind:


Elektro-Innungsobermeister Mechaniker und Elektrotechniker

Otto Arlt und seine Frau Max Sommer

Nowawes, Karlstraße 16 Nowawes, Priesterstraße 68


Das Ehepaar Arlt sind sehr freundliche, gemütvolle, gütige Leute. Es macht mir Freude, gemeinsam mit ihnen zu arbeiten. Ein gutes Auskommen. Da könnte man sich als Tochter wohlfühlen. So ist das. Aber ich will hier nicht weiter darüber nachdenken.


Es werden an elektrischen Haushaltgeräten unter anderem angeboten:


    Alles für 110 bis 130 Volt:

  • Stehleuchten = (Ständerlampen)

  • Tischleuchten für Büros und auch Wohnzimmer

  • Batterieleuchten

  • el. Wanduhren, unterschiedliche Modelle

  • Koch- und Backherde

  • Bratröhren, - Waffeleisen

  • Stromküchen geschlossene Töpfe zum Kochen, Braten und Backen, mit Ober- und Unterhitze

  • Einzelplatten-Kocher

  • Heizsonnen

  • Heizkissen

  • Wasserkocher

  • Bügeleisen

  • Föne

  • Topfstaubsauger

  • Staubsauger auf Rädern

  • Kleinstaubsauger als Koffermodell

  • Kühlschränke

  • Kaffeemühlen (Mahlwerk), Wandmodell

  • Und anderes mehr


Darüber hinaus gibt es weitere Angebote, die der Kunde aber ausschließlich in Verbindung mit einem Montageauftrag erwerben konnte. Dazu gehörten:


  • Beleuchtungs- und Kraftanlagen bis 380 Volt Spannung

  • Blitzableiter-Systeme

  • Akkumulatoren-Anlagen

  • Notbeleuchtungs-Einrichtungen

  • Haustelephon- und Telegraphenanlagen

  • Kontrolleinrichtungen und Diebessicherungen

  • Türöffner-Anlagen

  • Warmwasserspeicher


Auf dieser Ausstellung preisen wir die Waren aber nicht nur an und erläutern den Aufbau, die Wirkungsweise und Einzelheiten zur Technik der Geräte, nein wir führen sie dem Kunden natürlich in ihrer Funktion vor, müssen diese (unter der Kundenbeobachtung) flott und sicher zerlegen und wieder zusammensetzen können.

Für mich gehört zusätzlich das Schaukochen vor den Kunden in meiner kleinen Elektro-Muster-Küche dazu. So koche ich denn zum ersten Mal mit Geräten der „Siemens-Schulküche“ und „Stromküche“ und brate und backe mit der Bratröhre. Täglich.

Die Gerichte wechseln jeden Tag. Mutti hatte ja in ihrer Jugendzeit im Berliner Lette-Verein eine solide Ausbildung in Hauswirtschaft erhalten; ich musste mich da aber in kürzerer Zeit hineinfinden, denn beim Schaubrutzeln darf ja nichts anbrennen – trotz aller Ablenkungen mit Erklärungen, Antworten auf Kundenfragen usw. Benutztes Geschirr darf sich natürlich auch nicht anhäufen. Und die Zuschauer und etwaigen Käufer dürfen dann kosten, ob der elektrische Strom die Mahlzeit genauso gut zu garen versteht, wie der bisherige heimische Holz- und Kohleherd.


Der Speiseplan aus meiner handgeschriebenen Rezepte-Sammlung, die von mir (für's nächste mal, für's nächste Mahl) stets erweitert wird,:


1. Tag

Schweinebraten, Salzkartoffeln, Mohrrüben, Linsen.

2. Tag

Schellfisch, Salzkartoffeln, Apfelsuppe, Birnenkompott.

3. Tag

Milchreis, Blumenkohl, Kartoffeln, Schnitzel, Brühnudeln.

4. Tag

Gulasch, Salzkartoffeln, Ragout fein, Birnenkompott.

5. Tag

Hasenrücken, Rinderfilet, Rotkohl, Kartoffelklöße.

6. Tag

Geflügel, Karpfen, Waffeln, Blätterteig, Schokoladenflameri.

7. Tag

Roastbeef, Käseauflauf, Rinderfilet, Käsetorte.

8. Tag

Eierkuchen, Kartoffelpuffer, Hefekranzkuchen, Apfelkuchen.

...

Und dann noch einmal von vorne ...


Dazu wird stets der Energieverbrauch von den Zwischenzählern abgelesen. Dann werden die Strom-Kosten bestimmt und können dem Kunden pro Mahlzeit, Tag und Woche ausgewiesen werden. – Allerdings nehme ich an, dass der erstaunte Besucher nicht unbedingt die bisherigen Kosten für Holz- und Kohle und den bisherigen höheren Reinigungsaufwand oder auch die neue Zeitersparnis pro Mahlzeit dagegen rechnen kann und möchte. Aber eben: das Angebot hat ein perfektes Erscheinungsbild zu zeigen.


Der Messe-Stand rechts neben uns bietet alle möglichen Neuheiten aus der Funktechnik an. Auch das interessierte den Chef sehr, da er ja damals, just vor 25 Jahren, bei den ersten erfolgreichen Versuchen der drahtlosen Funktechnik zwischen der Matrosenstation in der Schwanenallee am Potsdamer „Neuen Garten“ und dem Turm der Heilandskirche in Sacrow mitgewirkt hatte. Geleitet waren die Arbeiten von Herrn Prof. Slaby (Technische Hochschule Charlottenburg) und Graf Arco und mein Vater, war damals als junger Schlosser und Elektrotechniker mit dabei. Zu jenem Anlass hatte er das erste Mal mit dem Kaiserpaar gesprochen. Sehr kurz.


Di., 06. Dezember: Ich weiß gar nicht womit ich anfangen soll, soviel hab ich zu erzählen – ganz abgesehen von dem vielen netten, anstrengenden Trubel auf der Messe. Also, der Mutte hab ich zum Geburtstag Rosen geschickt und sie hat mir auch gleich zurück geschrieben. Von meinen Freundinnen soll ich ihr erzählen. Das will ich gern tun. Von Luzie Vicum, Anny, Else Kummerow, Margot Dahms und Gretel Barsch – aber bis zum Fest muss sie noch warten. Da hilft alles nichts – es gibt bis dahin zu viel zu tun.

So, also voller Freude kam jetzt Doktorchen! Oder vielmehr Herr Doktor Fritz Heim und Frau. Am Sonntag waren sie beide hier. Vor drei Wochen, am Sonnabendnachmittag, hatten sie uns zu sich gebeten. Doktorchen, der Liebe aber Unruhige, Vielschaffende, wie immer. Und seine Frau Else, für uns ja neu, ist ein feiner Mensch. Man muss sie gern haben. – Sie schreibt Bücher und Gedichte.

Drei ganz junge Ehen kenn' ich nun oder hab wenigstens etwas hinein geschaut:

Dörthe (Seehafer) + Peter (Kühnbaum), Else + Karl (Kummerow) – und nun die beiden Heims. Lieb müssen sie sich wohl alle haben aber die tiefste und freieste Ehe ist wohl jene von Else und Karl, meine ich. Karl wird noch immer vor der Frau wie ein Jungmann ritterlich sein Knie beugen, wenn auch nicht grad äußerlich sichtbar. Doktorchen dagegen sagt im Beisein seiner Frau Else ohne eine Rücksicht auf ihr Gemüt die wunderschönsten Grobheiten, wenn auch nicht gegen sie gerichtet. Peter, denke ich, wird schon >die Frau an sich< verstehen, da er wohl ganz sicher einige vorher gekannt hat. Aber seine schlagfertige, kiebige Berliner Dörthe lässt sich die Butter vom Brot nicht nehmen.

Am 22. Dezember sandte mir das Ehepaar Dr. Heim aus dem bayerischen Rheyt ein Buch zum Weihnachtsfest. Eine große Aufmerksamkeit für mich.


26. Dezember: Ja, es stimmt. Weihnachten ist nun fast schon wieder vorbei. „Katrin wird Soldat“, hab ich gelesen (von Dr. Else Heim geschrieben). Und solches unfassbare Grauen wollen die Menschen noch einmal herauf beschwören? Vielleicht, ja bestimmt noch schlimmer, noch grausiger. Hat denn die Welt noch nicht genug Schuld auf sich geladen? Ein Volk, mehrere Völker, ein Bruder gegen den anderen? (Eine Vision der 19j-ährigen Anne-Marie am Ende des Jahres 1932 im Hinblick auf die im März 1933 dann erfolgte Machtübernahme der Nationalsozialisten und den späteren Beginn des Zweiten Weltkrieges am 01. September 1939).

Helferin soll ich werden in der Kinderkirche, darum wurde ich gebeten. Herr Gott! Zeig mir doch den rechten Weg. – Warum lässt Du mich immer hauptsächlich an die schönen Fahrten dabei denken. Das ist doch der geistige und geistliche Hauptinhalt nicht. Lasst mir noch Zeit bis zum Januar.

Frau Bauer aus Eutin, die liebe alte Dame, ist gestorben. (Die Mutter von Tante Betty Pehlke). Das schöne goldene Kreuz mit der Perle hat mir die liebe Frau Bauer geschenkt, beim ihrem letzten Besuch bei uns, hier in Nowawes. So gern hatte sie mich, ihre >liebe junge Deern<, wie sie in ihrer Hamburger Mundart zu sprechen pflegte.


Einige Mitglieder unseres Nowaweser Volkstanzkreises

Etwa 1932, so, wie ich es in der Erinnerung habe – da erst 50 Jahre später notiert


Bender Gretel, geborene Gottschalk

Bender Hermann, wird später im Krieg fallen

Dahms Margot

Degenhardt Gretel

Freidank/Freydank Sabine (Bienchen)

Himpel Harald Gärtner aus Alt-Töplitz und seine Frau (Gertrud?)

tätig im Kindergarten Töplitz

Irrgang (Hans?) wird später im Krieg fallen und Gretel Irrgang

Kummerow Else und Karl, Potsdam

Neumann Irmgard (Schnucki)

Sparre Charlotte aus Potsdam

Sparre Walter, der vorgenannten Bruder, Violinist am (Hans-Otto-) Theater

Teske / Teschke Friedel (Ehrenfried) wird später im Krieg fallen und Anneliese

Theers Walter

Trippler Karl und Hildegard

Ziehe Hilde, später verheiratete Katzorke, Lutherplatz

Ziehe Brüder der Hilde, auch aus Potsdam

Zinke Hilde aus Eutin, tätig im Kindergarten am Neustädter Tor


Diese Liste ist nicht vollständig. Es kamen ja des Öfteren neue Mitglieder (auch aus anderen Orten) hinzu oder andere gaben diese Freizeitbeschäftigung wieder auf.


1933

05. Januar: Muttis 53. Geburtstag mit Singsang. Und was soll heut' alles noch folgen? – Ich graul mich schon jetzt vor dem Abend. Die Stube voll, alles erzählt irgendwas beliebiges, oberflächliches durcheinander. Vermutlich weren die Herren viel qualmen. Ob es Doktors wohl überhaupt gefallen kann – oder sie sich vielleicht eher zurückziehen?

Ein schöner Tag war der vorige Sonntag. Auf Fahrt mit dem Tanzkreis nach Saarmund, Teufelssee, die dortige Klause, Saarmund und am Abend über Rehbrücke wieder zurück gelaufen.


11. Januar 1933: Ein Rückblick – Das neue Jahr hat begonnen – aber auch gleich Zweifel und Schwanken gebracht. Wie schön waren die Tage in Rheinsberg. Aber eine Zeit stiller Einkehr war es nicht. Am 30.12. Traudels Geburtstag und dann Silvester, mit Freude aber doch auch mit Ernst. Und dann nach dem Trubel, ein Tag ausgefüllt mit Traudels tausend Fragen zu ihrer Zukunft und ich weiß doch vieles durchaus nicht besser als sie. Fragen ja – aber kaum Zeit und Ruhe für die auslotende Tiefe eines Gesprächs, Antworten zu finden, die zu befriedigenden Ergebnissen führen.


14. Februar: Ja, Elslein, liebes junges, altes Elselein. Vorigen Mittwoch war sie bei uns. Hätt ich kein Fieber gehabt, wärs schöner gewesen. 39,8°C – da trieselte es ganz schön in meinem Kopf. So tief und frauenhaft kann Else sein und dann gleich wieder so leicht und lustig. Ja, viel lustiger als ich es sein kann.

Was kommen und gehen meine Gedanken beim Schreiben immer her und hin. Zu Anny nach Badenweiler, da lässt's mir gar keine Ruh. Sogar beim Tippen kommt sie meinen Gedanken dazwischen – es wird ihr doch gut gehen. Sie hat lange nicht geschrieben.

Morgen ist Werbeabend für neue Mitglieder im Volkstanzkreis zu Potsdam. Vier Mann hoch werden wir erscheinen.

Unser Peter (Kater, der Sohn von Itze) ist schon seit ein paar Tagen weg. Papa meint dazu: „Schade nur um‘s schöne Fell“, der Grobian, ob er’s wirklich so meint? Fragen kann ich da nicht.

Doch für heute Schluss. Schlaft alle wohl meine Lieben und die mit mir verwandt oder bekannt.


16. Februar: Wir haben „Die Meistersinger“ (von Nürnberg) gesehen. Das Leben damals wie heut. Hoch lebe Hans Sachs – Ein Schuhmachermeister, wie es viele auch in unserer Sommer-Sippe gab und gibt (Onkel Paul Sommer arbeitet ja immer noch fleißig). "Verachtet mir die Meister nicht", sang Hans Sachs – oder verallgemeinernd darf man sagen: Verachtet mir die Menschen nicht!

Der schönste Lebensinhalt ist Helfen und Hoffen. Beides sind Kinder der Liebe.


Sonntag, 05. März: März ist's, Lenzing! Trotz allen Kummers ist's mir so weich zumute aber wir stehen doch in einer Zeit, die wirklich nicht zum Träumen da ist. Wer in jetziger Zeit leben will, muss ein tapferes Herz haben. Es gibt der argen Feinde so einige, das bereitet Schmerzen. Dabei vergisst man, ach zu oft, dass ein möglicher Feind auch im „Ich“ sitzt, der erkannt und bekämpft werden soll.

Und bei uns Zuhause, in dieser engen, materialistischen Welt? Wer merkt es mir an, dass ich weiß: Christentum bedeutet Freude und Kraft. Wer bin denn ich? Wo bleibt denn bei mir der bewusste Glaube und dessen sichtbarer Ausdruck? Wozu bin ich da? 20 Jahr alt bin ich bald. Im Moment soll ich auf Elternfragen alle Antworten wissen – fünf Minuten später ist man aber (wie) ein Kind, das beiseite gestellt wird, da man ja „von allem“ doch nichts verstünde. Soll das denn in meinem Leben so weitergehen? Wer würde mich überhaupt wohl im nächsten Jahr noch vermissen? Aber wozu zu allem noch eine Sünde, denn das ist es ja, mit solchen Gedanken umzugehen. –


Geburtstag: Morgen wird Anny 21 Jahre. Möge unser Herrgott ihr ein gesegnetes neues Jahr schenken.

Wahltag ist heute. „Der Tag der erwachenden Nation“. Soll es ein Wendetag werden für unser Volk? Was ist eine Wende – wohin führt sie? Meint er es echt, der Führer, wenn er sagt: „Nur mit Gott“. Ist unser Gott dafür da, für seine Absichten? „Herr, so sag doch zu dem was echt und tief ist ein Amen – das große und endgültige „So sei es“, denn Du kannst doch der Menschheit Ruhe und Besinnung geben“?

(C. J.: Möglicher Weise hat Anne-Marie darauf keine so eindeutig verstehbare Antwort erhalten).


20. März: Was ist das Telephon doch einfach „knorke“, denn mit dem Annchen hab ich nach Badenweiler gesprochen. Wie schnell sind da ein paar Minuten um. Ganz steif war meine Hand nachher vom Hörer halten.

Ja, so sehr gefreut hat 's mich neulich, als ihr Brief kam, wie auch heute darüber, dass das Mädele herkommen will. Zu uns, vom Muschterländle ins Preußische. Freust Du Dich auch so, Anny? Mir ist, als sollt ich eine Schwester bekommen. – Was wäre mir eigentlich mehr? Schwester oder Freundin? Und wie geht es ihr bei solcher Abwägung? Ich werde sie fragen.

Hans war mein Bruder. Wir lebten auf engstem Raum zusammen in diesem kleinen Zimmer und waren uns doch innerlich so fern und auch rau zueinander. Weil wir es nicht anders kannten? Ist doch auch jetzt noch eine ungeheure Hemmung in mir, die es so schwer werden lässt, tiefstes und herzlich Gemeintes einfach so auszusprechen. Nun ich glaub, die Anny wird mich verstehen.


Morgen ist der große Tag von Potsdam. In was für einem Erleben stehen wir doch in dieser Zeit. Neulich sagte jemand: „Es lohnt sich 100 Jahr’ zu leben in dieser Zeit“.

Ist das ein Zufall, dass dieser Akt grad auf den Frühlingsanfang fällt? Wenn es doch ein gutes Omen wäre. Alle Welt spricht von Not. Wir können wirklich unserem Herrn danken, dass wir sie noch nicht persönlich erfahren haben. Aber alle, ob selbst stark betroffen oder am Rande mit einbegriffen, werden doch morgen fest und froh zusammenstehen(?) – wenn es nur ruhig und festlich zugehen mag für gute künftige Erfolge..


22. März 1933. Das war gestern Deutschlands großer Feiertag! „Der Tag der erwachenden Nation, frei von Eigensucht und Parteiengezänk, mit Gott für das Vaterland“. Eine Menschenmenge, wie sie Potsdam lange nicht gesehen hatte. Um 6 Uhr: Himmel bezogen. Um 8 Uhr: Schneegestöber. Ab 10 Uhr strahlende Sonne. Möge doch der Geist des Tages gut in der Arbeit und im Frieden bleiben – und treu und fest die Regierung für das Volk.


27. März. Mutti soll nach ihrer Erkrankung noch nicht viel herumlaufen und am Sonnabend koche ich schon alles für den freien Sonntag fertig. Da rufen Doktors an (Heim): „Morgen Mittag um 12 Uhr sind wir draußen“ (also bei uns in Nowawes). Um ½ 2 kamen Doktors samt Teddi (Hund) endlich. Und die Sonne strahlte, als sollten alle Knospen aufbrechen. Na, wir sind dann nach dem Essen noch bis zum Teerofen (Gaststätte Albrechts Teerofen, hinter Kohlhasenbrück) gelaufen und von dort nach Klein Machnow zum Abendbrot. Nun konnte sich Mutti leider bloß zu Hause alleine langweilen. Na, bald wird sie hoffentlich wieder mitlaufen können.


28. März 1933: „Hasa“ (Max Hasait, Buchhalter und Mädchen für alles in der Elektrofirma Sommer), unser lieber Hasa ist für immer eingeschlafen. Er war erst 57 Jahre alt. Nun habe ich meinen einzigen, den väterlichen Freund verloren! Er kannte mich schon von meinem ersten Lebenstag an und er, wie seine Brüder, kannten meinen Vater und dessen Geschwister auch schon seit der gemeinsamen Potsdamer Kinderzeit. Zum Herrn ist Hasa nun gegangen (denke ich), den er nicht hat kennen wollen. Und weinen um ihn darf ich nicht. Das wär nix für ihn. Schlafe wohl, Hasa. –

Nun wartet auch seine Büroarbeit zusätzlich auf mich. Leistungen berechnen, Rechnungen schreiben, die Buchführung erledigen – alles muss ja der peinlich genauen Prüfung des Chefs standhalten. So war ich denn vom Status eigentlich mehr „maschinell funktionierende Angestellte“, als das einzig verbliebene Kind der Familie. Ganz großartig war es, dass sich der Chef bald zum Kauf einer Mercedes-Schreibmaschine entschloss und nun ging’s los mit dem Zwei-Finger-Suchsystem und den Durchschlägen. (Leider eben auch ohne den Zehn-Finger-Schreibkurs, zu dem ich dringend meine Bereitschaft anbot – das war für mich nicht nötig). Trotzdem war die Maschine eine große Erleichterung – und es gab dazu neue moderne gedruckte Briefbögen. Wie alle Drucksachen, so auch diese hergestellt bei Firma Freudenberg in der Bäckerstraße, (der späteren Schornsteinfegergasse).

Bevor wir die Schreibmaschine hatten, mussten die Rechnungen und Briefe per Hand mit „Copiertinte“ geschrieben werden und dann nass, mit der Presse in die „Kladden“ kopiert werden.


Das Osterfest war bei uns nicht grad aufregend. Mein Herz und Sinn waren für alles Gute offen. Weil aber doch nur gewohnter oberflächlicher Kaffeeklatsch im alten Stern (Gasthaus zum Jagdschloss Stern) zu hören war, hab ich’s schnell wieder zu gemacht. Musters mit Ernstel, Pehlkes und die Kühnbäume blieben dann noch zum Abendessen.

Am 2. Feiertag nach dem Ausflug zum Luftschiffhafen lernte ich noch Familie Hapke kennen. Was ist es doch Feines um so ein kleines, unverbildetes Menschenkind. Noch sieht es in Vater und Mutter die Hauptpersonen der Welt. Und dann kommt die noch fremde „Annemie“ (also ich) und so ganz zart und hell singt ihr das Stimmchen etwas vor und klingt so lieb.


Am 4. April 1933 haben die Verlobten Luzie Vicum (meine Freundin seit dem ersten Schuljahr) und Alwin Barth in der Nowaweser Friedrichskirche geheiratet.

Am Sonntag den 7. Mai war noch großes Treffen in Eiche bei „Onkel Emil“. 160 Jungen und Mädel. Erst draußen getanzt auf dem Rasen, denn zum Volkstanz brauchen wir kein Parkett. Anschließend die Kaffeetafel im Grünen, dann rein in den Saal, wegen des aufziehenden Gewitters. Am Abend zurück nach Nowawes. Auf dem Weg haben wir tüchtig gesungen.

Nun muss ich aber noch notieren, dass Peter (der vermisste Kater, kein Bedauern wegen eines Fellverlusts nötig!) wiederkam und auch heute sehr lieb war und ist, mir geholfen hat, Rechnungen zu schreiben. Nun aber musst du in mich Ruhe lassen. Hörst du, Peterlein?

11. Mai: Ein Rückblick – Mai schreiben wir jetzt. Die Zeit, sie eilt im Sauseschritt und wir, wir müssen mit. Aber manchmal, da rennt sie einem schon davon. Was ist alles gewesen, inzwischen?

Dunkle Tage und noch dunklere Nächte bei mir. Mittendrin zum Glück ein Sonnensonntag voll Lerchenjubel. Von früh bis spät mit Else und Karl auf Fahrt (also wieder: zu Fuß): Ravensberg, Wilhelmshorst, Wildenbruch – diese öde Kolonie. Dann Neu- und Alt-Langerwisch mit der traulichen Kirche, Kähnsdorf und Seddiner See. Der liebe Gott ließ uns grüßen durch seine Tierlein! Der nette Storch mit seinen deutschen Farben (schwarz – weiß – rot) und weil es doch Sonntag vor Ostern war, so ließ Meister Lampe sein Schwänzchen leuchten und legte als Vorgeschmack für uns etwas ins Moos. Über Fresdorf und Saarmund ging's an der Nuthe heimwärts. Bis Rehbrücke, wo uns nach zähneklapperndem Warten (am späten Abend war es kalt) der Autobus nach Hause rollte.

Nun trägt auch Else Leid um ihre Mutter (Auguste, geborene Schwedtner). Sie ist heimgegangen zum Mann Friedrich und zu ihrem Fritz. Wunden heilt manchmal die Zeit, Elslein, und einer der's noch besser weiß.


28. Mai: Die Doktors (Heim) sind schon wieder fort. Vielleicht für immer. Ziel – für uns unbestimmt. Im Mai 1933 hat Dr. Heim mit seiner Frau Else Deutschland verlassen, so wie Albert Einstein und viele andere jüdische Menschen, die die Gefahr rechtzeitig sahen und auch die Möglichkeiten einer Ausreise wahrnehmen konnten. Sie haben zeitig erkannt, dass der Regierungsübergang auf die Nationalsozialisten nichts Gutes bringt.

Ein späterer Nachtrag: Die Heims schrieben uns noch einmal aus England. Sie sind auf dem Weg nach China, um dort eine neue Existenz aufzubauen. Sie haben es fast geschafft. Gott sei’s gedankt – vorerst – ob aber in China das Leben sicher und gut sein wird? Das war das letzte Lebenszeichen, das bei uns einging.

Heute: Kurmärkischer Kirchentag! Christus soll unser alleiniger Herr sein! Wir, die wir uns zu deinen Jüngern zählen, auch wir wollen helfen, Deutschland, unser Deutschland zu halten und zu bauen.


11. Juni: Pfingsten haben wir in der Försterei Dubrow, am „Hölzernen See“ in der Schorfheide verlebt. Mit dem Tanzkreis, trotz allgemeinen Kopfschüttelns. Und es war so herrlich schön. Erst die Bahnfahrt – zwar in drangvoll fürchterlicher Enge, dann aber von Groß Besten 1 ½ Stunde Marsch über die mondhelle Landstraße. Da schlief es sich dann gut im Heu. Mit vielen Pausen, weil man immer wieder erwachte, bis um 4 Uhr. Dann machten die Schwalben, die blitzschnellen, schlanken Geschöpflein aber solch einen Krach, dass auch für uns die Nacht endgültig vorbei war. Bis um 5 Uhr hielten wir es aus. Dann raus aus dem Heu, die Leiter runter und an den Brunnen. Wie schön wars im Wald. Ist da nicht jeder Baum ein Herrgottswinkel, in dem man Ihn spürt?

Rührei mit Tomatensauce hat es mittags gegeben. Am 2. Feiertag Grieß mit Rhabarber. Am Vorabend, beim Rabarberkochen, haben uns die neugierigen, hungrigen Fliegen reineweg aufgefressen. Wie sich da manche Leutchen doch vor der Arbeit drücken konnten. Na, Schwamm drüber. Schön war es doch – auch als der schöne Kurt nachher den Kochtopf scheuern musste.

Am 2. Feiertag, da war's so schön auf dem Wasser, dass wir beinah den Zug versäumt hätten. Und dadurch kommt man zum Radfahren, d. h. man wird gefahren. Der Kurt F. hat sich sicher ganz schön anstrengen müssen, mit mir da vorn auf der Lenkstange. Auf dem Rückweg waren die Züge leider genauso überfüllt.


Zum nächsten Sonntag will ich Edith Nitzsche zu uns bitten. Sie freut sich sicher auch, wenn sie mal aus dem Einerlei raus kommt. Sie arbeitet doch als Schwester im Paul-Gerhardt-Stift, in Berlin, Müllerstraße.

Am 6. Juli bin ich nun 20 geworden und inwieweit bin ich fertig? Ein fertiger Mensch? – Meine Antwort ist die Frage: Ob's den andern Mädels auch so geht? Luzie, Margot, Gretel und Emma waren zum Abend hier. Else nur am Nachmittag. Die Mädels fanden es ja wohl ganz nett.

Und das badische Annilein hat mir so lieb geschrieben. Herrlich weißes Briefpapier hat sie mir geschickt (aha, ein Wink mit dem Zaunpfahl) und ein ganzes Kästchen voller Blumen.


Einige unserer jungen Frauen fragen mich … was ich selbst nicht genau weiß … und ich kann doch nicht „wie erfahren“, über solche Themen reden, die ich immer so verächtlich eine bloße „Liebelei“ genannt habe. Warum nehmen andere Mädels das so leicht hin und ich gar nicht?

Gestern Abend zum Beispiel kam M. und redete mit mir aus ihrem Herzen, aus dem die Sorge sprach. Auch sie kam zu mir, weil sie denkt, ich sei wirklich so abgeklärt und kühl und wissend? Ich bin doch auch nur ein Mädel. Und wie viele kamen mit ihrem Leid schon zu mir. Aber M., warum lässt du's allemal so sehr weit gehen? Wollen wir hoffen, dass die Sache wieder gut ausgeht. Mein Junge müsste ja anders sein. Na, wir beide sind eben zu verschieden. Und was will „allemal“ bedeuten? Fehlt es hier an zurückhaltender Ritterlichkeit des Jungmannes gegenüber der umworbenen Liebsten? Und – ich will gar nicht weiter daran denken – ist es auf beiden Seiten überhaupt auf Dauer der oder die einzig Umworbene? Und weiter … dass die Sache wieder gut ausgeht … Es muss doch nicht probiert werden, was dem geheiligten Stand der Ehe vorbehalten bleiben, ihn krönen soll – oder andersherum: was bleibt sonst noch für später übrig?


9. Juli: Von Edith lese ich grade: Lange hat sie krank gelegen. Gottlob geht es ihr wieder besser. Traudel will ich auch besuchen und Gretel. Draußen singen alle Tage die Kinder – >Sieg Heil< – zur Ferienwanderung!

Wie freue ich mich, dass Luzies Arbeit gesegnet ist und dass sie eine so große Freude hat an ihrer neuen Tätigkeit.


Neue Lebenseinsichten, Lebensinhalte und selbst gewählte Lebens-Aufgaben:

Nun übernehme ich es, in der Kinderkirchenarbeit der Friedrichskirche als Helferin tätig zu sein. Diese Arbeit führe ich voller Hingabe aus. Sie war für mich neu, da meine Eltern nichts mit der Kirche zu tun haben. Eine gewisse Berührung hatte ich jedoch durch meine religiös veranlagten Tanten Hedwig Knoll und Marie Steiner bekommen. Da ich bei Knolls ja schon Patentante des kleinen Fritz bin, ist ein weiterer Erfahrungsgewinn sicher gut. Bestimmte Anteile dieser Freizeitarbeit sind für mich allerdings nicht ganz problemlos. Zwar singe ich schon immer gern (aber auch sehr falsch, was das Einhalten der rechten Melodie angeht). Die Kinderkirchenzeit ist für mich auch eine Zeit der Gedanken über die eigene Rolle und des klar Werdens über die Werte für eine spätere eigene Familie.

In den folgenden Jahren wird es denn auch für mich die Kinderkirchen-Höhepunkte in der Freizeitgestaltung geben: die großen Ferienwanderungen. Besonders gern nehmen die Kinder der Familien teil, deren Eltern es sich nicht leisten können zu verreisen. Es ist immer eine große Menge interessierter Kinder. Zu jeder Mittagsmahlzeit bringt der Fuhrunternehmer, Rudolf Ranglack (aus der Wilhelmstraße 64) für alle das Essen mit seinem Mercedes-Lastwagen, egal, wo wir uns auf den Ausflügen befinden.


Am 29. Juli sind Else und Karl auf große Fahrt gegangen. Drei Wochen. Gen Osten nach Marienburg. Frohe Fahrt euch Beiden.


2. August: Sonntag waren wir wieder auf Fahrt mit dem Missionskreis Richtung Nudow – Rohrlake. Nach den letzten Hundstagen mit 34 °C im Schatten war die Abkühlung wunderschön und so herrlich zum Laufen. Malzkaffee schmeckt auch gut, wenn man ihn draußen selber kocht. An der Rohrlake klang zum Abschied das „Schönster Herr Jesu“ wirklich dankbar empor. Oh, Herr Jesu, mach uns doch noch viel freudiger und gehorsamer.

Sonntag ist Kinderfest. Oh, wie wonnig ists nach so langer Zeit all die warmen Händchen wieder zu halten. Ich freu mich so, dass Luzie die Ferienwanderungen mitmacht.

Wie wirds wohl der Mutte gehen mit ihrem Ingelein? Am Sonntag hab ich einen Katzenpfötchen-kranz gewunden und dabei an die Beiden gedacht.


6. August: Es war heut kaum noch zu ertragen, diese Ungerechtigkeit von Papa. Warum nur überhaupt? Was hab ich denn getan? Mein Herz, das saust und hämmert, als wollt es nicht mehr bleiben an seiner Stelle. Da dacht’ ich wirklich, es wär’ besser, es hörte ganz auf und stünde still. –

Doch nicht verharren darf ich nach dem Beruhigen bei solchen Gedanken, das wäre nicht recht. Doch es ist nicht in meiner Macht die Familie zu ändern. Sie will es ja auch gar nicht.


18. August. Anny fragt aus Badenweiler an, warum ich zu wenig schreibe (habe ich doch extra Briefpapier bekommen). Anny kann sich nicht recht vorstellen, dass ich sehr viel zu tun habe, fest im elterlichen Geschäft eingespannt bin und ganz andere Sorgen habe als sie. Sie schreibt allerdings selbst recht wenig. Seit sie diesen Freund hat, sind ihre Mitteilungen noch mehr allgemein, kurz, leichtlebig, global dahingeworfen, ohne erkennbare Tiefe als Ausdruck des Erlebens oder Fühlens. Die Grüße bleiben inhaltlich an der Oberfläche. Im Schwarzwald zeigt das Thermometer in diesen Tagen 30 bis 32 °C an.


22. August: Am Sonntag war Missionsfest auf der Insel Hermannswerder. … Herr Pfarrer Christoffel soll krank sein. Frau Börner ist glaub ich, heut gefahren, um in Persien zu helfen. Als eingetragenes Mitglied der Mission habe ich jetzt noch treuer zu sein. Herr, leite Du uns alle nach Deinem Willen.

Else und Karl sind von ihrer Ostland-Fahrt zurück und nun haben sie auch eine eigene kleine Wohnung. In Potsdam, Heiligengeiststraße Nr. 3. Eigentlich müsste ich das ganz verschnörkelt schreiben, denn es ist so ein richtiges altes Potsdamer Haus „im Entenviertel“, noch mit gläsernen Klingelzügen und geschweiften Treppengeländern. Vornehm! Ein reizendes Zimmer und eine süße Küche bewohnen sie.


16. September: Eine frohe Nachricht kommt ins Haus geflogen! Ein gesundes Mädel ist angekommen – und wo? Bei der Mutte!! Das Ingemädel hat ein Schwesterchen. Tausend Grüße, liebste Mutte (Heubüldt – Richter).


25. September: Oh, diese Zeit. Mies war es schon vorher, dann war Papa auch noch im Krankenhaus, grad über seinen Geburtstag hinweg, vom 18. bis 23. September.

Nun ist auch Erichs Mutter schon gestorben. (Ladenthin, Erich ist Elektromonteur bei Fa. Sommer). Das Leid findet doch einen Jeden.


17. November: Morgen kommt die Traudel (aus Rheinsberg). Das sollen ein paar nette Tage werden! Wie wird sie sich freuen, hier zu sein und auch Gretel (Barsch).


27. Nov. 33. Traudel ist auch schon wieder acht Tage fort. Was waren es für frohe Stunden. Wie hat man sie doch gern, die kleine stolze Traudel. Und auch Gretel und Luzie. So waren wir vier zusammen. Sonnabend und Sonntag. Am Vormittag aus Anlass der Luther-Festwoche geschlossener Kirchgang zur Bethlehem-Kirche. Fest klang Pfarrer Sichtors(?) Wort: „Ich schäme mich es Evangeliums nicht“.

Was vergangen, kehrt nicht wieder. Doch ging es strahlend nieder, leuchtet's lange noch zurück.


Jedem alle meine guten Wünsche für das Jahr

1934

Am Sonnabend, den 6. Januar waren Pehlkes hier, Frau Melanie (Muster), Mausel (Annemarie M.). Herr Muster lag leider krank zu Haus. Dörthe, Peter und Paula waren ebenfalls hier, um Muttis gestrigen Geburtstag zu feiern. Ein Bild vom Hans haben die Kühnbäume mitgebracht. (Hans sitzt bei Kühnbaums auf dem Balkon). Ein Andenken an längst vergangene Zeiten.


10. Januar 1934: Von Ihm haben wir gewonnen Gnade um Gnade!

Und Luzie macht bald Hochzeit! Ist doch eine frohe Botschaft im neuen Jahr, gelt? Bis März ist sie noch hier. Jetzt, da der Termin fest steht, denkt man daran, dass es zwar Trauung bedeutet, aber es für uns Trennung bedeutet. Ja, unser Kreis der Nowaweser Jungfrauen wird immer kleiner.

Traudel! Sonnabend, Sonntag und Montag durfte ich wieder bei ihr in Rheinsberg sein. Und zusammen haben wir uns ins neue Jahr gesungen, gedankt, gelobt, gelacht und sind gesprungen. Hier und da, unterm Weihnachtsbaum, wie die Kinder.

Irmchen Seehafer ist nun auch verheiratet und heißt jetzt Wolter. Am Sonntag, den 14. Januar waren Dörthe, Peter und Herr Wolter hier.


18. Januar, Donnerstag: Missionsabend. Pastor Christoffel von der Blindenmission war bei uns. War das ein inhaltsreicher Abend. Die Fahrt von Herrn Christoffel von Persien bis zu uns nach Deutschland wurde lebendig. Durch einen Brief von Frau Lörner wurde uns über das dortige Weihnachtsfest erzählt. Oh, die Erlebnisse der russischen Flüchtlinge … durch eine Welt voller Leid sind diese Menschen gegangen. Vor 300 Jahren sind deren Voreltern damals fortgegangen aus Deutschland.

Gretel blühte richtiggehend auf an diesem Abend. Man sah direkt, wie sie Auge, Ohr und Herz voll trank und so lang entbehrte Worte aufnahm. Bei Verlobungskaffee und Kuchen von Rosemarie (Deutsch) und Hermann (Kloppe) wurde es recht ausgelassen und lustig. Ein herzliches ernstes Schlusswort sprach Herr Paastor Christoffel. Jeder gebrauche seine Gabe, denn es sind wohl viele Glieder aber ein Haupt, viele Sinne aber ein Gott. Und dann sein Lieblingslied als Ausklang: „Schönster Herr Jesu“.


Montag, 22. Januar: Gestern, ein herrlicher Sonnensonntag, waren wir auf Fahrt vom Volkstanz. Die ersten gingen um ½ 9 Uhr in Potsdam am Brandenburger Tor zu Fuß ab. Um ¾ 1 fuhr ich mit der Bahn nach Potsdam. Rolf Giebel war auch mit im Zug und gemeinsam warteten wir auf Gretel. Dann ging’s mit dem Postauto nach Alt-Töplitz. Wie herrlich schön lag unsere Mark in der Sonne. Erst sah es dann ziemlich mau aus mit dem Tanzen. „Ein ganzer Junge war dort anwesend“. Doch dann kamen noch Steglitzer (aus Berlin) und es wurde ein froher Nachmittag. Um ½ 7 ging’s dann von Töplitz mit Gesang per Pedes zurück zur Nowaweser Heimat. Hell lag der Mond auf den märkischen Landstraßen. Der Scheinwerfer von Ütz winkte zu uns herüber. Immer und immer wieder. Weiter ging’s: Leest, Grube, Bornim, Bornstädt, vorbei an des Großen Königs Weinberg (Sanssouci). Nach 2 ½ Stunden tüchtigen Fußmarsches waren wir am Bahnhof Potsdam. Gretel fuhr weiter mit den Steglitzern und ich purzelte nach Haus, um dann noch bei Tante Betty (Pehlke), eine kurze Visite zu machen. Sie gehen meist sehr spät zur Ruhe. Ihre Wohnung duftet stets nach Bohnerwachs und Bohnenkaffee.


Am 15. Februar zum Tanzfest (Fasching) gewesen im Parkrestaurant Südende (Berlin). Nett war’s. Vom eleganten Gesellschafts- bis zum Insel-Kleid war alles vertreten. Oh und mein „Wüstenläufer.“ Was mag der Junge sich wohl vorgestellt oder gewünscht haben?

Punkt 2 Uhr am Morgen lag ich endlich im Bett. Nein, wie kann man nur so unsolide sein.


3. März, 7 Uhr morgens: Hochzeit hat das Luziemädel heut mit Alwin Barth. Um ½ 4 Uhr werden wir stehen und warten auf des Herrn Wort. Lass leuchten Dein Angesicht über Ihnen oh Herr, und sei Du ihnen gnädig! Wir lassen Dich nicht, du segnest uns denn! Amen.


Am 29. April: Mittags mit den Eltern zu Familie Klingt. Herrlich, vom Neuen Palais die Lindenallee hinunter nach Golm. Wie traulich lag Eiche in der Sonne. Da steht der Kirchturm. War doch gar nicht so lang her, dass wir da getanzt haben (aber nicht in der Kirche, sondern im Saal der Gaststätte „Onkel Emil“).

Man kennt sich zwar jahrelang vom Sehen aber nie hab ich gewusst, dass der Siegfried so nett erzählen kann. Dass er Ostern grad in Rheinsberg war, freute uns Beide. Aber mit Dir in die Heide lauf ich doch nicht, wenn du auch noch so schön singst: „Meine Augen die gehen wohl hin und her, du strahlenäugig Mägdelein“.

Ja, und von Klingts ging’s dann durch grüngoldene Wiesen nach Haus.

Anschließend Festabend der Mission. Unser lieber Herr Christoffel kam zu uns. War das ein Tag!

Oh all die guten Wünsche und Gedanken, all die Worte, die gesprochen wurden. … Die Steglitzer der Bekennenden Kirche zogen davon, zurück nach Berlin. Wir sangen ihnen: “Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl“ – Luzies Lieblingslied. Und als Grußwort der Friedenauer (Teilnehmer aus Berlin-Friedenau) von Fräulein Bombe, zufällig(?) Luzies Trautext vorgetragen: “Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen“, Jesaja 54.10. Was war es nur an diesem Abend – alles was da gesprochen wurde, hatte eine Erinnerung für mich, schien mir von ganz persönlicher Bedeutung auch für mich zu sein. Der Saal (im Hof der Priesterstraße 18) war ganz erfüllt von süßem, schweren Fliederduft. Und ganz, ganz still wurde es in unserer großen Abendfamilie, als Christoffel zu uns sprach. Möge sein Wunsch in Erfüllung gehen, dass wir alle immer mehr erkennen, wie lieblich und voller (Um-)Sorgen es ist, einander dienen zu dürfen.

Emma Hönow trug das Gedicht des Anton Bernhart vor: „Wir Blinden“.

Pastor Viktor Hasse sprach das Abendgebet: “Du sollst uns gottbefohlen sein“. Es begleitete uns durch die Nacht nach Hause.


06. Juli: Mein 22. Geburtstag.

Frohe Ferienwanderung der Kinderkirche zur Steinstraße in die Parforce-Heide. Dort führen die Kinder das Singspiel „Die Vogelhochzeit“ auf.


Vom 4. August bis zum 1. September war ich in Badenweiler. Wiedersehen gefeiert mit dem lieben Wald, den Wiesen und den Bergen. Am Sonntag, den 26. August Fahrt auf den Belchen in aller Frühe durch tiefen Nebel hinauf zum Licht. Oben den Blick hinunter in unser geliebtes Heimatland. Ein Tag voller Weite und Schauen. Heimzu über die Kälbelescheuer, durchs Klammbachtal voller Dank und Sang durch Schweighof heim. Und dann mit Anni und Bertel schnell zum Sängerfest.


Ein Weiteres soll auch hervorleuchten und voller Dank in mir bleiben: Die Begegnung mit der Mutte. Sonnabend-nacht oder Sonntag-früh nach 15 Stunden Bahnfahrt müde heimgekommen aus dem Schwarzwald, finde ich von Dörthe und Peter einen Zettel vor: Sonntag, also heute, ist Sophie (die Mutte) in Spandau. Ja, da war es im Johannesstift wunderschön. Über die erste Wiedersehensfreude bis zum inneren Wiederfinden. Und dann durften wir hören von ihrem Leben und Erleben. Wie spürt man doch ihr und ihrem Gatten, dem Goldschmiedemeister in Emden die Gottesnähe an, in der sie leben. Geht doch von ihr noch immer, ja verstärkt, eine Kraft aus, die auch uns weiterbringen möge.


Seit Oktober 1934 bin ich der „Bekennenden Kirche“, hier als Nr. 13 zugehörig. Unser Hort ist das Pfarrhaus, Lutherstraße 1, bei Pfarrer Viktor Hasse. Wir stehen ein wider jegliche Gewalt und Gewissenszwang. Wir wussten schon bald nach dem Regierungswechsel im Vorjahr, wohin die „allgemeine Fahrt“ im Lande gehen wird. Später, am 09. November 38, in der „Reichskristallnacht“, haben es auch die letzten sehen müssen – egal auf welcher Seite sie stehen.


Vom 17. November bis 17. Dezember war Anny dann hier. Es war nett und doch war ich traurig, dass unser Zusammensein seelisch nicht tiefer war. Vergebens habe ich den Grund gesucht. Eine Schwester? eine Freundin? Meine Selbstbefragungen wurden eigentlich nichtig. Eins, was uns allen Freude machte war, dass Luzie ganz unverhofft kam. Dieser, mein geheimer Wunsch ging in Erfüllung. Es war schön aber doch nicht Zeit genug, alles zu bereden.


Unser Krippenspiel der Weihnachtsgeschichte führen wir wieder mit schönem Erfolg im Saal des Hofgebäudes Priesterstraße 18 auf. 30 Kinder und Jugendliche gehören dazu. Hier einige der Teilnehmer: Dieter Hasse, Walter und Hermann Kloppe, Hertha Thomas, Schmidtchen, Rosemarie Deutsch, Friedel Sarnow, Else Scholz, Lütgert, Nickel, Gisela Kerff und Emma Hönow.


Auf dieser Seite des halb gefüllten Tagebuches brechen die Eintragungen von Anne-Marie ab und werden auch nicht wieder aufgenommen. So versucht Chris J. erneut, aus den vorhandenen Unterlagen den Lebensfaden weiter zu verfolgen.


1935 – ein prall gefülltes Jahr

Programm zum Missionsfestabend am 24. Februar 1935 zu Nowawes, Schulstraße 8c:

1. Gemeinsames Lied: „Großer Gott wir loben Dich“

2. Begrüßung

3. Chorlied: „Ich schau’ nach jenen Bergen“

4. Gedicht: ( ), vorgetragen von Friedel Sarnow

5. Vortrag über die Blindenmissionsarbeit in Persien: Frau Lörner

6. Gemeinsames Lied: „Die Sach’ ist Dein, Herr Jesu Christ

7. - Pause -

8. Gemeinsames Lied: „Du meine Seele singe“

9. Gedicht: ( ), vorgetragen von Rosemarie Deutsch

10. Lichtbilder aus Persien

11. Chorlied: „Mein schönste Zier…“

12. Ausklang: Pfarrer Hasse

13. Schlusslied: „Auf, denn die Nacht wird kommen“.


April 1935: Wieder eine Werbe- und Verkaufsmesse für elektrische Haushaltgeräte. Obwohl unsere Herde immer noch alle weiß sind, wurde die Bezeichnung der Messe der neuen Zeit angepasst. So ist es in der Potsdamer Tageszeitung vom 30. März 1935 zu lesen:



Morgen, 31. März, mittags um 14.00 Uhr wird die

1. Braune Messe, Deutsche Woche Nowawes,

vom Gauleiter Wilhelm Kube in der Kammgarnspinnerei eröffnet.

Geöffnet täglich von 10 Uhr vormittags bis 9 Uhr abends. Eintritt 25 Pfennig.



Draußen haben wir -4° bis -1°C und leichte Schneeschauer.


28. Juni 1935: Sportfest auf dem Sportplatz am Ende der Priesterstraße. Beteiligt waren:

- Der Ortsausschuss Nowawes für Jugendpflege (Leiter ist Herr Dr. Vortisch),

- Der Christliche Verein junger Männer und derselbe für junge Mädchen.

- Der Volkstanzkreis und natürlich alle ...

- Sportvereine von Nowawes und Umgebung. Ein sehr heißer Tag und es ging auch hoch her.


Bald darauf hatten wir wieder eine Wochenendfahrt zum „Hölzernen See (Dubrow) in der Schorfheide.


Sommer-Fahrt des Helferkreises der Kinderkirche (innerhalb der Friedrichskirchen-Gemeinde)

nach Rheinsberg (Mark) mit Fuhrunternehmer und gleichfalls Gemeindeglied Rudolf Ranglack auf seinem Mercedes Lastkraftwagen.


Am 07. September 1935 heiraten Rosemarie Deutsch und Hermann Kloppe.


Kleine Notiz zu unserer Firma, also zu der meines Vaters: Alle Lehrlinge die bei uns lernten erhielten nach dem Abschluss woanders immer sofort eine Stellung (weil wir absichtlich mehr ausbildeten, als wir beschäftigen konnten). Jede einstellende Firma wusste: Diese Gesellen waren durch eine strenge Lehre gegangen. Die konnten was. Dazu gehörten unter vielen anderen auch Erich Ladenthin, Ferdinand Monje, Wilhelm Adlung (Helmi), Sohn des Schlossers Wilhelm Adlung und seiner Frau Anna Minna, aus der Großbeerenstraße 65 und später Priesterstraße 27 sowie Griegorieff aus der Russischen Kolonie Alexandrowka Nr.7.

Die Genauigkeit der Arbeitsanforderungen in meines Vaters Betrieb ging aber aus meiner Sicht mitunter in die Pedanterie, wenn wir bei der Inventur z. B. tausende Kabelschellen zählen mussten. War nicht der Zeitaufwand teurer, als die Pfennigartikel, deren Anzahl ohnehin nicht zu ändern gewesen wäre, wenn sie mal nicht ganz gestimmt hätte? Und normale Verluste waren sowieso nicht völlig vermeidbar. Solche Gedanken durfte ich dem Chef allerdings nicht anbieten. Na ja, die Beschäftigten sollten auch den Wert des Materials „in Ehren halten“, nichts aus einer Nachlässigkeit, einer Unachtsamkeit verschludern.


In diesem Jahr scheint eine Art von „Heiratsfieber“ ausgebrochen zu sein. Keine Sorge, ich bin nicht darunter. Vielleicht sind es die letzten unter meinen Verwandten/Bekannten für dieses Jahr: Am 02. November heiratet also auch mein Cousin Felix (der Glückliche) Knoll. Die Auserwählte ist die junge Witwe Anna Heinrich, geborene Wuttke aus Drewitz. Sie hat in ihrer ersten Ehe schon drei Kinder geboren, zwei davon verloren und bringt die kleine Inge nun in den neuen Ehestand mit ein. Dass sie eine schon so erfahrene Frau und Mutter ist, sieht man der kleinen zarten 28jährigen nicht an.


1936

Am 04. März beginnt die erste Fahrt des größten jemals gebauten Luftschiffes. LZ 129, „Hindenburg“, 245 m lang, 41 m Durchmesser, elegant-schlank, silbrig glänzend – eine wahre Pracht. Am Monatsende dann „der Sprung über den großen Teich“ vom deutschen Bodensee zum Januarfluss in Brasilien – also nach Rio de Janeiro.

Ostern heiraten meine Freundin Traudel Fick und Erich Simon in Rheinsberg.

Im Mai bin ich wieder zu Gast im Schwarzen-Walde.






In der Folgezeit fügen beide, also sowohl Anne-Marie als auch Alfred Richard ihre Beiträge in den Text ein. Die Textstellen sind daher mit >AM< und >AR< gekennzeichnet, wenn es als zweckmäßig oder notwendig erscheint.




1936

AM: Seelenfindung in diesem Jahr. Ich bin nicht mehr alleine.

Der Auftakt war, als mich Herr Richard Janecke in das Opernhaus nach Berlin einlud. Es war Mittwoch, der 24. Juni, wir sahen und hörten den „Rosenkavalier“ und saßen dazu im Parkett, in der 11. Reihe. Am nächsten Tage bedankte ich mich höflich mit einer Karte: „Werter Herr Janecke ...“.

Den Sonntag nach meinem Geburtstag hatten wir dann erstmals etwas Zeit zum vorsichtigen gegenseitigen Kennenlernen. Am 19. Juli schrieb mir Richard (als Lesezeichen) den Spruch von Maria Feesche:

Wenn zwei zu Freund sich werden auf dieser Erden

und kennen kein besseres Wandern als heimwärts,

wird einer dem andern auf dieser Erden

zur Himmelsleiter werden.“


AM: Na, mal sehen. Auch ich wählte einige Reime (die meisten schmiegten sich ein wenig harmonischer, als der von Frau Feesche – aber es kommt ja auf den gedanklichen Herzensinhalt an). So gingen immer wieder Kurzbriefchen innerhalb des Ortes hin und her, denn gemeinsame Zeit hatten wir ja nur am Sonntag, weil jeder bis über beide Ohren im Betrieb eingespannt war. Richard war sein eigener Chef, ich fühlte mich dagegen etwas eingesperrt.

Seine Briefe trugen stets wechselnde Aufschriften wie „Für Stern Maria“ oder „Fräulein Sommer, Priesterstraße 68, im Laden“ oder ähnliches. Es war immer ein bisschen als witzig aufmunternd beabsichtigt.

Als der A. Rich. Janecke in meinem Leben auftauchte, gab es beinahe täglich einen kurzen Telefonanruf bei mir. Eigentlich sehr schön – aber ganz schrecklich, wenn ja oft der Chef daneben saß und wartete, dass wir weiterarbeiten konnten. Richard merkte das ja an meinen zu kurzen Antworten, denn irgend viel etwas sagen, konnte ich ja ohnehin nicht und dann war ich voller Hemmung, Nervosität und Aufregung. Und mein Vater, der Chef, blieb natürlich auch stets wie angewurzelt sitzen, denn die Arbeit hat Vorrang vor irgendwelcher Tändelei am Tage. Ich hätte da mehr Feingefühl von beiden der Herren brauchen können. Das hätte mir gewiss gut getan.


AM: Ganz unproblematisch habe ich mich dagegen mit Richards Hündin angefreundet. Dieses hübsche, schmiegsame, zartgliedrige Mischlingstier muss ausgerechnet auf den Namen „Lumpi“ hören. Ein Bild von ihr hängt schon mal bei mir Zuhause. Das ist unverfänglich gegenüber elterlichen Bemerkungen. Dieses Foto hat Ina Schatzmann, Foto-Atelier in Potsdam, Am Alten Markt 3 gefertigt.


AM: Heute schickt mir Richard ein selbst geschriebenes Notenblatt. Ohne Text. Er meint ich könne es mir ja selbst mal vorsingen, dann würde ich schon hören, was er meint. Auf unserem Klavier bekomme ich die Musik ja hin, aber ach, und nun muss ich ihm eingestehen, dass ich ja gar nicht recht singen kann. So wiederholt er es also zwei Tage später, diesmal mit Text. Es ist die Arie des Giovannini von Johann Sebastian Bach: „Willst du dein Herz mir schenken, so fang' es heimlich an. ...“

Und schon bin ich mittendrin in den Heimlichkeiten, die doch überhaupt gar nicht meine Art sind. Also das ist so: Die Besuche bei allen Kunden, das Austragen der Rechnungen, all unsere Freizeit-“Fahrten“, nehme ich ja immer zu Fuß wahr. Mit einem Fahrrad wäre das alles viel schöner, schneller und leichter zu bewerkstelligen. Aber nein, der Chef, der ja allem Neuen gegenüber so sehr aufgeschlossen ist, erlaubt das seiner Tochter nicht – und ich bin ja auch erst 23 Jahre alt. Und bisher ging es ja auch >ohne< so ganz famos – ist seine Denkweise. Und natürlich wollte ich auch mit Richard mal Radtouren unternehmen. Deshalb übt sein jüngerer Freund Christlieb Albrecht mit mir heimlich einige Runden am Sonntag-Abend. Da muss ich wieder an meinen Bruder denken, der gegen den väterlichen Willen Hockey spielte und wie das damals ausging mit dem Unfall und der Bein-Amputation. Zu manch einer nützlichen Sache, zumindest akzeptablen Angelegenheit, führt der Weg manchmal über die Abgründe eines schlechten Gewissens. Ich hoffe, der Herr dort droben, wird es mir nachsehen – ist es doch keine böse Tat. Und Vater und Mutter ehre ich ja sowieso, wenn das mir auch oft nicht leicht wird.

Ich schreibe an Richard auch einige Zeilen zur dritten Wiederkehr des Sterbetages seiner Mutter, Klara, eine geborenen Dittwaldt, deren Leben schon mit 61 Lebensjahren am 3. November 33 endete. Sehr gern hätte ich sie kennengelernt.


AM: Dezember 36: Im Kontor hat Ordnung zu herrschen, sagt der Chef. Hier sei nicht der Ort für weihnachtlichen Krimskrams. Aber eine „Neuerung“ trotze ich ihm doch ganz still ab. Jetzt zum Wintersanfang steht auf dem Schreibtisch entgegen jeden Reglements eine Schale mit zarten Crocussen, die Richard mir schickte und daneben sein Bild, auch mit Lumpi drauf.


1937

AM: Ostern, 27. März. Nun ist es soweit. Wir treten vor die Eltern und begehen unsere Verlobung.

Du schenktest mir Rosen in schlanker Vase aus unserem Garten, der fern im Traumland in Blüte steht“. Am Abend wurde es dann für uns gelöster; wir fuhren wieder ins Opernhaus nach Berlin.


AM: Nun bin ich „Dienerin zweier Herren“. Weil meine Eltern nicht meinem Wunsch zu einer Berufsausbildung entsprachen, führt mich Richard vom 07. April 1937 an, nach längerer gründlicher innerbetrieblicher Unterweisung oder Anlernzeit und den gemeinsamen Übungen bis zur Perfektion, in seinem kleinen Unternehmen als „Licht- und Fotopauserin“. Einige werden das zum Teil kennen: Arbeit im fast dunklen Fotolabor: Ablichten der Originale im großen Fotokasten, Fertigen der Negative im Entwicklerbad, Behandlung im Wasserbad, im Fixierbad, erneutes Wässern, trocknen der Papiere alles ähnlich wie beim Fotographen, nur eben nicht auf kleine Fotos beschränkt, sondern bis Blattgröße DIN A 2 (etwa 60 x 42 cm). Des weiteren die Lichtpausanlage mit dem knapp 2 m hohen Glaszylinder, durch den die mit Hochspannung betriebene Kohlestiftlampe mit ihrem gleißenden Licht geführt wird und die dabei das Papier belichtet. Belichtet – nach genauer aber je nach Qualität des Originals wechselnden Zeitvorgabe. Wegen des Lichtbogens der Lampe riecht es im gesamten Raum stark nach Ozon. Dann anschließend die Entwicklung der belichteten Pausen im Dampf der 25%-igen Ammoniak-Lösung, der einen in Augen und die Lunge „beißt“.

Bei diesem Verfahren gehen die zu bearbeitenden Papierformate Formate bis DIN A 0 (ungefähr 1200 x 840 cm). Dann die Druckverfahren mit den anderen Vervielfältigungsapparaten. Zu künstlerischen Arbeiten dient der Einzeldrucker, bei höchsten Ansprüchen der Glasdrucker, für eine höhere Auflagenzahl der Stapeldrucker, mitunter der Rotations-Rollendrucker. Damit befasse ich mich nun auch. Natürlich gehört da allerlei mehr dazu als ich hier kurz anreiße.

Aber beim Entstehen von Richards Kunstschrift-Werken schaue ich nur von weitem mal scheu-ehrfurchtsvoll zu. In jener Arbeitsphase darf sich niemand mucksen, ihn nie ansprechen.


Ich nun als „Licht- und Fotopauserin“. Da guckte mein Vater, der Chef, nicht schlecht. So arbeite ich auch in beiden Betrieben, was anstrengend ist aber so sind wir zumindest ein paar Stunden Hand in Hand tätig und sehen uns als verlobte Brautleute nicht nur am Sonntag-Nachmittag.


Am 06. Mai ein schreckliches Unglück. Nach einem Jahr seines Bestehen brennt bei einem Gewitter das große Luftschiff „Hindenburg“ in Lakehurst (USA) ab. Die Wasserstoff-Füllung entzündete alles so heftig, dass nach einer halben Minute nichts mehr vom Luftschiff übrig blieb. Wie durch ein Wunder konnten von den 97 Menschen 62 Personen gerettet werden.


AM: Am 15. Mai heiratet der Sohn Ernst meines Patenonkels (des Potsdamer Architekten Paul Muster) die Ina Schatzmann aus dem Fotoatelier Schatzmann, Alter Markt 3. Sie ist 2½ Jahre älter als ich. Gleich nach der Hochzeit ziehen sie nach Kohlhasenbrück, in den Königsweg 310, in das frühere große Gasthaus, umgebaut als Wohngebäude, in dem nun 17 Familien Platz finden.


Sonntag, 30. Mai 1937. Aus Rheinsberg (Mark) der Stadt des „jungen Fritz“, gehen unsere schriftlichen Grüße an die Sommer-Eltern nach Nowawes: „ Aus dem Rheinsberger Nest Euch recht herzliche Grüße. Wir sind hier gut gelandet und werden von allen Seiten verwöhnt. Gruß Anni und A. Rich. Janecke. (Sein Familienname will genannt sein, denn die künftigen Schwiegereltern und der „Verlobte“ oder auch „Stief-Sohn“ sind ja per „Sie“ miteinander).

Wir sind hier zum Geburtstag meiner Freundin Gretel Barsch – und zwar bis Gransee mit der Bahn gefahren … und dann mit unseren Fahrrädern nach Rheinsberg gerollt.


AM: 07. Juli: Mir ist's Zuhaus', als hätt' ich Urlaub. Ich kann tun und lassen was ich's möchte, mir die Zeit frei einteilen. Das ist schön. Der Chef ist in Triberg, Meersburg, Rothenburg, Würzburg, und sendet von dort Kartengrüße. Das ist fein. Ob er daran gedacht hatte, dass seine Tochter gestern 24 Jahre alt wurde? Ach was, dann hätte er es erwähnt.


AM: Oktober: Gleich nach Richards Geburtstag machen wir uns ans Werk. Für alle Verwandten und Bekannten wollen wir zur bleibenden Erinnerung zum Weihnachtsfest einen immerwährenden Geburtstagskalender fertigen. Das Deckblatt zeigt das Bild eines Gartens* und dazu ein passendes Gedicht. Die Monatsblätter werden mit einer zur jeweiligen Jahreszeit passenden Blume und einem Spruch geschmückt und die Flächen der Blumen mit Guache-Farben ausgemalt. Schon geht das Entwerfen los – bis alles für „alle“ fertig ist – ein enormer Aufwand. Aber nachdem wir dann fertig waren (durchaus in doppeltem Sinne), waren auch die Mühen bald vergessen. Es ist uns, besonders natürlich Richard, gut gelungen. (* unser Wunschtraum: Ein eigener Garten).



Das Gärtchen


Jeder muss ein Gärtchen haben

und wär's auch noch so klein,

wo er hacken kann und graben,

selber Herr und Schöpfer sein.


Eine stille Blumenecke,

die er treu bestellt und

beschützt durch eine Hecke

vor der Außenwelt.


Wo im Schatten eines Baumes,

den er selbst gepflanzt,

ewig seines Jugendtraumes

Reigen ihn umtanzt.


Wo der grelle Tag ins Läubchen

nur verstohlen schaut

und aus goldnen Sonnenstäubchen

goldne Brücken baut.


Dankbeschwingtes Festgeläute

klingt es durch sein Gemüt,

wenn von Samen, die er streute,

manches grünt und vieles blüht.





1938

Ab 1. April heißt unsere Stadt nicht mehr Nowawes, sondern Babelsberg, erhielt die neue Bezeichnung vom benachbarten gleichnamigen Schlosspark. Seit der Ortsgründung vor rund 188 Jahren war dieser Name für den Ort der Weber und Spinner gut. Die jetztige Regierung aber wollte „Nowawes“ nicht mehr aushalten, weil es böhmisch, gar slawisch und damit sogar ost-ausländisch ist und un-arisch auftritt. Nowawes bedeutet im Deutschen schlicht „Neuendorf“, so wie ja auch der bedeutend ältere Schwester-Ort heißt. Nun soll Babelsberg aber nicht an den biblischen Turmbau erinnern.


AM: Erwähnte ich im Vorjahr die Hochzeit von Ernst Muster und Ina Schatzmann, so berichte ich nun, dass am 27. August die Tochter des Hauses Muster, Annemarie, genannt Mausel, den Herrn Martin heiratet oder umgekehrt. In der Vergangenheit hatten wir uns öfter freundschaftlich besucht, nun aber zieht sie leider (natürlicher Weise) zu ihm nach Niederlichtenau bei Frankenberg, im Großraum Chemnitz liegend.

Musters besitzen ein Auto. Einen Hanomag. Solch ein feines kleines (zweisitziges) „Kommissbrot“.


AM: Jetzt im Herbst 38, nachdem wir eineinhalb Jahre verlobt sind, „ergibt es sich mal“, dass meine Eltern einen ersten Besuch in der Wichgrafstraße 22 bei Vater August Janecke, seiner Tochter Käthe, meinem Richard und Hündin Lumpi machen „können“. „War das aber eine schwere Geburt“ – und doch so einfach – diese freundlich-unverbindliche Kaffeestunde anlässlich der Verbundenheit der „Kinder“.


1939

Der Ehemann Hermann meiner Tante Hedwig Knoll / Vater meiner Cousins Walter und Felix, starb im Alter von 83 Jahren am 27. März 1939 und wurde am 31. März auf dem Friedhof in der Goethestraße bestattet.


31. März 1939: Unsere vormalige Stadt Nowawes heißt, wie ihr wisst, seit einem Jahr Babelsberg. Morgen aber wird sie nach Potsdam eingemeindet – „wir“ werden dann „Potsdam-Babelsberg“ heißen und viel der Selbständigkeit einer blühenden Handwerks- und Industrie-Stadt aufgeben, nur noch ein Anhängsel der größeren Stadt Potsdam, der Stadt der Verwaltung und der Soldaten sein.


Im April gibt der Glockenist des Glockenspielwerks der Potsdamer Garnisonkirche,

Herr Prof. Otto Becker, sein letztes Orgelkonzert. Eine Ära geht zu Ende.


AM: 20. Mai 1939: In unserem Hause (Priesterstraße 68 in Nowawes) verlobt sich meine Nachbarskinder-Spielgefährtin Lisa Brückner mit Kurt Jakob.


AM: Ich schreibe: Vorerst ein so sehr schöner Sommer in meinem 25. Lebensjahr –

doch schnell ziehen dunkle Wolken „am politischen Himmel“ auf ...

Mein Verlobter Richard und ich, wir haben gemeinsam Urlaub – Ferientage während der Brautzeit. Wir dürfen diese an der Ostsee genießen. Ich werde hier in meinem Bericht nicht jedes kleine Erlebnis wiederholen. Es handelt sich nur um kurze Notizen, um einen in Worte gekleideten „Übertrag“ der Ausgaben aus dem Wirtschaftsbüchlein unserer Reise.

Freitag, 21. Juli 1939

Der Dampfer schwimmt mit uns von Berlin nach Stettin. Die Fahrt geht über Spandau, Oranienburg, weiter auf dem Oder-Havel-Kanal, durch das mächtige Schiffshebewerk Niederfinow hindurch und hinter Oderberg dann nach Norden über Schwedt – zur See.


Richard merkt hier noch dringend an – weil es doch etwas technisch so Großartiges ist:


Bei dem Schiffshebewerk handelt es sich um das erste Großhebewerk in Deutschland.

In ganz Europa ist es die größte solcher Anlagen. Sieben Jahre betrug die Bauzeit. Fünfeinhalb Jahre ist die Anlage derzeitig jung, da auch wir diese passieren (Inbetriebnahme: März 1934). In dieser Zeitspanne wurden bereits mehr als 100.000 Schiffe gehoben oder abgesenkt. Die größten Schiffe dürfen durchaus etwas mehr als 1.000 t Tragfähigkeit besitzen. Das Hebewerk ist insgesamt 60 m hoch und dessen Gerüst besteht aus 14.000 t Stahl. Die Bauteile wurden mit etwa 5 Millionen Nieten zusammengefügt.

Die Länge des Hebewerks beträgt 94 m und dessen Breite 27 m. Der darinnen aufgehängte Trog ist 82 m lang, 12 m breit und hat eine Tiefe von 2,50 m. Dieser Trog hängt über der aus Beton und Stahl gefertigten 4 m dicken Grundplatte. Gehalten wird der wassergefüllte Trog mit seiner Gesamtmasse von 4.300 t von 256 Stahlseilen. Jedes dieser Seile ist mehr als 50 mm dick. Die Dauer des Hebens oder Absenken beträgt für die 36 m Höhenunterschied zwischen den beiden Wasserwegen 5 min aber der gesamte Vorgang des Schleusens benötigt 20 min.


Ja, vor sechs Jahren hätte man diese Wasserreise, so wie wir sie jetzt erleben, noch gar nicht unternehmen können. Für die beiden Fahrkarten und den Transport unserer Fahrräder von Berlin nach Stettin bezahlen wir insgesamt 12,- RM (Reichsmark).

Von Stettin rollen wir die knapp 10 km bis zum Südzipfel des Dammschen Sees und steigen in Alt Damm von den Rädern. Das ist unser erstes Aufenthaltsziel für die nächsten Tage und von hier aus werden wir also unsere Ausflüge unternehmen. Schon lockt uns nach der Reise das Abendessen. Ein Quartier haben wir bei Frau Korona Johl bekommen.


Donnerstag, 27. Juli 1939

Bis heute waren wir in Alt Damm. Nun fahren wir mit der Bahn in Richtung Norden über Gollnow bis nach Wollin. Dann mit den Rädern die restlichen 13 km nach Kolzow. Hier in Kolzow angekommen, sind wir schon fast am Meer – etwas landeinwärts gelegen, etwa so, wie damals, als ich (Anne-Marie) in Trassenheide weilte. Wir finden eine geeignete Herberge im Gasthaus mit der angegliederten Bäckerei von Frau Emma Behl. Hier bleiben wir den zweiten Teil des Urlaubs.

Nachdem wir uns eine Weile auf der Wiese ausgeruht hatten, unternahmen wir einen Spaziergang, ließen die Fahrräder derweil an der Wiese liegen. Als wir zurückkamen hatten neugierige Kühe unsere gewiss nicht schmackhaften Gummispritzlappen von den Vorderradschutzblechen abgenagt. So eine pommersche Begrüßung!


Sonnabend, 29. Juli 1939

Hier ein Beispiel für unsere Ausgaben an einem dieser Urlaubstage:


2 x Morgenkaffee (0,50), Milch (0,25), 4 Brötchen (0,30)

1,05 RM

Ansichtskarten und Portomarken

0,59

2 Mittagsgedecke je 1,25

2,50

2 x 2 Stück Kuchen am Nachmittag

0,40

Abendessen: Hackepeter und Leberwurst (0,45), Brot (0,10), 3 Bier (a 0,25)

1,30

2 x Nachtquartier (a 1,50)

3,00

Summe der Ausgaben an diesem Tage

8,84 RM


Donnerstag, 03. August 1939

Wie im Fluge vergingen diese Tage – und schon müssen wir wieder Abschied nehmen.

Wir fahren von Kolzow gemütlich die etwa 30 km bis nach Swinemünde, „dem Tor“ zwischen der Ostsee und dem Stettiner Haff. Am „Fischbollwerk“ kaufen wir frischen Fisch bei Frau Köhler. Dann geht es mit der Fähre nach Stettin, wo wir im Hotel „Timm“, Am Bollwerk 9, nächtigen.


Freitag den 04. August 1939

Von Stettin bringt uns der Dampfer „Fritz II“ flussaufwärts zurück ins Brandenburger Land bis nach Zerpenschleuse. Als Reisegetränk hatten wir unsere Aluminium-Feldflaschen mit Buttermilch gefüllt. Unterwegs, dicht über dem vielen Wasser sitzend, ist der Durst nicht sehr groß. Als wir deshalb erst später die Flaschen öffnen, ist die Buttermilch in den Flaschen durch die viele Schaukelei in: unten Wasser und obenauf Butterklümpchen fein säuberlich voneinander geschieden.

Weil es inzwischen schon recht spät ist, um noch nach Nowawes zu kommen, bleiben wir über Nacht in Spandau, im Hotel „Zum Stern“. Wir schlafen im Zimmer 6. Einen Tag Urlaub haben wir ja ohnehin noch und in den Ferien wollen wir es uns auch einfach mal leisten, ohne zum Ende in Eile zu geraten.


05. August 1939

Den Sonnabend verbringen wir noch in Spandau und lernen kurz einen Teil der nahen Umgebung kennen. Am Nachmittag setzen wir uns auf die Räder und rollen über Groß Glienicke, Neufahrland und Potsdam nach Hause, so dass wir pünktlich um 6.00 Uhr am Abend, so wie geplant, wieder Daheim in Nowawes, ach nein, in Potsdam-Babelsberg ankommen.

Für unseren Urlaub vom 21. Juli bis zum 05. August 1939 haben wir für zwei Personen für Fahrgeld (Nowawes – Ostsee und zurück), alle Übernachtungen, Lebensmittel (in Gasthöfen und Läden) sowie für kleine Nebenausgaben 149,36 RM oder 74,68 RM pro Nase benötigt.


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Nachworte

Drei Wochen nach unserem Aufenthalt an der See wird schon wieder ein Krieg begonnen. Später wird man ihn den Zweiten Weltkrieg nennen, der wiederum von Deutschland ausging. Unermessliches Leid bringt er über die Völker. Wir hoffen, dass er schnell vorübergeht (aber die Zukunft weiß, dass er wird fünf Jahre dauern wird). Unsere Urlaubstour werden wir nie wiederholen können. Unser Ferienort Alt Damm wird völlig verwüstet sein. Stettin ist zerstört und in vielen Orten sieht es nicht besser aus.


Das gesamte Gebiet in dem wir uns aufhielten, wird ab Sommer 1945 zum polnischen Staatsgebiet gehören, nicht mehr ein Teil „unserer Heimat“ sein und wird uns verschlossen bleiben. Die deutschen Einwohner werden vertrieben, „umgesiedelt“, sofern sie nicht vorher flüchteten. Die Neubesiedlung der Orte und Wohnstätten wird zum großen Teil durch polnische Flüchtlinge erfolgen, die wiederum von der Sowjetunion aus ihren östlichen Gebieten verdrängt wurden.


AM: November 1939. Meine Freundin Anny heiratet ihren Ernst. Er ist ein Unteroffizier. Sie ziehen nach Freiburg im Breisgau, Marienstraße 8. Der Krieg wirft auch über diese Hochzeit und Ehe seine Schatten. Noch wissen wir es nicht: Es wird eine kurze Ehe sein. Der Ernst wird die Zeit des Krieges nicht überleben.


1940

Elfriede Michel und Christlieb Albrecht (in dieser Zeit ist er Soldat auf Kurzurlaub) heiraten am 09. April im Französischen Dom in Berlin, Am Gendarmenmarkt, dort, wo Christlieb als Organist und Kantor tätig ist.


In der Kriegs- und auch der folgenden Nachkriegszeit ist es in Wohnräumen nur gestattet, Glühlampen mit einer Stärke bis zu 15 Watt zu verwenden. Das war günstig für den Energieverbrauch und zum Verdunkeln gegenüber Aufklärungsflugzeugen, beziehungsweise gegen die möglicherweise nachfolgenden Bomber eine überlebenswichtige Notwendigkeit. Natürlich kann man bei diesen orientierenden Lichtpünktchen nicht arbeiten. Für das Nutzen der Kohlenstab-Lichtbogenlampe unserer Lichtpausanlage mit ihrem gleißend hellen Licht benötigten wir daher eine Sondergenehmigung und Rolljalousien für Fenster und Tür sowie eine weitere extra dichte Verdunkelung aus Vorhangstoff.


Fliegeralarme und Kelleraufenthalte werden häufiger aber Potsdam-Babelsberg ist noch verschont. Die angekündigten Bomber ziehen weiter nach Berlin.


AR: Von 1917 bis 1930 war ich ehrenamtlicher Helfer in der Kinderkirche unserer Gemeinde. Diese Feierabend- und Sonntags-Tätigkeit, musste ich wegen des Geschäfts, wegen der Anstrengungen bis zum Umfallen, aufgeben. Jetzt, da die männlichen Helfer fast alle im Krieg sind, springe ich wieder ein, obwohl das kaum zu bewältigen ist. Dazu gehört es auch, den offiziellen Teil des Schriftverkehrs zwischen der Kirchen-Gemeinde und den Frontsoldaten aufrecht zu erhalten.

Als Zeichen der Anerkennung schenkt mir unser lieber, geehrter Pfarrer Viktor Hasse zu Weihnachten ein neues Kindergesangbuch, eine rührende Geste.


1941

AM: So, wie ungezählte andere Soldaten, fiel auch Ernst Muster im Vorjahr an der Westfront. Seine Mutter Melanie ertrug das nicht und nahm sich jetzt im März selbst das Leben. Und ihre Schwiegertochter, die Ina (geb. Schatzmann) ist in Kohlhasenbrück nach drei Jahren Ehe allein.





1941 – „Wir haben unseren gemeinsamen Lebensweg beschritten“.

Unsere bürgerliche Eheschließung findet am 05. April, im Rathaus Potsdam-Babelsberg, beim Standesbeamten, Herrn Richter, statt. Als Zeugen der Eheschließung sind dabei: Pfarrer Viktor Hasse und Anne-Maries Patenonkel Ferdinand Pehlke.

Die kirchliche Trauung vollzieht Herr Pfarrer Hasse einen Tag später, am Sonntag Palmarum während der Kinderkirchenzeit in der Friedrichkirche, in der wir ja beide Helfer sind.

Unser Trauspruch lautet:

Zur Freiheit seid ihr berufen aber durch die Liebe diene einer dem Anderen.

Galater 5, 13.


AM: Für die an unserer Trauung teilnehmende Kirchengemeinde hat Richard, wie sollte es anders sein, ein eigens dafür gedachtes Liederblatt gestaltet (und die Hochzeitszeitung für „den privaten Teil“ ja sowieso). Unsere blumenstreuende Brautjungfer ist Hanna K. Ich ging im langen weißen Kleid und weißem Kopfschleier, der aber das Gesicht freihielt. Richard im neuen schwarzen Anzug (und „wie es sich gehört“ mit Zylinder als Kopfbedeckung für die wenigen Schritte vom Auto bis zur Kirchentür. Später sehe ich auf den Bildern, dass ich im Gegensatz zu den Bildern meinen Freundinnen, zur Trauung sogar lächeln konnte.

Außer der eigenen Familie waren bei der Hochzeitsfeier anwesend: Betty und Ferdinand Pehlke, Priesterstraße 57a, Tante Lieschen = Luise Hasait, aus der Potsdamer Charlottenstraße 106, Architekt Paul Muster, Potsdam, Sigismundstraße 13, Elisabeth und Viktor Hasse, aus der Lutherstraße 1, Hans Hasse, Hedwig (Hedi) und Annegret Giese aus Wittenberge, Emma Hönow vom Friedrichkirchplatz 2, Anton Bernhart.

In der Kriegszeit hätten wir allein diese oben vorgestellte kleine Gesellschaft nicht beköstigen können. So lösten einige ihre Lebensmittelmarken ein oder brachten selbstgezüchtete Naturalien mit – als Hochzeitsgruß.

Einige der weiteren Eingeladenen waren wegen des Krieges verhindert oder konnten überhaupt nicht mehr kommen.

Zu denen, die uns ihre Grüße postalisch sandten, gehörten: Architekt Blohm, Potsdam, Kaiser-Wilhelm-Straße, Ernst Meyer, Bankangestellter, Pdm.-Babelsberg, Lessingstraße 3, Familie Seehafer, Berlin-Niederschönhausen, Lindenstraße 29e, Familie Eschert, Berlin-Moabit Spenerstraße 32, Anna Runge, Berlin Birkenstr Ecke Wilsnacker Straße, Peter Kühnbaum, Pankow Paracelsusstraße 23, Familie Knoll und Marie Steiner, Pdm.-Bbg., Wichgrafstraße 19/19a, Frau Sophie Richter, Emden, Zwischen den beiden Sielen 7, Frau Simon, Berlin, Naugarder Straße 10, Familie Fick, Reinsberg, Paulhorster Straße 19, Margarethe Barsch, Rheinsberg, Rhinhöhe 46, Familie Kummerow, Potsdam, Heilige-Geist-Straße 3, Familien Vicum und Barth, Pdm.-Babelsberg, Bülowstraße 2, Familie Uhlmann aus Königsberg (Pr.), von ebendaher Max Dittwaldt, Bachstraße 25, Lotte Sparre, Potsdam, Lennéstraße 21, Familie Eales, Edith Nitsche, Berlin und die Familien Weiland und Borries, ebenfalls aus Berlin.


Nach der Eheschließung bezogen wir die vorbereitete Wohnung mit Geschäft in der Lindenstraße 39, gegenüber dem Bahnhof Babelsberg (das wird nach dem Kriegsende die Rudolf-Breitscheid-Str. 46 sein). Das Geschäft von Richard bestand ja bereits seit dem 1. Mai 1926 in der Wichgrafstraße 22, schräg gegenüber dem Friedhof gelegen und ist auch hierher umgezogen.


AM: Heute am 14. November 1941 starb der Vater meiner (damals kleinen) Spielgefährten Heinz und Lisa Brückner, der Schiffsmaschinist Franz Brückner in der Priesterstraße 68, im Alter von nur 51 Jahren. Er war 1890 geboren worden.


Zur Adventszeit und zum Weihnachtsfest schmücken wir nun zum ersten Mal unsere gemeinsame Wohnung. Zu den Neuerwerbungen gehören: ein beleuchtbarer rot-gelb „geflammter“ Adventsstern der Fa. Karl Friedrich aus Annaberg-Buchholz und aufstellbare hinterleuchtbare, farbige „Transparente“ mit Krippen- und Engeldarstellung. Dazu der Adventskranz, an Bändern auf einem Tisch-Ständer hängend.





Liebe Leserinnen und Leser,


der Bericht über das Leben dieser Menschen ist zurzeit eine Baustelle.

Dieser Weg endet momentan hier mit dem Jahr 1941.

Es ist jedoch beabsichtigt, diesen Lebenslauf weiter nachzuvollziehen und aufzuschreiben.

Späteres Weiterlesen wird möglich sein, weil eine Fortsetzung folgt.


Freundliche Grüße,

Chris J.









Das Jahr 1940

In der Kriegs- und auch der folgenden Nachkriegszeit war es in Wohnräumen nur gestattet, Glühlampen mit einer Stärke bis zu 15 Watt zu verwenden. Das war günstig für den Energieverbrauch und zum Verdunkeln gegenüber Aufklärungsflugzeugen bzw. den möglicherweise nachfolgende Bombern. Natürlich kann man bei diesen orientierenden Lichtpünktchen nicht arbeiten. Für das gleißend helle Licht der Kohlenstablampe unserer Lichtpausanlage benötigten wir daher eine Sondergenehmigung und extra dichte Verdunkelungseinrichtungen.

Am 09. April 1940 heiratet mein Freund Christlieb Albrecht, Organist im Französischen Dom zu Berlin (Gendarmenmarkt) aber in dieser Zeit Soldat, dort in „seinem“ Dom die Elfriede Michel.



Von 1917 bis 1930 war ich ehrenamtlicher Helfer in der Kinderkirche unserer Gemeinde. Diese Feierabend- und Sonntag-Tätigkeit, musste ich wegen des Geschäfts, wegen der Anstrengungen bis zum Umfallen, aufgeben. Jetzt, da die männlichen Helfer fast alle im Krieg sind, springe ich wieder ein, obwohl das kaum zu bewältigen ist. Dazu gehört es auch, den Schriftverkehr zwischen der Gemeinde und den Frontsoldaten aufrecht zu erhalten.

Als Zeichen der Anerkennung schenkt mir unser lieber geehrter Pfarrer Viktor Hasse zu Weihnachten ein neues Kindergesangbuch.


Mein Fahrrad

Es ist ein Fahrzeug der ADLER-Werke in Frankfurt am Main, die dort auch Personenkraftwagen herstellen. Ganz selbstverständlich sind (in dieser Zeit) alle Pkw und auch die Fahrräder über der Verkupferung zum Korrosionsschutz, in schwarzer Farbgebung gehalten. Das Rad ist jetzt zehn Jahre alt, also noch fast neu. Es ist ein grundsolides Fahrzeug. Die Räder haben einen Durchmesser von 26 Zoll, mit einer Bereifung 1,75 x 2. Bei der Bereifung handelt es sich um Wulst-Reifen (ohne Drahteinlagen), die hinter die Felgenhörner eingreifen. Das Hinterrad kann man an den Ausfallenden mit den beiden Spannvorrichtungen justieren. Der Lenker ist der übliche "Gesundheitslenker", vernickelt. Die Handgriffe bestehen aus hohlgebohrtem Holz mit Ringen zur Randeinfassung an den Öffnungen. Unter der rechten Lenkerseite der Handgriff für die Vorderradbremse. Die Bremsen sind als Trommelbremsen in den Naben der Laufrädern integriert.

Am Lenkungslager (am oberen Ende des Gabelschafts) ist der Lampenhalter befestigt. Dieser Scheinwerfer ist hochmodern Er wird nicht, wie vordem üblich, mit Karbid, sondern mit elektrischem Strom betrieben. So können die Glühlampen des Scheinwerfers (für Fern- und Abblendlicht) und auch die Rückleuchte aus einer gemeinsamen Stromquelle gespeist werden. Diese besteht aus einer 3-kammerigen Flachbatterie, 4,5 V, etwa 6 x 5 x 1,5 cm groß, die im Scheinwerfer untergebracht ist. Das Pflegen und Auswechseln geht unproblematisch ohne Werkzeug, weil die beiden Gehäuseteile der Lampe mit Scharnier und "Schnapp-Verschluss" verbunden sind.

Der Clou ist aber eine Dreigang-Schaltung, deren Zahnräder im Ölbad laufen, vor Staub geschützt im (vergrößerten) Tretlager untergebracht. Betätigt wird die Schaltung mittels einer Zahnstange, deren Handhebel am Rahmenrohr befestigt ist und zum exakten Schalten von einer "Kulisse" geführt wird. Für höchste Bequemlichkeit sorgt ein weicher, breiter, gut mit Druck und Zugfedern ausgestatteter Sattel. Ein stabiler Gepäckträger komplettiert das Fahrzeug. So sieht mein treuer Begleiter aus.





1943

Am 16. Juni 43 starb unsere liebe kleine Hündin „Lumpi“ nach einem langen freundlich gelebten Hundeleben an Altersschwäche, bei Opa und Käte in der Wichgrafstraße 22. Sie schläft nun bei ihrem früheren Frauchen Klara Janecke, geborene Dittwaldt, schräg gegenüber in der Wichgrafstraße.



Das Jahr 1945

Januar

In dieser Winterzeit soll ich zum Volkssturm. Alle „waffenfähigen Volksgenossen“ an die Heimatfront, also alle Kinder, Invaliden, uns Ausgemusterten, so auch ich. Weil ich ja nun gehbehindert bin und auch den Laden offen halten muss, will man mir zumindest Handgranaten deponieren, die ich von der Ladentür aus auf dem Wege zum Endsieg, eventuellen doch vordringenden Vertretern der Siegermächte entgegenwerfen soll. Weil ich das ablehne, auf diesem Wege den Sieg über die halbe Welt zu erringen, wird uns vorerst mit dem Entzug der Lebensmittelmarken gedroht. Das ist zwar ein entsetzlicher Gedanke – aber hätte es nicht noch schlimmer kommen können? Etwa genauso, wie die Wirkung eines Granatenwurfs. Vieles um uns herum spielt sich nicht „auf dem Feld der Ehre“ ab.

Und was sollte das bewirken? Der Volkssturm ist doch nun mal ein stinkend laues Lüftchen.


Mai

Nun ist dieser entsetzliche Krieg endlich vorbei. „Chitler kaput“, sagen die Soldaten.

Es gibt soviel vom alten, was erst jetzt langsam zu uns durchsickert – und auch das wird nur ein Bruchteil sein. Neues bringt nicht nur Erleichterung, sondern auch neue Sorgen: Kein Arbeitsmaterial, eingeschränkte Arbeitsgenehmigung für mich, denn die neue sowjetrussische und deutsche Verwaltung hat große Angst vor Druckerzeugnissen (Flugblätter), so es sich nicht um eigene Anweisungen handelt. Demzufolge kaum Geld. Fast nicht zu essen, so dass ich bei der Arbeit öfter umfalle.(schlecht vor Hunger, Kreislaufstörungen).


Heute wieder Besuch von roten Soldaten. Sie wollten mein Fahrrad mitnehmen, ohne das ich aber aufgeschmissen bin. Ein Soldat hatte sich schon auf das Stahlross geschwungen, stieß sich aber ganz erbärmlich an der Sattelnase in „den Schritt“. (Es ist doch ein Adler-Rad aus Frankfurt a. M. mit Drei-Gang-Schaltung im Tretlager und es war gerade der Leerlauf eingelegt, so dass die Pedalarme sich bei stehendem Fahrrad leicht drehten, ohne das Kettenblatt mit Kette und Hinterrad zu bewegen, er also kräftig ins Leere trat. Daher der plötzliche Schmerz). So dachte er wohl: „Veloziped kaput“ und ließ es „fahren“, d. h. Anne-Marie konnte es ihm entreißen. Das hätte sehr böse ausgehen können. Vielleicht eben ersatzweise „Frau, komm mit“.


Juni

Angesichts des Geschäftsniederganges habe ich die Möglichkeit, in der Babelsberger Stadtverwaltung (wie schon 1926) mit meinen Leistungen aushilfsweise tätig zu sein. Ein Erfolg: Für dieses Tun erhalte ich einen Dienstausweis (Nr. 1216) mit dem wichtigen Vermerk, dass mein Fahrrad – zur Ausübung dieses Dienstes benötigt – nicht der sowjetischen Beschlagnahme unterliegt.

Mein Schwiegervater, der Schlosser und Elektrotechniker Max Sommer aus der Priesterstraße, macht sich nun mit seinen 70 Lebensjahren, Aktentasche und darin ziemlich leerer Stullenbüchse wieder auf den Weg, um in Haushalten irgendwelche dringenden Elektroschäden zu beseitigen. Er darf in Ausübung seines Berufes sogar einen Handwagen benutzen.


Juli

Die Sowjets beginnen damit, die Fabriken räumen zu lassen. Kriegsreparationen. Alles Richtung Moskau. Ob jene Leute unsere Technik dort jemals wieder aufbauen können? Herausgerissen wird auch das S-Bahn-Gleis vor unserem Wohnhaus am Bahnhof Babelsberg – zumindest wohl bis kurz vor Wannsee, wo die westlichen Alliierten die Stadt besetzt halten. Dazu werden männliche, wie weibliche Bewohner herangezogen. Anfangs wohl ehemalige Parteigenossen, die aber sicher nicht ausreichten. Das Herz möchte einem zerbrechen, selbst das Geschaffene zerstören zu müssen.

Nachdem ja Kraftfahrzeuge und Telefone sowieso, nun selbst die Fahrräder registriert sind, werden jetzt auch die Radioapparate in der Stadt erfasst. „Erfasst“ im richtigen Sinne des Wortes, denn unser Familienradio, das bei meinem Vater August in der Wichgrafstraße steht, der es preußisch genau nach Vorschrift der Obrigkeit meldete, wurde daraufhin eingezogen. (Aber eine Anzahl alter Bücher der Klassiker hat er noch, die sich nicht parteipolitisch geändert haben – egal in welcher Richtung.

Statt der S-Bahn nach Berlin, gibt es jetzt eine Notverbindung mit der Dampfbahn von Wannsee über Babelsberg nach Werder. Es sind drei Zugpaare am Tag, bunt zusammengesetzt aus Güterwagen und Personenwagen ohne Glasfenster. Das ist schon sehr schön und spart Schuhsohlen für das Laufen zwischen Potsdam und Wannsee. Das war sowieso aufwendig und gefährlich, denn das Gebiet um die Ufa-Stadt ist weiträumig abgesperrt und auf dem Umwege durch Kohlhasenbrück und den Wald, konnte „der Wanderer“ leicht seine Habseligkeiten loswerden.

Von der Potsdamer Seite der zerstörten, einstmals so bildschönen Glienicker Brücke wurde ein Dampfschiffsverkehr nach Wannsee aufgenommen. Die Zugangsstrecke von Babelsberg dorthin durch den Park / die Allee nach Glienicke ist allerdings von der SMAD völlig gesperrt, man kann nur über den großen Umweg durch Potsdam dorthin gelangen. Ja wir sind um weit über 100 Jahre zurückgeworfen. Doch es soll kein Klagen sein. Wie mag es in den Ländern aussehen, in welche die Deutschen den Krieg brachten?


August

Nach der Potsdamer Konferenz gab es weitere Wohnungsräumungen und die alte Unruhe flammt in großem Umfange erneut auf.

Inzwischen hat unser Bahnhof Babelsberg auch keinen Bahnsteig mehr.

Der Befehl Nr. 19 der Sowj. Militärverwaltung schreibt nun auch für mich und meine Druckgeräte die Registrierungspflicht binnen einer Woche(!) vor. Versäumt jemand diesen Termin, z.B. aus Unkenntnis, werden diese „zur strengsten Verantwortung“ gezogen, was immer das auch heißen mag. Sibirien? Genehmigt werden solcherlei Aufträge aber ohnehin nicht. Deshalb fertige ich für die Kunden auch Traueranzeigen, geschäftliche Hinweise für Öffnungszeiten, Sprüche, Schilder, Plakate usw. einfach von Hand, in Kunst- oder Plakatschrift ausgefertigt. Trotzdem müssen wir uns immer wieder auf der Kommandantur zur Befragung melden. Als Maschinenbesitzer und weil man nicht glaubt, dass man so ordentlich (wie gedruckt) schreiben kann.

So kommen von 100 Anfragen denen ich gern bejahend zustimme vielleicht gerade 2, 3 Aufträge zustande und das tägliche Brot ist sehr knapp. Die Miete kann ich schon nicht mehr voll zahlen. Nicht mal aus der knappen Rücklage, denn alle Bank-, Spar und Postscheckkonten wurden ja gesperrt.

Der Stadtautobus fährt wieder von Babelsberg nach Potsdam und zurück. Das aber ist auch eine Tortur, da wegen der Überfüllung wieder jene, mit den stärksten Ellenbogen das Sagen haben. Und ständig fällt der Bus aus, wegen Reparaturanfälligkeit und mangelnder Reparaturmöglichkeit. Oder der volle Bus muss geräumt werden, weil sowj. Offiziere, für die die konfiszierten Autos nicht reichten, irgendwohin fahren wollen.


September

In diesem Jahr wird es früh herbstlich. Für meine Schreibarbeiten unschön. Kälte äußerlich und innerlich. Zu klamme Finger, die, bei leerem Magen und müdem Geist, Pinsel und Feder nicht exakt beherrschen können. Ich denke häufig an die Zeit des herrlichen Frühjahrswetters zum Kriegsende, in der Anne-Marie uns Wildgemüse bereiten konnte. Weil Zukost fehlte, bereitete uns aber auch diese Speise Durchfälle.

Viele Leute sind an der Ruhr erkrankt mit Austrocknung und Kräfteverfall.


Oktober

Die Gemeinde der Friedrichskirche (und hier der Helferkreis der Kinderkirche) gedenkt meines Geburtstages und bringt mir, da ich krank bin, Obst-Grüße vom Ernte-Dankfest-Altar. Ganz rührend! Ja, auch in den Helferkreis hat der Krieg unersetzliche Lücken gerissen. Es fehlen einig der lieben, treuen Gesichter.


November

Erschreckend haben im Herbst die Fälle der Selbsttötungen zugenommen. Viele rührige Leute, die einen ehrlichen Neuanfang nicht nur beginnen, sondern für die Stadt gestalten wollten, sind verschwunden. Nach Sibirien, vermutet man. Grundlos wahrscheinlich oder nach irgendwelchen Denunziationen. Ins Arbeitslager, ins Zuchthaus oder sogar in den Tod gebracht.


Dezember

Mein Hauswirt, Herr W., hat mich verklagt, da ich die Miete von 60 Mark nicht pünktlich voll zahlen konnte. Der Vorkriegsvertrag gilt eben, egal, was passiert, egal, ob man Geld bekommt und zahlen kann oder nicht. Zwischendurch wurde mein Geschäft von der Verwaltung für 6 Wochen ohne Begründung geschlossen. Keine Arbeit, kein Material, keine Einnahmen, keine Miet-Zahlmöglichkeit. Das Argument der „Höheren Gewalt“, steht nur dem Staat zu. Auch das „Mieteinigungsamt“, das jetzt viel zu tun hat, setzt sich stärker für die Rechte von Mitgliedern der KPD ein. (Wir aber waren schon immer parteilos, wenn auch durchaus nicht unparteiisch.) Für mich als selbständig Gewerbetreibenden hatten sie nur ein müdes Lächeln aber keinen Rat. Der weise Richter fragte sich wohl auch was heute gilt und was nicht – und morgen? So legte er im Schiedsspruch fest: Ich solle zahlen, sobald ich kann. Das war mehr auf den Hauswirt als Adressaten bezogen und gab mir den Schutz, nicht mit der Familie auf die Straße zu fliegen. Danke, Herr Richter..

Um Material (Papier und Farben) zu bekommen, waren wir zwei Tage in Berlin unterwegs. In Babelsberg besteht kein Bahnsteig mehr. Offener Güterwagen ohne Schutz vor dem glühenden Funkengestiebe der Braunkohlefeuerung für die Lok. Unsere beiden Schnitten waren schon am ersten Tag aufgegessen. In Berlin bekamen wir nichts eßbares, denn die Potsdamer Lebensmittelmarken gelten dort, nur einige Kilometer weiter, nicht und frei verkäuflich gibt es keine Lebensmittel. Völlig übermüdet, durchgefroren hungrig und ohne eines der beabsichtigtes Ergebnisse kehrten wir zurück. Es war kein guter Ausflug und Anne-Marie zudem hochschwanger.

Größte Abstriche in den mageren Fleisch- und Fettrationen sind angeordnet worden. Für Fleisch wurde als Ersatz Magermilch angekündigt, die aber nicht weit reichte, d. h., wir z.B. (nicht an der Spitze der Warteschlangen) sahen nichts von dieser bläulichen Flüssigkeit.


Dafür haben wir Weihnachten sehr besinnlich gefeiert. Am Vormittag in der, den Umständen entsprechend festlich geschmückten Friedrichskirche, zum Mittag hatten wir einen gedachten Gänsebraten (der Humor darf nicht untergehen) am Nachmittag mit unserem Töchterchen in der Oper „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck. Dazu die Erwartung unseres nächsten Kindes, das noch in diesen Tagen geboren werden soll. Möge den Kindern in ihrem Leben eine dauerhaft friedliche Zeit beschieden sein.


Das Jahr 1946

Seit dem 10. Januar fährt nun auch wieder die Elektrische von Potsdam nach hier heraus und zwar mit wesentlichen Verbesserungen gegenüber der Nazizeit, die übrigens im letzten Jahr der Herrschaft die Straßenbahn überhaupt stillgelegt hatte.

Eine Anzahl von Straßennamen sind geändert worden. Die politisch belasteten, wie Göringstraße sofort noch im vorigen Frühjahr, inzwischen aber auch die Priesterstraße – Karl-Liebknecht-Straße, die Lindenstraße – Rudolf-Breitscheid-Straße, Großbeerenstraße – Ernst-Thälmann-Straße, Rosa-Luxemburg-Straße. Alles ehrenvoll, wenn auch etwas sperrig. man wird sich gewöhnen.





Am 17. Mai 46 wird die DEFA (Deutsche Film Aktiengesellschaft) gegründet – genehmigt von der sowjetischen Militäradministration zur Herstellung von Filmen aller Kategorien. Der erste Film war von Wolfgang Staudte „Die Mörder sind unter uns“ eine Aufarbeitung mit der Folge des Dritten Reiches, in der Hauptrolle Hildegard Knef. Die Innenaufnahmen fanden im Althoff-Atelier am Babelsberger Park statt.

November: Vati hält sich (zur Erholung) in einer Villa des Krankenhauses „Heckeshorn“ in Wannsee auf. Hier mache ich im Garten (einige Stufen führen dorthin hinunter) meine ersten Laufübungen, einmal auch an der Hand von Tante Elisabeth. Hier lernen wir auch die Krankenschwester Renate Zauleck kennen (die eigentlich aus Pankow stammt). Dieser Name wird uns später noch öfter begegnen.







1941 - Ein neuer Lebensabschnitt kündigt sich an, das 27. Jahr


Unsere Hochzeit fand standesamtlich am 05. April statt und kirchlich am Pfingstsonntag während der Kinderkirchenzeit in der Friedrichkirche, in der wir ja beide Helfer waren. April 1941 statt. Es war der Sonntag Palmarum, wiederum in der Friedrichskirche, durch Herrn Pf. Hasse, im Rahmen des Kindergottesdienstes. Der Trauspruch lautete:

Zur Freiheit seid ihr berufen aber durch die Liebe diene einer dem Anderen

Galater 5, 13

Richard war geboren am 01. Oktober 1900, ein Vierteljahr vor der Jahrhundertwende, in Rixdorf bei Berlin (Sp. Neukölln.).






November: Heute am 14. starb der Vater meiner (damals kleinen) Spielgefährten Heinz und Lisa Brückner, der Schiffsmaschinist Franz Brückner im Alter von nur 51 Jahren. Er war 1890 geboren worden.









1942 – Zu dritt werden wir sein, mein 28. Lebensjahr


Ausgewählte Anmerkungen zum Jahre 1943

Meine Tante Hedwig Knoll, geborene Sommer Hedwig starb am 27. April 1943 als Wittwe mit 79 Jahren. Sie wurde am 29. April auf dem Friedhof in der Goethestraße beigesetzt. (Siehe Kirchenbuch der Friedrichskirche Nr. 54 / 1943).



Große Wäsche (S. 44?)

Kartoffel-Einkellerung

Das Heizen (S. 45?)







1944, Merk – Würdigkeiten des Jahres

- Annelein erhält am 23. Mai ihre Erst-Impfung gegen Pocken.

Im Sommer hat sie Masern und eine schmerzhafte Mittelohrentzündung


Söhnchen Mirko Mai 1944.


Das Jahr 1945, mein 31. Lebensjahr


Frühling

Frau Annemarie Gülzow, Tochter von Pfarrer Viktor Hasse und dessen Frau Elisabeth, geb. Reichmuth, erinnert Jahrzehnte später daran, dass Herr Ranglack im Frühjahr 1945, also knapp ein Jahrzehnt nach diesen Aufnahmen, bei einer Fahrt mit seinem Lkw durch Potsdam in der Nacht des 14. April 1945 von dem Bomben-Großangriff überrascht wurde und er eine Zuflucht in einem Schutzraum des Brauhausberges suchte. Der Schutzraum im Bunker wurde von einer Bombe der alliierten Briten und Amerikaner getroffen. Rudolf Ranglack war 46 Jahre alt und auch er wurde dort tödlich verletzt..

Sein auf der Straße verlassener Lkw blieb dagegen bei dem Angriff unversehrt.


Der Gedenkstein des Familiengrabes auf dem Friedhof in der Babelsberger Wichgrafstraße weist aus:



Auguste Ranglack Hermann Ranglack

geb. Alschner Stellmachermeister

4. Jan. 1870 – 7. Jan. 1946 7. Jan. 1868 – 19. Dez. 1945



Dorothea Ranglack Rudolf Ranglack

geb. Brendel Fuhrunternehmer

28. Okt. 1902 – 29. April 1974 22. Febr. 1899 – 14. April 1945





In jener Nacht des 14. April 1945 fielen große Teile der Bebauung der Umgebung des Brauhausberges in Schutt und Asche. Es betraf vor allem Bürgerhäuser,, Gaststätten, so auch das Café Heinzelmann mit Amphitheater, Wackermanns Höhe in der Schützenstraße, das Kino „Bergtheater“ in der Leipziger Strasse 73/74, das noch nicht fünf Jahre alt war, das Reichs-Archiv/Heeres-Archiv, der Bahnhof und große Teile des Reichsbahnausbesserungswerkes..




Sommer

Die Fenster unserer Wohnung waren noch verbrettert

Als Russen in unsere Wohnung kamen nach Wertsachen suchten, Uhren mitnahmen, blieb ein ganz junger Bursche allein zurück, saß eine Weile still und in sich versunken und ging dann mit stillem Gruß hinaus.



Herbst

Ich bin auf dem Heimweg mit dem Fahrrad noch im Wäldchen, um einige Pilze für eine schmackhaftere Mahlzeit zu finden. Meine Tasche hatte ich an den Lenker gehängt und ging mit dem Körbchen in Sichtweite des Rades, im engeren Umkreis. Wie groß mein Erschrecken, als das Fahrrad plötzlich verschwunden war. Gestohlen, einschließlich der Tasche mit Lebensmittelmarken, Papieren usw. Spät am Abend kam Vater Monje, der Gärtner aus dem Park Babelsberg, (der unsere Palmen in der Priester 68 pflegt und zwei Söhne bei uns in der Elektrikerlehre hatte). Gottlob, sagt er zu mir, ist ja die Mutter da … und legt meine Tasche mit vollständigem Inhalt in meine Hände. Zwar war das Rad futsch aber die Tasche hatte der Dieb weggeworfen und mir war nichts passiert. Schon allein der Verlust der Lebensmittelmarken – wäre gar nicht auszudenken gewesen. Es war mir eine Lehre.

Herr Monje hatte sich noch Schlimmeres ausgemalt, als er die Tasche fand und war erleichtert. Trotz des Kummers um das Fahrrad ein Abend voller Dankbarkeit.

Richards Fahrrad blieb uns bei einer Sammelaktion der russischen Soldaten mehr aus Zufall erhalten. Es war ein Rad der Fa. Adler mit Dreigangschaltung im Tretlager. Zu diesem Zeitpunkt war kein Gang, sondern der Leerlauf eingelegt. (Die Pedalen konnten also kreisen und das Rad bewegte sich nicht von der Stelle.) Der Soldat schwang sich also in den Sattel und trat kräftig aber leer in die Pedalen. Möglicher Weise hatte er sich dabei sehr gestoßen, kippte also um und ich nahm ihm das Rad aus den Händen und führte es fort, ohne mich umzusehen, wusste nicht, was hinter mir aus Schmerz, Rache, Demütigung passierte – bezahlten doch für so etwas andere Leute mit ihrem Leben. Eine unerträgliche Spannung – es passierte nichts. Vielleicht dachte er auch das Fahrrad sei sowieso entzwei.


Am 23. November 1945 starb mein Vater Max Sommer im Städtischen Krankenhaus Babelsberg in der Rudolf-Breitscheid-Straße an Herzschwäche. Als wir ihn nach seinem Tode den letzten Besuch abstatteten fanden wir ihn mit ruhigem, entspanntem Gesicht vor. Ein würdiges Lebensende.


Am 29. Dezember 45 wurde das 2. Kind: Christoph geboren. Wieder in eiskalter Zeit, dem Kreiß-Saal fehlten Fenster, einiges mit Pappe vernagelt – erinnernd an die karge Herberge in einer abweisenden Welt vor zwei Jahrtausenden.


Aus Anne-Maries Taschen-Notiz-Kalender 1946 (geführt vom 29. Dez. 45 bis 14. April 46)

- Ein Lebensbeginn in der Hungerzeit nach dem Kriege -

Anmerkung: Die (in Klammern gesetzten Erläuterungen) stammen „vom Baby Christoph“, 60 Jahre später eingefügt.

freust Dich? (Peterle = Ehemann Alfred Richard).

So ganz anders, als Anngretlein. Wo stammt Dein Gesichtlein bloß

her? Du kleines Sammetfellchen.

Fortsetzung folgt 1946


Aus dem Jahre 1946, mein 32. Lebensjahr


Fortsetzung: Aus Anne-Maries Taschen-Notiz-Kalender 1946 (geführt vom 29. Dez. 45 bis 14. April 46) speziell zur Entwicklung von Christoph

Anmerkung: Die (in Klammern gesetzten Erläuterungen) stammen „vom Baby Christoph“, 60 Jahre später eingefügt.


(Großvater August Janecke hatte „Walter“ vorgeschlagen).

lassen. Omilein, mach’ uns bloß keinen Kummer – wie soll das bloß

alles werden. (Omilein = Mutter Margarethe Sommer hatte mit einem

Gesellen begonnen, den Betrieb ihres verstorbenen Ehemanns Max

Sommer aufzulösen, was auch Auflösung des Erbes ihrer Tochter

Bedeutete. Das ließ ihr keine Ruhe und deshalb:)

vier erst wieder zusammen sind – Guten Abend, mein Liebster, gute

Nacht – bleibt alle von Englein bewacht.

davon. Spaß macht es doch. 100 g getrunken.

mit Auto) nach Hause zu Vati und Anngretlein.

Doll schönen Dank, Peterle (Ehemann).

er und kriegt doch nix. (ich melde mich nur, weil ich Hunger habe, die

dünne Plürre macht mich doch nicht satt).

hinkriegen.

hatte sich für eine Stelle auf dem Lande als Neulehrer beworben).

auch nichts herauskommen). Höchste Zeit, etwas hinzuzufüttern. (Die

sehr dünne Muttermilch reicht nicht). Den ersten Mondaminbrei

gekocht; hat ihn gut gegessen.

zumindest endlich ein Mehlpamps im Bauch war).

zwieback und Dextro-Traubenzucker verschrieben bekommen.

Tabletten.

Wichgrafstraße. Hier wurde am 01. März 1933 Pauline Klara Antonie

Janecke, geb. Dittwaldt, die Mutter von A. Richard Janecke bestattet.

Sie war 60 Jahre alt).

Schwester Elisabeth Gandert (ab Pfingsten 1. Paten-Tante).

die echte Kinderinfektionskrankheit), Pertussin pinseln. Viel frische

Luft. Anngret Windpocken.

Hustentropfen in Milch. (Iih!)

wunderschöner Sonne auf dem Hof gestanden (also im Wagen

gelegen, denke ich).

Kummerow, (wohnte auf dem Saarlandanger = Kriegsopfersiedlung).

Püdde in die Sonne. Berliner Straße (verlängerte R.-Breitscheid-Straße

von Plantagenstr. bis Griebnitzsee) hinter Gittern! Oma (Margarethe

Sommer, geb. Runge) hat Schlagcreme gemacht.

wieder im Kindergarten. Erich Simon (seine Frau „Traudel“, geb. Fick)

hier. Die Reinsberger leben alle – gut.

lauer Luft bei Sonnenschein draußen Kaffee getrunken.

empfinde noch heute, wie das weiße Wachstuch des Kinderwagens –

Auskleidung und Verdeck – roch, besonders wenn es bei

Sonnenschein warm wurde).

präparat, Vitamine, u. a. gegen Rachitis) nehmen. Bloß woher

nehmen? Ein Weißbrot eingetauscht. H.E. Müller.

schöne Maiglöckchen von Vati (Ehemann A. Rich.). Schade, es sollte

so festlich sein, nun muss Dieta (A. Richs Schwester Käte) wieder alles

versauen.(Grundlose Eifersüchteleien und „beleidigte Leberwurst“ bei

nichtigen oder fehlenden Anlässen, häufig an Feiertagen üblich.

ein Brünnelein ins Töpfchen rein.


Ende dieses speziellen Tagebuches über die ersten Lebensmonate von Christoph und weiter geht es mit den Aufzeichnungen über das Leben der Familie.




Anne erhält Impfungen gegen Diphtherie am 8. Jan. 46, 4. Febr. 46, am 13. 2. 50, am 13.3.50 und die Wiederholungsimpfung gegen Pocken dann später am 12. 10. 55. Wie Alle wissen, war die Kriegs- und Nachkriegszeit besonders schwer, weil unser Druckbetrieb von der Administration (aus Sorge vor Flugblattdruck usw.) geschlossen war und über lange Zeit kein Geld für Lebensunterhalt und Miete verdient werden konnte. Ich musste ständig zur sowjetischen Kommandantur (andere natürlich auch) aber unser Geschäft blieb geschlossen. Zusätzlich die Gehbehinderung von A. Rich., die in ihrer Schwere fortschritt.

Als ich einmal inständig darum bat wieder eröffnen zu können (der Kommandant hatte bei meinem Besuch eine uniformierte Mitarbeiterin auf dem Schoß sitzen) sagte Jene: Nix, Frau, brauchen kein Brot, auch nicht für Kinder. Hier so viel Wasser, noch viel Platz darin – was musste diese Frau in ihrer Heimat und auf dem Feldzug von uns Deutschen erlebt haben

Um Christoph war ich in großer Sorge, weil er einfach kein Drückerchen mehr machte. Der Arzt meinte „Wo nichts reinkommt, kann auch nichts rauskommen. Er wäre mir beinahe verhungert. Zwar hatte ich gestillt aber die Milch hatte keine ausreichende Kraft mehr. Und der Kleine hat sich nie beschwert. Unser Graubrot zum Anreichern in die Milch gequetscht – da wurde diese gleich sauer. Kurze Zeit später kam Schwester Elisabeth aus Bernburg zu Oberlin nach Haus ins Feierabendheim. Von ihrer bescheidenen Ration brachte sie jeden zweiten Tag eine Weißbrotschnitte, damit bekam Christoph sehr früh einen Brei.

Im Juni, am 1. Pfingstfeiertag wird unser Christoph während des Kindergottesdienstes in der Friedrichskirche getauft. Er erhält den Taufspruch: „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater gezeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen! (1. Joh. 3.1)


Im Sommer waren wir auf Rügen, wo sich Christoph das Band des Klingelhäschens um den Hals geschlungen hatte. Wir konnten ihn gerade noch retten. War es ein Engelshinweis – dass wir angehalten wurden jetzt sofort nach ihm zu sehen? Oder auch diese Situation, als ich mit Christoph im Kinderwagen durch das Birkenwäldchen spazieren ging, damit er heraus kam aus dem Salmiak und frische Luft erhielt – und Russen mich mit vorgehaltener Waffe anhielten, uns zum Verhör nach Griebnitzsee brachten – aber sonst doch nichts weiter passierte, als das Zittern am ganzen Körper.

Vielleicht gab es noch andere schwierige Situationen, die man vielleicht gar nicht wahrgenommen hatte und doch behütet wurde.



Das Jahr 1947, mein 33. Lebensjahr