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Eine neu bearbeitete Fassung der Lebensläufe:


Alfred August Richard Janecke (1900 bis 1983)

Lebensorte: Rixdorf Kreis Teltow, Berlin, Nowawes-Neuendorf => Potsdam-Babelsberg


oo


Anne-Marie Sommer (1913 bis 2003)

Leben in Nowawes => Babelsberg, Potsdam und Ferch im Kreis Potsdam-Mittelmark.


Notizen zu unserer Lebenszeit

Ein Beitrag zur Familienforschung und Heimatgeschichte


Autor: Chris Janecke,

Bearbeitung aktualisiert: im August 2025, E-Mail: chris@janecke.name


Zum Text ist gibt es eine Anzahl von Bildern
zu Richard Janecke und
zu Anne-Marie, geb. Sommer sowie zu der gemeinsamen Lebenszeit


Es handelt sich im Folgenden um eine Nacherzählung des Sohnes Chris J., die sich auf Dokumente, Notizen und persönliche Erinnerungen stützt. Dem Autor ist es bewusst, dass Text und Bilder nur relativ wenige herausgegriffene Begebenheiten aus dem langen Leben darstellen.



Das bleibende Denkmal


Ein treu Gedenken, lieb Erinnern, das ist der goldne Zauberring,

der Auferstehen macht im Innern, was uns nach außen unterging.


Bodenstedt



Wegweiser für die Beziehung zwischen den Hauptpersonen dieser Niederschrift und den heute lebenden Personen >Janecke< dieses Familienzweiges


Generation

Zeitraum


Namen des jeweiligen Ehepaares

04

1869 bis 1950

Karl Friedrich August Janecke oo

Pauline Klara Antonie Dittwaldt


Max Rudolph Sommer

oo

Margarethe Runge

03

1900 bis 2003

Die Hauptpersonen dieses Dokuments sind

Alfred Richard Janecke oo Anne-Marie Sommer

02

1945 bis

Der Autor dieser Niederschrift – Chris Janecke

01


Die Söhne des Autors

(zu näheren Angaben besteht ein noch gewünschter Datenschutz)


... hier nochmals in ausführlicherer Darstellung:


Generation: 04 Ahn: 8.2

Generation: 04 Ahnin: 9.3

Die Großeltern

Generation: 04 Ahn: 10.5

Generation: 04 Ahnin: 11.5

Janecke

Dittwaldt

Name

Sommer

Runge

Karl Friedrich August

(der Jüngere)

Pauline Klara Antonie


Vorname

Max Rudolph

Margarethe

Osterburg, am 18. Sept. 1869

Berlin, am

03. Nov. 1872

Geboren

Potsdam,

21. Sept. 1875

Berlin, am

05. Jan. 1880

Carl Friedrich August Janecke

oo

Dorothee Elisabeth Neumann

Carl Ludwig

August Dittwaldt

oo

Alwine Pauline

Zinnow

und nun deren Eltern,

(also die Urgroßeltern)


Karl Johann Friedrich Sommer oo

Marie Elisabeth Weltzer

Carl Heinrich Franz Runge

oo

Marie Josephine

Glaeser

Fuhrherr, Geschäftsführer, Kaufmännischer Angestellter,

Hausfrau und Mutter


Beruf

Schlosser, Elektrotechniker

Hausfrau und Mutter

Berlin-Kreuzberg,

am 15. September 1896

Heirat

Neuendorf bei Potsdam,

am 29. Juli 1905

Potsdam-Babelsberg, am 02. Febr. 1950

Nowawes, am


25. Febr. 1933

Gestorben

Potsdam-Babelsberg, am 23. Nov. 1945

Potsdam- Babelsberg, am

03. Nov. 1949



Das Ehepaar = die Eltern

Alfred Richard Janecke oo Anne-Marie Sommer




Vater:

Generation: 03 / Ahn: 4.2

Mutter:

Generation: 03 / Ahnin: 5.2

Die Bedeutung dieser

Familien-Namen:

Ableitungen von Kurzform Jan. - eke, -ecke, -icke ist Verkleinerungs-Suffix: „Der kleine Jan“ (auch Sohn des J.), Johann, Johannes (hebr.) „Gott ist gnädig, hilfreich“ oder „Gabe Gottes“.

Gefühlsverbindung zu Sonne, Wärme Reife, Ernte. Namensträger eventuell im Hochsommer geboren. Ein Übername mit der Begriffswahl für diese Jahreszeit.

Name:

Janecke

Sommer

Vornamen:


Alfred August Richard

Kurz genannt: A. Rich. = Arich.

Anne-Marie Margarethe





Deren Eltern



Der Vater:

Carl Friedrich August Janecke, Fuhrherr, Geschäftsführer, Kaufmännischer Angestellter

Der Vater: Max Sommer

Schlosser und Elektrotechniker

Lehrmeister, Meister-Prüfer,

Innungsschriftwart, Gerichtssachverständiger

Die Mutter:

Pauline Klara Antonie Dittwaldt

Hausfrau und Mutter

Die Mutter:

Margarethe Runge, geprüfte

Wirtschafterin, Hausfrau, Mutter

Geburt:


Rixdorf bei Berlin, Jägerstraße 69 (das ist die spätere Rollbergstraße), am

01. Oktober 1900, halb elf Uhr am Abend.

Geburtseintrag des Standesamtes Rixdorf Nr. A 2685 / 1900.

Nowawes, Priesterstraße 68, (das ist nach 1945 die Karl-Liebknecht-Straße 121), am Sonntag,

06. Juli 1913, um 8.30 Uhr.

Geburtseintragung Standesamt, Nowawes, Nr. A 317 / 1913.

Taufe:



Berlin-Kreuzberg. Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ an der Zossener Straße, am
04. November 1900, um 3 Uhr nachmittags. Die Taufpaten:

1. Frau Zelm,

2. Frau Weiland,

3. Frau Zocher,

4. Fräulein Zocher.

KB Seite 268, A 2132 / 1900.

Nowawes, Friedrichskirche, am So., 21. September 1913 (das war

an ihres Vaters 38. Geburtstag),

Pfarrer Dessin. Die Taufpaten:

1. Herr Emil Seehafer, Niederschönhausen,

2. Herr Paul Muster, Potsdam,

3. Herr Hermann Blohm, Nowawes

4. Herr Ferdinand Pehlke, Nowawes

5. Herr Ernst Meyer, Nowawes.

KB Nowawes A 185 / 1913,

Standesamt Nowawes A 317 / 1913.

Beruf / Stand / Tätigkeit oder Gewerbe:

- Maschinenbauzeichner

- Grafiker

- Techniker des Maschinenbaus

Hausfrau und Mutter,

Licht- und Fotopauserin.


Wohnungen vor der Ehe:




- ab 1900: Rixdorf bei Berlin

- Britz bei Berlin, Werderstraße 53

- 1903 in Neuendorf bei Potsdam,

Wiesenstraße 20–22.

- 1912 in Berlin-Britz,

Hannemannstraße 32a

- 1916 Nowawes Mittelstraße 9,

- 1917 Mittelstr. Nr. 22 (spätere

Wichgrafstraße 22).


- Nowawes, Priesterstraße 68

(Ortsbezeichnung ab 01. April

1938: Babelsberg,

- ab 01. April 1939: Potsdam-

Babelsberg).

- nach 1945 ist die obige Adresse

(der Eltern) umbenannt in Karl-

Liebknecht-Straße 121.

Eheschließung:

(Standesamt)


Nowawes, im Rathaus, am 05. April 1941. Zeugen der Eheschließung: Anne-Maries Tauf-Patenonkel Ferdinand Pehlke und Pfarrer Viktor Hasse. Standesbeamter Richter. Reg.-Nr. B 111 / 1941.

Trauung:

(ev.-lutherisch)

Nowawes, Friedrichskirche am 06. April 1941, am Sonntag Palmarum, während der Zeit des Kindergottesdienstes, Pfarrer Viktor Hasse. Trauspruch:

Zur Freiheit seid ihr berufen aber durch die Liebe diene einer dem anderen“.

Wohnungen, gemeinsame:



- 1941 Potsdam-Babelsberg, Lindenstr. 39 => (das ist nach 1945:

Rudolf-Breitscheid-Str. 46).

- 1956 Potsdam-Babelsberg, Wattstraße 12,

- 1976 Potsdam-Babelsberg, Am Stern, Keplerplatz 2, Wohnung 35, 5 Etage

Anne-Marie,

als Witwe

- 1983 (01. Okt.) Albert-Klink-Str. 3 => der Straßenname ab 1993: Burgstraße

- 1997 (01. Mai) Potsdam-Waldstadt, Johannes-R.(obert)-Becher-Straße 13.

- 2001 (01. Dez.) bis 12. 12. 2004 in der „Seniorenresidenz“ in Ferch, Zi. 441.

Lebensende:

Babelsberg, am 02. März 1983, 0.45 Uhr. Herzversagen, 82 Jahre / 5 Monate / 1 Tag alt.

Andacht in der Friedrichkirche.

Bestattet in Potsdam-Babelsberg, Friedgarten an der Wichgrafstraße,
am 15. März 1983, Pfarrer Opitz.

Seniorenheim in Ferch, Kreis Potsdam-Mittelmark, am

12. Dez. 2003, 90 Jahre alt.

Andacht in der Friedrichskirche.

Bestattet in Potsdam-Babelsberg,

Friedgarten an der Wichgrafstraße,

am 09. Januar 2004. Pfarrer Flade.




Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit,

denn ihre Werke folgen ihnen nach.


(aus der Offenbarung des Johannes, Kapitel 14, Vers 13)



Die Lebensläufe Janecke oo Sommer,

sind in diesem Dokument zusammengefasst

Inhalt:


Chris Janecke, eines der Kinder dieses Ehepaares „schlüpft geistig“ in die hier agierenden Personen und lässt sie zu uns sprechen, beziehungsweise schreiben. Das Folgende beruht auf den Erzählungen der damals Handelnden, bezieht sich auf bestehende Dokumente, also auf die „Aktenlage“ und zeigt später auch das Erleben in der Familie aus der Sicht von Erinnerungen der Kindergeneration. Diese Zusammenstellung ist also keine erdachte Geschichte. Es sind jedoch nur relativ wenige Ereignisse aus dem langen Leben.

Nun geht es richtig los:


Teil 1: Die Kinder- und Jugendjahre des Alfred Richard Janecke


Die Jahre 1896 und 1897

Richard Janecke schreibt“: Meine künftigen Eltern sind August Janecke und seine Frau Klara, eine geborene Dittwaldt. Die beiden sind seit diesem Jahr 1896 miteinander verheiratet. Ein reichliches Jahr später, am 13. Oktober 1897 bekamen sie ihr erstes Kind, meine große Schwester Elisabeth Käthe. Später sagte man einfach Käte zu ihr, weil's moderner schien – und kaum unterschiedlich sieht uns ihr Name im Schriftlichen entgegen. Sie wurde in der Berliner Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ evangelisch-lutherisch getauft. Es ist ein gewaltiges Gebäude im Berliner Südosten, das neun Jahre vor dieser Taufe fertig gestellt wurde. Ich erwähne das so ausführlich, weil man auch mich drei Jahre später, im Jahr 1900, über das gleiche Taufbecken halten wird.


1899

Lassen wir unter den Vielen, die zur Jahreswende mit Bedacht einen Toast ausbrachten, nur mal zwei Ausgewählte für uns zu Worte kommen. Der meisterhafte Musiker Wilhelm Kempff sinnierte: „Tausende und abertausende feuriger Raketen waren zum Himmel gestiegen, um die Geburt des neuen Jahrhunderts ins hellste Licht zu rücken. Ein großer Teil der Menschheit hielt den Atem an, als die Silvesterglocken das Jahr 1900 einläuteten“.


(Ja, genauso war das damals. So eine schöne runde Zahl steht nun vor uns – man hatte aber auch deutlich Stimmen gehört, die da sagten, 1900 sei das letzte Jahr des alten und erst 1901 wird das erste Jahr des neuen Jahrhunderts sein – hinfortgewischt, solche Bedenken, egal, heut schon woll'n wir feiern. Besser zweimal als keinmal und die Verhältnisse werden ohnehin sehr ähnlich sein. Nun gut, wenn ihr es so wollt – bitte).


Man hätte meinen können“, schreibt Wilhelm Kempff weiter, „dass nun wirklich das Nahen eines neuen Zeitalters, des goldenen, sich ankündigte. Die Vision einer geeinten Menschheit, von Schiller und Beethoven vorausgeahnt, schien erfüllt werden zu können. Das >Seid umschlungen ihr Millionen, dieser Kuss der ganzen Welt<, ließ auf einige Augenblicke vergessen, dass am fernen Horizont der politischen Wetter, sich erste Kumuluswolken auftürmten.“

Zitat aus dem Buch: „Unter dem Zimbelstern – das Werden eines Musikers“ – von Wilhelm Kempff.


Der begnadete Arzt Dr. Theodor Brugsch beschrieb diese Tage so: „Allgemein galt wohl die Meinung, dass die Geburt des neuen Jahrhunderts mit besonderem Lärm gefeiert werden müsse. Damals gab es noch keinen Rundfunk und kein Kino aber es gab für die Straße Feuerwerkskörper. Die Menschen hatten anscheinend ihre Sorgen vergessen und prosteten voller Begeisterung dem neuen Jahrhundert zu, wohl in der hoffnungsvollen Erwartung, es werde ihnen ein schöneres Dasein bescheren. Vorläufig sah es noch danach aus: Auf dem Verdeck der Pferdeomnibusse kostete eine Fahrt 5 Pfennige, ein Glas Bier 10 Pfennige und wenn man bei Aschinger für 30 Pfennige eine Bockwurst bestellte, dufte man sich ohne weitere Zuzahlung an Brötchen sattessen – so viel man wollte. Allerdings waren 30 Pfennige (oder 0,30 Reichsmark) viel Geld, wenn man bedenkt, dass ein Arbeiter als Familienvater oft nicht mehr als 20,- Reichs-Mark Wochenlohn bekam. – Das Geld der kleinen Leute war meist aus Metall: Kupfer, Nickel, Silber, selten Goldmünzen. Einen Hundert-Mark-Schein hatten nur wenige bei sich.

Niemand von all den Menschen, die so laut und lärmend das neue Jahrhundert feierten, ahnte, dass in den nächsten Jahrzehnten zwei Weltkriege – von Deutschland begonnen – für unendlich viele Menschen Tod und Verderben bringen würden.“

Dem Buch: „Arzt seit fünf Jahrzehnten“, von Theodor Brugsch, sinnentsprechend nacherzählt.


1900

Neunzehnhundert oder Eintausend neunhundert – was für ein Jahr! Mein Geburtsjahr!

Mein Geburtsort, Rixdorf im Kreis Teltow, bei Berlin, ist eines der größten „aller Dörfer“ in Deutschland.

Als der jüngste Neugeborene des 1. Oktober 1900 erhielt ich von meinen lieben Eltern die Namen


Alfred – August – Richard Janecke




Was erinnert uns in Rixdorf heute noch an die Gründungszeit des Ortes? Da sind zum Beispiel:


Meine Mamá und ich hatten es mit meiner Geburt nicht leicht, sogar sehr schwer, weil ich mich in ihrem Bauch in einer so genannten Steißlage befand und im mütterlichen Becken nicht gedreht werden konnte. Da wollte das gewaltsame Hantieren mit Händen, Zangen, weiteren Hilfsmitteln und viel Muskelkraft kaum ein Ende nehmen. Es war für alle Beteiligten äußerst strapaziös. Die Folgen werden mich mein Leben lang erinnernd begleiten.


Am Sonntag, den 04. November 1900 werde ich evangelisch in der noch ziemlich neuen Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ getauft. Das ist also nicht die „Bethlehemkirche“ im vorher beschriebenen Rixdorf, sondern einige wenige Spazierschritte weiter, in der Reichshauptstadt Berlin (dem späteren SO 36, dem noch späteren Berlin-Kreuzberg). Die Vorbereitungen zur Taufe erfordern einige Umstände, denn wieso will man einen Säugling aus der platten Provinz, aus dem Kreis Teltow, in der Reichshauptstadt Berlin taufen lassen? Warum und weshalb bitte? Doch, wer hätte das gedacht, die kirchlichen Genehmigungen werden letztlich erteilt.


1901

Im Sommer entsteht das erste gemeinsame Bild mit Mamá, Käte und mir, damit sich später Jedermann erinnern kann, wie wir zu jener Zeit aussahen (ich bin auf dem Bild der Jüngste aber Papá, als der Älteste unserer Familie, ist nicht zu sehen. Er wird es uns später erklären müssen). Aus dem Foto schaue ich freundlich und offen in die Welt hinaus. Dabei ist auch dieses erste Lebensjahr ein Schweres für mich. Weil man eine Beinsehnenverkürzung festgestellt hat, komme ich ins Krankenhaus, völlig allein, fort von Mamá, Papá und Käte. Es ist das Jüdische Krankenhaus in Berlin, das mich aufnimmt, mit besten Chirurgen. Die schneiden mir die Beine in der Achilles-Region auf und setzten Sehnen-/Bänder-Verlängerungen nach ihrem Ermessen ein. Das sind große Einschnitte in mein Leben, nach denen ich mich eigentlich gar nicht gesehnt hatte. Aber alles geschieht zu meinem Besten, ohne dass mich jemand fragt.


1903

Wir wohnen inzwischen in Britz, Werderstraße 53. Das Grundstück gehört den Großeltern Dittwaldt. Hier ist mehr Platz, als wir bisher hatten, besonders für das Fuhrgeschäft unseres Vaters.

Onkel Alfred Zocher erzählte dem Papá, dass für die nagelneue Kalkbrennerei in Neuendorf bei Potsdam dringend ein versierter Verwalter gesucht wird. Als Angestellter weniger Arbeit und höherer Verdienst. Alfred habe schon mit dem bisherigen Eigentümer des Grundstücks, Herrn Russow gesprochen. Und schon ist der umtriebige Onkel Alfred Mitinhaber dieser Firma und wohnt dort in Neuendorf in der Potsdamer Straße 9, gleich rechts neben dem „Deutschen Wirtshaus“. –

Im Mai wird in Nowawes die 150. Wiederkehr der Einweihung der Friedrichskirche gefeiert. Die Festpredigt hält Oberpfarrer Koller – in Anwesenheit von ca. 900 Menschen in der vollen Kirche und des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, den der Kaiser zum Gottesdienste abkommandiert hatte.


1904

Ein Wohnungsumzug nach Neuendorf bei Potsdam, nahe der unsichtbaren Ortsgrenze zu Nowawes, steht im Kalender. Im Wesentlichen besorgen das die braven Braunen „Hans“ und „Liese“, die den Wagen ziehen. Nun leben wir hier in der Wiesenstraße 20–22. Das ist ein (leider) industrie-gewerblich genutztes, herrliches Wassergrundstück an dem kleinen Flüsschen >Nuthe<, das im Fläming entspringt und hier in der Nähe, nachdem es hinter „unserem Grundstück“ noch wenige Minuten des Strömens zurückgelegt hat, gegenüber der Potsdamer Heiligengeistkirche in die weitaus größere Potsdamer Havel mündet. Das Treiben und Spielen auf diesem Grundstück verspricht spannend und lustig zu werden. Die Lage am Wasser ist sehr romantisch. – Aber für die Großen steht die ernsthafte Arbeit im Vordergrund. Das war der Grund des Umzugs. Papá ist nun der Verwalter und Buchhalter der „Kalk- und Mörtelwerke“. Der Eigentümer des Grundstücks in der Wiesenstraße mit kleiner Fabrik, und dem Wohnhaus ist inzwischen der Herr Walter Langhau. Jener wohnt in Berlin, Am Treptower Park 21 und hat hier diese Filialen Wiesenstraße 20–22 und Potsdamer Straße 9, die er manchmal besucht. Mitinhaber des Betriebes ist Ernst Wilke. Dieser Betrieb hat mehrere „Standbeine“: Putz- und Mauermörtel wird hier hergestellt. Nebenbei werden auch Holz und Kohle verkauft sowie Steingut-Erzeugnisse für die Bauwirtschaft vertrieben. Die Grundstückslage schien dem Herrn Langhau zu recht sehr günstig: Das Produktionswasser liefert die Nuthe kostenlos „frei Haus“ und in der Nähe gibt es für den An- und Abtransport der Erzeugnisse die Umschlagplätze des Schiffs- und Bahnverkehrs, so beispielsweise am Schifffahrtskanal, der „Neuen Fahrt“ (einem „Havelarm“) an der Freundschaftsinsel, als auch am Güterbahnhof, nahe der Kaiser Wilhelm Brücke. Weil der Herr Langhau immer mal was mit Papá zu bereden hat, haben wir sogar ein Telephon. Wenn ihr mal … es ist die Nummer Potsdam 32! Das Fräulein stöpselt uns bestimmt gern mal zusammen. Wenn sie euch durch die Hörmuschel fragt: „Hier Amt, was beliebt?“, dann sagt ihr: „bitte darum, ein Gespräch mit Potsdam - Nummero - 32 zu vermitteln“. So schnell geht das heutzutage.

Schön ist, dass wir hier eine schmusige Katze haben und auch einen freundlichen, wachsamen Hund.

Natürlich hatte unsere gute Mutter bei der Entscheidung zum neuen Wohnort ihre Bedenken um das Wohl der Kinder: Ein Grundstück ohne Zaun am Zugang zum „magnetisch wirkenden“ Fluss, dieser ohne seichtes Ufer. Des Weiteren große Behälter in denen der scharfe Ätzkalk eingesumpft wird (bitte niemals: „schön formbare weißlichgraue Modderpampe“ dazu sagen!) Die ständige Bewegung Fremder auf dem Gelände und insbesondere das Rangieren mit den schwerstbeladenen Pferdegespannen auf dem Grundstück … und was noch so auf das mütterliche Gemüt und auf uns Kinder einstürmen würde. Hier ist also immer viel los. Langeweile kennen wir nicht.

In der Adventszeit gibt es auf dem Friedrichskirchplatz auch so einen böhmischen Weihnachtsmarkt wie auf dem Rixdorfer Richardplatz – erzählt mir Mamá, denn an jenen kann ich mich, selbst mit großer Anstrengung, nicht mehr erinnern.


1905

Auf dem Betriebsgrundstück ein fröhlicher Umtrunk gestandener Männer. Sie begehen bei fröhlichen Gesprächen und einem Fass Bier unser einjähriges Hiersein in der Firma. Es ist ungewöhnlich mild am 19. März 1905.


1906

Eine kurze Bemerkung zu den Speisegewohnheiten in der Familie: Bei uns wird alles gegessen „was die Kelle gibt“, also, was auf den Tisch kommt. Das ist so üblich. Es wird nicht gemäkelt. Nur eine einzige Ausnahme wurde mir gestattet, weil ich keinen Fisch mochte. Aßen die anderen der Familie ihren Fisch, wurde für mich ein Pudding bereitet – aber „zwangsläufig“ in einer weißen Keramikschale in Fischform. Wurde aus dieser der Pudding-Inhalt (auf den Teller) „gestürzt“, so hatte auch ich meinen Fisch, einen Oetker-Fisch, der mir viel lieblicher schmeckte.


Diese schöne Zeit ist jedoch nicht allein damit ausgefüllt spielend zu lernen, das weiß ich ja schon von Käte. Die Welt der Erwachsenen will es, dass man auch in der Schule sitzt und hier Ohren und die Feder spitzt. Dieses Alter erreiche ich nun, sagt man, weil ich bereits im Oktober meinen

6. Geburtstag begehen werde. Ich hatte Euch ja schon von meiner ersten chirurgischen Operation während meiner Säuglingszeit berichtet – Ursache und Wirkung ließen es nicht so ganz zu, dass ich völlig unbehindert laufe und so werde ich kurzerhand ab Michaelis (September) in die Schule der Nowaweser Oberlin-Klinik gesteckt. Das erscheint der Schulverwaltung recht praktisch, denn in dieser Zeit besteht ein Mangel an kommunalen Schulplätzen. Das ältere, hundertjährige Schulgebäude in der Priesterstraße wird nämlich gerade abgerissen. So fügt es sich für die Schulverwaltung in Abstimmung mit Oberlin recht günstig, mich dorthin zu stecken.

Trotz meiner Wissbegierde ist das kein fröhlicher Schulbeginn in der Oberlinschen Einrichtung. Jeden Tag das Leid der anderen mit ansehen, nicht alles Gleichaltrige, eher nach Wissensfortschritt zusammengewürfelt und eben auch mit vielerlei Gebrechen belastet, darunter mit Hör- und Sprachproblemen. Schule ist schrecklich. Kaum auszuhalten. Gäbe es doch bloß eine andere Möglichkeit, sehr gern würde ich sie nutzen.


1907

Ein Lichtblick tut sich für mich auf. Eine neue Möglichkeit. Auf sie darf ich hoffen und ich atme frei.

Es ist nämlich so: Das alte zu eng gewordene Nowaweser Schulhaus sah ähnlich aus wie eines der vielen Weberhäuser, nur etwas größer. Das Haus wurde im Jahre 1806 auf der Parzelle 96 errichtet, also in der heutigen Priesterstraße 24, gleich links neben dem Pfarrhaus. Nun wurde dieses Gebäude nicht nur im vergangenen Jahr abgerissen, sondern an gleicher Stelle eiligst ein Schulneubau errichtet, der in der Straßenfront so lang ist wie das alte Haus aber nun vier Geschosse oder Etagen hoch gebaut ist. Viel größer somit als das alte Gebäude. Mit großen Fenstern in den hellen Räumen. „Eiligst errichtet“ kann ich noch genauer sagen: Schon nach einem Jahr, am 9. April 1907 kann diese neue Schule als I. Gemeindeschule Nowawes eingeweiht werden und ich zähle zu den ersten Schülern! Hier darf ich nun lernen. Adé Oberlin-Schule! Beim Abschied wird mir leicht ums Herz.

I. Gemeindeschule“ bedeutet aber nicht, dass diese die erste Schule überhaupt ist, denn mit dem Schulunterricht wurde schon bald nach 1750 begonnen. Zwei Grundstücke weiter, auf dem Eckgrundstück des Küsters / Kantors, der späteren Priesterstraße 22, (=> nach 1945: Karl-Liebknecht-Straße 27) war früher die Böhmische Schule zuhause – und eine Deutsche gab es auch schon..

Im neuen Schulhaus ist alles ist noch frisch und sauber. Der Duft der Ölfarbe hängt in der Luft. Hier macht das Lernen Spaß! Von Ostern 1907 an lerne ich nun hier. Diese neue Knabenschule hat eine Turnhalle, einen großen Hof und von diesem aus, einen Hinter-Ein- und Ausgang (mit der Adresse): Friedrichskirchplatz. Unser Rektor ist der Herr Ritter. Zu den Lehrern habe ich schnell einen guten Kontakt. Den meisten Unterricht haben wir bei unserem Klassenlehrer Herrn Trinkaus.

In diesem zweiten Schuljahr haben wir – Religion: 4 Stunden, Deutsch: 10 Stunden (mit Lesen und Schreiben, dabei immer auch Schönschrift in „Deutscher Kurrent“ und auch in lateinischen Buchstaben. Dann Rechnen: 4 Stunden, Zeichnen: 1 Stunde und Gesang: 1 Stunde. Das sind 20 Unterrichtsstunden pro Woche. („Summa summarum“, sagt unser Lehrer dazu). In Mädchenschulen sitzen die Schülerinnen 22 Stunden, weil bei ihnen noch zwei Stunden Handarbeit hinzukommen. In dieser Zeit machen wir 'was Nützliches, was uns gefällt.

Die Lehrer brauchen sich aber nicht selber ausdenken, was sie uns erzählen wollen, denn der Kaiser des Deutschen Reiches, der gleichfalls auch Preußischer König ist, hat einen umfangreichen Lehrplan für uns erarbeiten lassen, in dem alles drinsteht. Das weiß ich ganz genau – und er wohnt ja auch bei uns – fast nebenan.


Für uns Kinder ist das Grundstück in der Wiesenstraße und seine Umgebung das wahre Paradies. Im Baugeschäft ist für mich besonders das Ersteigen der aufgeschütteten Kiesberge anziehend. Wir zerren auch eifrig lange Bretter an die steile Kiesbergschräge und können nach beschwerlichem Aufstieg fein hinabrutschen. Es bleibt dabei allerdings nicht aus, dass in Po und Händen auch immer mal Holzsplitter stecken bleiben und Schmerzen verursachen. Mamá tröstet uns beim Entfernen mit solchen Sprüchen wie: „Eh' die Katz 'n Ei legt, ist allet wieder jut“. Und damit hat sie recht!

Inzwischen bin ich ja schon etwas größer und darf unser flaches Boot, genannt „Punt“ benutzen, das aber vorerst noch angeleint bleibt. Seiner Form wegen, habe ich es heimlich „Sargdeckel“ getauft. Man muss diesen aber zuerst im eigenen Kopf umdrehen, damit er zuverlässig schwimmen kann. Wiederum etwas später können wir damit selbst bei niedrigem Hochsommer- Wasserstand unter der Mühlendamm-Brücke auf dem dort flachen, schnell fließenden Gewässer über die Steine „hinweggleiten“, die nur eine Handbreit Wasser unter dem Boot liegen.

Zu unseren Nachbarn, nur drei Grundstücke weiter, gehört die Firma „Eis-Fix“, die das Stangeneis zum Kühlhalten der Lebensmittel herstellt. Na ja, der Haupthersteller ist die Natur im Winter mit dem gefrorenen Nuthewasser, das in eckige Stangen zersägt wird oder auch in Formen friert. Vielleicht sind die Abmessungen der Stangen so ungefähr 80 x 20 x 20 cm. Bis zum Sommer werden die Stangen im Kühlraum gebunkert und behalten so ihre Temperatur und Form. Mit den Pferdewagen werden die Stangen dann fix zu den Geschäften und Haushalten gebracht. (In drei Jahrzehnten werden die Pferdewagen abgelöst von einem weißen Opel-Blitz „Kofferwagen“, mit dem das Eis noch fixer rollt.) Zu dieser Familie haben wir, das sind natürlich erst mal unsere Eltern, einen guten Kontakt, also zu Familie von Paul Fix und zu der des Haupt-Arbeiters, Kurt Trinks und seiner Frau Charlotte, die stets „Lotti“ gerufen wird. Ja, es stimmt: Der Paul Eis-Fix ist nicht nur schnell – er heißt auch wirklich so!

Und noch eine weitere große Neuigkeit gibt es: Ihr wisst ja, dass die Pferde-Straßenbahn durch unsere größere Schwesterstadt Potsdam hindurch zuckelt. Wohl so etwa seit 1882, schon zu einer Zeit, als es mich noch gar nicht gab. In jüngster Zeit wurden jedoch Gleise neu verlegt, ohne dass es auch nur einen Tag Fahrzeugausfall im Fahrplan gab, auch brauchten die Pferde nicht in einem Baugewühle zu straucheln. Alles ging leise und schnell vor sich. Auch elektrische „Oberleitungen“ wurden gespannt und jetzt am 7. September 1907 findet das große Einweihungsfest statt. Was glaubt ihr wohl was das ist? Ich helfe euch mal: mit einem Hinweis >Die Pferde dürfen sich jetzt ausruhen<. Richtig! Wir haben in Potsdam eine elektrische Straßenbahn mit größeren Wagen als bisher. Und ganz ohne Pferde davor. Die bisherigen Wagen nutzt man als „Beiwagen“. Sie werden an die ziehenden „Triebwagen“ angehängt. Heute sind alle Wagen mit Girlanden geschmückt. Radfahrer versuchen bei dem neuen Bahntempo mitzuhalten, Hunde gucken verdutzt, mancher Mensch strahlt, einige schauen ungläubig. Ein mäßiges Summen, keinerlei Pferdehufegeklapper. Na so was aber auch! Man nennt dieses Fahrzeug künftig nur noch „Die Elektrische“, (weil sich „Straßenbahn“ erübrigt, die neue Bezeichnung sich von selbst versteht).


Das Jahr 1908

Kaum komme ich dazu etwas mehr von mir zu berichten – gibt es doch viel, viel größeres und wichtigeres als mich: Weit vor den Toren der Stadt, zwischen dem Ufer des Templiner Sees und dem Waldgebiet „Pirschheide“ wurden große „Garagen“ aufgebaut. Keine solchen Remisen wie für einen Pferdewagen oder für ein Automobil, nein, große Hallen, die man Hangar nennt. Darin „ruhen“ Luftschiffe, riesige Flugkörper, mit einer kleinen Passagiergondel dranhängend. Also „klein“, das sieht nur von weitem so aus – immerhin passen dort der Aufenthaltsraum mit Tischen und Sesseln hinein, man kann darin ruhen wenn man nicht zu aufgeregt ist. Auch eine kleine Küche und das Gepäckabteil, auch die Toilette sowie alle technischen Anlagen finden darin Platz. Ungefähr 200 Meter lang und fast 40 Meter im Durchmesser ist solch ein Luftschiff – aus der Ferne etwa wie eine silbrige Zigarre aussehend.


Das Jahr 1909

Immer wieder gibt es etwas über Großartigkeiten zu berichten. Jetzt im September haben wir, also wir alle, Besuch. Besuch aus Amerika. Es ist der Fahrradmechanikus Herr Orville Wright und sein Bruder Wilbur. (Es ist wohl üblich, dass man den Amerikanern solche schwierigen Namen gibt, die man völlig anders spricht, als man diese aufschreibt.) Er besucht die Städte Berlin und Potsdam. Wer Herr Wright ist, kann nur einer fragen, der noch viel jünger ist als ich und nicht dabei war. Er ist der erste Mensch auf dieser Erde, der sich (in unserer Neuzeit) vor einigen Jahren mit einem motorangetriebenen Aeroplan in die Lüfte erhob. Er ist weltbekannt. Auf und über dem Bornstedter Feld bei Potsdam, also bei uns und fern seiner Heimat, stellte er dieser Tage sogar zwei neue Weltrekorde auf:

1. Den Dauerflug von 95 Minuten bis das Gasolin-Petrol alle war und er runter musste, sonst hätte er es noch länger ausgehalten,

2. den Rekord von über 300 m Gipfelhöhe. Das kann man auch ohne Bergesgipfel messen.

Höher ist das, als wenn man „Das Neue Palais“ oder „Die Orangerie“ im Park von Sanssouci hochkant stellen würde. Einmal durfte sogar einer der kaiserlichen Prinzen mitfliegen. Vergessen wir bei aller Bewunderung darüber nicht unseren stillen, fleißigen Otto Lilienthal, der hier lebte und auch für die neuen Erfolge mit seinen Vogel-Gleitern hüpfte, sprang, glitt, – und schließlich flog – also die Grundlagen für das Fliegen schuf. Sagt Papá. Und ein anderer ergänzt sowohl weise, als auch bedeutsam: „Von Fliegen lernen, heißt fliegen lernen“.


Das Jahr 1910

In der Schule kommen nun zu den bereits oben genannten Fächern im dritten Jahr meines Hierseins Geschichte und Erdkunde hinzu, und ebenso das Fach Naturbeschreibung.

Zu meinem Geburtstag und zum Weihnachtsfest erhielt ich von meinen Eltern eine Eisenbahn geschenkt. Größe „Null“. Das bedeutet aber nicht, dass man sie nicht sehen kann. Im Gegenteil. Sie ist sehr ansehnlich! So richtig mit Feuer und Dampf, mit vielem interessanten „Drum und Dran“. Ganz phantastisch aber „für ein Kind alleine viel zu gefährlich“, meint Papá und setzt sich zum echten Spielen gern zu uns.

Mein guter Onkel Max (Dittwaldt), der jüngste Bruder von Mamá, ist ein Reichsbahn-Inspektor. Er wohnt weit im Osten, in Westpreußen, genauer: in Deutsch-Eylau und kommt daher nicht so oft zu Besuch. Zu meinem Geburtstag am 1. Oktober schickte er ein Päckchen, welches ein Buch enthielt: „Sagen des deutschen Volkes“, der Brüder Grimm, – eine Auswahl für die Jugend – Volksausgabe, (Ausgabe für das Volk bedeutet: tatsächlich für mich, nicht etwa für den Preußischen König bestimmt, der nebenan wohnt – ist ja auch richtig bei mir angekommen). Wieder etwas sagenhaftes zum Schmökern und für mich noch viel Neues im Gegensatz zu den schon längst bekannten grimmigen Märchen.

In der Winterzeit setzen wir uns, wenn Papá nach getaner Arbeit etwas Zeit hat, gerne mal abends zusammen. Manchmal erzählen die Eltern etwas aus ihrer eigenen Kindheit, was immer spannend ist, selbst wenn wir es schon mehrmals hörten. Wir haben dann nur eine Kerze brennen und Mamá fertigt dabei einige Handarbeiten „blind“ – das bedeutet: Sie könnte es fast auch im Dunkeln. Oder wir spielen das Würfel- und Kartenspiel „Hammer und Glocke“ – da muss man ganz schön aufpassen. Leichter ist ja „Mensch ärgere dich nicht“.


Das Jahr 1911

Der Betriebsbesitzer der Neuendorfer Kalk- und Mörtelwerke, Herr Walter Langhau ist innerhalb von Berlin umgezogen und Papá wird von jenem aufgefordert, ebenfalls nach Berlin zu kommen.


„So“, sagt der Erzähler und lehnt sich zur Entspannung zurück, „unterstützte ich bisher den jungen Richard mit dem formulieren, so scheint es nun an der Zeit zu sein, dass er selber den Stift in die Hand nimmt und die weiteren Begebenheiten selber notiert. Die Erfahrung lehrt: Er kann es!“


Das Jahr 1912

Leider müssen wir unser Neuendorfer Kinder-Idyll aufgeben, da unser Vater von der Firma Langhau das Angebot und dann den Auftrag erhält, in Berlin einen größeren Betriebsteil zu verwalten. Deswegen geht für mich kurz vor Weihnachten 1911 der Besuch der Schule in der Priesterstraße schon wieder zu Ende.

Wir ziehen nun in die Nähe meines Geburtsortes Rixdorf, nach Britz, in die Hannemannstraße

32 a. (=> Jahrzehnte später wird dieses Haus die Nr. 28 tragen). Unsere Drei-Zimmer-Wohnung liegt im Parterre, rechts vom Hauseingang. An der Hinterfront des Hauses hat die Wohnung einen schönen Balkon. So wild kinderidyllisch wie in Neuendorf ist es hier nicht, eher vornehm, mit einer kleinen Parkanlage hinter dem Haus – allein, nur für die Bewohner dieser Häuserzeile. Schön ruhig ist es sowieso, weil gegenüber das Krankenhausgelände liegt – also noch ein Park, dieser für die genesenden Patienten. Wir haben also überhaupt keinen (störenden) Blick auf andere große Miethäuser. In Britz haben wir auch ein Schloss mit einem Park drumherum, wenn dieser auch wesentlich kleiner ist, als die Anlagen in Potsdam, „Sanssouci“ und „Neuer Garten“ oder bei Nowawes. „Schlosspark Babelsberg“. Links von „unserem Haus“ ist die Gaststätte „Zum Goldenen Löwen“. Und auch das landwirtschaftliche Mustergut „die Domäne Britz“ befindet sich in der Nähe.

Ihr werdet verstehen, dass ich jetzt auch wieder eine andere Schule besuchen muss, weil ich ja von hier nicht täglich nach Nowawes ... und das ist für mein Empfinden ziemlich schlimm. Diese neue Schule, ihr könnt es alle wissen, es ist die III. Gemeindeschule in Britz bei Berlin. Der ältere Rektor ist Herr Jung und unser gar sehr gestrenger Klassenlehrer heißt Herr Sternberg. Das ist überhaupt keine gute Lebens-Schule, das ist eher ein Kasernenhof, zumindest eine Kinderschinderei.

Nur ein Beispiel dazu: Ich kam heute mit rotgeschwollenen Fingern aus der Schule. Und das kam so: Irgendein Schüler hatte aus Spaß eine kleine Missetat vollbracht. Der Herr Lehrer forderte die Schüler auf, dass der Urheber der großen Ungehörigkeit sich melde oder hilfsweise gemeldet, also verraten werde, was aber nicht zum augenblicklichen Erfolg führte, weil wohl fast alle nichts wussten. Um das Erinnerungsvermögen der Schüler zu wecken und zu stärken, nutze er seinen üblen aber üblichen Spruch: „Ein klei-nes Ver-giss-mein-nicht“. Bei jeder Silbe lässt er, durch die Bankreihen laufend, die Spitze seines Rohrstocks über die zwangsweise auf den Tischen ausgestreckten Finger wippen aber bei der letzten Silbe, dem Wort >nicht< schlägt er stets unbarmherzig zu, um seinen Unmut abzureagieren. In den meisten Fällen treffen diese Schläge natürlich die „falschen“, die unschuldigen Schüler. Er hat den potenziellen Empfänger seiner Strafen wohl kaum vorher ausgezählt. So gelten ihm seine wahllos verteilten Hieb-Treffer wohl eher als gottgewollt. Mamá meinte noch ganz aufgeregt zu Papá „Der Herr Lehrer is wohl mit’m Klammerbeutel jepudert“ – aber dann eher lakonisch mit resignierendem Unterton zu mir, ob dieses „Gottesurteils“, das mich wieder einmal ohne mein Verschulden getroffen hatte: „Ach, Junge – lass doch den Heiden toben. Wart's nur ab, et kommen wieder bess're Tage“.

In der Leistungsbeurteilung falle ich ab. In diesem ersten Halbjahr bis Ostern 1912 bekamen wir die Fächer Physik und Raumlehre dazu. Das Zwischenzeugnis von Ostern lasse ich vorsichtshalber und ausnahmsweise mal besser von Mamá unterschreiben. –

Huch, trotz aller Widrigkeiten schnelle ich auf dem Jahres-Zeugnis, was uns zu Michaelis im September ausgehändigt wird wieder weiter nach oben, so dass ich im Durchschnitt nun erneut auf 1–2 stehe.

Mit uns im gleichen Haus wohnt auch der Kaufmann Schuch mit Frau und Töchterchen „Püppi“. Wir verstehen uns gut und weil ich schon mehr von der Welt weiß, als sie, kann ich ihr manchmal einen guten Rat geben. Deshalb meint sie bald, ich, der Richard, sei ihre „Große Denke“. Das erfüllt mich mit Freude.


Am 28. März 1912 stirbt in Wittenberge mein Onkel, der Buchdrucker Franz Jochmann in der Mohrenstraße 4 im Alter von nur 44 Jahren. Nun steht meine Tante Luise Jochmann, geborene Janecke, mit den fünf Kindern alleine da.

Im Frühjahr wird meine Schwester Käti hier in Britz eingesegnet.


Die Orte Rixdorf, Britz, Buckow und Rudow werden zusammengefasst und heißen von nunan „Neukölln“. Die Stadt Berlin schluckte vor Zeiten bei der Zusammenlegung den Namen der Schwesterstadt Cölln. Nun ist der Name also ein bisschen wieder da, sagt Papá!

Unsere alte Rixdorfer Jägerstraße (meine Geburtsstraße) wird in Rollbergstraße umbenannt, denn hier gibt es nichts mehr zu jagen aber viele Steine, die beim Kiesabbau der Hügel ins Rollen kommen.


Das Jahr 1913

Im September wird das Schulsystem in Britz neu geordnet. Viele Kinder, so auch ich, werden zur Auflockerung der Verhältnisse von der bisherigen III. Gemeindeschule, an die I. Gemeindeschule, Britzer Damm 162, übergeleitet. – Es ist also geschafft! Ich darf diese böse, unangenehme Schule verlassen (eigentlich war's ja nur der Lehrer). Hier besuche ich die oberen Klassen 2 und 1, womit dann mein gesamter Volksschulbesuch Ostern 1915 zu Ende gehen wird. Der Wechsel tut mir gut. „Et kommen auch wieder bess're Tage“ – wie Mamá weise vorausgehofft hatte.

Diese riesengroße Schule ist erst zum Ende des Jahres 1912 fertig gebaut worden, und ich gehöre so wie damals in Nowawes zu den ersten Schülern, die hier unterrichtet werden. Unser Schulleiter, der auch gleichzeitig unser Klassenlehrer ist, ist der Herr Rektor Schröder. Hier gefällt es mir. Schauen wir mal aus dem Fenster unseres Unterrichtsraumes statt in die Bücher, sehen wir die alte Britzer Kirche, aus Feldsteinen errichtet.


Wir beobachten des Öfteren gemeinsam die Zeppelinschen Luftschiffe, die am Himmel brummend vorüberziehen, fahren“, wie der Fachmann sagt. Nicht etwa „fliegen“. Wie winzig sind dagegen die Aeroplane anzusehen, wenn sie vom Tempelhofer Feld in Berlin über Rixdorf und Britz zum Landeplatz „Johannisthal“ beim Dorf Schöneweide fliegen. Im Gegensatz zu den Luftschiffen dürfen diese tatsächlich „fliegen“! Sehr bekannt ist zum Beispiel der Aviatiker Latham. Dieser wurde noch vor einigen Jahren, als er vom Tempelhofer Feld nach Johannisthal flog, vom dortigen Gendarmen mit einer Strafe belegt – wegen groben Unfugs! „Hier so einfach rumfliegen wollen! Noch dazu ein Ausländer!“ So neu war noch vor kurzer Zeit das Fliegen, – dass der Schutzmann es erstmal ordnen wollte.


Wir machen einige Tage Ferien bei Weilands in Kreuzberg. Tante Marie Weiland ist Mamás große Schwester. Die Weilands führen eine Gastwirtschaft. Da kann man sich sein Essen immer selber aussuchen. Am 24. Juli unternehmen Mamá, Tante Marie und ich einen ausgedehnten Ganztags-Ausflug in den Botanischen Garten. Es ist sehr interessant. Im Freien sehen wir Gewächse, die teilweise sonst nur in anderen Erdteilen beheimatet sind. Eine Anzahl von Kakteen, herrliche Seerosen, Lotosblumen. Dann gibt es viele Pflanzenarten, die sonst nur im Hochgebirge wachsen, so sind dort Blumen aus dem Riesengebirge, den Dolomiten, dem Himalaja-Gebirge, dem Kaukasus und von anderen Gebirgen zu bestaunen. Tausende von Blumen. Auch besichtigten wir die „Viktoria regia“, die im Jahr nur einen Tag und eine Nacht blüht. In den riesigen Gewächshäusern aus Glas sehen wir Palmen, Bananenstauden, Kokosbäume mit „Nüssen“, Apfelsinenbäume (wisst ihr dass >Apfelsine< „chinesischer Apfel“ bedeutet?), Zitronenbäume und auch Kaffeesträucher und Kakaobäume.–

Weil ich nicht in der Britzer Kirchengemeinde aufgewachsen bin, sondern die erste Zeit nebenan in Rixdorf aber noch dazu in Berlin getauft, zwischendurch in Neuendorf gewohnt, benötige ich bei diesem Durcheinander als Voraussetzung für die Teilnahme am Konfirmandenunterricht die entsprechende Bescheinigung, dass ich trotzdem ein Heide nicht bin. Der Küster, Herr Geisler von der Kirche „Zum Heiligen Kreuz“, stellt dieses Dokument meinem Vater geschwind aus. In solchen Dingen soll man >den Herrn< nicht warten lassen.

Mein Onkel Max Dittwaldt ist stets sichtlich um meine gute Bildung bemüht. Sei diesjähriges Geschenk zur Vollendung meines 13. Lebensjahres ist die entsprechende Weltliteratur:

Neues Vortragsbuch – Vom Guten das Beste“. Erster Band: Ernstes und Heiteres.

Es ist für mich ein „nicht gar zu leichtes Brot“, mich da möglichst heiter hindurchzuarbeiten, denn ich halte ja sonst keine Vorträge und schon gar nicht so „spaßig-komische“ wie Erwachsene es eher ungern tun. Meine Grundeinsicht zur Notwendigkeit der Weiterbildung ist jedoch vorhanden. Ich denke dabei an unsere kleine Nachbarstochter „Püppi“ Schuch, von der ich euch schon einmal erzählte. Ich muss viel wissen, darf ein solches Kind nicht enttäuschen. Also lesen! Lernen!

Wir haben da in der Berliner Verwandtschaft einen Carl Janecke, der aus Osterburg in der Altmark stammt und der ist von Beruf ein „Rezitator“. Dem hätte solch ein Buch bestimmt viel Freude bereitet – aber nicht lange, denn später muss ich sagen: 1916 ist er sehr zeitig gestorben. –

Am 17. November stirbt in Zehlendorf bei Weilands meine herzensgute Großmamá Alwine Pauline Dittwaldt. Sie war in Nowawes als eine der drei Zinnow-Mädchen geboren worden.


1914

Es beginnt ein Krieg. Deutsche Soldaten werden nach Frankreich geschickt, um dort die Interessen unserer Heimat zu verteidigen. Gewiss wird es mit Gottes Schutz und Dank unserer guten Truppen ein kurzer Einsatz werden. Viele jubeln schon mal vor lauter Kampfgeist.

Auch unser Papá und sein Bruder, unser Onkel, der Zimmermann Carl Friedrich Wilhelm Janecke aus Wittenberge müssen wahrscheinlich etwas später mit – ebenso andere unserer Verwandten und Bekannten. Alles greift zu den Waffen, wenn der Kaiser ruft.


1915

14 Jahre alt bin ich inzwischen. Nach der Zeit des gehörigen Konfirmanden-Unterrichts werde ich am 14. März 1915 in der Evangelischen Kirche zu Berlin-Britz eingesegnet und erhalte damit auch die Zulassung zum Hl. Abendmahl. Ein hl.-freudiger Schreck erfüllt mich nach dem feierlich-steifen offiziellen Akt, denn es gibt ja zu diesem festlichen Anlass sogar noch Geschenke (fast unverdient – ich habe ja nur den Kleinen Katechismus mit den Zehn Geboten und Erläuterungen, das Glaubensbekenntnis und einige Lieder auswendig zu lernen gehabt). Das „Vater unser“ war mir ja sowieso geläufig. Von den Eltern bekomme ich ein in Leder gebundenes Evangelisches Gesangbuch mit meinem eingeprägten Namen. Onkel Max zeigte sich wieder ganz groß – ein Beitrag für meine Pünktlichkeit, auf die er als Kaiserlicher Eisenbahnbeamter besonders großen Wert legt. Er schenkt mir eine Taschenuhr – nur für mich alleine. (Der Leser Chris kann bestätigen, dass sich jene noch 100 Jahre später, nunmehr in seinem Haushalt befindet – zu einer Zeit, da der Beschenkte und erst recht der Schenkende schon lange nicht mehr auf dieser Erde weilen).

Postsendungen erhalte ich zur Konfirmation in größerer Zahl. Onkel Alfred Zocher (ihr wisst schon: der Straßenbahner, Ehemann von Tante Alma, der jüngsten Schwester meiner Mamá) schreibt aus Hanau, wo er zurzeit als Soldat in der Ersatz-Kompanie des 3. Eisenbahn-Regiments stationiert ist. Die Karte zeigt auf der Vorderseite einen schmuck uniformierten Soldaten, einen Feldwebel, im friedlichen Atelier der Fotografin Witwe C. Hirtes in Hanau am Main, Paradeplatz 7 stehend. Im Krieg hat er nun befehlsgemäß den Dienst von der ihm vertrauten Berliner Straßenbahn zur Eisenbahn gewechselt.


Ende März geht meine Volksschulzeit zu Ende. Mein Zeugnis ist in allen Fächern recht gut, sehr zufriedenstellend, ausgefallen. Die Kinder gehen in die Osterferien aber wir Schüler der obersten Klassen 1 a und 1 b werden hinausgeschickt in den nächsten Lebensabschnitt. Meiner Neigung entsprechend findet sich bald eine Lehrstelle. Ich beginne am 01. April und das ist kein Scherz, in der Graphischen Kunstanstalt „Baudouin“, so heißt der Besitzer und Chef. Das Gebäude steht in Berlin S 42 in der Alexandrinenstraße 35. Hier bin ich „Lehrling für Zeichnen und Retousche“. Die Lehrzeit soll auf den Tag genau vier Jahre währen. Bei der Arbeit haben wir in hellem Hemd zu erscheinen. Gestärkter Stehkragen und Krawatte sind üblich. Das ist für mich als 14-jährigen neu und ungemütlich scheuernd. Darüber bitte ein blütenweißer Arbeitskittel! Ich trage alles mit Würde.


Link für Zeichnen und Schriftgestaltung, für alle, die mal in das Zeichnen und Schreiben hineinsehen möchten: https://www.janecke.name/verschiedenes/schriftgestaltung/


Meine Schwester Käte beendet hingegen schon bald ihre Lehre als Putzmacherin, in dem sie vor allem Damen-Hüte nach dem neuesten Schrei der Mode schmückt. Na, darauf kann ich gern verzichten.


Aber ach, es kommt schon wieder mal etwas Wesentliches dazwischen, was ich doch gar nicht möchte aber nicht beeinflussen kann. Schon nach fünf Monaten wird mein Lehrvertrag im gegenseitigen Einverständnis zum 31. August aufgelöst, weil die Eltern wegen Vaters Arbeit mit uns wieder umziehen müssen, den Wohnort wechseln.


Es geht nach Nowawes bei Potsdam.

Wir wohnen jetzt fast am Friedrichkirchplatz, in der Mittelstraße 7-9, gerade gegenüber der Gaststätte „Billardheim“. Unser Hauswirt und Vermieter ist der Herr Bosse.

Das Einleben fällt mir leicht, denn ich kann mich ja noch an Verschiedenes der „alten Heimat“ gut erinnern. Alles ist hier aber schlichter, einfacher, als in Britz! Nach dem Umzug heißt es: Schnell und erfolgreich einen neuen Ausbildungsplatz suchen. Es findet sich eine leere Lehrstelle im Konstruktionsbüro des Lokomotiven-Herstellers „Orenstein & Koppel“, Berlin-Drewitz-Neuendorf und somit, bei Fahrradnutzung, „gleich um die Ecke“. Neben der Arbeit im Betrieb habe ich die berufliche Fortbildungsschule in unserer Straße, Mittelstraße 2, unserer Wohnung schräg gegenüber, zu besuchen. Es ist das Grundstück, auf dem damals der Herr August Wichgraf (1811–1901) die Webschule eingerichtet hatte, um die Weber mit neuen, effektiven Techniken in der Textilherstellung vertraut zu machen – mit dem letztendlichen Ziele, deren hartes Los zu erleichtern, Armut, mit Hunger einhergehend, zu mildern.

Am Unterricht an der Gewerblichen Fortbildungsschule nehme ich in der Maschinenbau-Klasse teil. Ich beginne im Oktober 1915 und werde sie Michaelis 1918 beenden. Wir werden unterrichtet in „Maschinenbau-Fachkunde“, „Wirtschaftliche Geschäftskunde“, „Bürgerkunde“, in schriftlichen Arbeiten sowie in der Ausführung unterschiedlichster Schriftarten. Es gibt selbstverständlich ferner das Rechnen und das Technische Zeichnen.

So einiges hat sich im Ort in der Zeit unserer Abwesenheit verändert. Als ich „unsere“ kleine Wiesenstraße an der Nuthe wieder besuche, sehe ich nun auf den benachbarten früheren Ödflächen, fünf große Häuser stehen, ab 1912 vom Arbeiter-Bau-Verein errichtet, die von der ebenfalls neuen Havelstraße erschlossen werden.


1916

Inzwischen wurden zusätzlich die älteren Männer-Jahrgänge als Soldaten zum Kriegsdienst eingezogen und unser Papá und Onkel Wilhelm sind nun auch darunter. Der Krieg ließ sich zwar schnell beginnen aber doch nicht so zügig siegreich beenden, wie vordem proklamiert. Mein Vater August Janecke hatte ja seit seiner späteren Kindheit immer mit Pferden zu tun – er hat ein Pferdeverständnis. Den Schießprügel wird er nur selten nutzen. Er ist Trainsoldat, Zugsoldat, im
1. Gardedragoner-Regiment. Zu seinen vielfältigen Transportaufgaben gehört es, mit den Pferden die schweren Geschütze durch das mitunter unwegsame Gelände bis an die vorderste Gefechtslinie zu ziehen und dort zu positionieren, damit dann die Kanoniere … . Leider bilden die treuen Pferde mit ihrer Größe eine große „Zielscheibe“. Sie können sich auch nicht in den Schützengraben kauern oder im Notfall die Flucht ergreifen.

Auch assistiert der Vater dem Tierarzt beim Behandeln von Verletzungen der Pferde, sofern da noch etwas zu helfen ist und sie nicht mit dem „Gnadenschuss“ von ihrem Dienst am Menschen erlöst werden müssen. Seit vielen Jahren hatte der Vater mit Pferden, diesen sensiblen Fluchttieren zu tun, da quälen ihn solche Kriegseinsätze natürlich nicht nur im Hinblick auf die Menschen. Bei seinem kurzen Heimaturlaub erzählte er nichts weiter vom Krieg.

Mein Onkel Alfred Zocher schreibt am 15. März 1916 aus dem tief verschneiten Poniewicz. Dort ist er stationiert beim militärischen Eisenbahn-Streckenarbeitertrupp 11 (Feldpoststation 216).

Viele Städte beginnen in dieser Zeit Notgeldscheine herauszugeben.

Die Lehre bei Orenstein und Koppel ist oft kein wahres Zuckerlecken. Wir Lehrlinge zeichnen vorerst mit dem Bleistift auf weißem Karton. Wegen der Übersichtlichkeit werden dann die Zeichnungen z. B. nach den Materialarten der verwendeten Metalle farbig gestaltet. Auf Transparent zeichnen wir ebenfalls mit Bleistift. Wenn die Zeichnung dann als fehlerfrei bewertet wird, ziehen wir diese in kräftiger tief-schwarzer Ausziehtusche aus. Können wir dann das Ergebnis mit einigem Stolz präsentieren, kommt prompt der Auftrag, das ganz neue wertvolle Stück mit dem Schabemesser auszuradieren, ohne dass etwa ein Loch in das Transparentblatt eingebracht wird. Passiert einem solches, fängt alles von vorne an. Die besten Zeichnungen, die dann für die Werkstätten genutzt werden, kopiert man dann auf Papier und jene Exemplare, die längere Zeit halten müssen, werden zusätzlich auf gestärkte Leinwand gezogen (geklebt).


1917

Es ergibt sich für uns die Möglichkeit eines Wohnungswechsels in der gleichen Straße, wo wir es schöner haben. Wir ziehen also von der Mittelstraße 7–9 in die Nr. 22, schräg gegenüber vom Friedhof. Hausbesitzer ist der Töpfermeister Max Lüscher. Es ist eines der wenigen neueren großen Häuser in der Straße, die ja ansonsten damals mit den kleinen Zwei-Familien-Häusern für die Weber bebaut wurde. Beim Umzug nehmen wir alles in unsere Hände. Papá wird staunen, wenn er zum baldigen Kriegsende – oder notfalls nur auf Urlaub – heimkommt. Fürs Erste habe ich schon mal eine Grundriss-Zeichnung der Wohnung gefertigt, mit dem eingetragenen Mobiliar, und ihm diese als Gruß „ins Feld“ geschickt.

Weil für die Kriegserfolge alle Männer benötigt werden, erfasst man auch jene, die noch nicht als Soldaten eingezogen werden. Dazu gehöre ich nicht, weil ich wegen der Gehbehinderung sowieso zum Kriegsdienst ungeeignet bin und ausgemustert wurde. Jetzt heißt die nächste Menschen-Reserve für die aber auch ich vorgesehen bin: „Hilfsdienstpflichtiger für den Landsturm“, für die Truppe, die im Wesentlichen aus ganz „jungen Dachsen“ oder Ruhegeldempfängern und Invaliden besteht. Ich habe von der ersten und letzten Gruppe etwas mit meinen immerhin bald 17 Jahren.


Zur praktischen Lehre im Konstruktionsbüro habe ich von 1915 bis 1918 den berufsbegleitenden Unterricht, wie ich schon schrieb. Ab September 1917 bis 1920 geht es zusätzlich mit Abendkursen in der gleichen Schule weiter. Lange anstrengende Tage aber man kann ohne besondere Beziehungen nur dann etwas im Beruf werden, wenn man sich „auf den Hosenboden“ setzt. Oder wie man im Handwerk sagt: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ – alles will „von der Pike auf“ gelernt sein und bis zum Erlangen der Meisterschaft geübt werden, denn „es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“.

In Anerkennung meiner Leistungen erhalte ich zum Ende jener ersten Ausbildung das dreibändige Werk „Die Hütte“, das Taschenbuch des Ingenieurs. Es ist ein guter schwerer Stoff. Drei Bücher, bestehend aus Formeln, Berechnungshinweisen, ungezählten Tabellen. (Dieses Werk wird noch heute, nach mehr als 100 Jahren in der Familie Janecke aufbewahrt und ab und zu benutzt).

In der „zeitlich überlappenden“ Weiterbildung von 1917 bis 1920 (das ist hier eine Vorschau) lernen wir in folgenden Fächern:


Meinen 17. Geburtstag begehe ich gemeinsam mit meiner Jungengruppe – 20 muntere „Männer“ der Kinderkirchengruppe, deren „leitender Helfer“ ich in der knappen Freizeit bin.


Mein Onkel Wilhelm Janecke, der Zimmermann in Wittenberge (Prignitz) dient während der Kriegszeit als Kanonier. Es hat ihn das Metall eines französischen Heimatverteidigers erwischt aber er ist noch mit dem Leben davon gekommen. Er schreibt mir zum Geburtstag aus dem Festungs-Lazarett in Metz (Elsass-Lothringen). Das Lazarett heißt „Blandinenstift“. (Vater liest, als er zur Weihnachtszeit hier ist, hocherfreut Blondinenstift, was ja auch einem guten Heilerfolg nicht abträglich schiene. Das Ganze aber ein Irrtum. In Wirklichkeit war diese Blandine eine keusche Ordensschwester). Hoffentlich heilen die Wunden des Onkels bald – oder was soll man wünschen? Je schneller die Genesung, desto eher wieder an die Front und ins Gefecht. Was er nicht schreibt – aber wir durchaus wissen: „Ein Krieg reicht mir – sollte ich heil nach Hause kommen, will ich umgehend nach Amerika auswandern“.


Zur Weihnachtszeit bekommt unser Vater einen kurzen Urlaub. Erinnerungsfoto im Uniformmantel im Hof. Seine Vorfreude auf einen heimatlich-weihnachtlichen Festschmaus muss vorsichtig gedämpft werden. Die Lebensmittelmarken geben nicht Großes zum Verwöhnen her. Auch in der Heimat gibt es nicht viel zu beißen. Mamá tischt vor allem Kohlrübengerichte in verschiedenen Varianten auf.


1918

Feld-Post erhalte ich von meinem Cousin Bruno Weiland aus dem Krieg. Auch er ist als Soldat in Frankreich, Montmorot (Jura), im Infanterie-Regiment 204. Er schreibt nichts weiter von sich und den Verhältnissen, vermutlich damit die kurze Karte gut durch die postüberwachende Zensur kommt. Der eigentlich wertvolle Inhalt ist das „Lebens-Zeichen an sich“. Auch an seine Cousine Käte schreibt er in dieser Art – mit dem lapidaren Hinweis „leider kann ich mich wegen des Papiermangels nicht weiter ergehen“. –

Beim Abgang von der beruflichen Fortbildungsschule im September 1918 erhalte ich „als Anerkennung für Fleiß und lobenswertes Betragen eine Buchprämie. Es ist die „Hütte“, das Taschenbuch des Ingenieurs.

Käte belegt nach ihrer abgeschlossenen Lehre als Putzmacherin nun einen Kurs in der Kunst des Schneiderns.

Der Krieg, der Erste Weltkrieg wird man ihn später nennen, geht zu Ende – am 11. November 1918, um elf Uhr am Vormittag – doch was kommt danach auf uns zu?


1919

Am 16. Januar verabschieden wir den 2. Pastor der Gemeinde, Pfarrer Friedrich Gerhard Kinzel. Eine seiner Hauptaufgaben war es in der Zeit seines Hierseins, die Arbeit in der Kinderkirche zu leiten. Ich wurde auserwählt, stellvertretend für den Kreis der Helfer, eine kurze Abschiedsrede zu halten. Als Erinnerung an diese Zeit überreichten wir ihm ein Photo des Helferkreises.


Am 01. Juli stirbt in Wittenberge meine Tante, die Schneiderin Luise (Janecke) verehelichte Jochmann, Schwester meines Vaters und des Onkel Wilhelm Janecke. Sie war erst 51 Jahre alt. Fünf Kinder haben die Jochmanns – und ich damit 1 Cousine und 4 Cousins aus dieser Familie.


Der Krieg endete im vorigen Jahr, aber von meinem Onkel Wilhelm Janecke aus Wittenberge haben wir keine Nachricht, können ihn auch nicht erreichen. Schon vor dem Kriege sprach er davon, dass er gerne nach Amerika auswandern wolle. Wir trösten uns gegen dunkle Vermutungen damit: Vielleicht hatte der Wilhelm von den Kriegsereignissen so sehr die Nase voll und es ergab sich für ihn eine günstige schnelle Ausreise, so dass seine Zeit zu knapp wurde, um sich von allen zu verabschieden.


Erst im Jahre 2015 gelingt es mir, Wilhelms Großneffen Chris, Sohn des Richard Janecke, in den im Internet veröffentlichten Kriegsgefallenen-Listen fündig zu werden. Das Ergebnis: Kanonier Wilhelm Janecke (10. Sept.1871–12. Sept. 1918) fiel als Soldat im ersten Weltkrieg, 2 Tage nach seinem 48. Geburtstag, 2 Monate vor dem Ende des Krieges, in Frankreich „auf dem Felde der Ehre, für Kaiser, König, Volk und Vaterland"“ –

Er hatte in Wittenberge an der Elbe (Prignitz) als Alleinstehender gelebt, so konnte von seiner militärischen Einheit keine Ehefrau benachrichtigt werden. Seine Eltern in Osterburg (Altmark) waren bereits verstorben und dass noch irgendwo Geschwister lebten – deren Anschriften kannte wohl niemand beim Militär. – Die Familien der Geschwister, selbst auch die Familienglieder der nächsten Generation starben in der Ungewissheit über das Schicksal des Bruders und Onkels Wilhelm. So wurde das Lebensende des Wilhelm Janecke, der Familie zuverlässig erst nach knapp einem Jahrhundert bekannt. Eines der traurigen Schicksale, wie es Ungezählte ähnliche gab.

Nichts also in der Realität der hoffnungsvollen Gedanken an ein gutes Leben in Amerika.


Im Herbst ist meine Lehrzeit in der Lokomotivbau-Firma „Orenstein & Koppel“ beendet. Herr Luttermöller von der Direktion schreibt mir das schlichte, geschäftsmäßig-glatte Lehr-Zeugnis:

Herr Richard Janecke war vom 1. November 1915 bis zum 31. März 1919 in unserem Konstruktionsbüro als Lehrling beschäftigt. Er war sehr fleißig und hat die ihm übertragenen Arbeiten mit Interesse und zu unserer Zufriedenheit ausgeführt. Sein Betragen war stets gut und hat zu Beanstandungen keine Veranlassung gegeben.“ Luttermöller.


Der Herr Ober-Ingenieur Heinrich Gustav Luttermöller wohnt in Neubabelsberg, Domstraße 5.

Aufgrund der guten Ergebnisse in der praktischen Lehrzeit, wie auch in der Berufsschule und ebenso in den zusätzlichen Abendkursen, übernimmt mich das Unternehmen ab 01. April 1919 mit der Stellen-Einstufung als „Techniker der Maschinenbaukonstruktion“.


1920

Meine abendlichen Fortbildungsveranstaltungen, die einige Jahre währten, beende ich nun Ende März 1920. Jetzt erst mal zumindest einen Tag, zwei Tage so richtig ausschlafen, denn nebenbei läuft ja auch seit 1917 die Arbeit in der / für die Kinderkirche. In meine Gruppe gehören unter anderen auch folgende Jungen: Karl und Oswald Henke (Karl wird später im Zweiten Weltkrieg Flieger aber Oswald wird Pfarrer, ebenso Hans Schulz (Pfarrer) der Sohn des Gemüsehändlers und Günther Deutsch (Pfarrer, jüngerer Bruder von Rosemarie, spätere oo Kloppe), genauso gehört dazu Walter Brendler, der später ein tüchtiger Tischler wird und viele andere fröhliche, aufrechte junge Menschen. –


In diesem Jahr wächst zum 01. Oktober die Stadt Berlin um ein Vielfaches, nachdem das bereits am 01. April per Gesetz beschlossen wurde. Mit zügigem Schritt konnte man die Stadt bisher in Nord-Süd-Richtung in zwei Stunden durchmessen, von Ost nach West bedurfte es zweieinhalb Stunden. Das geht in dieser Art nun überhaupt nicht mehr – aber wandern darf man trotzdem. Das alte Kern-Berlin wird mit 93 kommunalen Stadt- und Dorfgemeinden zu „Groß-Berlin“ zusammen geschlossen. Die Fläche der Stadt ist damit über Nacht um das Dreizehnfache angewachsen, von bescheidenen 66 km² auf 878,35 km². Es sind statt der bisherigen knapp 2 Millionen Berliner plötzlich 3,86 Millionen Einwohner. Damit ist Berlin die drittgrößte Stadt der Welt, gleich hinter New York und London. Stadtgrenzen werden neu eingerichtet. Vieles, was man in der nahen Umgebung (der Provinz Brandenburg) nachbarschaftlich fußläufig erreichen kann, liegt jetzt in der Stadt Berlin – fast im „Ausland“. Für das Berlin umgebende Brandenburger Flächenland stellt diese zusammengefasste neue Stadt-Großmacht einen wirtschaftlichen Aderlass dar.


In der Zeit ab 1914, besonders zwischen 1916 und 1923, also während des Krieges, in der Nachkriegszeit und während der Inflation geben viele Städte eigenes Notgeld heraus. Weshalb wurde diese Maßnahme eingerichtet? Wegen der inflationären Entwicklung lag der Metallwert der Silbermünzen höher, als deren aufgeprägter Nominalwert, so dass die Bevölkerung zum Ansammeln dieser Münzen neigte. Man erkannte die Münzen als Wertreserve für noch schlechtere Zeiten. Der Metallbedarf der Rüstungsindustrie hat bereits zu einem Mangel an Münzen geführt. Städte, Gemeinden und sogar Betriebe füllen diese Lücke und decken den Bedarf mit dem Herausgeben eigener kleiner Geldscheine anstelle der fehlenden Münzen.

Die Notgeldausgabe lässt sich in zwei Zeit-Perioden gliedern:



Einige jüngere Leute und Junggebliebene, alle hochmotiviert und voller Pläne, gründen die „Technische Vereinigung Nowawes 1919“. Viel zur Verfügung gestelltes Wissen, einzeln gesammelte Erfahrungen im kollegialen Gedankenaustausch gebündelt und gemeinsam genutzt, kann zu schönen Erfolgen führen, denken wir uns. Mit meinen 18 Jahren gehöre ich zu den Initiatoren.


Die Einladung zur feierlichen Sitzung des Stiftungsfestes, zu der ich natürlich auch meine Eltern und Käte einlade, sieht folgendermaßen aus:




Die „Technische Vereinigung Nowawes 1919“ gibt sich die Ehre


Herrn August Janecke nebst werten Angehörigen


zu dem am Sonnabend, den 15. Mai 1920, abends 6 Uhr,

im „Deutschen Wirtshaus“, Wilhelmstraße 15, stattfindenden


Ersten Stiftungsfest


ergebenst einzuladen.


Eintritt: Mk 3,00 Im Auftrag

Gesellschaftsanzug erwünscht gez. A.Rich. Janecke




Aus dem Jahre 1921

Meine Base Martha Jochmann heiratet in Wittenberge den tüchtigen Eisenbahnschlosser Karl Giese, der aus Groß Pankow stammt. Karl wurde wie ich im Jahre 1900 geboren.

Am 15. September 1921 begehen meine Eltern: August Janecke und Klara, geborene Dittwaldt, den Festtag ihrer Silberhochzeit. Mamá ist nun 48 Jahre, Papá 52 Jahre alt.

Der Weihnachts-Familien-Abend, den die Kinder und Helfer der Kinderkirche vorbereitet hatten, findet mit seinem umfangreichen Programm von 17 Punkten einen derart großen Anklang, dass wir die Veranstaltung für alle, die der Saal zu Weihnachten nicht fassen konnte, am 30. Dezember im Parkrestaurant, Wilhelmstraße 118, wiederholen. Gewiss sind auch einige Besucher dabei, die das Programm nun zum zweiten Mal sehen – der Saal ist wieder voll gefüllt.

In diesem Jahr wechsele ich innerhalb des Lokomotivbaubetriebs vom Konstruktionsbüro in die Offert-Abteilung, in der auch unser Vater, im kaufmännischen Bereich tätig ist. In dieser Abteilung kann ich einen Überblick über das gesamte Angebots- und Vertriebsspektrum bekommen. Hier erledige ich vor allem Projektzeichnungen und kalkuliere Leistungsberechnungen für Angebote.


1922

Am Donnerstag, den 18. März 1922 besuchen wir in Potsdam am Abend um 8 Uhr wieder einen Klavierabend des hervorragenden Virtuosen Wilhelm Kempff. Wilhelm Kempff ist Kantor der Potsdamer Nikolaikirche, Leiter des Liturgischen Chores, der sein Domizil im „Palais Barberini“ am Alten Markt hat. Er ist auch Musiklehrer in der Charlottenschule. Meine Schwester Käte (und natürlich viele andere ebenso) hatten bei ihm Unterricht.


Unser guter Onkel Max Dittwaldt, der wie ihr wisst, in Deutsch-Eylau in Westpreußen lebt, ist von des Auswirkungen des Versailler Vertrages in der Kriegsfolge betroffen. Das Gebiet wird dem polnischen Staat zugeordnet. Will er kein polnischer Bürger werden, muss er wie Tausende andere auch, dieses Gebiet umgehend verlassen. Er wählt als Zielort der Umsiedlung Königsberg in Ostpreußen und findet dort eine Wohnung in der Bachstraße 25a. Dort wohnen bereits mehrere Bahnbedienstete. Das Gewässer, das durch Königsberg fließt, ist weitaus mehr als ein Bach und heißt Pregel, der Straßenname aber bezieht sich auf den begnadeten Komponisten und Musiker Johann Sebastian. Wieder lebt Max nun noch ein ganzes Stück weiter von uns entfernt. Wäre er nach Königsberg in Westpreußen gezogen, wäre es bedeutend näher zu uns. Onkel Max hat dort im ostpreußischen Kö. aber auch schon eine Stelle als Reichsbahn-Amtmann erhalten.


1923

Im Mai schreibt mir Tante Marie Weiland, also Mamás große Schwester aus Berlin einen Brief und legt eine Drucksache bei. Es handelt sich um die Festpredigt zum 150-jährigen Bestehen der Friedrichskirche Nowawes, die Oberpfarrer Koller vor 20 Jahren gehalten hatte. Hier ist ihr kurzer Brief:


Berlin, 31. Mai 1923

Lieber Richard! 1)

Dieses Büchelchen 2) sandte Onkel Otto 3) damals unserer Mutter. 4)

Sie hatte die Predigt 2) gehört und sie war ihr wertvoll.

Ich fand dieselbe in ihrer Trau-Bibel 5).

Dir, der Du mit dieser Kirche 6) „verwachsen“ bist, ist es vielleicht ein Andenken.

Herzliche Grüße Euch Allen Tante Marie 7)

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Die Fußnoten dieser oben abgedruckten Notiz bedeuten:


1.) Der hier angeredete Empfänger dieses Heftchens mit dem Abdruck des Textes der damaligen Predigt, ist der Neffe der hier schreibenden Absenderin: Alfred Richard Janecke (1900 bis 1983).

Er wohnt während dieser Zeit in der Nowaweser Mittelstraße 22 (spätere Wichgrafstraße 22).


2.) „Dieses Büchelchen“ ist die gedruckte Festpredigt, von Oberpfarrer Georg Paulus Koller (Lebenszeit 1840 bis 1912, Seelsorger in der Gemeinde der Friedrichskirche von 1872 bis 1912). Diese Predigt, die wir hier gerade zur Kenntnis nehmen, wurde am 24. Mai 1903 gehalten. Die gedruckte Ausgabe befindet sich noch nach 110 Jahren im Besitz der Familie Janecke.


3.) Unser Onkel Otto (1855 bis 1936) ist der Möbel- und Sargtischler Otto Gericke, in Nowawes, Priesterstraße 18 / 19 lebend, Sohn des August Julius August Gericke (1832 bis 1905), der am
22. Oktober 1855 bei der Gestaltung
eines der Spitzkegeldächer des Flatowturmes im Schlosspark Babelsberg, als junger Zimmermann abgestürzt war und nach seiner eingeschränkten Genesung die Gericke-Reihe der Nowaweser Möbel- und Sargtischler begann.

Die damalige Priesterstraße 18 / 19 ist die heutige Karl-Liebknecht-Straße 23 / 24.


4.) „unsere Mutter“ ist Alwine Pauline Zinnow (1843 bis 1913), verheiratete Dittwaldt. Sie wuchs mit Eltern und den beiden Geschwistern auf dem Grundstück Priesterstraße 18 / 19 auf; in jenem Weberhaus, in dem heute das kleine Stadtteilmuseum „Weberstübchen“ liebevoll eingerichtet ist.


5.) Die Nowaweserin Alwine Pauline Zinnow und der Wahlberliner Carl Ludwig August Dittwaldt wurden am Sonntag, den 21. August 1864 in Nowawes von Herrn Pfarrer Karl Friedrich Wilhelm Groote (1816 bis 1872, Pfarrer in der Friedrichskirche von 1856 bis 1872) getraut. Dieser Pfarrer war der unmittelbare Amts-Vorgänger des Pfarrer Koller.


6.) Friedrichskirche in Nowawes (Deren Standort wechselte im Laufe der Zeit seine Benennung: Kirchplatz, Friedrichskirchplatz -nach König Friedrich II.- und nach 1945: Weberplatz).


7.) Tante Marie Dittwaldt, verehelichte Weiland, aus Berlin. Schwester der Mutter des Adressaten.

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In diesen Tagen fertige ich eine Tuschezeichnung unserer Friedrichskirche „Zur Erinnerung an die Jubelfeier zum 75-jährigen Bestehen der Kinderkirche“, die im Revolutionsjahr 1848 von Herrn Pfarrer Stobwasser eingerichtet wurde. Meine Zeichnung wird das Titelblatt der Festschrift schmücken. Das Bild war eigentlich so für einen Tag gedacht oder bei Einigen zur Erinnerung etwas länger. Nun besteht es bereits mehr als 100 Jahre – genauso frisch wie zur Entstehungszeit.


Für spätere Leser sieht unser Leben, das ich schildere, „aus der Ferne wohl recht normal“ aus – aber es ist völlig anders, als es scheinen mag. Ich notiere hier mal etwas zur Geldentwertung (Inflation) und ihre Wirkung auf die Warenpreise der Nachkriegszeit.

Die Inflation (lateinisch, zu deutsch: Aufblähung). Es handelt sich um eine Verringerung des Geldwertes durch Verschwendung und den Fehleinsatz von Ressourcen – eine beschleunigte Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, die am Ende zur Verweigerung der Annahme von Geld führt und dafür ersatzweise in die Flucht zum Tausch von Sachen mit voraussichtlich bleibendem Wert.

Die im Weltkrieg begonnene Kreditfinanzierung wurde nach dem Kriegsende beibehalten (Reparationsleistungen) und führte, begünstigt durch den Kampf im Ruhrgebiet 1923, (Französische Besetzung) zu einem Sturz der Reichsmark ins Bodenlose. Die Entwicklung:


Dezember 1918

1 Dollar der USA entspricht 7 Deutschen Reichsmark

Dezember 1920

1 Dollar der USA entspricht 70 Deutschen Reichsmark

Dezember 1922

1 Dollar der USA entspricht 7.350 Deutschen Reichsmark

April 1923

1 Dollar der USA entspricht 20.980 Deutschen Reichsmark

01. Juli 1923

1 Dollar der USA entspricht 160.400 Deutschen Reichsmark

01. Oktober 1923

1 Dollar der USA entspricht 142.000.000 Deutschen Reichsmark

01. November 1923

1 Dollar der USA entspricht 130.225.000.000 Deutschen Reichsmark

20. November 1923

1 Dollar der USA entspricht 4.200.000.000.000 Deutschen Reichsmark


Das bedeutet:

1 USA-Dollar entsprach im November 1923 4,2 Billionen Papier-Mark des Deutschen Reiches oder

1 Billion deutscher Mark war 1 Rentenmark wert. Nochmals anders dargestellt: dem Wert von 10 Milliarden Mark ordnete man 1 Rentenpfennig (Goldpfennig) als Gegenwert / Gleichwert zu.


Um das kaum Fassbare für das tägliche Leben anschaulicher darzustellen, die folgende Tabelle:


Artikel

(1 Pfund =

500 Gramm)

1914

vor dem Krieg

(Pfennig / Pfg.)

1918

nach d. Krieg

(Pfennige)

1922

(Mark,

1 M. = 100 Pf.)

1923 im Nov.

(Milliarden Mark)

Nach der Stabilisierung

(Renten-Pfg.)

Brot,

1 Pfund

14

25

24

260

22

Fleisch,

1 Pfund

90

200

1.200

3.200

110

Butter,

1 Pfund

140

300

2.400

6.000

220

Kartoffeln,

1 Pfund

4

12

80

50

7

Zucker,

1 Pfund

24

50

400

250

40

1 Hühnerei

8

25

180

80

11

1 Glas Bier

13

17

60

150

34

60

Streichhölzer

1

5

20

55*

2


*somit kostete ein Streichholz fast 1 Milliarde Mark.


Im Jahr 1923 müssen die Betriebe ihren Beschäftigten bis zu 2x täglich den Lohn auszahlen, der in Waschkörben auf Pferdewagen von der Bank geholt wird. Nach der Auszahlung versucht man das Geld sofort beim Einkauf auszugeben, weil es am nächsten Tag nur noch einen Bruchteil des „Wertes“ besitzt. Teilweise wird Arbeit auch nur noch mit Naturalien (z. B. Kartoffeln, Brot, Eier) entlohnt. Das Währungs-Karussell dreht sich mit rasender Geschwindigkeit, bei der einem schwindelig werden kann. Die Antiwucher-Polizei geht um.


Bald werden die Geldscheine mit dem höchsten Wert: >100 Billionen Mark< ungültig. Anschließend, am 15. November 1923 werden 1 Billion Mark (alt) gegen 1 Reichsmark (neuer Währung) umgetauscht. „Der Spuk hatte ein Ende“. Die Neuregelung hat jedoch keine Dauer, weil ihr die Stabilität wegen der ungeheuren Reparationszahlungen (Ausgleich von Kriegszerstörungen im Ausland) fehlt.


In der Potsdamer „Bootswerft Zeppelinhafen GmbH“ wird ein 300 kg leichter zweisitziger Straßenflitzer gebaut. Aber auch Fritz Nathan in der Nowaweser Wilhelmstraße 29 / 30 baut eine Limousine, das NOWA-Auto. Diese Automobil-Fabrikationen halten sich wegen der gesamtwirtschaftlich schlechten Lage aber nur etwa zwei Jahre.


1924

Unser Pfarrer Viktor Hasse hat am 2. Januar Geburtstag – eine ausgezeichnete Verlängerung des Neujahr-Feiertages. Der Helferkreis der Kinderkirche in der Friedrichskirchengemeinde überreicht ihm jährlich eine kleine, oft selbst gestaltete Aufmerksamkeit und ich habe die Ehre, für diese Anlässe die Grußkarten zu gestalten, in jedem Jahr in einer anderen Schriftart, so dass es „nicht langweilig“ werden möge. (Die Arbeitskopien dieser Grußkarten sind auch im Jahre 2025 noch gut erhalten, in einer Zeit, in der Absender und Empfänger schon lange nicht mehr unter uns weilen). Ihnen allen zur Ehre dürfen die Namen der Personen des Helferkreises hier genannt sein. Es ist eine Auswahl, denn ältere verabschiedeten sich im Laufe der Zeit, neue treten hinzu:

Meta Blankenfeldt, Hildegard Bredelow, Walter Brendler, Elise Engels, Ilse Eyselée, Else Fitz, Schwester Elisabeth Gandert, Ilse Heidelberger, Schwester Hella, Emma Hönow, Karl Irrgang, Richard Janecke, Ella Jaeck, Ella Josch, Hermann Kloppe, Anton Krüger/Bernhart, Karl Krüger, Richard Lange, Helene Menzel, Irmgard Nickel, Käthe Ritter, Wilhelm Ritter, Frieda Sarnow,

Adolf Sorge, Hildegard Thomas, Käte Weissenstein, Margarethe (Grete) Wititzky.


Bisher fuhr man, wie seit 86 Jahren üblich, von Potsdam mit der Dampfbahn nach Berlin. Die erste elektrische Berliner Schnellbahn oder auch Stadtbahn, wir sagen kurz „S-Bahn“, nimmt in diesem Jahr ihren Betrieb auf. Einen Speisewagen führt der Zug aber trotz des „S“ nicht mit sich.

Die gute alte Dampflokomotive, auch jene, die wir bei Orenstein und Koppel herstellen und verkaufen, kommt damit aber nicht etwa aus der Mode.


Am 13. November 1924 erhält der Ort Nowawes das Stadtrecht. Groß genug war er ja auch schon.


1925

Bei abendlichem Sommergewitter sichteten wir ein für uns einmaliges Ereignis: Es blitzte und donnerte. Das gab es des Öfteren. Wir schauten nach getaner Arbeit aus dem Fenster der Parterre-Wohnung den Naturgewalten zu. Da, nach einem Blitzschlag sahen wir plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite bei der Hausnummer Mittelstraße 25, einen mild-warm-gelb-glühenden Feuerball sich in der Regenrinne der niedrigen Traufhöhe der Weberhäuser nach rechts entlangrollen. So ganz passt er aber in die Rinne nicht hinein, denn er scheint größer als deren Durchmesser, nur etwas kleiner, als es vielleicht ein Fußball ist. Die metallene Regenrinne ist ihm also eher „eine Leitlinie“. Schon befindet er sich uns gegenüber und setzt sein Fortkommen in etwas ungleich bleibender Geschwindigkeit fort. Schräg rechts gegenüber von uns, bei dem größeren Haus Nr. 19 fällt er ab, setzt seine Bewegung über den Fußweg fort aber am nächsten Weberhaus „steigt“ er das Regenfallrohr hinauf und rollt auf der waagerechten Regenrinne weiter. An dem hohen Haus Nr. 11 angekommen, gibt es einen lauten Knall, der ähnlich einer Feuerwerks-Explosion mit dem Sprühen von Funken einhergeht, bei der sich dieser Feuerball in „Nichts“ auflöste. Das gesamte Schauspiel mag etwa die Zeit von einer halben bis zu einer Minute angedauert haben. Einen Kontakt oder Zusammenstoß dieses „Kugelblitzes“ mit Menschen oder Tieren gab es nicht. – Jetzt rauscht nur noch ein milder Landregen. Solch ein „Kugelblitz-Spektakel“ habe ich in meinem gesamten Leben nur dieses eine Mal gesehen.

(Anmerkung: Das Datum und die Uhrzeit des Ereignisses sind uns nicht überliefert. Die ungefähre zeitliche Zuordnung erfolgte vom Autor nach der mündlichen Überlieferung.)


Im August unternehmen Otto Müller, der Sohn vom Möbelhaus in der Priesterstraße, und ich einen größeren, mehrtägigen Fahrrad-Ausflug. Unsere erste Übernachtungsstation ist in Mittenwalde, Kreis Teltow. „Deutsches Haus“ (wie sonst?) Inhaber: Ernst Neumann. Unsere nächste große Station ist das Nachtquartier in Lübbenau. Am nächsten Tag eine kaum beschreibbar schöne Kahnfahrt durch den Spreewald. Daraufhin folgt der Besuch des Restaurants >Wotschofska< in Burg im Spreewald, bei Franz Hoef. Sorglose Tage.


Bei Orenstein & Koppel kam es in den vergangenen Jahren infolge der Umstellung der vormals florierenden Kriegsproduktion (Feldbahnen) auf Nachkriegsverhältnisse zu Massenentlassungen, was etwa eine Halbierung der Beschäftigtenzahl bedeutet.

Wegen dieser zunehmend sehr schlechten Wirtschaftslage, wird auch mir zum 31. Dezember 1925 gekündigt. Das ist eine schlechte Weihnachtsüberraschung. Auch mein Vater, der im gleichen Betrieb als Oekonom in der Offertabteilung tätig ist, erhält mit 57 Jahren den berüchtigten „blauen Brief“, in dem die Kündigung steckt.

Es heißt für uns also Abschied von den Lokomotiven nehmen!


Dieser Link führt zu einer Bilderauswahl historischer Lokomotiven

https://www.janecke.name/verschiedenes/lokomotiven-historische/


So steht die Frage vor mir: Was tun? Meine Antwort: Auf jeden Fall schnell irgend etwas sinnvolles tun. So schreibe ich sogleich mehrere Bewerbungen – aber wer stellt denn jetzt Leute ein, in der Zeit, da es den meisten Betrieben ähnlich geht, diese eher schrumpfen möchten. –


Zwischenzeitlich, also nach der Lehre, hatte ich in der Nowaweser Gewerblichen Fortbildungsschule 5 Semester Maschinenbaukunde und 7 Semester Kunst- und Plakatschriften belegt, sowie die Zusatzweiterbildung in Lichtpaustechnik, Fotolaborarbeit und Drucktechniken.

Die Bewerbungsergebnisse sind erwartungsgemäß trotzdem durchweg ablehnend.


Das Jahr 1926 – ein für mich sehr bedeutendes Jahr

Wir haben seit einiger Zeit einen Hund, eine kleine zierliche Terrier-Mischlings-Hündin. „Lumpi“ ist ihr bürgerlicher Name.

Ich beabsichtige mich nicht tatenlos in das Heer der Arbeitslosen einzureihen, sondern mich unabhängig zu machen, „Selbständiger“ zu werden, mein eigener Chef zu sein.

Am 01. Mai des Jahres 1926 gründe ich im 25. Lebensjahr ein „Technisches Reklame- und Vervielfältigungsbüro“, mit Licht- und Fotopauserei, verschiedenen Druckverfahren sowie der Ausführung jeglicher Kunst- und Plakatschriften. Weiteres könnte noch hinzu genommen werden. Natürlich habe ich schon ein Geschäftstelephon. Mit Bedacht konnte ich mir beim Amt die (den Kunden) leicht merkbare Nummer „Potsdam 79 80“ reservieren lassen.

Mein Geschäft befindet sich in der Wohnung unserer Familie. Die Eltern haben dazu das Wohnzimmer geopfert, was ich gar nicht hoch genug schätzen kann. Aus der Dreiraum-Wohnung wurde eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit zusätzlichem Geschäftsraum. Nun ist das elterliche Schlafzimmer unser neues beengtes Wohnzimmer. Und wir schlafen alle im so genannten Kinder-Zimmer. Das geht aber nur, weil Käte heiratet und demnächst aus der Wohnung auszieht. So brauche ich keine fremden Gewerberäume anzumieten. Und unser Hauswirt, Töpfermeister Max Lüscher ist mit allem ebenfalls einverstanden. Das Stadtbauamt auch.


Dieses Geschäft bedarf aber einer „Einlaufzeit“, Kunden müssen geworben und die Ausstattung der Arbeitsstätte weiter vervollkommnet werden. Meine Firma muss im Ort bekannt werden. Ich betreibe das kleine Unternehmen erst mal ganz vorsichtig, so nebenbei, und kann das auch deshalb, weil ich jetzt doch noch ein Arbeits-Angebot für eine zeitbegrenzte Anstellung bekomme.

Zum 01. Juli stellt mich Herr Bürgermeister Rosenthal für „das Rathaus der Stadt Nowawes“, also für das Stadtbauamt – die Baupolizei, für drei Monate als Hilfstechniker ein. Ich bekomme sogar die regelmäßigen Bezüge von 5,- Mark pro Arbeitstag. Die drei Monate werden später verlängert und ich kann bis zum 19. April 1927 bleiben. In dieser Zeit gehören zu meinen Schwerpunkt-Aufgaben: Neuaufmaß von Gebäuden und Anfertigung von Übersichts-Bauzeichnungen (Berechnungen inclusive) für Bauten, zu denen es keine Bauzeichnungen mehr gibt. Zu den Großaufträgen gehören vor allem Gaststätten, Tanz- und Veranstaltungssäle sowie die Kinoanlagen nach dem neuen Lichtspiel-Gesetz. Ferner das Herstellen von Kataster-Zeichnungen nach vorhandenen Bauzeichnungen und / oder nach dem eigenem örtlichen Aufmaß.

Unsere Lumpi habe ich auch bei den Arbeiten für das Bauamt ab und zu mitgenommen – ins Bureau und auf die Baustellen. Sie freut sich immer unbändig, wenn wir losgehen oder ich mit dem Rad fahre. Schon wenn ich die metallenen, ineinander gesteckten Fahrrad-Hosenklammern auseinanderziehe und das einen kleinen „Klick“ gibt, ist sie aus ihrer Morgendöserei hellwach.

Im Bureau sind oftmals große Bauzeichnungen auf dem Fußboden ausgebreitet, weil die Tischflächen nicht ausreichen. Als ich mit der regenfeuchten Lumpi hereinkam, brüllte der Chef, Herr Stadtbaumeister Kuhnert, sehr entrüstet: „Nehmen Sie sofort den Hund weg, Janecke“ – und meine brave liebe kleine Lumpi ging in gehörigem Abstand an den Zeichnungen vorbei und setzte sich still in eine Ecke. Es war nichts und niemand wegzunehmen. –


Nach Feierabend baue ich meinen eigenen kleinen Betrieb weiter auf und bearbeite die ersten eingehenden Aufträge „in der zweiten Schicht“.

Bald bearbeite ich auch Pläne der Filmproduktion. Das hat ebenfalls etwas mit Schriftgestaltung zu tun.

Beispiele dafür sind unter folgendem Link zu finden:

https://www.janecke.name/ortsgeschichte/nowawes-filme-1/


Meine Schwester Käte heiratet am 06. November. Bräutigam und nun mein Schwager ist der grundsolide Techniker Richard Kü., aus einer alten angesehenen Nowaweser Weberfamilie. Er wurde „knapp zwei Jahre vor Käte und trotzdem drei Tage nach ihr“ geboren.

Von morgen an dürfen sie „ihr eigenes Nest“ haben in der Mittelstraße 6, über der Gaststätte „Billardheim“, unserer früheren Wohnung gegenüber – und wir haben dank dieser Auflockerung hier etwas mehr Platz zum atmen.

Aus Wittenberge kommt meine Base Martha geb. Jochmann und ihr freundlicher Mann Karl Giese mit den beiden Töchtern Hedi und Annegret zu Besuch.


1927

Am 04. Mai bekomme ich aus der Hand von Pfarrer Viktor Hasse „als treuer Arbeitskamerad in der Erziehungsarbeit der Kinderkirche“ zum 10. kirchlichen Laienhelferjubiläum ein neues Gesangbuch geschenkt.


Ach, wie traurig, Käte „mit ihrem strikt eigenwilligen Kopf“ hat es mit Richard Kü. nicht lange ausgehalten. Beide gehen wieder solo ihre Wege und unsere Wohnung ist wieder gut angefüllt. Wenn aber das Scheidungsurteil rechtskräftig wird, hat Käte das Recht auf den Anspruch und die Aussicht auf eine eigene Kleinstwohnung. Das aber dauert!


Am 20. und 21. Mai wurde der Atlantische Ozean das erste Mal in der Menschheitsgeschichte in der Luft überquert – ja, nicht mehr „durchpflügt“. Der amerikanische Postflieger Charles Lindbergh flog mit dem Flugzeug „Spirit of Sankt Louis“, dieses als „fliegender Treibstofftank“ ausgebaut, völlig alleine, also ohne Ablöse- oder gar Schlafmöglichkeit, von New York in östlicher Richtung bis nach Paris. Für diese Distanz benötigte er 33½ Stunden. Eine schier übermenschliche Anstrengung ... und solange lief der Motor auch – ohne eine Unterbrechung.


Im Sommer unternehmen wir, die Helfergruppe der Kinderkirche, den Jahresausflug mit dem kleinen Motorschiff „Froh“. Eine lustige, frohe Gesellschaft schippert über die Potsdamer Havelgewässer.


Zum 01. November trete ich zur weiteren ehrenamtlichen Arbeit der Ortsgruppe Potsdam, der „Technischen Nothilfe“ bei. (Sie ist etwa ein Vorläufer des späteren „Technisches Hilfswerk“). Die Potsdamer Zentrale hat ihren Sitz in der rotbraunen „Hampel-Kaserne“ am Luisenplatz.


Zu den Aufführungen des kirchlichen Weihnachtsprogramms gehört auch in diesem Jahr wieder der bekannte Schneeflockenreigen, der jedes Jahr neu einstudiert werden muss, weil die Kinder herauswachsen und Nachfolgerinnen geschult werden müssen … und manches verliert sich an Übung ohnehin in dem langen Sommerhalbjahr. Bis 1930, noch drei weitere Jahre, werde ich Helfer in der Kinderkirche sein.


1928

Noch haben wir die erste Atlantik-Überquerung des vorigen Jahres im Kopf. Jetzt, ein knappes Jahr später, waren es am 13. und 14. April die europäischen Flieger H. Köhl, Freiherr v. Hünefeld und C. Fitzmaurice, die den Atlantik in entgegengesetzter Richtung, von Ost nach West, überquerten. Auch ihre Leistung war natürlich in aller Munde. Nach ihrer Rückkehr werden sie in Potsdam auf dem Gelände des vormaligen Luftschiffhafens stürmisch begrüßt.

Käti ist zu Besuch bei der jüngsten Schwester unserer Mutter, bei Alma Zocher, geb. Dittwaldt, in Düsseldorf. Sie schreiben einen Gruß zum Muttertag an Mamá den ich ihr vorlese, denn ihr geht es nicht gut, sie kann schon fast nichts mehr genügend deutlich sehen. Noch wissen wir nicht, dass es ein letzter schwesterlicher Gruß ist, denn Tante Alma stirbt dann am 26. Mai im Alter von nur 52 Jahren.


Morgens, wenn es die Witterung zulässt, arbeite ich bei offenem Fenster, an dem bald die Schulkinder vorbeikommen. Verschiedene Teilnehmer unserer Kinderkirchengruppen befinden sich darunter. Der erste hatten mal eine Frage, dann kamen weitere und hielten an, wurden „zutraulicher“. Im Laufe der Zeit festigten sich diese Schulweg-Fensterbesuche und ich werde gebeten auch mal zu schauen, ob die Hausaufgaben fehlerfrei sind, damit es nicht beim Herrn Lehrer ein „ungutes Erwachen“ gibt. Das „bürgerte sich so ein“, wurde zur lieben Gewohnheit. Ähnlich war es auch mit zweckmäßigen Berichtigungen, wobei ich hier weniger bei der Lösung half, sondern den Weg dorthin aufzeigte – dabei kam mir ein gewisses pädagogisches Geschick zugute, was ich mir ja in dem reichlichen Jahrzehnt der ehrenamtlichen Kinder- und Jugendarbeit angeeignet hatte. Das erinnerte mich so an die Britzer Zeit, als ich „die große Denke“ für Nachbarin Püppi Schuch sein durfte.


1929

Der Große Börsenkrach“ am Freitag den 24. Oktober in New York, ist der Beginn einer weltweiten Wirtschaftskrise, die auch um Deutschland keinen Bogen schlägt und bald besonders hart alle einfachen ehrlichen Leute treffen wird, die ohnehin nur wenig finanzielle „Polster“ besitzen.


1930

Heute, am 04. September sitze ich mit unserem Kantor Herrn Pohl, zusammen, um über das Leben zu reden, Erfahrungen austauschen (ich bin eher der Zuhörer des regen alten Herrn). Viel sprechen macht hungrig – also veranstalten wir ein ausgiebiges Bratheringessen und lassen diese nahrhaften Wassertiere dabei auch tüchtig schwimmen. Kantor Pohl spielt die Orgel der Friedrichskirche. Er hat etwas gegen einen getragenen und dünnen Gemeinde-Gesang. So versucht er gern und erfolgreich, dem kraftvoll gegenzusteuern, hält auch nicht unbedingt die üblichen Tempi ein, sondern spielt das mächtige Instrument frischauf, „sehr flott“, zieht lebendig alle Register, damit in den Bänken ja niemand einschläft und die Gemeinde-Lungen zügig durchlüftet werden. –


Zu meinem 30. Geburtstag am 01. Oktober waren langzeitig anwesend und verewigten sich auf der Rückseite meines Fest-Lieder-Blattes: Natürlich die Familie – die Eltern und Käte, eine Delegation unserer Hauswirtsfamilie Lüscher. Zu den anwesenden Freunden gehörten: Der Ingenieur Reinhold Matzke aus der gemeinsamen Zeit bei Orenstein und Koppel, Rudolf Gerlach, Otto Müller, Günter und Ursula Zweig, Karl Henke, Christlieb Albrecht, der Organist im Französischen Dom am Gendarmenmarkt in Berlin, später aber Kantor und Organist der Friedrichskirche, Anton Bernhart-Krüger, der aus Tirol nach Nowawes kam und Hermann Kloppe (Mittelstraße 18, fast gleich nebenan).

Weiterhin kam eine längere Schlange von Gratulationsgästen, die kürzere Zeit bei uns weilten.


1931

1. Mai 1931. Fünf Jahre des Bestehens meiner Firma. Zu diesem Feiertag habe ich mir den Beginn einer weiteren Werbeaktion geleistet: Einen „Schaukasten“: Blechgehäuse mit Glasscheibe und dahinter die Proben meiner Arbeiten. Der Kasten hat ein Größe von ca. 1,50 m Höhe, bei

0,6 m Breite. Er hängt an der Hausfassade bei Ofensetzer Johl // Skirk, Lindenstraße 47 – nicht weit vom Rathaus entfernt. Alle 14 Tage werde ich den Kasten innerlich neu gestalten.

Zu meinen Arbeiten gehören derzeitig an Auftragsarbeiten: Ehrenurkunden in Kunstschriften, Sporturkunden, Sinnsprüche, Hochzeitszeitungen, Festschriften für Vereine, Buchwidmungen, Geschäfts- und sonstige Plakate, diverse Drucksachen – zu bearbeiten im Einzelblatt-Drucker oder auf dem Rotationsdrucker. Besonders schönen Ausfertigungen dient der Glasdrucker. Schreibmaschinenarbeiten, Vermessung von Bauten, Technische Zeichnungen und Lichtpausen von Transparentoriginalen. Vermittlung der Anfertigung von Gummistempeln und Klischees.


Das Weihnachtsfest begehen wir in Deutschlands tiefster Notzeit. Wir leben in den Tiefen der Weltwirtschaftskrise. Das macht sich auch bei mir mit abgemagerter Auftragslage bemerkbar.


1932

An meinem Fenster, das wird jedem einleuchten, kommen nicht nur die bereits erwähnten Schulkinder vorbei, sondern auch andere Menschen. Mitunter sehr interessante, recht ansehnliche. Dazu gehört auch eine der Kindergärtnerinnen des Evangelischen Kindergartens der Friedrichskirchengemeinde, Mittelstraße. Uns schräg gegenüber, ihr wisst schon – gleich rechts neben dem Friedhof. Das Mädel heißt Hanne Brandt. Ihr Vater, Andreas B., ist als Schneider im Oberlin-Haus tätig. Ihre Mutter ist eine geborene Schwedin – also nicht mit Namen, sondern von der örtlichen Herkunft. So kann Hanne seit der Kindheit auch jene Sprache fließend sprechen.

In einer absehbaren Zeit heiratet Hanne dann den „Geo“, Georg Hecht, Sohn des Sanitätsrates aus der Lindenstraße. Die Familie des Bräutigams ist jüdischer Herkunft und um ihr Leben zu retten, „wandern sie bald fliehend“ vor dem Nationalsozialistischen Staat nach Schweden aus. Das wird die nahe Zukunft wissen. Meine guten Wünsche begleiten sie auf ihrer Reise – möge es ihnen in ihrer Zukunft gut gehen! Wir, die Hiergebliebenen, versuchen hingegen mühsam, oft genug zitternd, die Angaben für die rechte „Deutschblütigkeit“, für den „Arischen Nachweis“ zu erbringen. Die elterliche Familie von Hanne bleibt hier, so sind dann Eltern und Kind auf die Dauer der nächsten langen Jahre getrennt. Mit Hannes Schwester, der Ingrid (genannt Inge), die ebenfalls hier geblieben ist, bleibe ich, später unsere gesamte Familie, lebenslang freundschaftlich verbunden.


1933

Am 25. Februar schläft nach langem, geduldig ertragenen Leiden unser gutes Mütterlein, Klara Janecke, geborene Dittwaldt, im Alter von nur 60 Jahren für immer ein.


Kaum hat der Reichspräsident Paul v. Hindenburg die Staatsgewalt an den Reichskanzler Adolf Hitler übergeben, erscheinen einige Gesetzblätter, die für verschiedene Menschengruppen rigoros bisherige Rechte einschränken.


1934

Der Ortsvorsteher von Kohlhasenbrück, Herr Bernhard Beyer (12. Mai 1858 bis 11. Juli 1940), widmet mir ein Exemplar seiner Schrift über Stolpe / Wannsee, Kohlhasenbrück und Zehlendorf: „Erinnerungen des Ortsältesten Bernhard Beyer in seinem 76. Lebensjahr“.


1936

Olympiade im Sommer in Berlin, im Winter in Garmisch-Partenkirchen. Es wurde dafür viel gebaut. Stellvertretend seien nur erwähnt: Das Olympia-Stadion in Berlin und das Olympische „Dorf“ bei Elstal und Dallgow-Döberitz. Die Regierungspropaganda ist in dieser Zeit zurückhaltend und gibt sich freundlich-weltoffen.

Die größten Luftschiffe unserer Zeit, die LZ 127 „Graf Zeppelin“ und LZ 129 („Hindenburg“, 245 lang, 41 m im Durchmesser) fahren grüßend durch die Luft über Berlin, Potsdam und Umgebung.


1937

Im Vorjahr habe ich vorsichtig Fräulein Anne-Marie Sommer näher kennengelernt. Am 27. März verloben wir uns. Zeit für ein gemütliches Essen und etwas mehr Ruhe. Es wird keine einzige selige Freude werden, denn wir haben immer sehr viel zu tun und sinken abends todmüde in die Betten. – Also, jeder in seins, das in dem jeweiligen elterlichen Haushalt steht.


Unser „Arischer Nachweis“ ist so einigermaßen fertig. Auch ich bin in der günstigen Lage, dass mir unser Pfarrer Viktor Hasse sehr fleißig hilft, seine Amtsbrüder in allen möglichen Orten anzuschreiben, um Abschriften von Kirchenbuch-Einträgen der Vorfahren zu erbitten. So unterstützt er, „natürlich auch von Amts wegen“, viele Menschen. Wer sollte sich als Laie so schnell in dieser Materie zurechtfinden? Und das während des Arbeitstages – bzw. am Feierabend? Und wozu die ganze Prozedur? Diese Frage denke ich jedoch vorsichtshalber nur.

Wir haben, meine Generation eingerechnet, 4½ Generationen zusammenbekommen. Das bedeutet vier vollständig, also bis zu den Alteltern. Weiter zurück wird es lückenhaft und unsicher. Vor allem ist es dann schwierig mit der Leserlichkeit der Kurrentschrift und ihrer „Übersetzung“ – und welch ein Pastor hat bei den ungezählten Anfragen die Zeit dazu? Und wieviele Menschen bangen darum, überhaupt so viele (ausreichende) und im Sinne der Obrigkeit „saubere“ Angaben zusammen zu bekommen!


Kürzlich ist die Lichtpausmaschine der Ufa (Universal-Film-Aktiengesellschaft) entzwei gegangen, so bekomme ich einen großen Schwung Aufträge von ihnen. Das wird noch ein bisschen andauern, denn dieses großformatige und gebogene Zylinderglas für ihre Maschine bekommt man kaum sofort als Ersatz. Firma Wichmann, Berlin, baut solche Anlagen (und vieles mehr).

Sonntags gehe ich für das Stadtbauamt (die Baupolizei) und andere Interessenten immer noch verschiedene Gebäude aufmessen, damit anschließend gezeichnet werden kann. Da bleibt dann für meine Verlobte Anne-M'ie kaum Zeit, es sei denn, dass sie mitkommen kann und möchte. Auch meine Schwester Käte ist doppelbelastet. Sie kümmert sich um den Haushalt, versorgt uns, also auch unseren Vater mit Essen und Wäsche und hilft außerdem noch etwas im Geschäft mit.



Teil 2: Die Kinder- und Jugendjahre

der Anne-Marie Sommer

Worte auf den Weg – mein Rückblick aus dem Jahr 2000

Im Laufe der Zeiten sagte man in vielen Familien: „Es wurde früher so viel über die Familiengeschichte geredet. Man könnte noch so vieles aufschreiben und bewahren!“

Tatsächlich aber wurde wohl aus solcher Erkenntnis und jenen guten Vorsätzen seltener etwas verwirklicht.

In meinem Elternhaus wurde kaum etwas über familiäre Beziehungen gesprochen. Wir hatten einen eher kleinen Kreis naher Verwandter und Bekannter. Mit Namen SOMMER kannte ich eigentlich nur die Geschwister meines Vaters hier im Ort. So dachte ich bis ins höhere Alter, wir SOMMERs hier im damaligen Nowawes wären eine „einsame kleine Familie“.

Nachdem mein Sohn Christoph J. mit der Ahnenforschung begonnen hatte, gab es häufig etwas zum Staunen. Ich erfuhr, dass bereits zu früheren Zeiten eine Anzahl von Familien des Namens SOMMER im Raum Potsdam gelebt hatten, wenn auch vorerst noch unklar blieb, ob es sich lediglich um Namensvettern oder tatsächlich um „eigene“ Vorfahren handelte.

So erfuhr ich auch, dass mein Altvater SOMMER in Buckow (Märkische Schweiz) gelebt hatte und genau wie seine Frau im Jahre 1809 viel zu früh verstarb. Ihre vier Kinder wurden zu Vollwaisen und ihre Spuren verloren sich (für uns) in der Folgezeit. Der älteste Sohn, mein Urgroßvater Friedrich SOMMER wurde in Potsdam ein Schuhmacher-Meister und gründete hier seine Familie – fand mein Sohn heraus. Mit seiner Ehefrau Caroline, geb. Keilbach, hatte er neun Kinder. Das waren meine Großeltern, Großtanten, Großonkel. Diese hatten später, als Ehepaare insgesamt 38 Kinder, die erwachsen wurden – und somit meine Eltern, bzw. Tanten und Onkel. Hochgerechnet hatten diese über 100 Kinder – also Cousins und Cousinen von mir, die etwa in den gleichen Jahrzehnten leben wie ich und jene hatten ebenfalls im Durchschnitt etwa 2 Kinder. Insgesamt eine riesige gleichzeitig lebende Verwandtenschar von vielleicht 360 verwandte Personen, nur dieses einen Familienverbandes und in einer Stadt!

Wer hätte das gedacht? Gut, verschiedene zogen fort in andere Orte, andere lassen sich schwerer aufspüren, weil die SOMMER-Töchter ja bei der Heirat andere Namen annahmen und deren Kinder ebenfalls die väterlichen Familiennamen tragen – aber blutsverwandt blieben sie ja genauso, mit gleichen Wurzeln und Genen, DNA-Spuren.

Und nochmals – bis ins höhere Alter dachte ich, wir SOMMERs hier im damaligen Nowawes wären eine „einsame kleine Familie“. Zu solch einem Fehleindruck kann man kommen, mit diesem das gesamte eigene Leben „verbringen“, ohne die Verwandten kennengelernt zu haben, nur weil sich niemand um die verwandtschaftlichen Beziehungen gekümmert hatte, wenig den Zusammenhalt der näheren und weiteren Angehörigen pflegte. Und weil wohl niemand etwas Bleibendes in Wort und Bild für die Familiengeschichte schuf und vererbte, dass erhaltenswert erschien. –

Mangel an Interesse, Zeitknappheit, die Arbeit in Beruf und Haushalt, das Aufziehen der Kinder, die Sorge, die Familie durch schwierige Zeiten zu bringen, gesellschaftliche Verhältnisse, die die Familienforschung eher behinderte als förderte, gehören auch zu den vielen Begründungen, warum sich Familien „fremd, einsam, ohne verwandtschaftlichen Rückhalt“ fühlen können. –

Ersetzen lassen sich unbekannte oder tatsächlich nicht vorhandene verwandtschaftlichen Bindungen selbstverständlich beispielsweise durch Freundschaften, die nicht als „Ersatz“ anzusehen sind, sondern eine sehr große Bereicherung darstellen können, wie man diese mitunter nicht in der eigenen bekannten Verwandtschaft findet.


Das sind nun meine neueren Gedanken zum Thema >Pflege des Wissens um die Verwandtschaft< – damit es die nächsten Generationen hoffentlich besser machen!


1905 – Wie alles (vor meiner Zeit) begann:

Mein Vater Max Sommer, Schlosser und Elektrotechniker von Beruf und in Potsdam geboren, ist jetzt 30 Jahre alt und meine Mutter Anna Margarethe (geborene Runge aus Berlin), 25 Jahre jung. Sie schließen am 29. Juli 1905 den Bund der Ehe. An diesem Tage wurde Ihnen das Familienstammbuch überreicht, ausgestellt vom Standesamt Neuendorf bei Potsdam. Kirchlich traute sie Herr Pfarrer Schlunk in der Bethlehem-Kirche auf dem Bethlehem-Kirchplatz (=> nach 1945: Neuendorfer Anger – dieser dann ohne Kirche).

Bisher lebte Bräutigam Max bei den Eltern in der Nowaweser Mittelstraße 9 (das ist ab 1930 die Wichgrafstraße 9). Margarethe hingegen lebte bei dem verwitweten Vater Carl Heinrich Franz Runge in der Neuendorfer Forststraße 15 (heute Dieselstraße 12), beide in zwei benachbarten Orten aber nur einen „größeren Katzensprung“ voneinander entfernt.

Den Nachmittag verbringt die Hochzeitsgesellschaft dann in aufgelockerter Weise im >Gartenlokal Rindfleisch< so der Name des Besitzers, in der Großbeerenstraße Ecke Jagdhausstraße unweit des alten Jagdschlosses Stern.

Das künftige gemeinsame Heim ist natürlich bereits vorbereitet. Das junge Paar bezieht die Wohnung im Parterre des Hauses Priesterstraße 68 (=> heute Karl-Liebknecht-Straße 121). Es handelt sich um eine wohl seltenere architektonische Sonderleistung, wie ich euch später erzählen werde. Solch eine, die nicht jeder ertragen möchte. Hofseitig, im hinteren Teil des Seitenflügels des Gebäudekomplexes, befinden sich die Werkstatträume des elterlichen Elektroinstallations-Betriebes.


1906 – und schon erwacht ein neues Leben

Mein großer Bruder Max Fritz Franz (alle nennen ihn später aber nur noch Hans), wird als erstes Kind unserer Eltern am 05. Mai 1906 vormittags um 7½ Uhr in der elterlichen Wohnung, Nowawes, Priesterstraße 68, geboren.

Im gleichen Jahr taufte man ihn am 29. Juli, am Hochzeitstag der Eltern, in der Nowaweser Friedrichskirche. Der Herr Küster / Kantor Pohl beglaubigt Franzens Taufe.


Franzens Tauf-Paten sind:

1. Marie Sommer (Schwester von Papa), Nowawes, Mittelstraße 19a,

2. Frieda Kling, Frau von Rudolf Kling, dem Schuldiener am Gymnasium,

3. Johanna Seehafer, geb. Runge, (Schwester von Mutti), aus Niederschönhausen bei Berlin,

4. Theodor Steiner (Weber und Bräutigam von obiger Marie Sommer, spätere verehelichte Steiner)


1913 – Das Jahr meiner Geburt

Ich, Margarete Anne-Marie, werde als 2. Kind der Familie Sommer am 06. Juli 1913 in Nowawes, Kreis Teltow, Priesterstraße 68 (nach 1945: Karl-Liebknecht-Straße 121) vormittags gegen 8½ Uhr in der elterlichen Wohnung geboren. Das Gründerzeithaus steht gegenüber dem früheren böhmischen Schulhaus. Von den Eltern werde ich stets „Anni“ gerufen.

Getauft werde ich in der Friedrichskirche am 38. Geburtstag meines Vaters, den 21. September 1913, von Herrn Oberpfarrer Dessin.


Meine Tauf-Paten sind:

1. Emil Seehafer, Ehemann meiner Tante Johanna Seehafer, geb. Runge, Niederschönhausen

2. Herr Paul Muster, Baumeister / Architekt in Potsdam

3. Herr Hermann Blohm, Architekt in Nowawes

4. Herr Ferdinand Pehlke, Stadtbau-Inspektor im Rathaus Nowawes, Wohnung: Priesterstraße

57a (=> nach 1945: Karl-Liebknecht-Straße 110).

5. Herr Ernst Meyer, Bankangestellter, Nowawes.

Alle Angaben kann man im Stammbuch meiner Eltern nachlesen oder auch in kurz gefasster Form im Nowaweser Kirchenbuch unter „Getaufte“, Nr. A 185 des Jahres 1913.

Von 1913 bis 1941 – 28 Jahre lang werde ich in diesem Haus Priesterstraße 68 wohnen.


1916

Papa zieht von uns fort – in ein fremdes Land, in den Krieg, obwohl er das gar nicht will und er hier viel zu tun hat. Der Kaiser braucht ihn da noch mehr, als wir ihn zu Hause. Wahrscheinlich oder hoffentlich muss er aber nicht auf andere Menschen schießen. Mit mir wird er später über seine Kriegserlebnisse nie sprechen. Als Elektrofachmann ist er in einer Starkstromkompanie vorerst im badischen Süden Deutschlands eingesetzt. Und muss Elektroleitungen zwischen allen möglichen Orten ziehen und immer wieder viele Telefonverbindungen schaffen – aber meist nicht ganz allein.


1917

Unser Papa ist im Krieg verletzt worden. Er liegt in einem Krankenhaus, das nur Lazarett genannt wird, aber eigentlich eine Schule für Mädchen ist, die man für verwundete Soldaten leergeräumt hat. Mutti kann ihn dort in Freiburg, im Breisgau, im Lazarett „Hildaschule“, besuchen. Sie schickt uns am 5. Juni von dort eine Karte und fragt an, ob wir (Hans 10 Jahre und ich, knapp 3 Jahre) artig sind und ob wir die Blumen nicht vergessen. Mehr erfahren wir nicht. Natürlich vergessen wir die Blumen nicht. Wir sehen sie doch an jedem Tag. Und artig – gewiss, gegen wen sollten wir es nicht sein. – Papas Verwundung ist offenbar auf dem Wege der Heilung.

Im Juli hat Hans Schulferien und darf auch nach Freiburg reisen. Er wohnt da mit Mutti in der Klarastraße 61. Von seinem Lehrer des Nowaweser Realgymnasiums in der Althoffstraße, Herrn Professor Hübner, erhält er dort einen Kartengruß.

Gut verstehen sich die Jungen während der Schulzeit auch mit dem Hausdiener / Hausmeister, dem Pedell des Gymnasiums, Herrn Kling. Kein Wunder: Dessen Ehefrau wurde ja schon vor 11 Jahren des Franzens Taufpatin.


Zu meinem vierten Geburtstag, am 06. Juli, bekomme ich einen Puppenwagen und dazu eine Puppe geschenkt. Mit echtem Haar.

Meine Cousine Trude Eschert besitzt ein wunderschönes Puppenhaus. Drei Etagen hoch, die Fenster mit Blumenkästen und eine Terrasse gibt es auch. Die Vorderfront des Hauses kann man aufklappen und dann in allen Zimmern spielen. Hübsch sind auch die kleinen Möbel für die Püppchen..

Größere Jungen, so wie auch mein Cousin Günther Eschert, haben, wenn die Eltern es sich leisten können, beispielsweise eine Dampfmaschine, die mit Spiritustabletten betrieben wird. Wir kleineren Mädchen, werden dann immer des Zimmers verwiesen, weil „es zu gefährlich sei“. Mädchen bekommen eher eine kleine Kochmaschine, ebenfalls mit Spiritus betrieben, auf denen man richtig kochen kann. In dieser Zeit sind das meist Kohlrüben. Das ist dann nicht allzu gefährlich – es sei denn, die Eltern sind anderer Meinung, dann muss man „eben so tun, als ob...“.


1918

Was alles wird uns das neue Kriegsjahr bringen? Vielleicht den Frieden? Doch zuvor meine erste große Nordlandreise! Im Sommer dürfen wir Urlaub in Trassenheide (Usedom) machen. Ich werde dort an der See im Laufe der Jahre vieles gut kennenlernen und lieb gewinnen, da wir mehrmals dort sein dürfen. Wir wohnen bei der Familie des Fischers Urban. Gut essen können wir in der Bahnhofsgaststätte Jager in Karlshagen. Von unseren Nachbarn Ückmann und Drews bekommen wir Räucherfisch, der sich sehr gut hält, so dass wir auch solche Leckerbissen, in den schnellen Päckchen zu den Verwandten nach Berlin schicken. Der Förster, Herr Loof, präpariert und verkauft Möwen, was mir herzlich leid tut. Er selbst aber war bei diesem Geschäfte recht fröhlich. Die Möwen sehen auch ausgestopft sehr vergnügt aus. Bei Seehafers in Niederschönhausen hängt beispielsweise im Korridor über dem Trumeau eine fliegende Möwe zur Erinnerung an schöne Urlaubstage. In der Wohnung sieht sie viel größer aus, als hier draußen in der freien Natur.


Der große Krieg geht zu Ende. Papa kehrt aus dem Krieg zurück. Er lebt – hat eine ausgeheilte Verletzung davon getragen über die er noch klagt wenn das Wetter sich ändert und hat in jener unguten zurückliegenden Zeit viele, viele Elektroleitungen gespannt, verbuddelt oder repariert.


1919

Im September dieses Jahres (zu Michaelis) werde ich in der Gemeindeschule in der Nowaweser Auguststraße (=> nach 1945: Tuchmacherstraße) eingeschult – in die 8. (unterste) Klasse. Das Fortschreiten der Jahre des Schulbesuchs zählt man rückwärts – wie auch sonst? Die früher sieben-stufigen Klassen wurden durch Einführung der Oberklasse ab 1913 zur achtklassigen Volksschule. Und auch ich kleine Anne-Marie dort nun mittendrin.


Advent: Zu Hause bei uns brennen auf dem Adventskranz rote Kerzen. Aufgehängt ist der Kranz mit roten Bändern auf einem roten senkrechten Stiel, der in einer Ständerplatte steckt, die als Stern geformt ist. Die Kerzen auf dem Kranz brennen in geordnet ansteigender Folge: Erst 1, dann 2, dann 3, dann 4 … dann steht das Christkind vor der Tür. Das ist Tradition, althergebrachtes Brauchtum, hatte aber bei meinen Eltern nichts mit einem Ausdruck von Religiosität zu tun.


Weihnachten in der Schule: Bis 1919 ist der schulische Unterricht mit dem Religionsunterricht verbunden. In jeder Klasse werden Weihnachtslieder und Gedichte gelernt und dazu die altvertraute Weihnachtsgeschichte vorgetragen: (Lukas 2,1 „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. …“

Und wie klopften unsere Herzen vor Ehrfurcht und Freude, wenn wir den weiß gewandeten Hauptengel aus dem 1. Schuljahr, Goldband im offenen Haar und mit großer brennender Kerze in der Hand, begleiten durften, wenn er diese Worte der Weihnachtsgeschichte sprach. Jede Klasse wetteiferte, um es gut und schön zu machen – in den mit Tannenzweigen geschmückten Klassenräumen.


Weihnachten zu Hause: Der Weihnachtsbaum erstrahlt im Lichte der zwölf Wachskerzen hell, im wahrsten Sinne des Wortes ungewöhnlich hell, denn es ist ja die Zeit, da man zur abendlichen Beleuchtung, nie früher als unbedingt nötig, hauptsächlich Petroleumlampen nutzt. (Wieviel weniger mag später den Kindern der Lichterbaum bedeuten, wenn am gesamten Tag die elektrischen Lämpchen brennen, als gewohnte Normalität wahrscheinlich bald weniger beachtet.)

Den geschmückten Weihnachtsbaum dürfen wir Kinder erst „zur Bescherung“ am Heiligen Abend sehen. Sind die Wohnverhältnisse der Familie „besser gestellt“, steht der Baum in der „guten Stube“. Diese wird in dieser Zeit, wenn möglich, als Weihnachtszimmer abgeschlossen. Sind die Verhältnisse einfach und eher eng, müssen die Kinder zumindest solange bis der Baum fertig geschmückt ist, „hinaus expediert“ werden. Aber nicht jede Familie kann sich ein Bäumchen leisten. – Speziell bei uns hatte der uns unbekannte Architekt des Hauses vor vielen Jahren dafür gesorgt, dass es keine abschließbare „gute Stube“ gibt – das erkennt jeder Betrachter im Bildteil.

Den Weihnachtsbaum schmückt man nach den Verhältnissen, also nach der Größe des Geldbeutels und dem „Geschmack“ der Leute mit Weihnachtsengeln, bunten Kugeln oder anderem Glasbläser-Schmuck, Süßigkeiten (vor allem mit „Kringeln“), Äpfeln und „vergoldeten“ Nüssen. Oft erhält das Bäumchen einen künstlichen Aufsatz für seinen Spitzenzweig, dem Leittrieb. Selbstgebastelte Ketten aus Buntpapierstreifen oder Strohsterne können genutzt werden. Lametta, bestehend aus langen dünnen Stanniolstreifen oder aus Bleifasern sowie „Engelshaar“ gehört mitunter auch zum Beiwerk.

Beim vergoldenden bronzieren der Nüsse oder dem Fertigen der Buntpapierketten dürfen die Kinder oft helfen. Dabei werden dann Advents- und Weihnachtslieder gesungen und spielerisch Gedichte gelernt.

Das Bäumchen wird in eine >Hutsche< gestellt, beispielsweise in einen schweren gusseisernen „Fuß“, der auch als Wasserbehälter gestaltet ist und mittels Flügelschrauben senkrecht eingespannt.


1921

Mein großer Bruder Hans wird am 13. März 1921 von Herrn Pfarrer Hasse in der Friedrichskirche eingesegnet. Nun zählt er schon mehr zu den Großen.


Ich beschreibe euch nun unsere Wohnsituation und die Arbeitsstätte im Haus Priesterstraße 68:

Befinden wir uns in der Priesterstraße vor dem Hause, so stehen wir vor der großen Haustür mit einer Durchfahrt zum Hof. Links von der Haustür befindet sich der Laden mit Schaufenster der Drogerie Bode, rechts der Durchgangstür das Schaufenster des Geschäfts, von Herrn Brillen- und Foto-Schäfer. Wiederum davon rechts der Verkaufsraum mit Schaufenster der Elektrofirma Sommer.

Geht man nach dem Durchschreiten der Hauseingangstür nicht die Treppe hinauf in das Wohnhaus, sondern passiert die zweite große Tür, dann betritt man den Hof, an dessen Ende sich unser Garten anschließt. Begrenzt wird dieser lange schmale Hof rechts und links von den Gebäude-Seitenflügeln.

Im rechten Seitenflügel, der sich an unseren Verkaufsraum anschließt, liegt im Hochparterre unsere Wohnung. Die Durchgangszimmer sind wie Zugabteile der Eisenbahn hintereinander gereiht, nur dass bei uns der Korridor fehlt. An die Wohnung schließt sich im Seitenflügel fast unmittelbar, nur unterbrochen von einem schmalen „öffentlichen“ Treppenhaus, die Werkstatt mit Lager und Büro an. Unter dem Büro befindet sich die Waschküche für alle Mieter.

Vom Werkstattbüro und vom Ende des Hofes kann man gut in den Garten sehen. Die rückwärtig gelegene Seite des Gartens „stößt“ mit den Gärten in der Auguststraße zusammen – durch die Gärten hätte ich also einen nur ganz kurzen und lieblichen Weg zur Schule aber wegen des Zaunes und des Nachbargartens muss ich natürlich brav die viel längere Straßenstrecke gehen.

Zwischen dem Hofdurchgang und dem „Seitenhaus“ hatten meine Eltern einen breiten Pflanzstreifen angelegen können, also einen „Zusatzgarten“ einrichten dürfen. Eine besondere Liebhaberei meines Vaters ist es, einige eigentlich im fernen Süden beheimatete Pflanzen hier anzusiedeln (so wie man es in Sanssouci oder im Botanischen Garten in Berlin sehen kann). So haben wir vor dem Zimmer zwar ein Kräuterbeet, vor dem Schlafzimmer den Flieder (darunter eine Bank stehend) aber eben auch Oleander, die Yucca-Palme und Kaffeebäumchen. Vor der Werkstatt hingegen sind Lebensbäume gepflanzt. Dazu später mehr.

Nun gehen wir 'mal kurz durch diese gesamte „D-Zug-Wohnung“:

Alle diese Räume müssen (wie auch sonst?) mit Kohle-Kachelöfen beheizt werden. Im Winter.


Der Laden

Er ist etwa 5 x 4 m groß, besitzt also eine Fläche von rund 20 m². Die Einrichtung kann als einfach gelten; als schön empfinde ich dagegen die monatlich wechselnde Schaufenstergestaltung mit den elektrischen Geräten, Lampen, elektrischen Uhren und so weiter. Der Ladentisch dient zum präsentieren der Waren, zum Einpacken des Gekauften aber nicht wie sonst oft üblich zum Unterteilen des Raumes in ein Verkäuferabteil und einen Kundenraum.

Schreibarbeiten während der Geschäftsöffnungszeit werden grundsätzlich am Stehpult verrichtet. Zu vieles Sitzen ist ungesund. Häufiges Laufen ist üblich, denn im Laden befindet sich beispielsweise vorsichtshalber keine Kasse für das Wechselgeld. Diese steht sicher hinten im Büro beim Chef. Der Chef, ihr ahnt es, ist mein Vater. So ist das Geld vor eventuellen Dieben geschützt, doch wenn meine Mutter Geld wechseln geht, sind eben dafür die Kunden allein mit den ausgestellten Waren. Das erinnert mich so ein bisschen an die Geschichte mit Wolf, Ziege, Kohlkopf und dem Kahn. Wer kann da so richtig wem trauen? Wer hat wann welche Vorteile? Mit derartigen kindlichen Gedanken gaben sich meine Eltern nicht ab. Sie hätten diese als kindisch empfunden. Aber einen gefährlichen Raubzug gab es wohl in all den Jahren in unserem Laden nicht. Es ist eben kein Juwelier-Geschäft.


Weiter in dem Besichtigungsgang: Vom Laden führt eine kurze Treppe hoch in das Wohnzimmer, denn unter den Zimmern ordnete man beim Bau die Kellerräume der Mieter an. Das Wohnzimmer – „die Gute Stube“, ist etwa 7 x 4 m = 28 m² groß. Es ist damals beim Bau leider nur mit einem Fenster ausgestattet worden. Wahrscheinlich hatte der Bauherr befürchtet und vermieden, dass sich die Mieter „über Eck“ gegenseitig auf den Essenstisch sehen könnten (zu unserer Zeit also Brillen-Schäfer als Nachbar). Dadurch ist es immer etwas düster im besten Raum, zumal die gegenüberliegende Bebauung auch keinen Sonnenschein ins Zimmer lässt. Ein zweites Fenster wäre gut gewesen. Eine geeignete Gardine hätte alle Bedenken für „unerbetenes Fensterln“ zerstreut, doch die baulichen Verhältnisse sind eben nicht so gestaltet. Als „Ausgleichsversuch“ ist die Türfüllung zum Laden mit einer Mattglasscheibe ausgestattet, welche etwas Licht hindurch lässt.

Die Wohnung unserer Familie ist „bürgerlich“ eingerichtet. Der große schwere Esstisch hat zwei Ausziehplatten, das Tischgestell ist eine solide Kreuzsteg-Konstruktion. Bis zu zwölf Personen könnten bequem daran Platz nehmen. Solche Personenanzahl ist bei uns selten. Der Tisch könnte auch viel größere Lasten aufnehmen, als sie ihm jemals zugemutet werden. Dann das schwarze Klavier. Vor dem einsamen Fenster der Korbtisch mit zwei Korb-Stühlen. Das Nussbaum-Buffett (mit reichem Schnitzwerk) beschließt die Möbelausstattung dieses Raumes.


Das kleine Wohnzimmer (Kinderzimmer) hat die Größe von ungefähr 4,50 x 3,00 m = 13,5 m².

Für Hans und mich gemeinsam ist es schon recht beengt. Es gibt keine Möglichkeit, sich in eine eigene Ruhe zurück zu ziehen, zumal wir bei unseren Unterschieden von Alter und Geschlecht auch unterschiedliche Ansprüche und Interessen haben und Hans früher der fast alleinige „Herr“ dieses Zimmers war. Der ständige Durchgangsverkehr erleichtert unseren Eltern die Aufsicht.

Die Einrichtung ist eher einfach gehalten. Ein kleiner rechteckiger Tisch mit grünem Linoleum auf der Platte, mit gedrechselten Beinen und Ausziehplatten, das Sofa als Schlafstelle für Hans, zwei Stühle, die Sitzflächen aus Rohrgeflecht. Mein Kinderbett mit engmaschigem Metallgeflecht, die obere Hälfte der Vorderfront herabklappbar. Aus diesem bin ich herausgewachsen, so dass in absehbarer Zeit ein größeres Bett aufgestellt werden müsste. Geheizt wird dieses Zimmer nur an sehr kalten Tagen. Aus Abstands-Platzmangel ist zum Hitzeschutz eine Marmorplatte zwischen Ofen und Bett geschoben. In der großen Holzkiste für das wenige Spielzeug werde ich später meine „Aussteuersachen“ aufbewahren. Für einen eigenen Kleiderschrank reicht der Platz nicht.


Der nächste Raum ist das Schlafzimmer der Eltern, etwa 4.80 x 3.80 m, also ca.18 m² groß:

Im Gegensatz zur Einrichtung der Wohnungen meiner Schulkameradinnen finde ich das helle sachlich-schlichte Schlafzimmermobiliar bei uns, als „dem Zeitgeschmack von 1905“ voraus. Im Mittelteil der Kleiderschranktür ist bereits ein Spiegel in voller Höhe eingearbeitet. Im Schlafzimmer kann außer den Betten der Eheleute notfalls noch das hölzerne Ziehharmonika-„Feldbett“ für einen Gast aufgestellt werden. Die Nachttische und die Waschkommode sind mit hellen Marmorplatten belegt. Auf der Platte der Waschkommode stehen wie üblich die helle Keramikschüssel, der Wasserkrug und die Schälchen für Handwaschbürste und Seife zur Körperreinigung im Schlafgemach bereit. Das Wasser für die Körperpflege wird aus der Küche vom Wasserhahn (oder richtiger: vom Zapfventil) über dem Ausgussbecken geholt sowie bei Bedarf zwischendurch auf dem Kohleherd angewärmt. Dann steht im Schlafzimmer noch der „Wäsche-Puff“ aus Weidengeflecht.

Die Toilette befindet sich wie üblich im Treppenhaus auf halber Geschosshöhe, am Treppenabsatz.


Wenn unsere jungen Kätzchen den Spiegel des Schlafzimmerschrankes kennenlernen, gibt es erst mal einen krummen Buckel, dann versuchten sie das Gegenüber mit den Pfötchen zu tasten und sind erstaunt, dass sie nicht auf ein warmes Fellchen kommen, sondern auf das harte Glas stoßen. Auch dahinter zu gucken gelingt ihnen nicht. Es ist immer ganz possierlich anzusehen, wie auch die kleinen Katzenkinder lernen müssen. Unsere Katze ist die schwarz-weiße Itze (mit lang gesprochenem i), ihr erster Sohn der getigerte Peter. Zu unserer Familie gehört auch noch der Terrier Lux. Lux und Itze wuchsen gemeinsam auf. Als Itze in der Zeit als junge Mutter einmal nicht rechtzeitig von einem Jagdausflug heimkehrte und ihre Kleinen schon hungrig mauzten, legte sich der treue Lux zu ihnen, um sie zumindest zu wärmen und ihnen etwas Trost zu spenden, wenn auch keine Milch. Als Itze dann atemlos in gewaltigen Sprüngen zurück kehrte und den Lux bei ihren Kleinen liegen sah, erntete der Gute nur einige Backpfeifen-Pfotenhiebe von ihr. – Undank ist oft der Welt Lohn.


Die Küche – circa 6 m² groß.

Dem kleinen Raum ist ein noch kleinerer Korridor vorgelagert. Die Küche enthält einen Kohleherd, das halbrunde Ausgussbecken, am Fenster den Geschirrspind mit dem Alltagsgeschirr – denn das gute Geschirr für Sonn- und Festtage steht im Buffett im Wohnzimmer. Gegenüber der kleine Frühstücks- und Abwaschtisch, an dem wegen der Raumenge nur in Etappen gegessen werden könnte. Deshalb werden gemeinsame Mahlzeiten im Wohnzimmer eingenommen, auch wenn das Geschirr und das Essen von der Küche durch das Schlaf- und das Kinderzimmer getragen werden muss. In der Ecke hinter der Küchentür hat noch das Lebensmittelregal mit der Fliegengaze-Tür seinen Platz.

Mutti kocht die Mahlzeiten während der gesamten Zeit ihrer Ehe nach Art der Altvorderen auf dem Kohleherd, obwohl wir in unserem Laden moderne Elektroherde verkaufen. Ja, so sind von diesen häuslichen Verhältnisse, für mich später gar manche eigenartig anmutend.


Will man in die Werkstatt und zum Chef ins Büro, geht es von unserer Küche durch das Treppenhaus des Seitenflügels in eine frühere andere Wohnung – heute ist es eben der Gewerberaum. Somit ist es erforderlich, selbst bei den Gängen „innerhalb“ unserer Geschäfts-Wohnung, jedesmal Schlüssel zu nutzen – diese können also nie Rost ansetzen.


Das Lager, des Elektrogeschäfts, 6 m² groß – war die Küche jener früheren Wohnung:

Der hier vorhandene Herd wird nicht genutzt. Im Wesentlichen nimmt der Raum die Leitern, den Handwagen und die große Kiste mit Gips auf, aus der sich die Elektro-Mechaniker, genannt: Monteure, bevorraten. Wegen der Eigenschaften des Gipses müssen die Gesellen beim Waschen der Hände am Ausgussbecken achtsam sein, damit nicht etwa mit Wasser umhergespritzt wird.


Die Werkstatt, Größe ungefähr 5 x 3,5 m = 17,5 m²

Wichtigster und größter Ausstattungsgegenstand ist die Werkbank mit zwei Schraubstöcken, die damals beim Einrichten durch das Fenster gereicht werden musste, weil das Treppenhaus zu eng ist. Die Ständer-Bohrmaschine und der Doppel-Schleifbock bilden die Maschinentechnik. Weiterhin gehören zur Einrichtung des Raumes der Arbeitstisch für die Abrechnungen der Monteurleistungen, also der „Arbeitszettel“, das Regal für Verbrauchsmaterialien und zur Zwischenlagerung von Material der vorbereiteten Aufträge, sowie die oben offenen Kiste für Leitungsumhüllungen aus Metallrohr für die Aufputz-Installation. Hier stehen auch die „Panzerrohre“, besonders widerstandsfähige Schutzrohre für Elektroleitungen.


Das Büro, für den Chef „das Allerheiligste“, ist knapp 20 m² groß.

Es ist ausgestattet mit dem Schreibpult für unseren Buchhalter, Max Hasait. Dieser war schon in den Kindertagen Nachbar und zeitweiliger Spielkamerad meines Vaters. Dem Pult ist ein höhenverstellbarer Drehhocker zugeordnet, dessen Sitzfläche mit schwarzem Wachstuch bezogen. Am Nachbartisch sitzt Papá auf einem rustikalen Holzstuhl. Das schwerste Möbelstück im Raum ist der Geldschrank, der braun gemasert gestrichen ist, als handele es sich um ein leichtes Holzschränkchen. Eigentlich hat seine Bezeichnung kaum eine wichtige Bedeutung, denn in ihm werden hauptsächlich die Geschäftsbücher: Die Kladde, Aufträge „in Arbeit“ / Abrechnungen und die Kopierfolianten aufbewahrt. Neben diesem kleinen Stahlschrank steht der Schrank mit den neuen Werkzeugen, die vom Chef nur gegen die Rückgabe des begründbar Verschlissenen ausgegeben werden. Je ein Schrank für Materialien der Schwachstromtechnik (Klingel- und Telefonanlagen) sowie für die Starkstrominstallationen (also 110 und 380 Volt) schließen sich an. Noch wichtiger als der Tresor, scheint der Innungs-Schrank (mit Rolljalousie anstelle von Holztüren) zu sein, denn Papá ist Schriftführer der „Elektroinnung Potsdam und Umgegend“ und Mitglied des Prüfungsausschusses sowie Gerichts-Sachverständiger. Später wird zum Rauminventar (welch ein Segen) noch eine Schreibmaschine hinzu kommen.


Der Pflanzstreifen-Garten vor unseren Fenstern:

Der Gartenteil vor der Werkstatt nimmt zwei Lebensbäume und Blumen auf.

Die Fenster vor den Wohnräumen sind mit Blumenkästen geschmückt.

Der Gartenteil der Wohnung enthält als einheimische Gewächse die beiden Fliederbüsche (ein Geschenk zur Hochzeit der Eltern im Jahre 1905) und Rosen sowie ein Kräuterbeet. Des Weiteren stehen hier vor allem exotische Gewächse, wie der Oleander und die beiden Kaffeebäume. Papás ganzer Stolz ist es, wenn die Yuccapalme in voller weißer Blüte steht. Um diese Pflanzen in den Kübeln kümmert sich der mit uns befreundete Gärtner des Schloss-Parks Babelsberg, Herr Monje, den man richtig als Herr Monjé ansprechen soll. Er ist wohl hugenottischer Abstammung mit der ursprünglichen Namensschreibweise „Monier“. Herr Monje bietet den Kübelpflanzen auch ein geeignetes Winterquartier an, weil sie zu dieser Jahreszeit nicht draußen stehen können. So ziehen sie zweimal jährlich um. Die beiden Söhne von Herrn Monje werden aber keine Gärtner, obwohl das ein so schöner Beruf ist. Ich weiß das, weil Ferdinand Monje und auch sein Bruder Elektriker-Lehrlinge in unserer Firma sind.

In diesem Hof-Gärtchen ist aber noch Platz für eine Gartenbank mit einem Tisch davor. Sogar ein Liegestuhl lässt sich noch aufstellen.


Kleine Anmerkung: Als unser Sohn Christoph etwa fünf Jahrzehnte später seine Abschlussprüfungen in einem der Fernstudiengänge ablegt, bekommt er die Übersetzungsaufgabe aus dem Russischen ins Deutsche, mit dem Titel: „Charles Monier“, natürlich nicht französisch in lateinischen Lettern, sondern in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Es ging dabei um die Geschichte eines französischen Gärtners dieses Namens, der seine Blumenschalen wahlweise aus gebranntem Ton oder auch Be-ton immer größer und prächtiger herstellen wollte, bis jenes Material der Flächenausdehnung nicht mehr standhielt und zerbrach. Nun zerbrach sich der Gärtner für eine Lösung seinen Kopf und ersann das Prinzip, diese Schalen mit steifem Eisendraht zu verstärken. Die Bewehrung / die Verstärkung des Baustoffs war erfunden und wurde ihm zu Ehren >Moniereisen< genannt.

Ob unser Gärtner Monje diese hübsche Geschichte kannte? Wir können ihn leider nicht mehr fragen – die Zeiten sind darüber hinweg gegangen.


1922.

In diesem Jahr wechselt unsere gesamte Mädchen-Schulklasse zum 6. Schuljahr (also nach den ersten beiden Schuljahren, 8. und 7.) in die neue Doppelschule (4. Gemeindeschule) in die Scharnhorststraße, in den Schulpalast.

Hans besucht wie mein Vetter Hellmut Runge das Realgymnasium in der Althoffschule, Yorckstraße (=> Kopernikusstraße), das direkt rückseitig an unser Schulgelände grenzt.


Was treiben wir nachmittags in der Freizeit nach der Erledigung von schulischen Aufgaben und häuslichen Arbeiten?

Natürlich spielen wir sehr gerne mit dem Triesel oder Kreisel, mit Stock und Schnur (Peitsche) angetrieben. Am besten tanzen natürlich jene Kreisel, in deren Fußspitze ein Rundkopfnagel eingetrieben ist. Mehrere Ballspiele gibt es, wie Treibeball oder „Jäger und Hase“. Beim Alleinspiel wird der Ball von allen denkbaren Körperstellungen aus, an die Hauswand geworfen – unter der Kniekehle hindurch, hinter dem Rücken, über die Schulter, mit dem Kopf, beim Werfen sich umdrehen usw. und den von der Hauswand zurückprallenden Ball immer wieder auffangen. Sind mehrere Kinder dabei, so wechselt der Akteur, sobald der Ball nicht aufgefangen wird und auf die Erde fällt. Beliebt ist auch „Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann“ sowie die Hopse über aufgemalte Quadrate „mit Himmel und Hölle“.

Mit Holzreifen spielen wir gerne, die etwa einen Durchmesser von 75 cm haben, die zum Rollen mit der Hand oder dem Stock getrieben werden. Wer es schafft, praktizierte das straßenlang ohne Unterbrechung – ohne jemanden umzurennen – was aber auch mal passierte.

Beim Kerbholz-Fliegen der Jungen, handelt es sich um ein Kantholz mit zugespitzten Enden, was mit Kerben gekennzeichnet ist. Auf das Ende wird mit einem schweren Stock geschlagen und das spitzige Kantholz fliegt dann ein Stück weit fort (auch in manche Fensterscheibe).

Murmeln spielen wir – mit hart gebrannten, bunt gefärbten Tonkügelchen, die mit möglichst wenigen Zügen in eine Murmelgrube geschubst werden müssen. Jeder Spieler besitzt sein Murmelsäckchen. Größere Kinder, erfahrene Kämpfer, haben sogar große, bunte Glaskugeln, Kugeln mit innen kunstvoll gewundenen Farbfäden, so genannte Bucker, die sich nicht jeder leisten kann. Ganz preisgünstig sind luftgetrocknete Ton-Murmeln, die möglichst nicht gekauft werden, weil sie zum „Tinneff“ zählen, weil sie schnell kaputt gehen.

Vater, Mutter, Kind“ wird wohl in jeder Generation gespielt – wir mit uns selbst oder mit Puppen. Auch Teddybären eignen sich natürlich gut als „brave Kinder“. Puppen gibt es bei den Spielkameraden in einem bunten Sortiment verschiedenster Ausgaben und Preislagen: So, als Stoffpuppe, als „Lederbalg“, sehr selten welche mit Porzellanköpfen („Bisquit“), die meisten aus Pappmaché, mit aufgemalten Haaren, auch mit echten oder künstlichen, mit aufgemalten Augen oder sogar blinkernden, bewimperten Lidern (Schlafpuppen). Später die teuren naturalistischen Käthe-Kruse-Puppen aus wertvoller Handarbeit.

Puppenwagen – sind genauso wie bei den Menschenmüttern, nur etwas kleiner. Meist hochrädrig, mit großen Speichenrädern, deren Umfänge sich überschneiden, weil der Wagenkasten kürzer ist, als die zwei Raddurchmesser es sind.


Mein Bruder Hans hat aus seiner Kinderzeit noch eine der üblichen Ritterburgen mit Turm und Zugbrücke. Nach dem Zeitgeschmack ist die Burg aber auch schon von Zinnsoldaten bevölkert, mit Gewehren, Trommeln, Pauken und Trompeten bestückt. Na ja, wird wohl nicht dringend gebraucht.

Ich spiele im Hof des Hauses gern mit den Brückner-Kindern: Richard, Heinz und Lisa, die eigentlich Elisabeth heißt aber so ruft sie niemand, auch mit Herbert Radensleben, Gertrud Otto und Ilse Bein, Ille genannt. Traute Timman war in der ersten Zeit als älteste immer unsere Bestimmerin. Als wir noch jünger waren, besuchte sie bereits das Lyceum. Die unterschiedliche Interessenlage lockerte dann allmählich unsere „Spielbande“ aber es kamen dann „neue Kinder“ hinzu.

Der Herr Brückner geht einer aufregenden Tätigkeit nach. Er ist Maschinist auf dem Dampfer „Wannsee“ von der Teltower Kreis-Schifffahrt, die auf unseren Havelgewässern Ausflügler spazieren fährt. Er selbst sieht aber nicht sehr aufgeregt aus und während seiner Arbeit sieht er auch kaum etwas von der herrlichen Landschaft.


Zu Weihnachten bekomme ich ein ungewohnt aufwendiges Geschenk. Einen Schlitten. Trotz des hohen Anschaffungswertes, der ja bei uns Kindern ohnehin eine untergeordnete Rolle spielt, werde ich damit nicht recht froh aber das ist keine Undankbarkeit, sondern hat einen Grund: Meine Schulkameradinnen und die Kinder der Nachbarschaft haben, wenn es sich die Eltern leisten können, Volksrodelschlitten, mit denen sie im Schlosspark Babelsberg umher toben. Meine Eltern sind in vielen praktischen Dingen des Lebens eher so komisch konservativ eingestellt und so erhielt ich einen Stuhlschlitten geschenkt, also einen Metallstuhl auf Kufen mit einer Holzsitzfläche, auf der man stocksteif sitzt, friert und darauf zu warten hat, dass ein anderer Mensch dieses Gerät zieht oder schiebt. Ich soll also, wenn es den Großen mal passt, wie ein kleines Kind, bei einem Spaziergang mit den Eltern artig darauf sitzen – falls dann gerade Schnee liegt. Bei derartigen Gedanken kann es einen richtig frösteln.

Aber ich bekam noch ein weiteres Geschenk – ein Poesiealbum; ein noch leeres, in das alle befreundeten Menschen gern etwas hineindichten können, was dann viel, viel länger hält als eine Geburtstagskarte und der Schlitten, der ziemlich neu bleiben wird. Dieses Album aber – etwas fürs gesamte Leben.


Das Jahr 1923

Mein erstes Jahr der kleinen Poesie – Der Inhalt meines Poesiealbums




Der Erde köstlichster Gewinn,

ist reines Herz und froher Sinn.


Zur freundlichen Erinnerung

Dein Vater


Nowawes, den 8. 1. 23


Dein ganzes junges Leben

sei heitrer Sonnenschein;

Dein weiteres Lebensdasein

stets klar und wolkenlos;

Dein späteres Lebenslichte

sanfte, milde Abendröte.


Dies schrieb zur Erinnerung

Deine Mutter

Nowawes, den 8. 1. 23


Nun die etwas entferntere Verwandtschaft:


Marie Steiner geb. Sommer, Mittelstraße 19a



Ein Album ist der Menschen inn’res Leben,

das aufbewahrt in Gottes Händen bleibt.

Ein leeres Blatt wird jeglichem gegeben

und jeder ist nur, was er darauf schreibt.


Zur freundlichen Erinnerung

Deine Tante Marie

Nowawes, d. 18. 2. 23



Und nun ihr Ehemann – Theodor Steiner


Wenn einst auf deinem Pfade,

das Schicksal Rosen streut,

und dich des Himmels Gnade

mit stillem Glück erfreut,

wenn in des Lebens Stürmen

dich schützend Gott umhüllt,

dann ist auf dieser Erde

mein Wunsch für dich erfüllt.


Zur freundlichen Erinnerung,

Dein Onkel Theodor

Nowawes, d. 25. 2. 23



Jetzt meine Tante Hedwig Knoll, geb. Sommer,

Mittelstraße 19


Sanft wie die Morgenröte

Im schönen Mai erwacht

Und auf dem Blumenbeete

Die Pracht der Rosen lacht –

So wandle du im Segen

Mit immer heit’rem Sinn,

auf blumenreichen Wegen

dein schönes Leben hin.


Dies schrieb zur Erinnerung

Deine Tante Hedwig Knoll.

Nowawes, d. 27. 2. 1923


und nun deren Söhne =>:


Dem kleinen Veilchen gleich,

das im Verborg’nen blüht,

sei immer fromm und gut,

auch wenn Dich niemand sieht.


Zur Erinnerung an Deinen Vetter Felix Knoll

Nowawes, d. 4. 3. 1923



Wie Blümchen im Mai,

so lieblich und rein,

so möge o Anni

Dein Leben stets sein.


Zur Erinnerung an Deinen Vetter Walter Knoll

Nowawes d. 7. 3. 1923


An dieser Stelle kommen jetzt unter anderen auch meine Lehrer zu Wort:


Willst du immer weiter schweifen?

Sieh, das Gute liegt so nah’.

Lerne nur das Glück ergreifen;

denn das Glück ist immer da.

Goethe


Meiner lieben Annemarie zur Beherzigung!

Elli Hoppe

Potsdam, 8. 1. 23



Leg’s dem Leben nicht zur Last,

dünkt sein Wert dich Plunder!

Wenn du Märchenaugen hast,

ist die Welt voll Wunder.

Viktor Blüthgen


Zur freundlichen Erinnerung,

Dein Lehrer O. Drathschmidt


Nowawes, den 10. 1. 23



Schneller Gang ist unser Leben

Laßt uns Rosen auf ihn streun!

Herder


Zur freundlichen Erinnerung!

R. Weiland, L.


Nowawes, 14. 3. 23


Es geht ein Hauch von Wonne Duft,

durch Blätter, Knosp’ und Blüten,

ein Wunsch für Dich:

Gott mög’ Dich stets behüten.


Zum bleibenden Andenken an

Deine Mitschülerin A. Ziolkowski



Leben heißt: mit heißem …

Aufwärts nach der Wahrheit ringen,

heißt: in nimmermüdem Streite

musst das eigene Ich bezwingen.


Leben heißt: mit starkem Arme

Fest und froh sein Glück sich schmieden,

jauchzend nach den Sternen greifen

und der Welt die Stirne bieten.


Leben heißt: in Kampf und Stürmen

Zuversicht im Herzen tragen,

heißt: im Hoffen niemals wanken

und im Leiden nie verzagen.


Heißt: mit immer vollen Händen

Liebe spenden, Liebe geben

Und für seine…..

Kämpfend sterben; das heißt Leben.

M. Straßner


Zur freunde. Erinnerung

Deine Lehrerin N. Caspars, geb. Wohlfarth

Nowawes, den 19. III. 1923



Es wächst ein Blümlein Bescheidenheit,

der Mägdlein Kränze und Ehrenkleid.

Wer solches Blümlein sich frisch erhält,

dem blühet golden die ganze Welt.


Zur Erinnerung an Deinen Lehrer

Ed. Hübner


Nowawes, den 22. März 1923





Zwei Lebensstützen brechen nie:

Gebet und Arbeit heißen sie.

Sie mögen auch auf Deinen Wegen,

Dir schaffen tausendfachen Segen.



Zur freundlichen Erinnerung an Deine Schulfreundin Luzie König.


Nowawes, den 9. 3. 1923


Hier lesen wir die Worte weiterer etwa gleichaltriger, neun- bis zehnjährigen Mitschülerinnen:


Rosen, Tulpen, Nelken,

alle Blumen welken,

nur die eine welket nicht,

diese heißt Vergissmeinnicht.


Zur frdl. Erinnerung

Deine Mitschülerin

Gertrud Fröhlich


Nowawes, den 13. 1. 23



Ich lag im Garten und schlief,

da kam ein Engel und rief:

Annemarie du sollst aufersteh’n

und zu Deiner Freundin geh’n.“


Zur freundlichen Erinnerung,

Deine Mitschülerin

Herta Harz.


Nowawes, den 13. 1. 23


Wenn Du von Jemand schlechtes hörst,

sollst Du’s nicht andern verkünden.

Wie leicht ist Menschenglück gestört

Und schwerer ist’s wieder zu gründen.


Zur freundlichen Erinnerung

Deine Mitschülerin

Charlotte Oehter

Nowawes, d. 17. 1. 23



Hoffnung sei Dein Wanderstab,

von der Wiege bis zum Grab.


Dies schrieb zur frdl. Erinnerung

Deine Mitschülerin

Charlotte Kurtz


Nowawes, d. 17. 1. 23


Sei Deiner Eltern Lust und Freude,

mit Dank erfülle ihr Bemüh’n

und tu ihr niemals was zu Leide,

so wird auf Dir der Segen ruh’n.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Schulfreundin

Margarete Richter

Nowawes, d. 18. 1. 23


Dein Müssen und Dein Mögen,

die steh’ n sich oft entgegen,

Du tust am besten, wenn Du tust,

nicht was Du magst, nein, was Du musst.


Zur freundlichen Erinnerung an

Deine Schulfreundin

Margarete Busack

Nowawes, den 21. 1. 23




Ist der Tag auch trübe,

sei Du heiter!

Sonn’ und frohen Sinn,

sind Gottes Streiter.


Zur Erinnerung

An Deine Mitschülerin

Gertrud Rinkau

Nowawes, d. 11. 2. 1923



Ein Blümlein mach ich Dir

aus treuer Liebespflicht.

Nimmt gütig an von mir,

es heißt Vergissmeinnicht.

Pflanz’ es in Deiner Brust

und laß es für mich blühn.

Dann wird in Glück und Lust

Dir jeder Tag beschied'n.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Mitschülerin Therese Gille

Nowawes, den 24. März 1923



Auf Gott, doch nicht auf fremden Rath,

sollst Du Dein Glück bauen.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Mitschülerin Herta Zielke

Nowawes, den 8. 3. 23





Noch schmückt die Unschuld Deine Wangen,

Du kennst des Lebens Trug noch nicht,

zehn Jahre sind Dir jetzt vergangen,

in Freude, wie in glänzend Licht.

Ach, möchte doch, so lang Du lebest,

die Sünde nie Dein Herz entzwei'n,

dann wirst Du, wenn Du aufwärts schwebest,

bei Gott ein guter Engel sein.


Zur frdl. Erinnerung an

Deine Freundin Leila Balke



Flieget hin, ihr zarten Täubchen,

flieget über Berg und Tal.

Flieget hin zur lieben Anni

Grüßet sie viel tausendmal.


Zum steten Andenken an

Deine Freundin Gertrud Otto

Nowawes, den 27. März 1923



... und weiter im Jahr 1923

Im Juli lebe ich nun schon 10 Jahre in oder auf dieser Welt.

Nun erzähle ich etwas von meinen Tanten Hedwig Knoll, geb. Sommer und Marie Steiner, geb. Sommer, den Schwestern meines Vaters, die ihr von ihren Einträgen in das Poesiealbum schon ein bisschen kennt:

Tante Marie ist so klein und zierlich wie ihre ältere Schwester Hedwig. Meine Tanten Hedwig und Marie sind sehr lieb und religiös veranlagt, im Gegensatz zu ihren Brüdern. Max, mein Vater, beispielsweise hat nichts mit der Kirche im Sinn und sein älterer Bruder, Onkel Paul Sommer, der Schuhmachermeister (und am Sonntag Tanzmeister) hält es als Freigeist eher mit den Sozialisten.


Die Lebensverhältnisse bei meinen Tanten Hedwig und Marie sind eher einfach, gewiss auch von den finanziellen Bedingungen durch den Verdienst der Ehemänner bestimmt.

Beide Tanten haben mich, ihre kleine Nichte, recht gern. Zu meinen Geburtstagen bekomme ich von ihnen immer einen Blumenstrauß aus ihrem Garten und frische Eier von den eigenen Hühnern aus der Mittelstraße 19.

Selten kommen aber die Tanten zu Besuch zu meinen Eltern. Auch habe ich nicht bemerkt, dass meine Eltern und ihre Geschwister sich gegenseitig beschenken.

Die Tanten suchen allerdings meinen Vater, also ihren Bruder Max auf, wenn sie Hilfe benötigen, um Schriftverkehr mit Behörden zu erledigen, weil er in diesen Dingen wohl gewandter ist.

Hedwig wollte gern Lehrerin werden. Männliche Lehrer haben die Schulen in deutlicher Überzahl. Warum aus diesem Berufswunsch nichts wurde und sie Hausfrau blieb, habe ich nie erfahren.

Beide Tanten nahmen am Handarbeitskreis der Hofdame Fräulein von Gersdorff (am Hof des Kaisers Wilhelm II.) teil, in dem nicht nur Handarbeiten gefertigt wurden, sondern ein reger Gedankenaustausch über vieles stattfand, was weit über Kinder, Küche und Kirche hinausging.

(Fräulein und Hofstaatsdame v. Gersdorff ruht auf dem Bornstedter Friedhof – sucht nur nach ihr.)


Wenn Tante Hedwig ein Brot frisch anschneidet, ritzt sie mit der Messerspitze auf der Unterseite des Laibes drei Kreuze ein, die etwa bedeuten sollen: Danke, Herrgott, für das gute Brot und lass uns alle stets satt werden, – denn das war und ist in den Weberfamilien keine Selbstverständlichkeit – ganz abgesehen von Kriegszeiten und Wirtschaftstiefen. Ein frommer Wunsch und eine ernsthafte Bitte.

Bin ich bei Tante Hedwig zu Besuch, bietet sie gern Schnitten mit selbst gefertigtem Schmalz an. Die Hauptbestandteile bilden Schweineliesen oder Rückenfett. Zwiebel und Apfel sowie gewürfelter Speck kommen hinzu. Dieser gibt schöne Grieben und das Schmalz hat einen seidigen Glanz.

Aus notwendiger Sparsamkeit werden mit Schmalzgrieben (statt Fleisch) auch Erbsen, weiße Bohnen oder Kohlrüben gekocht. Manchmal gibt es auch frische Blut- und Leberwurst oder Wurstsuppe als schmackhaftes Gericht. So abwechselungsreich, wie es bei aller Einfachheit möglich ist.


Am 21. Oktober 1899 hatte Tante Hedwig mit 36 Jahren den Witwer, Webermeister und Handelsmann Friedrich Hermann Knoll geheiratet, der am 20. Oktober 1855 in Belzig geboren war.

Gemeinsam wohnen sie im Hause Mittelstraße 19 (ab 1930: Wichgrafstraße 19).

Hedwig gebar in vorgeschrittenem Alter zwei Söhne (also meine Vettern oder Cousins):

Meine Tante Marie und ihr Ehemann, der Weber Theodor Steiner, sind sehr liebenswert, etwas schüchtern und gehen zärtlich miteinander um. Marie zog zur Hochzeit aus dem elterlichen Haus aus und seither wohnen sie gleich nebenan in dem halben Weberhaus 19a links neben dem großen kubischen Knoll-Gebäude der Mittelstraße 19, das aus der rechten Hälfte des ursprünglichen Kolonistenhauses entstand. Sie bewohnen dort ein Zimmer zur Straße, eine Kammer zum Hof und eine winzige Küche. Steiners haben keine Kinder. In ihrer Stube hängt ein wunderschönes Ölgemälde in einem schwerem vergoldeten Rahmen, ihnen von der „Vogeltante Seehafer“ aus Berlin geschenkt. Meine Tanten erzählen, dass es immer ein Erlebnis war, wenn sie dort in Berlin bei ihrer „Tante“ in dem vornehmen Haushalt und im Garten zu Besuch sein durften. – Weitere gute Bekannte des Vaters Hermann Knoll, noch aus der gemeinsamen Belziger Zeit, wohnen ebenfalls in Berlin – so die Familie Georgino.

Onkel Theodor Steiner hat die Zeit der Inflation, bei der die hart erarbeiteten Ersparnisse verloren gingen, seelisch nicht ertragen. Er glaubte die Verantwortung für die Versorgung seiner Frau nicht tragen zu können und ging als Nichtschwimmer in den Griebnitzsee, um sein Leben zu beenden. Geholfen hat seiner Frau dieser Akt der Verzweiflung aber nicht. Eine traurige Geschichte. Theodor Steiner war ein Onkel des gleichnamigen späteren Buchdruckermeisters Theodor Steiner in der Yorckstraße 13, (=> nach 1945: Kopernikusstraße).


Mein Aufwachsen in unserer Familie ist durch Strenge, Herbheit und statt Herzlichkeit eher von Distanz untereinander gekennzeichnet. Mein Vater ist also stets der Chef, weniger der Papá. Mehr Zuwendung und familiäre Wärme finde ich bei den Tanten Hedwig Knoll und Marie Steiner wie auch bei Johanna Seehafer, geb. Runge, also Muttis Schwester. Besonders väterlich zugeneigt und ein Vertrauter ist mir der Buchhalter unseres Elektrobetriebes, Herr Max Hasait.


Zu Weihnachten fertigt der Chef für Mutti einen praktischen Nussknacker aus Metall an (der aber nicht elektrifiziert knackt). Die Zukunft weiß, dass jener noch nach mehr als 100 Jahren im Haushalt seines Neffen Chris J. „geehrt“, gern genutzt wird und trotzdem so gut wie neu aussieht.


1924 – Nun fängt das schöne Neu–Jahr an …

Während der Schulzeit werde ich 3 x ein halbes Jahr vom Unterricht frei gestellt zu Liegekuren im Sanatorium in der Böckmannstraße (der späteren August-Bebel-Straße), vorbeugend wegen der Schwierigkeiten mit der etwas schwachen Lungenfunktion.

und nochmals geht es weiter mit freundlichen Eintragungen in mein Poesiealbum:



Ein Körbchen voll Rosen,

ein Täubchen dazu,

die Liebe daneben

meine Freundin bist Du.


Zur Erinnerung an

Deine Mitschülerin Herta Zinnow


Gedenke mein!!!


Nowawes, den 22. 2. 24


Bleibe stets ein gutes Kind,

Deiner Eltern Freud und Wonne,

fromm, wie es die Englein sind,

dann lacht dir des Himmels Sonne.

Und am Abend still und rein,

schläfst du ohne Sorgen ein.


Zur freundlichen Erinnerung Elly Zinnow

Nowawes, den 22. 2. 24




Heute traurig, morgen munter,

das ist der Dinge Lauf,

Sinkt auch die Sonne unter,

so gehen die Sterne auf.

Gewidmet von Herta Fritze


Nowawes,

im Juni 1924


Du bist wie eine Blume,

so zart, so hold, so rein.

Ich schau Dich an und Wehmut

schleicht mir ins Herz hinein.


Mir ist's, als ob ich die Hände

aufs Haupt Dir legen sollt,

betend, dass Gott Dich erhalte,

so schön, so rein, so hold.


Zur Erinnerung an Gerd Walter.

Nowawes, im Juni 1924



Verrichte allerwegen getreulich Deine Pflicht,

dann fehlt Dir Gottes Segen und seine Gnade nicht.


Zum Gedenken an Franz Kogge.


Nowawes, den 26. 6. 24



Ermatte nie in Deinen Pflichten, wenn mancher Tag auch Sorgen bringt,

Geduld und Mut kann viel verrichten, auch wenn's nicht immer gleich gelingt.


Zur freundlichen Erinnerung, Hildegard Tillack

Nowawes, Oberlinhaus, im Juni 1924



Kannst dem Schicksal widerstehen,

aber manchmal gibt es Schläge,

will's nicht aus dem Wege gehen,

ei, so geh Du aus dem Wege!

(Goethe)

Zur frdl. Erinnerung an Hildegard Stuwe.

Nowawes, d. 7. III. 1925



Wie der Herr die zarten Blüten hütet unter Frost und Schnee,

so auch mag’ er dich behüten, in des Lebens Freud und Weh.


Zur freundlichen Erinnerung an Deine Mitschülerin Hilda Witt.

Nowawes, den 14. Januar 1926


In diesem Jahr hatte mein Bruder Hans beim Hockeyspielen einen bösen Unfall. Ein Mitspieler schlug ihm im Kampfgewoge des Spiels versehentlich derb mit dem Schläger an das Knie. Es waren aufwändige Behandlungen, so auch beim Sanitätsrat Dr. med. Hecht in der Lindenstraße, die aber nicht zum Heil-Erfolg führten. Es wurde von einer Krebs-Entartung gesprochen. Letzten Endes musste das Bein bei Herrn Dr. Stahlschmidt in unserer Nowaweser Oberlin-Klinik am Oberschenkel amputiert werden. Für Hans und uns brachen die Vorstellungen über seine Zukunft zusammen. Es bestehen nun keine Aussichten mehr, dass Hans völlig gesundet. Es schwinden somit auch die Vorstellungen der Eltern, ihm später das Elektro-Geschäft zu übertragen. Hätte er sich nur gründlich genug befleißigt, sich den Pflicht-Aufgaben zuzuwenden, als dem von Papá ungern gesehenen, eigentlich untersagten Hockeysport zu frönen, so wäre es nicht zu diesem gesundheitlichen Fiasko gekommen. Doch solche Überlegungen ändern nun auch nichts mehr.

Bald darauf stellen die Ärzte die uns zusätzlich erschütternde Diagnose „Lungentuberkulose“ fest, was Unheilbarkeit bedeutet. Ganz rührend sorgt sich der junge Arzt, Herr Dr. Fritz Heim, der Hans bereits in der Berliner Charité behandelte, auch jetzt noch darum, ihm die Lage zu erleichtern und kommt oft mit dem Motorrad von Berlin extra zu uns nach Nowawes. Dr. Heim rät zu einem Erholungsaufenthalt, beispielsweise im Schwarzwald. So fahren wir nach Badenweiler und finden dort im Hotel Saupe eine gute Unterkunft. Ein angenehmer Orts- und Klimawechsel. Eine generelle Besserung der Gesundheit will sich, wie befürchtet, jedoch nicht einstellen.–

Beide Ärzte, Dr. Hecht und Dr. Heim sind jüdischer Herkunft. Die Zukunft wird wissen, dass sie im „Dritten Reich“ Deutschland verlassen werden, bevor es ihnen unmöglich wird. Dr. Hecht wird nach Schweden auswandern, Dr. Heim nach China – möge es ihnen dort besser gehen).


Mein Großvater Franz Runge schickt uns durch seine jetzige Lebenspartnerin Frau Zborowski aus Berlin-Charlottenburg W 57, Kirchbachstraße 19, seine Weihnachtsgrüße. Er ist jetzt 79 Jahre alt. (Aber kann er an seine Tochter, meine Mutti, wirklich nicht mehr selber eine Karte schreiben?)


1926 – ein trauriges Jahr.

Mein Bruder Hans (offiziell Franz) stirbt am 3. September 1926 im Alter von 20 Jahren in unserer Wohnung Priesterstraße 68. Wir beerdigen ihn auf dem Friedhof an der Goethestraße am

07. September 1926. Vom Eingang des Friedhofs bis zum Grab sind es vierzig Schritte, auf der linken Seite des Hauptweges zur Kapelle. Ein schlichter grauer Stein aus poliertem Spremberger Syenit trägt die Aufschrift „Familie Sommer“ und ist mit einer Sommer-Blume verziert.


In meiner „neuen Schule“, dem Schulpalast in der Scharnhorststraße, gibt es weitere Klassenkameradinnen die sich in mein Poesiealbum eintragen:



Schiffe ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht.

Gott ist Dein Begleiter, Er verlässt Dich nicht.


Von Deiner Mitschülerin Marianne Sydow

14. 1. 26


Arbeit und Fleiß, das sind die Flügel,

dich zu führen über Tal und Hügel.


Zu freundlicher Erinnerung,

Deine Schulfreundin Gerda Köhler

Nowawes, den 15. 9.27



Das ist das beste Herz, das edel denkt und spricht,

behutsam Freunde wählt und nie die Freundschaft bricht.


Erinnerungsworte an Deine Mitschülerin

Luzie Vicum


Nowawes, den 15. 6. 27



Wie immer sich gestalte auch Dein Leben, ob schwer und tränenreich,

ob voller Sonnenschein, laß mich dies Sprüchlein auf den Weg Dir geben:

Mach andere glücklich und Du selbst wirst glücklich sein!“


Zum steten Andenken an Deine Mitschülerin

Elli Oeter, Nowawes, den 9. 2. 27



Sei stets der Eltern Freude,

beglücke sie mit Fleiß,

dann erntest Du im Alter,

dafür den besten Preis.


Zur freundlichen Erinnerung an Erika Döberin

Nowawes, den 10. 2. 27



In Sturm und Wetter sei Gott Dein Retter!


Zur freundlichen Erinnerung,

Deine Schulfreundin Berta Oeter


Nowawes, den 15. 9. 27


Und auch die Lehrer im Schulpalast Scharnhorststraße (=> Goetheschule 30/31) tragen sich ein:


Keiner kann im leichten Spiel

dieses Lebens Preis erjagen;

fest ins Auge fass' dein Ziel,

bis die Pulse höher schlagen

und sich dir an Fuß und Hand

wieder straff die Sehne spannt!


Zu frdl. Erinnerung

M. Frohberg


20. IX. 27



In allem, auch dem Kleinsten und Unscheinbaren liegt eine Welt von Schönheit verborgen,

man muß nur die offene, liebeerfüllte Seele haben und vielleicht auch den Willen, alles schön und gut zu sehen.


Dir, liebe Annemarie, mit den herzlichsten Wünschen für Dein späteres Leben!


Deine Lotte Splettstoeßer


Potsdam, d. 8. 4. 27



Oh, nimm der Stunde wahr, eh sie entschlüpft!

So selten kommt der Augenblick im Leben,

der wahrhaft wichtig ist und groß.

(Schiller)


Zur frdl. Erinnerung an Deine Mitschülerin

Charlotte Bergemann

Now., d. 26. 11. 27



Es grüne die Tanne,

es wachse das Erz,

Gott schenke uns Beiden

ein fröhliches Herz.


Zur freundlichen Erinnerung

an Walli Wildegans



Mit diesen Sprüchen enden vorerst die Einträge in dem nun fast gefüllten Poesiealbum.

Die Zukunft weiß: Erst in 25 Jahren, 1952, werden die letzten beiden Seiten gefüllt. – von Erwachsenen, von Vertrauten: Charlotte Dyck und Gustav Hansen.


1927

Eine riesige Neuigkeit, die in die Weltgeschichte eingeht: Am 20. und 21. Mai 1927. Der erste Flug mit einem Flugzeug von Amerika nach Europa über den Atlantischen Ozean! Ohne irgendeine Pause, ganz alleine, also ohne Schlaf oder Ablösemöglichkeit, flog der Postflieger Charles Lindbergh mit dem Flugzeug „Spirit of Saint Louis“, in 33,5 Stunden von New York nach Paris. Eine schier übermenschliche Anstrengung und riesige technische Leistung. Und der Flug gelang!


Anläßlich meines nun schon 14. Geburtstages erhielt ich von den Eltern einen Fotoapparat geschenkt. Eine AGFA-Box, 6 x 9 cm Bildgröße, 8 Bilder auf einem Rollfilm, 4,- Reichsmark das Gerät. Bisher war ich nur auf zwei, drei Fotos zu sehen. So zum Beispiel auf unserem Hof im Herbst 1914. Ich, reichlich ein Jahr alt, stehe auf dem Stuhl und habe somit die Größe meines damals schon achtjährigen Bruders. Verwackelt bin ich auf einem Gruppenfoto zur Silberhochzeit von Schuhmachermeister-Onkel Paul Sommer und seiner Frau Emma am 25. April 1916 zu sehen, weil ich nicht ganz so lange stillstehen konnte, wie es der Belichtungszeit bedurfte.

Von jetzt an, ausgerüstet mit diesem herrlichen Fotoapparat, werde ich wichtige Erlebnisse meines Lebens, meinen Lebens-Lauf, selber im Bilde festhalten, alles selber in die Hand nehmen.

Die Negative lassen wir bei unseren Ladennachbar im gleichen Hause, Herrn „Brillen-Schäfer“ entwickeln und Abzüge anfertigen. Das Geld dafür muss ich mir aber selber verdienen. Was macht das schon?

An diesem Geburtstag veranstalten meine Eltern einen Ausflug nach Kohlhasenbrück und dann weiter nach Alsenbrück in Stolpe-Wannsee. Auf diesem Wege entstand mein allererstes Foto: Ein Schleppdampfer im Gegenlicht, der mit Rückenwind vorwärts fuhr – die Rauchfahne zeigt es uns an. Für meinen Apparat eine anspruchsvolle Aufgabe. Mit von der Partie waren außer den Eltern, Tante Johanna Seehafer auch unsere Haus-Mitbewohnerin Frau Brückner, die Frau des Dampfer-Maschinisten und deren Tochter Lisa, also meine Spielfreundin. Des Weiteren: Herr Architekt Paul Muster, das ist mein Patenonkel Nr.1, seine Frau Melanie, deren Tochter Annemarie, genannt „Mausel“, Sohn Ernst Muster, Cousine Dörthe Seehafer aus Berlin und mein Patenonkel Nr. 2: der Stadt-Bauinspektor Ferdinand Pehlke vom Nowaweser Rathaus. Ein sehr schöner Tag.

Nun bin ich 14 Lenze jung, Mutti 47 Jahre und mein Vater 52 Lebensjahre alt.


Unsere Reise in den lieblichen, sonnigen deutschen Süden steht bevor. Der Chef wälzt das Kursbuch und bereitet den Reiseplan vor. Etwa 15 Stunden werden wir bis zum Schwarzwald unterwegs sein. Das ist wichtig zu wissen, damit Mutti und ich ausreichend Reiseproviant vorbereiten können, auch dass wir wissen, wo man sich beim Umsteigen beeilen muss oder wo Zeit für die Besichtigung der Bahnhofsumgebung ist, bei der wir uns „die Beine vertreten“ können.

Einige Tage später beginnt für uns eine wunderschöne Urlaubszeit im Schwarzwald. Seit mein Vater dort in der Zeit des Krieges war, in Freiburg im Lazarett gelegen hatte, zog es ihn immer wieder dorthin. Mutsch war ja auch schon dort und selbst Hans vor zwei Jahren. Einige Ausflüge, so zur Ravennaschlucht und zum Feldberg, wie auch Spaziergänge durch den Kurpark Badenweiler, unternehmen wir gemeinsam mit der Familie des Herrn Dr. Sohl, einem Textilfabrikanten aus Krefeld. Seine Ehefrau wird mit Frau Dr. Sohl angeredet. Ich weiß aber nicht genau, ob dieser Titel von ihrem Mann nur „auf sie abgefärbt“ hat? – wie es eben so bei der Textilfarbgebung aber auch anderswo vorkommen kann. Familie Sohl besitzt ein Auto. Diese (momentan offene) Sohl-Limousine hat acht Sitzplätze! Dass sie uns überhaupt mitnehmen – man kommt sich richtig klein vor. Wir haben zu Hause das ältere Fahrrad und einen Handwagen.

Bei einer der Fahrt nach Basel, kehren meine Eltern mit mir bei einem Juwelier ein. Sie schenken mir eine gemeinsam ausgesuchte künstliche, aus „Elfenbein“ geschnitzte Enzianblüte, an einer Halskette zu tragen. Die Blüte ist auch ganz naturgetreu blau eingefärbt. Mit Enzian-Lapislazuli.


Am 01. August 1927 heiratet mein Cousin Walter Knoll seine Hedwig Benkner, die Tochter des Sattlermeisters Paul Benkner.


Gestern noch Kind – morgen schon eine junge Erwachsene. Konfirmation und Schulabschluss.

Konfirmiert werde ich am 4. September 1927 von Herrn Pfarrer Viktor Hasse in der Friedrichskirche – ein Jahr und einen Tag nach dem Sterbetag meines Bruders.

Ich erhalte den Konfirmationsspruch Galater 5, 22:


Die Frucht des Geistes ist

Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Vertrauen, Sanftmut und Treue“.


Nach jenen Grundsätzen zu leben wird mir stets eine Leitschnur und ein Bedürfnis sein.

(Dieser Spruch wird im Januar 2004 auch der Aussegnungsspruch für Anne-Marie Janecke, sein.)


Von meinen Vettern (Cousins) Walter und Felix Knoll (Söhne von Hermann Knoll und seiner Ehefrau, meiner lieben Tante Hedwig, erhalte ich zur Konfirmation einen schönen zarten Ring in der Mitte mit einer kleinen Perle, rechts und links von einem Rubin flankiert. Überreicht im Schmuckkästchen der Fa. Wilhelm Müller, Uhren und Goldwaren, Berlin-Südwest, Kommandantenstraße 15. Dieser Ring wird mich gewiss mein ganzes Leben begleiten.


Trotz des Unterrichtsausfalls wegen der Liegekuren im Sanatorium Böckmannstraße (3 x ein halbes Jahr Ausfall während der Schulzeit), kann ich bei fleißigem Selber-Nacharbeiten des Unterrichtsstoffes, das Ziel der Klasse mit allen anderen Mitschülerinnen zur gleichen Zeit erreichen und die Gesamtschulzeit abschließen. Zu Michaelis 1927, also Ende des Monats September, geht die achtjährige Zeit der Volksschule zu Ende.


Nach dem Schulabschluss bleibe ich zu Hause in der Firma, habe sofort im väterlichen Geschäft mitzuarbeiten, da es im Geschäft und im Haushalt immer viel zu tun gibt. (Mutti ist öfter krank, hat auch lange Zeit „offene Beine“ und außerdem bin ich zum Teil ein Ersatz für meinen Bruder Hans und buchhalterisch für Max Hasait, der leider ebenfalls ab und zu erkrankt.) Das wird in dieser Art bis 1941 weitergehen. Zeitweilig hilft auch Frau Brückner aus, die Mutter meiner Spielkameraden, die im gleichen Hause wie wir wohnen, direkt über uns.

Schon während der Schulzeit hieß es für mich: Rechnungen austragen – lange Wege zu den Kunden, im Allgemeinen natürlich zu Fuß zu bewältigen, möglichst auch die Rechnungsbeträge für die Elektrikerarbeiten kassieren. Das ist für mich durchaus nicht immer ein reines Vergnügen, weil nicht jeder das Geld „sofort zur Hand“ hat – dafür aber Begründungen und Ausreden, die ich dann zu Hause ja darlegen muss.


Viel lieber wäre ich noch zur Fortbildungsschule (Berufsschule) gegangen, wie die meisten meiner bisherigen Mitschülerinnen, die eine Lehre begonnen haben. Oder zumindest eine allumfassende hauswirtschaftliche Ausbildung, wie Mutsch sie in Berlin im Haus des Lette-Vereins erhalten hatte. Oder noch besser: fundierte Schneiderkenntnisse erwerben zu dürfen, wie meine Freundin Luzie Vicum. Vielleicht später sogar künstlerischen Neigungen zum Beispiel des bildnerischen oder literarischen Schaffens nachgehen zu dürfen. Hochfliegende Wunsch-Vorstellungen, denn dazu wird später leider nie die Zeit reichen. Die Eltern wollen für mich keine Ausbildung außer Haus – und dagegen gibt es keine Widerworte, nur das sich Fügen. Weitere Kenntnisse und Interessen konnte ich mir also nur „woanders abgucken“, manchmal auch „anlesen“. Ich bin wie unsere Lehrlinge und Gesellen fest in das Geschäft eingespannt, mit dem Unterschied, dass diese eben praktisch – handwerklich arbeiten ich aber im buchhalterischen, im organisatorischen Bereich sowie für Boten- und hauswirtschaftliche Dienste eingeteilt bin. Nur ist es Gesellen und Lehrlingen freigestellt, während der Zeit des Feierabend ihren eigenen Interessen nachzugehen und die Gesellen auch Lohn erhalten, was mir ja versagt bleibt. Von dieser Zeit an, nehme ich die Gewohnheit an, kaum noch von Papá zu reden, sondern genauso wie die anderen, nur noch vom Chef. So kühl und distanziert war ja auch das Verhältnis seinerseits, so dass mir die Wortwahl leicht fällt und recht getroffen scheint.


Es gibt aber auch herrliche Neuigkeiten:

Im Sommer sind mein Cousin Walter Knoll und seine Hedwig in den Bund der Ehe eingetreten und schwupps, heute am 17. November wurde ihr erstes Kind geboren. Ja, wenn die Liebe so groß ist, kann das schnell gehen. Christel soll das Kind heißen.


Weihnachtszeit – schöne Zeit

Besonders schön werden von unserer Kirche die Weihnachtsfeiern ausgestaltet. Mitunter bedarf es aber außer dem Kirchenraum (für 900 Leute) einer großen Bühne, um beispielsweise den wunderschönen Schneeflocken-Tanz aufzuführen. Für diesen sind etwa 20 weiß gekleidete Mädchen erforderlich. Die Aufführungen werden wegen großer Beliebtheit und dem Andrang der Besucher auch mehrfach zwischen Weihnachten und Neujahr gezeigt, meist in „Klemms Festsälen“ in der Wilhelmstraße, kurz vor dem Eingang Grenzstraße zum Park Babelsberg.

In diesem Jahr tanzen beim Schneeflocken-Reigen wieder mit:

Margot Baumert, Charlotte Denkel, Grete Jacob, Ursel Strauß, Elfriede Domineok, Elisabeth Brückner. Hertha Schlieback, Erika Mielke, Gertrud Schönicke, Gertrud Schneider, Irmgard Bowitz (des Bäckers Töchterlein, Priesterstraße 39), Gertraud Mielenz, Ursel Meister, Erna Schulze, Anni Neubauer, Gerda Kurjahn, Ilse Heidelberger, Anneliese Müller, Maria v. Dobbeler u. Ruth Webers.


1928.

Allen meine guten Wünsche für das neue Jahr!

Am 13. / 14. April waren es (ein Jahr nach Lindbergh) nun europäische Flieger: die Herren Köhl, Freiherr von Hünefeld und Fitzmaurice, die den Atlantik in umgekehrter Richtung, von Osten nach Westen überflogen. Auch deren Leistung war natürlich in aller Munde. Nach ihrer Rückkehr wurden sie auf dem Gelände des Potsdamer Luftschiffhafens an der Pirschheide stürmisch begrüßt. Wie man an den Fotos sieht, war ich als 14-jährige „Fotoreporterin“ bei diesem großen Ereignis dabei.


Traditioneller Vorfrühlingsausflug, diesmal mit Familie Struwe nach Alsenbrück / Kohlhasenbrück.


Später: Himmelfahrt – arbeitsfrei! Das ist unser Mädeltag – mit meinen ehemaligen Mitschülerinnen Elfriede Lentzsch und Luzie Vicum. Das heißt Luzie hat gleich noch ihre Schwestern Hilde und Irmchen mitgebracht. So ist's noch lustiger. Wir durchstreifen fröhlich den Park Babelsberg. Sehr schön ist vom Ufer vor dem weißen Lucca-Schlösschen die Große Fontaine anzusehen. Hier sogar noch einige Zentimeter höher als jene vor dem Schloss Sanssouci. Das rauscht – wenn im Maschinenhaus an Feiertagen mal volle Leistung gefahren wird!


Ein anderes Mal wandern wir, dann allerdings „gemessenen Schrittes“, denn wir befinden uns „beschützt und behütet* sowie bemuttert“ in Begleitung von Frau Lentzsch, Frau Vicum und Frau Sommer nach Kohlhasenbrück und Albrechts Teerofen. Einen guten Kaffee kann man an beiden Orten trinken. (* Die älteren Damen tragen diese entbehrbaren komischen „modischen“ Topf-Hüte).


Mein 82-jähriger Großvater Franz Runge wünscht mir von aus Berlin per Kartengruß alles Gute zum neuen Lebensjahr.

Meinen 15. Geburtstag begehen wir wieder in der Gaststätte „Rudererheim Alsenbrück“ am Ortseingang zu Stolpe-Wannsee. Ich durfte mir Luzie Vicum und Elfriede Lenztsch mit einladen. Auch Ernst Muster und Mausel sowie Peter Kühnbaum sind dabei.

An einem dieser Tage hat sich etwas Eigenartiges zugetragen: Kommt doch da ein Mann in den Laden gehinkt, der den Chef sprechen will. Beide kennen sich, verhandeln im Kontor eine Weile unter vier Augen. Als er wieder geht, schenkt er mir eine Tafel Schokolade. Erst nachdem er fort war, erfahre ich, dass das „der sehr entfernte“ Franz Runge aus Berlin war. Er ist der jüngste Sohn meines vorgenannten Baumeister-Großvaters Franz Runge (82 J.), aus dessen zweiter Ehe mit Anna verwitwete Ulrich, geb. Schütte. Gerade zehn Jahre älter, als ich es bin, ist er, 1903 hier in Neuendorf geboren – mit mir sehr nah verwandt aber zur Generation meines Vaters gehörend. Er hatte mit seinem Motorrad, einer amerikanischen Harley-Davidson, einen Unfall gehabt und brauchte in diesem Zusammenhang wohl vom Chef eine leihweise finanzielle Unterstützung für das Auskurieren. Sein Besuch hatte offenbar ein erfolgreiches Ergebnis. Für mich Schokolade. Ansonsten: Schade, weil es um nicht mehr ging – ich hätte ihn sehr gern kennengelernt; etwas über seine Mutter erfahren, ...


Ferientage im September 1928 im schönen Ort Schierke im Ostharz. Die Einwohner sagen Schirrke. Wir wohnen am Ende des Ortes in der Pension Waldesruh, bei den Hauseltern Massow. Wir, das sind Papá der Chef, Mutsch, Mausel Muster, Tante Hannchen Seehafer und ich. Nochmals zum Auffrischen: die „Mausel“ heißt eigentlich auch Annemarie. Sie ist die Tochter meines Tauf-Patenonkels, des Potsdamer Architekten Paul Muster.

Wir, die beiden Anne-Maries unternehmen ausgedehnte Spaziergänge und entdeckten unweit unseres Quartiers inmitten der Bode ein Felsensofa, das uns, wie bestimmt schon manch anderen auch, zur Pause einlädt. Wir erkunden den Ort gründlich und besuchen auch die Kirche, das „steinerne Häuschen“ am Fuße des Kirchberges, ferner die nahe „Burg“, die keine echte ist. Natürlich steht auch eine Fahrt zum Brocken auf dem Programm. Das heißt: Zum Brocken geht es per Pedes den Knochenbrecherweg hinan. Der Name stammt daher, weil es sich nicht um einen glatten Wanderweg handelt, sondern jener mit vielen größeren und kleineren Felsbrocken übersät ist. Leichter haben es da die Brockenhexlein, die auf dem Besen flugs darüber hinweg schwirren Auch durch das Elendstal wandern wir und ein Ausflug nach Altenbrak bringt viele schöne Sinneseindrücke. Zu eurer Beruhigung: Das Elendstal hat überhaupt nichts mit heutigem Elend zu tun. Man bezeichnete ganz früher damit einen Landstrich, der dem Betrachter noch fremd und unbekannt – also elend war.


Wie in jedem Jahr, so ist auch in diesem Jahr zur Advents- und Weihnachtszeit unsere Friedrichskirche ein traulicher Ort. Weihnachten wird besonders festlich begangen. Ist es in diesem Jahr doch die 175-ste Wiederkehr der Weihe dieser Kirche, deren Bau der König Friedrich II., der Große, für die Spinner- und Weberkolonie Nowawes angeordnet hatte und als deren Namens- und Schutzpatron er seither gilt. Die Liederblätter der Feier habe ich aufgehoben.


Auch in diesem Jahr: Zwischen Weihnachten und Neujahr, am 28. Dezember, führen die Kinder der Friedrichs-Kinderkirche in „Klemms Festsälen“ ein umfangreiches Programm mit dem großen Schneeflocken-Tanz auf, eine Vorstellung die wegen ihrer Beliebtheit in einer Reihe von Jahren immer wieder mit „neuen Kindern“ einstudiert wird. Schöne Aufführungen.


Viele Hoffnungen für das neue Jahr. Ob sie sich auch so erfüllen oder erfüllt werden?


1929

Ab und zu sind wir bei Muttis Geschwistern in Berlin zu Besuch, bei Tante Gertrud Eschert, geborene Runge, bei Tante Hannchen (Johanna Seehafer, geborene Runge) und auch bei deren Töchtern, meinen Cousinen Friedel Dankhoff oo Liebnow und Kühnbaums (bei Cousine Dörthe und ihrem Mann Peter K., der eigentlich Bruno heißt). Die Wege sind zwischen den Geschwistern über viele Jahre recht nah, denn ihre Familien fanden günstig in dem großen Miethaus Platz, dass ihr Vater, mein Großvater, der Maurer- und Zimmer-Meister Franz Runge in Berlin-Moabit, Spener Straße 32 errichtet hatte; zusammen natürlich mit einer Anzahl ehrbarer Handwerker.


Im späten Frühjahr haben wir das Familientreffen in Stolpe-Wannsee zum 83. Geburtstag von Großvater Franz Runge, betreut von Frau Zborowski, mit Betty und Ferdinand Pehlke, ihrer Schwester mit Mann (Schröder) aus Hamburg-Großborstel, meinen Eltern und den Töchtern von meiner Tante Hannchen (Johanna Seehafer) Dörthe Kühnbaum und Friedel Liebnow mit ihren Männern Peter / Bruno und Gustav. Nun, solch ein 83-ster ist einmalig.


Im Sommer halten wir uns wieder im Schwarzwald auf. In diesem Jahr sind wir in Badenweiler im Haus „Kleinod“: Pension und Buchdruckerei Engler. Mit letztgenannter haben wir nichts weiter zu tun. – Mit uns fährt wieder Muttis Schwester, Johanna Seehafer. Zur Vermieterfamilie gehören neben den Eltern: der Sohn des Hauses und eine Tochter. Sohn Fritzi ist gerade in der Ausbildung zum Konditor und Anni, seine Schwester, ein wenig älter als ich. Es sind frohe Ferientage – im Kurpark, in der Stadt am Rosenbrunnen, auf den vielen Ausflügen. Die Anni, das Annele und ich werden schnell wie ein Herz und eine Seele. Und so wechseln nach unserem Besuch viele postalische Grüße zwischen Nowawes und Badenweiler hin und her, so dass Anni, sie schreibt auch öfter Anny oder Any, zu meiner vertrauten Freundin wird.


In diesem Jahr gibt es auch noch eine schöne Sommerfahrt nach Altheide, in der Nähe von Rostock, zwischen Gelbensande und Ribnitz-Damgarten gelegen.


Das Jahr 1930

Mein Vetter Walter Knoll und seine Frau Hedwig (geb. Benkner) haben jetzt nach ihrer Tochter Christel, ihr zweites Kind. Diesmal ist es ein Junge, der Fritz genannt wird. Nach Großvater und Vater: Hermann Walter Fritz. Am 21. April wird in der Friedrichskirche die Taufe sein und ausgerechnet ich soll / darf schon zu den Taufpatinnen gehören. Bei dieser Frage an mich konnte ich nichts weiter als jubelnd zustimmen. Eine große Ehre für mich, verbunden mit einer aufgabenbesetzten Verantwortung – wenn man es so ernst nimmt, wie es schließlich gedacht ist.


Pfingsten. Das liebliche Fest ist gekommen. Für unsere Jungmädchengruppe vom CVJM (Christlicher Verein Junger Mädchen oder CVJM-Zopp, zur Unterscheidung bzw. „parallel“ zum CVJ Männer) ist es die Zeit zu einer Reise – diesmal bis ins Riesengebirge zur Schneekoppe, in des Riesen „Rübezahls Garten“. Wegen der Entfernung und des umfangreichen Programms wird eigens für uns das Pfingstfest erweitert – auf acht Tage!, für 30,- Mark Kosten (Fahrkosten, Übernachtungen und Verpflegung). Unsere gesamte „Corona“ wird angeleitet von unserer Diakonissenschwester Sophia Heubüldt, die uns „im Zaum“ halten soll. Wegen ihrer schwarzen Tracht mit weißem Kragen und weißer, gestärkter Kopfhaube wirkt sie älter und gesetzter, vielleicht auch wegen ihrer Verantwortung – für uns stellt sie eine Respektsperson dar. Sie ist wohl aber nur einige Jahre älter als wir, immer frisch, jung im Wesen und guter Dinge, stets die Klampfe mit dabei. Wir nennen sie einfach „unsere Mutte“ (ohne das „r“ erschien uns die Anrede weicher und weiblicher. Einen längeren Bahnaufenthalt haben wir in Hirschberg und können uns die Gegend ansehen.

Krumhübel durchwandern wir später. Und wie wir mit Rucksack, Brotbeutel und Feldflasche durchs Gebirge wandern!: Hoch zum Kynast geht es. Bei einer Übernachtung in der alten Erlbachbaude, fressen Ziegen unsere Seife auf, die in der Sonne trocknen sollte – in einem unbeobachteten Moment. Wohl bekomm's! Die Baude ist ein einfacher Schuppen mit einer Heuschüttung zum Schlafen, in die wir todmüde, gemeinsam mit unserem Muskelkater, einige mit Sonnenbrand, fallen. Weiter gehen wir am nächsten Tag über gewaltige Bruchfelsen (freundlich „die Mädelsteine“ geheißen) in Richtung Spindlermühle. Zwischendurch aber besteht auch die Gelegenheit, sich im Gebirgsbach mit einem Bade zu erfrischen, sich kurz zu erholen. Wir besuchen auch die Holzkirche „Wang“. Es hört sich zwar chinesisch an, ist aber ein Stabholz-Gebäude norwegischer Bauart, im 12. Jahrhundert völlig ohne Schrauben und Nägel gefügt. Wir halten ein gemütliches Picknick an der Schlesischen Baude. Etwas Moos und Wollgras nehme ich von dort oben „als ein Andenken für immer an diese Zeit“ – fürs Photoalbum mit. Wunderschöne Tage der Gemeinsamkeit in unseres Herrgotts freien Natur.

Natürlich schreibe ich von hier nach Nowawes, denn meine Mutter hatte ja auch in jungen Jahren ihre Riesengebirge-Erfahrungen gewonnen, kannte diese Gegend ebenfalls ein bisschen.

Dass wir hier durchaus nicht die ersten Besucher sind wissen wir natürlich – ich kenne dieses Bild der Schneekoppe, das einst Caspar David Friedrich malte. Er hatte von 1774 bis 1840 gelebt.


1930 ist das Jahr der Silberhochzeit meiner Eltern. Was hat sich in diesen vergangenen Jahren nicht alles für sie, für uns, ereignet!


Im Hochsommer veranstaltet die Kinderkirche unter der Leitung von Pfarrer Viktor Hasse den großen Sonntagsausflug von Nowawes über Kohlhasenbrück nach Albrechts Teerofen und zurück. Das ist für die jüngeren Kinder eine ganz schön lange Wanderstrecke – wir vier Großen: Margot Dahms, Gretel Degenhardt, Luzie Vicum und ich, – immer vorneweg.

An ein früheres Kinderkirchenfest, es fand auf dem Potsdamer Brauhausberg statt, entsinne ich mich auch deutlich und gerne. Es waren damals hunderte von Kindern, die begeistert mitmachten.


Zu meinen momentanen Lieblingsbüchern gehört: „Heideschulmeister Uwe Karsten“ und „Ursula“, von Felicitas Rose. Letzteres ein inhaltsreiches Tagebuch. Es gibt einen Einblick in das Leben von Ursula für die Zeitspanne von 2½ Jahren. Romane aus dem norddeutschen Heideland.


Ein tiefer Einschnitt in unsere Kinder- und Jugendarbeit: Unsere „Mutte“, die Diakonissenschwester Sophia Heubüldt, wird unsere Gemeinde verlassen. Trotz aller bisherigen religiösen Selbstbindungen möchte sie dann doch nicht ihr ganzes Leben (mit uns) alleine bleiben. Sie zieht nach Emden an die Nordsee, um dort einen völlig neuen Lebensabschnitt zu beginnen.


Das Jahr 1931

Auf große Fahrt – für uns Größere. Pfingsten sind wir von der Kirche aus im Harz, diesmal unter der Führung von Pastor Mehlhase. Dort besuchen wir viele Orte und Sehenswürdigkeiten, die ich hier gar nicht alle aufzuzählen vermag. Unsere Unterkunft ist das kirchliche Sankt-Theobaldi-Stift in Nöschenrode, durch das der Zillierbach fließt, südlich von Wernigerode. Von hier aus beginnen unsere Wanderzüge mit frischem Mute und dort enden sie auch – und wir sind dann meist recht müde aber erlebniserfüllt. So ging es beispielsweise zum Komkerfall, zur Rosstrappe, durch das Bodetal, zum Brocken (den ich ja schon kannte), quer durch die „bunte Stadt am Harz“ namens Wernigerode und so weiter.


Vor acht Jahren hatte Gustav Büchsenschütz auf einer Wanderung in der Jugendherberge Wolfslake das Lied „Märkische Heide“ gedichtet und komponiert. Das kleine Werk wurde auch zu einem unserer „Leib- und Magenlieder“, was heißen soll: wir singen es oft und gerne.


Seit diesem Jahr gehöre ich zu den ersten Mitgliedern der Nowaweser Gruppe der Christoffel-Blindenmission und darf neben anderen jungen Mitgliedern mit dessen Gründer Pastor Ernst Jakob Christoffel durch die Potsdamer Wälder wandern. Auf diesen Wegen schildert er lebendig die Missionsarbeit im Orient, besonders eben für Blinde, Behinderte und anderweitig langzeitig Erkrankte, damit sie erstmals selbst oder wieder für ihren Lebenserhalt aufkommen können. Der erste Stützpunkt der Mission befindet sich in der persischen Stadt Isfahan.

(Diesem Interesse an der Missions-Mitarbeit und deren Unterstützung wird Anne-Marie bis zum letzten Lebenstag die Treue halten ... und sie gibt „den Staffelstab“ an ihre Kinder weiter).


Margot Dahms, Elfriede Lentzsch, Luzie Vicum und ich unternehmen einen Ausflug über Nedlitz, die Römerschanze, Neufahrland nach Sacrow zur Heilandskirche, die gleich einem Schiff am Ufer des Jungfernsees ruht. Sie wird natürlich von einheimischen Fischern und ebenso gern von Bootswanderern aufgesucht. Diese gemeinsam verlebten Sonntage geben mir Kraft für die gesamte Alltagswoche.

Hier an der Sacrower Kirche hängt seit dem Jahre 1897 eine große Gedenkplakette. Sie erinnert an das Ereignis der ersten drahtlosen Telegraphie in Deutschland, die hier im Jahr 1897 stattgefunden hatte. Die Funkstrecke verlief vom Sender auf dem Kirchturm 1,3 km weit über den Jungfernsee und die Kaiserliche Matrosenstation an der Potsdamer Schwanenallee, am Park „Neuer Garten“ war die Empfangsstation. Das Ganze wurde dem Kaiserpaar Wilhelm II. und Auguste unter der Leitung von Dr. Slaby von der Technischen Hochschule Charlottenburg und Graf Arco vorgeführt und mein Vater war als junger Mechaniker und Elektrotechniker daran beteiligt. Zu jenem Anlass hatte er das erste Mal mit dem Kaiserpaar gesprochen. Sehr kurz.


In diesem Jahr heirateten Erich Füssel und die zierliche Schneiderin Johanna Ranglack. Sie wohnen nun gemeinsam in der Mittelstraße 18, gegenüber meinen beiden Tanten Hedwig und Marie.


Das Jahr 1932

Über die Pfingstfeiertage sind wir als CVJM-Mädchengrppe mit Pfarrer Mehlhase in Rheinsberg. Rheinsberg, die Stadt des „Jungen Fritz“, bevor er König werden musste. Dort unterhält der CVJM ein Vereinshaus für Veranstaltungen und auch zur Beherbergung von Wandergruppen. Ein Garten gehört ebenfalls zum Grundstück. Wir allerdings schlafen nicht im Vereinshaus, sondern im Stallgebäude oben im Heu, von außen über eine Leiter zu erreichen. Fröhlich singend, mit Klampfenbegleitung ziehen wir durch die Stadt, wandern auch nach Zühlen und durch die Wälder. (Zu dieser Zeit wusste Anne-Marie noch nicht, dass ihre Sommer-Familie auch dort, in Rheinsberg bzw. Warenthin am Boberow, nahe der Remus-Insel, Vorfahren hatte – das klären wir später).


Else und Karl haben geheiratet. Sie heißen nun beide Kummerow mit Nachnamen. Hochzeitswanderung in großer Gruppe durch die Ravensberge.


Vom Juli 1932, von meinem 19. Geburtstag an, beginne ich, vorerst zwei Jahre lang, ein Tagebuch zu führen. „Herr der Herrlichkeit. Immer stärker fürs Leben auf der Erden, immer bereiter für Deine Ewigkeit, lass' Du mich bitte werden“, das ist mein Geburtstagswunsch, an dem ich selber tätig sein will. Zur Zeit meines Geburtstages verleben wir wieder einige Tage in Badenweiler bei Familie Engler. Die Burgruine, die Kälbelescheuer, den Triberg mit dem über 160 m langen Wasserfall, den Kurpark und andere Ziele besuchen wir wieder auf unsern Wanderungen.


Tagebuch, 14. August '32: Das Missionsfest auf der Insel Hermannswerder, zur ersten Jahres-Wiederkehr der Gründung der Christoffel-Blindenmission im Berliner Raum. Ein Tag voller Sonne, Freude und Dankbarkeit. Dieser eine Tag gibt wieder Freude für die ganze Woche. Mit dabei sind die Mitglieder unseres ersten Jahres aus Nowawes: Kurt Freydank, Kurt Ziehe, „Bummchen“ Schmidt, Walter Kloppe, Alfred Schmidt, Anton Krüger-Bernhart, N. Urbach, Friedel Sarnow, Rosemarie Deutsch, Hermann Kloppe, Herbert Letz, „Meister“ Neumann, Hilde Thomas, Werner Letz, Emma Hönow, Karl Trippler, Anne-Marie Sommer, Hilde Weiß, Erich Rahn, Irma Nickel und Fräulein Meier aus Potsdam.


21. August: Mit Else und Karl zum Plessower See. Eine herrliche Tour. Aber auch anstrengend – am frühen Nachmittag 38°C im Schatten.


Mo., 22. August: Es ist also tatsächlich wahr: Unsere Mutte, unsere liebe, liebe Sophie (Heubüldt, sie heißt inzwischen Richter), – ein Kindchen hat sie bekommen. Der Vater des Kindes heißt Hans Richter und ist Goldschmiedemeister in Emden. So fand sich das. Mag der liebe Gott sie und ihre Familie segnen und begleiten alle Tage. Ich hab sie doch so herzlich lieb und kann sie nimmer vergessen. (Spätere Anmerkung: … Die Zukunft weiß, dass sie sechs Kindern das Leben geben wird).


So., 28. August – war ich mit Else und Karl Kummerow auf „Fahrt“. (Das bedeutet im Allgemeinen eine Fußwanderung. Die Klammerausdrücke und Kursiv-Anmerkungen setzt Chris J. nur des leichteren Verständnisses wegen – für spätere Leser). War dieser Sonntag herrlich! Ich 7.18 Uhr ab Nowawes, in Potsdam haben wir uns getroffen. Dann nach Werder. Da ziehen wir munter los in die Natur und denken: Na, heut‘ kann uns die ganze Kultur gestohlen bleiben. Wie durch den Urwald geht’s dann den Froschweg bis zum Plessow-See. Dort ein schöner Rastplatz – eine Haselnusslaube. Gegen Mittag ist die Feldflasche mit Zitronenwasser leer (wir haben einen heißen Tag, wieder 38°C) und Malzkafe aufbrühen geht nun mal ohne Feuer nicht. Wie oft haben wir früher mit Hilfe von Brillengläsern und auch mit altem Film-Material flugs Feuer angefacht. – Ganz stolz kommen wir dann später mit einer Schachtel Streichhölzer aus dem Dörfchen zurück (also doch nicht ganz ohne „Kultur“). Müde und erschöpft, unter großem Gepuste und Gequalme wird im Kochgeschirr der Malzkafe gebrüht. So gut hat lange keiner geschmeckt. Eine Foto-Aufnahme hat Karl auch gemacht. Gut ist sie geworden, werden wir später feststellen können. Und dann heimwärts. Vor uns über Werder der Himmel schwarz, hinter uns zartblau. An der Ruine müssen wir den Regen vorüber lassen und kommen trocken nach Hause. Es wird nicht die letzte fröhliche Fahrt sein, die wir zusammen unternehmen.


Mi., 31. August: Mit Else war ich (ihre Einladung) gestern per Dampfer nach Paretz, „zu Luise“. Die Fahrt war herrlich. Oh, unsere schöne blaue Havel, unsere herrliche Heimat. Wie dankbar kann man da sein! Als wir nach Hause kamen, gab es für Else noch eine Überraschung, denn sie hatte ja gestern Geburtstag, geboren am 30. August 1913.

Luzie Vicum hat sich mit Alwin Barth verlobt. So verkleinert sich der Kreis der Ungebundenen aus der gemeinsamen Mädelzeit.


Do., 08. September: Am Sonntag hatten wir mit Traudel aus Rheinsberg eine feine Fahrt nach Petzow und Glindow. Nach der Regennacht war die Welt an diesem Morgen wie frisch gewaschen. Am Abend mit Traudel zum CVJM.


Mo., 12. September: Am Vormittag im Park Babelsberg, am Nachmittag stand Sanssouci. auf dem Programm. Nun ist Traudel wieder fort. Von der Mutte (Heubüldt, also Richter) ist ein Brief gekommen. Am Do., den 8. Sept. hatte ich nach Emden geschrieben und heut ist schon eine so liebe Antwort da. Mit einem herzigen Bildlein: Die Mutte und ihr Töchterchen: Ingeburg. Ich bin dankbar und so froh für sie.


21. Sept. Heute hat Papá Geburtstag. Ob er sich wohl ein bissel gefreut hat? Man sah's nicht so recht. Ach Paps, ich wünsche Dir ja so viel Gutes und hab Dich lieb. Warum kann ich’s immer nicht so zeigen? (und vor allem – warum auch er nicht?).

Großpapa (Franz Runge) war auch hier und Pehlkes mit Frau Bauer (Mutter von Betty Pehlke). Die liebe alte Dame. Des Weiteren: Paul und Melanie Muster (mein Patenonkel) und Tante Hedwig (Knoll, geborene Sommer) sowie Tante Marie (Steiner, geborene Sommer) waren ebenfalls gekommen – ein neues Jahr hat für Papá begonnen. Mög's doch gut werden. Hoffentlich ist Dörthe bald wieder gesund – sie konnte aus Berlin wegen ihrer Erkrankung nicht kommen.


Fr., 23. Sept. Am vergangenen Sonntag (am 18.) mit Kummerows auf Fahrt (zu Fuß) gewesen: Teufelssee und Moosfenn in den Ravensbergen, Bergholz, Saarmund, Langerwisch, Wilhelmshorst, Potsdam. Im Wald hinter Saarmund kamen wir in ein Gewitter. Oh, wie hat es gegossen und gestürmt! Da musste Papas abgelegter Mantel (den ich bei hatte) noch mal tüchtig was aushalten. Karl war auch total durchnässt. Feuer haben wir nicht anbekommen – aber Pfefferlinge haben wir gefunden – eine Menge! Da konnte das Elslein, die vorher schon recht erschöpft war, wieder lachen. War ja auch bereits bis hierher eine lange Wanderung. Doch woher soll die Kraft für die Woche kommen, wenn man sie nicht am Sonntag fordert, sie schöpft und Gutes genauso für die Seele erlebt? Auf dem Rückweg kam hinter dem dunklen Ravensberg rotgolden der Mond hervor. So still war es im Walde. Nur manchmal blies ein Windstoß einige Tropfenschauer aus den regenschweren Kiefern. Weiß im Nebel lag das Moosfenn und hoch ragte die mächtige Kiefer an der Hochzeitswiese.

Der Herrgott ging durch den Wald. >Guten Abend, gute Nacht ...<“


Am 02. Oktober war Reichsjugendtag der Hitlerjugend in Potsdam. Allerhand Volk unterwegs.


Mi. 05. Okt. Am Sa. und So. war Volkstanz-Reichstagung. Es war sehr gut – überhaupt, auch die Sturmfahrt über den Schwielowsee nach Werder. Auf der Bismarkhöhe war es so nett, wie lange nicht mehr. Waren das Menschenmengen! – aber ich habe trotzdem das Gefühl, die große Zeit des unbeschwerten Tanzens ist bald vorbei. Im Verein wird tüchtig geübt für das Jahresfest. Ob unsere Tänze klappen werden? Wie stellen sich manche Mädels bloß steif an. Da wird es erforderlich sein, noch manche Arbeit zu leisten.


Sonntage, 09. und 16. Oktober 1932: Mit dem Missionskreis auf Fahrt gewesen. Am 9. war es sehr schön. 8.00 Uhr, Treffpunkt „An der großen Klamotte“ (Nowawes, Findling, Großbeerenstraße) hieß es mehr deutlich, als schön. Rosemarie Deutsch, Hilde Weiß, Hirtelchen und ich waren die Mädels, Hermann Kloppe, Herbert Letz, Alfred Schmidt, Walter Kloppe und Bummchen, die Jungs. Durch die Rohrlake über Notbrücken und dann querfeldein (nahe Stern und Parforceheide) mit dem Finden großer und kleiner Pilze, dann durch Nudow nach Saarmund auf den Butterberg. Was für ein schöner Herbsttag wurde uns da geschenkt. Vom Berg schauend, lag breit das Land zu unseren Füßen. Das möchte ich wieder sehen, wenn die Heide blüht.


Es läuten die Glocken der Blumen so fein

Es blitzt ihr diamantenes Geschmeide

In der Frühe, im goldenen Sonnenscheine

Am Morgen in der Heide.


Kein Lufthauch – der Kiefern- und Birkenduft

Liegt über dem Feld und der Weide

Von Sonnenstrahlen erzittert die Luft

Am Mittag in der Heide.


Im Haselbusch die Nachtigall singt

Von Freuden und dem Leide,

Vom Dorfe her das Glöcklein klingt

Am Abend in der Heide.


Dann ging’s über die Wiesen und mit Sprung über einen Bach, breit genug, dass mein Bein im Morast in der Ufernähe stecken blieb. In Bergholz haben wir großartig Kaffee getrunken.

Gestern war im Tanzkreis Mitgliederversammlung.


Am 23. Oktober: Volkstanz-Jahresendfest. Hat alles gut geklappt. Bloß sprechen (vor den vielen Leuten) möchte ich nicht noch mal. Wie einem da das Herz im Halse schlägt.

An Anny, Traudel und Edith habe ich geschrieben und an Mutte. Blumen will ich ihr schicken. Ob sie’s wohl freut?


Do., 03. November: Beinah hingesetzt habe ich mich heut, kaum zu glauben. Doktorchen ist wieder im Lande, ganz wirklich. (Dr. med. Fritz Heim, der vor allem den Bruder Franz vor sieben Jahren nach dessen Unfall betreut hatte und dazu immer mit dem Motorrad von Berlin aus hierher nach Nowawes kam). Vor einigen Jahren lebte er in Berlin, am Zoologischen Garten, in der Burggrafenstraße 6 und inzwischen – in Machnow (Kleinmachnow) soll er jetzt wohnen. Gestern erst hatte ich seine Postkarten und Bücher von damals angesehen. Ob er sich mit seiner Frau wohl mal sehen läßt? Ach, das wär’ doch nett.

Emma Hönow hat mir heute erzählt, dass ich bei einem unserer Jungen (ohne Grund) „einen Stein im Brett“ hätte. So, so. Was die Leutchen sich so denken und herumschwatzen. „Stille Post“. Einer weiß manches schlechter als der Andere – und das aber ganz genau!


Auf der diesjährigen Muster- und Verkaufs- Messe für elektrotechnische Haushaltgeräte

(vom 22. November – 09. Dezember 1932) haben wir einen gemeinsamen Stand auf der Ausstellung. „Wir“, das sind:


Elektro-Innungsobermeister Mechaniker und Elektrotechniker

Otto Arlt und seine Frau Max Sommer

Nowawes, Karlstraße 16 Nowawes, Priesterstraße 68


Das Ehepaar Arlt sind sehr freundliche, gemütvoll-gütige Leute. Es macht mir Freude, gemeinsam mit ihnen zu arbeiten. Ein gutes Auskommen. Da könnte man sich als Tochter wohlfühlen. So ist das. Aber ich will hier nicht weiter darüber nachdenken.


Es werden an elektrischen Haushaltgeräten unter anderem angeboten:


  • Alles für 110 bis 130 Volt:

  • Stehleuchten = (Ständerlampen)

  • Tischleuchten für Büros und auch für Wohnzimmer

  • Batterieleuchten

  • elektrische Wanduhren, mehrere Modelle

  • Koch- und Backherde

  • Bratröhren, - Waffeleisen

  • Stromküchen“ = geschlossene Töpfe zum Kochen, Braten und Backen, mit Ober- und Unterhitze

  • Einzelplatten-Kocher

  • Heizsonnen

  • Heizkissen

  • Wasserkocher

  • Bügeleisen

  • Föne (Luftduschen = Haartrockner)

  • Topfstaubsauger

  • Boden-Staubsauger auf Rädern

  • Kleinstaubsauger als Koffermodell

  • Kühlschränke

  • Kaffeemühlen (Mahlwerk), Wandmodell

  • Und anderes mehr


Darüber hinaus gibt es weitere Angebote, die der Kunde aber ausschließlich in Verbindung mit einem Montageauftrag erwerben konnte. Dazu gehörten:


  • Beleuchtungs- und Kraftanlagen bis 380 Volt Spannung

  • Blitzableiter-Systeme

  • Akkumulatoren-Anlagen

  • Notbeleuchtungs-Einrichtungen

  • Haustelephon- und Telegraphenanlagen

  • Kontrolleinrichtungen und Diebessicherungen

  • Türöffner-Anlagen

  • Warmwasserspeicher


Auf dieser Ausstellung preisen wir die Waren aber nicht nur an und erläutern den Aufbau, die Wirkungsweise und Einzelheiten zur Technik der Geräte, nein wir führen sie dem Kunden natürlich in ihrer Funktion vor, müssen diese (unter Beobachtung seitens der Kunden) flott und sicher zerlegen und wieder zusammensetzen können.

Für mich gehört zusätzlich das Schaukochen vor den Kunden in meiner kleinen Elektro-Muster-Küche dazu. So koche ich denn zum ersten Mal mit Geräten der „Siemens-Schulküche“ und „Stromküche“ und brate und backe in der Bratröhre. Täglich – so nebenbei.

Die Gerichte wechseln jeden Tag. Mutti hatte ja in ihrer Jugendzeit im Berliner Lette-Verein eine solide Ausbildung in Hauswirtschaft erhalten; ich musste mich da aber in kürzerer Zeit hineinfinden, denn beim Schaubrutzeln darf ja nichts anbrennen – trotz aller Ablenkungen mit Erklärungen, Antworten auf Kundenfragen usw. Benutztes Geschirr darf sich natürlich auch nicht anhäufen. Und die Zuschauer und etwaigen Käufer dürfen dann kosten, ob der elektrische Strom die Mahlzeit genauso gut zu garen versteht, wie der bisherige heimische Holz- und Kohleherd.


Der Speiseplan aus meiner handgeschriebenen Rezepte-Sammlung, die von mir (für's nächste mal, ja, für's nächste Mahl) stets erweitert wird:


1. Tag

Schweinebraten, Salzkartoffeln, Mohrrüben, Linsen.

2. Tag

Schellfisch, Salzkartoffeln, Apfelsuppe, Birnenkompott.

3. Tag

Milchreis, Blumenkohl, Kartoffeln, Schnitzel, Brühnudeln.

4. Tag

Gulasch, Salzkartoffeln, Ragout fein, Birnenkompott.

5. Tag

Hasenrücken, Rinderfilet, Rotkohl, Kartoffelklöße.

6. Tag

Geflügel, Karpfen, Waffeln, Blätterteig, Schokoladenflameri.

7. Tag

Roastbeef, Käseauflauf, Rinderfilet, Käsetorte.

8. Tag

Eierkuchen, Kartoffelpuffer, Hefekranzkuchen, Apfelkuchen.

...

Und dann noch einmal von vorne ...


Dazu wird stets der Energieverbrauch von den Zwischenzählern abgelesen. Dann werden die Strom-Kosten bestimmt und können dem Kunden pro Mahlzeit, Tag und Woche ausgewiesen werden. – Allerdings nehme ich an, dass der erstaunte Besucher nicht unbedingt die bisherigen Kosten für Holz- und Kohle und den bisherigen höheren Reinigungsaufwand oder auch die neue Zeitersparnis pro Mahlzeit dagegen rechnen kann und möchte. Aber eben: das Angebot hat ein perfektes Erscheinungsbild zu zeigen.


Der Messe-Stand rechts neben uns bietet alle möglichen Neuheiten aus der Funktechnik an. Auch das interessierte den Chef sehr, da er ja damals, just vor 25 Jahren, bei den ersten erfolgreichen Versuchen der drahtlosen Funktechnik mit dabei war. Ich erzählte euch davon.


Di., 06. Dezember: Ich weiß gar nicht womit ich anfangen soll, soviel hab ich zu erzählen – ganz abgesehen von dem vielen netten, anstrengenden Trubel auf der Messe. Also, der Mutte hab ich zum Geburtstag Rosen geschickt und sie hat mir auch gleich zurück geschrieben. Von meinen Freundinnen soll ich ihr erzählen. Das will ich gern tun. Von Luzie Vicum, Anny Engler, Else Kummerow, Margot Dahms und Gretel Barsch – aber bis zum Fest muss sie noch warten. Da hilft alles nichts – es gibt bis dahin zu viel zu tun.

So, also voller Freude kam jetzt Doktorchen! Oder vielmehr: Herr Dr. med. Fritz Heim und seine Ehefrau Else trafen ein. Am Sonntag waren sie beide hier. Vor drei Wochen, am Sonnabendnachmittag, hatten sie uns zu sich gebeten. Doktorchen, der Liebe aber Unruhige, Vielschaffende, war so wie immer. Seine Frau Else, für uns ja neu, ist ein feiner Mensch. Man muss sie gern haben. – Sie schreibt Bücher und Gedichte.

Drei ganz junge Ehen kenne ich nun oder hab wenigstens etwas hineingeschaut:

Dörthe (Seehafer) + Peter (Kühnbaum, der eigentlich Bruno heißt), Else + Karl (Kummerow) – und nun die beiden Heims. Lieb müssen sie sich wohl alle haben aber die tiefste und freieste Ehe ist wohl jene von Else und Karl, meine ich. Karl wird noch immer vor der Frau wie ein Jungmann ritterlich sein Knie beugen, wenn auch nicht grad äußerlich sichtbar. Doktorchen dagegen sagt im Beisein seiner Frau Else ohne eine Rücksicht auf ihr Gemüt zu nehmen, die wunderschönsten Grobheiten, wenn auch nicht gegen sie gerichtet. Peter, denke ich, wird schon >die Frau an sich< verstehen, da er wohl ziemlich sicher einige vorher gekannt hat. Aber seine schlagfertige, kiebige Berliner Dörthe lässt sich die Butter vom Brot nicht nehmen.

Am 22. Dezember sandte mir das Ehepaar Dr. Heim aus dem bayerischen Rheyt ein Buch zum Weihnachtsfest. Eine große Aufmerksamkeit für mich.


26. Dezember: Ja, es stimmt. Weihnachten ist nun fast schon wieder vorbei. „Katrin wird Soldat“, hab ich gelesen (von Dr. Else Heim geschrieben). Und solches unfassbare Grauen wollen die Menschen noch einmal herauf beschwören? Vielleicht, ja bestimmt noch schlimmer, noch grausiger. Hat denn die Welt noch nicht genug Schuld auf sich geladen? Ein Volk, mehrere Völker, ein Bruder gegen den anderen?

(Eine Vision der 19-jährigen Anne-Marie am Ende des Jahres 1932 im Hinblick auf die im März 1933 dann erfolgte Machtübernahme der Nationalsozialisten und den späteren Beginn des Zweiten Weltkrieges am 01. September 1939).

Helferin soll ich werden in der Kinderkirche, darum wurde ich gebeten. Herr Gott! Zeig mir doch den rechten Weg. – Warum lässt Du mich immer hauptsächlich an die schönen Fahrten dabei denken. Das ist doch der geistige und geistliche Hauptinhalt nicht. Lasst mir noch Zeit bis zum Januar.

Frau Bauer aus Eutin, die liebe alte Dame, ist gestorben. (Die Mutter von Tante Betty Pehlke). Das schöne goldene Kreuz mit der Perle hat mir die liebe Frau Bauer geschenkt, beim ihrem letzten Besuch bei uns, hier in Nowawes. So gern hatte sie mich, ihre >liebe junge Deern<, wie sie in ihrer Hamburger Mundart zu sprechen pflegte.


Hier einige Mitglieder unseres Nowaweser Volkstanzkreisesetwa 1932, nur so, wie ich es in der Erinnerung habe – weil ich es erst 50 Jahre später notiere. Also, auch sie waren dabei:


Bender Gretel, geborene Gottschalk

Bender Hermann, Er wird später im Krieg fallen

Dahms Margot

Degenhardt Gretel

Freidank/Freydank Sabine (Bienchen)

Himpel Harald Gärtner aus Alt-Töplitz und seine Frau (Gertrud?)

tätig im Kindergarten Töplitz

Irrgang (Hans?) Er wird später im Krieg fallen

Irrgang Gretel

Kummerow Else und Karl aus Potsdam

Neumann Irmgard (Schnucki)

Sparre Charlotte aus Potsdam

Sparre Walter, der vorgenannten Bruder, Violinist am (Hans-Otto-) Theater

Teske / Teschke Friedel (Ehrenfried) Er wird später im Krieg fallen

Teske Anneliese

Theers Walter

Trippler Karl und Hildegard

Ziehe Hilde später verheiratete Katzorke, Lutherplatz 5

Ziehe Brüder der Hilde, aus Potsdam

Zinke Hilde aus Eutin, tätig im Kindergarten am Neustädter Tor, Potsdam


Diese Liste ist nicht vollständig. Es kamen ja des Öfteren neue Mitglieder (auch aus anderen Orten) hinzu oder andere gaben diese Freizeitbeschäftigung wieder auf.


1933

05. Januar: Muttis 53. Geburtstag mit Singsang. Und was soll heut' alles noch folgen? – Ich graul mich schon jetzt vor dem Abend. Die Stube voll, alles erzählt irgendwas belangloses, oberflächliches Durcheinander. Vermutlich werden die Herren viel qualmen. Ob es Doktors wohl überhaupt gefallen kann – oder sie sich vielleicht beizeiten zurückziehen werden?

Ein schöner Tag war der vorige Sonntag. Auf Fahrt mit dem Tanzkreis zum Teufelssee in den Ravensbergen, Rast in der dortigen Klause, dann Saarmund und am Abend über Bergholz und Rehbrücke wieder zurück gelaufen.


11. Januar 1933: Ein Rückblick – Das neue Jahr hat begonnen – aber auch gleich Zweifel und Schwanken gebracht. Wie schön waren die Tage in Rheinsberg. Aber eine Zeit stiller Einkehr war es nicht. Am 30.12. Traudels Geburtstag und dann Silvester, mit Freude aber doch auch mit Ernst. Und dann nach dem Trubel, ein Tag ausgefüllt mit Traudels tausend Fragen und Eigenbefragung zu ihrer Zukunft und ... ich weiß doch vieles durchaus nicht besser als sie. Fragen ja – aber kaum Zeit und Ruhe für die auslotende Tiefe eines Gesprächs, um Antworten finden zu können, die zu befriedigenden Ergebnissen führen.


14. Februar: Ja, Elslein, liebes junges, altes Elselein. Vorigen Mittwoch war sie bei uns. Hätt ich kein Fieber gehabt, wärs schöner gewesen. 39,8°C – da trieselte es ganz schön in meinem Kopf. So tief und frauenhaft kann Else sein und dann gleich wieder so leicht und lustig. Ja, viel lustiger als ich es sein kann.

Was kommen und gehen meine Gedanken beim Schreiben immer her und hin. Zu Anny nach Badenweiler, da lässt's mir gar keine Ruh – es wird ihr doch gut gehen. Sie hat lange nicht geschrieben.

Morgen ist Werbeabend für neue Mitglieder im Volkstanzkreis zu Potsdam. Vier Mann hoch werden wir erscheinen.

Unser Peter (Kater, der Sohn von Itze) ist schon seit ein paar Tagen weg. Papá meint dazu: „Schade nur um‘s schöne Fell“, der Grobian, ob er’s wirklich so meint? Fragen kann ich da nicht.

Doch für heute Schluss. Schlaft alle wohl meine Lieben,die mit mir verwandt oder bekannt.


16. Februar: Wir haben „Die Meistersinger“ (von Nürnberg) gesehen. Das Leben damals wie heut. Hoch lebe Hans Sachs – ein Schuhmachermeister, wie es viele auch in unserer Sommer-Sippe gab und gibt (Onkel Paul Sommer arbeitet ja immer noch fleißig). „Verachtet mir die Meister nicht“, sang Hans Sachs – oder verallgemeinernd darf man sagen: Verachtet mir die Menschen nicht!

Der schönste Lebensinhalt ist Helfen und Hoffen. Beides sind Kinder der Liebe.


Sonntag, 05. März: März ist's, Lenzing! Trotz allen Kummers ist's mir so weich zumute aber wir stehen doch in einer Zeit, die wirklich nicht zum Träumen da ist. Wer in jetziger Zeit leben will, muss ein tapferes Herz haben. Es gibt der argen Feinde so einige, das bereitet Schmerzen. Dabei vergisst man, ach zu oft, dass ein möglicher Feind auch im „Ich“ sitzt, der erkannt und bekämpft werden soll.

Und bei uns Zuhause, in dieser engen, materialistischen Welt? Wer merkt es mir an, dass ich weiß: Christentum bedeutet Freude und Kraft. Wer bin denn ich? Wo ist bei mir der sichtbare Ausdruck bewussten Glaubens? Wozu bin ich da? 20 Jahr alt bin ich bald. Im Moment soll ich auf Elternfragen alle Antworten wissen – fünf Minuten später ist man aber (wie) ein Kind, das beiseite gestellt wird, da man ja „von allem“ doch nichts verstünde. Soll das in meinem Leben so weitergehen? Wer würde mich überhaupt wohl im nächsten Jahr noch vermissen, wenn ...? Aber wozu zu allem noch eine Sünde, denn das ist es ja, mit solchen Gedanken umzugehen. –


Geburtstag: Morgen wird Anny 21 Jahre. Möge unser Herrgott ihr ein gesegnetes neues Jahr schenken.

Wahltag ist heute. „Der Tag der erwachenden Nation“. Ein Reichstag in vielleicht verbesserter Zusammensetzung? Soll es ein Wendetag werden für unser Volk? Was ist eine Wende – wohin führt sie? Meint er es echt, der Führer, wenn er sagt: „Nur mit Gott“. Ist unser Gott dafür da, für seine Absichten? „Herr, so sag doch zu dem was echt und tief ist ein Amen – das große und endgültige „So sei es“, denn Du kannst doch der Menschheit Ruhe und Besinnung geben“?

(C. J.: Möglicher Weise hat Anne-Marie darauf keine so eindeutig verstehbare Antwort erhalten).


20. März: Was ist das Telephon doch einfach „knorke“, denn mit dem Annchen hab ich nach Badenweiler gesprochen. Wie schnell sind da ein paar Minuten um. Ganz steif war meine Hand nachher vom Hörer-halten.

Ja, so sehr gefreut hat 's mich neulich, als ihr Brief kam, wie auch heute darüber, dass das Mädele herkommen will. Zu uns, vom Muschterländle ins Preußische. Freust Du Dich auch so, Anny? Mir ist, als sollt ich eine Schwester bekommen. – Was wäre mir eigentlich mehr? Schwester oder Freundin? Und wie geht es ihr bei solcher Abwägung? Ich werde sie fragen.

Hans war mein Bruder. Wir lebten auf engstem Raum zusammen in diesem kleinen Zimmer und waren uns doch innerlich so fern und auch rau zueinander. Weil wir es nicht anders kannten? Oder unterschiedliche Anlagen vererbt bekamen? Ist doch auch jetzt noch eine ungeheure Hemmung in mir, die es so schwer werden lässt, tiefstes und herzlich Gemeintes einfach so auszusprechen. Nun ich glaub, die Anny wird mich verstehen.


Morgen ist der große Tag von Potsdam. In was für einem Erleben stehen wir doch in dieser Zeit. Neulich sagte jemand: „Es lohnt sich 100 Jahr’ zu leben in dieser Zeit“.

Ist das ein Zufall, dass dieser Akt grad auf den Frühlingsanfang fällt? Wenn es doch ein gutes Omen wäre. Alle Welt spricht von Not. Wir können wirklich unserem Herrn danken, dass wir sie noch nicht persönlich erfahren haben. Aber alle, ob selbst stark betroffen oder am Rande mit einbegriffen, werden doch morgen fest und froh zusammenstehen(?) – wenn es nur ruhig und festlich zugehen mag – und für gute künftige Erfolge des neuen Reichstages.


22. März 1933. Das war gestern Deutschlands großer Feiertag! „Der Tag der erwachenden Nation, frei von Eigensucht und Parteiengezänk, mit Gott für das Vaterland“. Eine Menschenmenge, wie sie Potsdam lange nicht gesehen hatte. Um 6 Uhr: Himmel bezogen. Um 8 Uhr: Schneegestöber. Ab 10 Uhr: strahlender Sonnenschein. Möge doch der Geist des Tages gut in der Arbeit und im Frieden bleiben – und treu und fest die Regierung für das Volk.


27. März. Mutti soll nach ihrer Erkrankung noch nicht viel herumlaufen und am Sonnabend koche ich schon alles für den freien Sonntag fertig. Da rufen Doktors an (Dr. Heim): „Morgen Mittag um 12 Uhr sind wir draußen“ (also bei uns in Nowawes). Um ½ 2 kamen Doktors samt Teddi (Hund) endlich. Und die Sonne strahlte, als sollten alle Knospen aufbrechen. Na, wir sind dann nach dem Essen noch bis zum Teerofen (Gaststätte Albrechts Teerofen, hinter Kohlhasenbrück) gelaufen und von dort nach Klein Machnow zum Abendbrot. So konnte sich Mutti leider bloß zu Hause alleine langweilen. Na, bald wird sie hoffentlich wieder mitlaufen können.


28. März 1933: „Hasa“ (Max Hasait, Buchhalter und Mädchen für alles in der Elektrofirma Sommer), unser lieber Hasa ist für immer eingeschlafen. Er war erst 57 Jahre alt. Nun habe ich meinen einzigen, den väterlichen Freund verloren! Er kannte mich schon von meinem ersten Lebenstag an und er, wie seine Brüder, kannten meinen Vater und dessen Geschwister auch schon seit der gemeinsamen Potsdamer Kinderzeit. Zum Herrn (Gott) ist Hasa nun gegangen (denke ich), den er nicht hat kennen wollen. Und weinen um ihn darf ich nicht. Das wär nix für ihn. Schlafe wohl, Hasa. –

Nun wartet auch seine Büroarbeit zusätzlich auf mich. Leistungen berechnen, Rechnungen schreiben, die Buchführung erledigen – alles muss ja der peinlich genauen Prüfung des Chefs standhalten. So war ich denn vom Status eigentlich mehr „maschinell funktionierende Angestellte“, als das einzig verbliebene Kind der Familie. Ganz großartig war es, dass sich der Chef bald zum Kauf einer Mercedes-Schreibmaschine entschloss und nun ging’s los mit dem Zwei-Finger-Suchsystem und den Durchschlägen. (Leider eben auch ohne den Zehn-Finger-Schreibkurs, zu dem ich dringend meine Bereitschaft anbot – das war für mich nicht nötig). Trotzdem war die Maschine eine große Erleichterung – und es gab dazu neue moderne gedruckte Briefbögen. Wie alle Drucksachen, so auch diese hergestellt bei Firma Freudenberg in der Bäckerstraße, (der späteren Schornsteinfegergasse).

Bevor wir die Schreibmaschine hatten, mussten die Rechnungen und Briefe per Hand mit „Copiertinte“ geschrieben und dann feucht, mit der Presse in die „Kladden“ kopiert werden.


Das Osterfest war bei uns nicht grad aufregend. Mein Herz und Sinn waren für alles Gute offen. Weil aber doch nur gewohnter oberflächlicher Kaffeeklatsch im alten Stern (Gasthaus zum Jagdschloss Stern) zu hören war, hab ich’s schnell wieder zu gemacht. Musters mit Ernstel, Pehlkes und die Kühnbäume blieben dann noch zum Abendessen.

Am 2. Feiertag, nach dem Ausflug zum Luftschiffhafen, lernte ich noch Familie Hapke kennen. Was ist es doch Feines um so ein kleines, unverbildetes Menschenkind. Noch sieht es in Vater und Mutter die Hauptpersonen der Welt. Und dann kommt die noch fremde „Annemie“ (also ich) und so ganz zart und hell singt das Stimmchen etwas vor und klingt so lieb.


Am 4. April 1933 haben die Verlobten Luzie Vicum (meine Freundin seit dem ersten Schuljahr) und Alwin Barth in der Nowaweser Friedrichskirche geheiratet.


Am Sonntag den 7. Mai war noch großes Treffen in Eiche bei „Onkel Emil“. Erst draußen getanzt auf dem Rasen, denn zum Volkstanz brauchen wir kein Parkett. Anschließend die Kaffeetafel im Grünen, dann rein in den Saal, wegen des aufziehenden Gewitters. 160 Jungen und Mädel im Saal. Am Abend zurück nach Nowawes gelaufen. Auf dem Weg haben wir tüchtig gesungen. –

Nun muss ich aber noch notieren, dass Peter (der vermisste Kater, kein Bedauern wegen eines Fellverlusts nötig!) wiederkam und auch heute sehr lieb war und ist, mir geholfen hat, Rechnungen zu schreiben. Nun aber musst du in mich Ruhe lassen. Hörst du, Peterlein?


11. Mai: Ein Rückblick – Mai schreiben wir jetzt. Die Zeit, sie eilt im Sauseschritt und wir, wir müssen mit. Aber manchmal, da rennt sie einem schon davon. Was ist alles gewesen, inzwischen?


Dunkle Tage und noch dunklere Nächte bei mir. Mittendrin zum Glück ein Sonnensonntag voll Lerchenjubel. Von früh bis spät mit Else und Karl auf Fahrt (also wieder zu Fuß): Ravensberg, Wilhelmshorst, Wildenbruch – diese öde Kolonie. Dann Neu- und Alt-Langerwisch mit der traulichen Kirche, Kähnsdorf und Seddiner See. Der liebe Gott ließ uns grüßen durch seine Tierlein! Der nette Storch mit seinen deutschen Farben (schwarz – weiß – rot). Über Fresdorf und Saarmund ging's an der Nuthe heimwärts. Bis Rehbrücke, wo uns nach zähneklapperndem Warten (am späten Abend war es kalt) der Autobus nach Hause rollte.

Nun trägt auch Else Leid um ihre Mutter (Auguste, geborene Schwedtner). Sie ist heimgegangen zum Mann Friedrich und zu ihrem Fritz. Wunden heilt manchmal die Zeit, Elslein, und einer der's noch besser weiß.


28. Mai: Die Doktors (Heim) sind schon wieder fort. Vielleicht für immer. Ziel – für uns unbestimmt. Erst später wissen wir es: Noch im Mai 1933 hat Dr. Heim mit seiner Frau Else Deutschland verlassen, so wie Albert Einstein und viele andere jüdische Menschen, die die Gefahr rechtzeitig sahen und auch die Möglichkeiten einer Ausreise wahrnehmen konnten. Sie haben zeitig erkannt, dass der Regierungsübergang auf die Nationalsozialisten nichts Gutes bringt.

Ein noch späterer Nachtrag: Die Heims schrieben uns noch einmal aus England. Sie sind auf dem Weg nach China, um dort eine neue Existenz aufzubauen. Sie haben es fast geschafft. Gott sei’s gedankt – vorerst – ob aber in China das Leben sicher und gut sein wird? Das war das letzte Lebenszeichen, das bei uns einging.

Heute: Kurmärkischer Kirchentag! Christus soll unser alleiniger Herr sein! Wir, die wir uns zu Deinen Jüngern, Deinen Nachfolgern zählen, auch wir wollen helfen, Deutschland, unser Deutschland zu halten und zu bauen.


11. Juni: Pfingsten haben wir in der Försterei Dubrow, am „Hölzernen See“ in der Schorfheide verlebt (südöstlich von Bestensee, nordöstlich von Groß Köris). Mit dem Tanzkreis, trotz allgemeinen Kopfschüttelns. Und es war so herrlich schön. Erst die Bahnfahrt – zwar in drangvoll fürchterlicher Enge, dann aber von Groß Besten 1 ½ Stunde Marsch über die mondhelle Landstraße. Da schlief es sich dann gut im Heu. Allerdings mit Unterbrechungen, weil ich immer wieder erwachte, bis um 4 Uhr. Dann machten die Schwalben, die blitzschnellen, schlanken Geschöpflein aber solch einen Krach, dass auch für uns die Nacht endgültig vorbei war. Bis um 5 Uhr hielten wir es aus. Dann raus aus dem Heu, die Leiter runter und an den Brunnen. – Wie schön wars im Wald. Ist da nicht jeder Baum ein Herrgottswinkel, in dem man Ihn spürt?

Rührei mit Tomatensauce hat es mittags gegeben. Am 2. Feiertag: Grieß mit Rhabarber. Am Vorabend, beim Rhabarberkochen, haben uns die neugierigen, hungrigen Fliegen reineweg aufgefressen. Wie sich da manche Leutchen doch vor der Arbeit drücken konnten. Na, Schwamm drüber. Schön war es doch – auch als der schöne Kurt nachher den Kochtopf scheuern musste.

Am 2. Feiertag war's so herrlich auf dem Wasser, dass wir beinah den Zug zur Rückfahrt versäumt hätten. Und dadurch kam ich zum Radfahren, das heißt, ich wurde zum Bahnhof gefahren. Der Kurt F. hat sich ganz schön anstrengen müssen, mit mir da vorn auf der Lenkstange. Auf dem Rückweg waren die Züge leider genauso überfüllt, wie auf der Hinfahrt .


Zum nächsten Sonntag will ich Edith Nitzsche zu uns bitten. Sie freut sich sicher auch, wenn sie mal aus dem Einerlei raus kommt. Sie arbeitet doch als Schwester im Paul-Gerhardt-Stift, in Berlin, Müllerstraße.

Am 6. Juli bin ich nun 20 geworden und inwieweit bin ich fertig? Ein fertiger Mensch? – Meine Antwort ist die Frage: Ob's den andern Mädels auch so geht? – Luzie, Margot, Gretel und Emma waren zum Abend hier. Else nur am Nachmittag. Die Mädels fanden es ja wohl ganz nett.

Und das badische Annilein hat mir so lieb geschrieben. Herrlich weißes Briefpapier hat sie mir geschickt (aha, ein Wink mit dem Zaunpfahl) und ein ganzes Kästchen voller Blumen.


Einige unserer jungen Frauen fragen mich … das, was ich selbst nicht genau weiß … und ich kann doch nicht „wie erfahren“, über solche Themen reden, die ich immer so verächtlich eine bloße „Liebelei“ genannt habe. Warum nehmen andere Mädels das so leicht hin und ich gar nicht?

Gestern Abend zum Beispiel kam M. und redete mit mir aus ihrem Herzen, aus dem Sorge sprach. Auch sie kam zu mir, weil sie denkt, ich sei wirklich so abgeklärt und kühl und wissend? Ich bin doch auch nur ein Mädel, das zu wenig weiß. Und wie viele kamen mit ihrem Leid schon zu mir. Aber M., warum lässt du's allemal so sehr weit kommen? Wollen wir hoffen, dass die Sache wieder gut ausgeht. – Mein Junge müsste ja anders sein. Na, wir beide sind eben zu verschieden. Und was will „allemal“ bedeuten? Fehlt es hier an zurückhaltender Ritterlichkeit des Jungmannes gegenüber der umworbenen Liebsten? Und – ich will gar nicht daran denken – ist es auf beiden Seiten überhaupt der oder die einzig auf Dauer Umworbene? Und weiter … dass die Sache wieder gut ausgeht. – Es muss doch nicht ausprobiert werden, was dem geheiligten Stand der Ehe vorbehalten bleiben, ihn krönen soll – oder andersherum: was bleibt sonst noch für später übrig?


9. Juli: Von Edith lese ich grade: Lange hat sie krank gelegen. Gottlob geht es ihr wieder besser. Traudel will ich auch besuchen und Gretel. – Draußen singen alle Tage die Kinder – >Sieg Heil< – zur Ferienwanderung!

Wie freue ich mich, dass Luzies Arbeit gesegnet ist und dass sie eine so große Freude hat an ihrer neuen Tätigkeit.


Neue Lebenseinsichten, Lebensinhalte und selbst gewählte Lebens-Aufgaben:

Nun übernehme ich es, in der Kinderkirchenarbeit der Friedrichskirche als Helferin tätig zu sein. Diese Arbeit führe ich voller Hingabe aus. Sie war für mich neu, da meine Eltern nichts mit der Kirche zu tun haben. Eine gewisse Berührung hatte ich jedoch durch meine religiös veranlagten Tanten Hedwig Knoll und Marie Steiner bekommen. Da ich bei Knolls ja schon Patentante des kleinen Fritz bin, ist ein weiterer Erfahrungsgewinn sicher gut. Bestimmte Anteile dieser Freizeitarbeit sind für mich allerdings nicht ganz problemlos. Zwar singe ich schon immer gern (aber auch sehr falsch, was das Einhalten-Können der rechten Melodie angeht). – Die Kinderkirchenzeit ist für mich auch eine Zeit der Gedanken über die eigene Rolle und des klar Werdens über die Werte in einer späteren eigenen Familie.

In den folgenden Jahren wird es dann auch für mich die Kinderkirchen-Höhepunkte in der Freizeitgestaltung geben: die großen Ferienwanderungen. Besonders gern nehmen die Kinder der Familien teil, deren Eltern es sich nicht leisten können zu verreisen. Es ist immer eine große Anzahl interessierter Kinder. Zu jeder Mittagsmahlzeit bringt der Fuhrunternehmer, Rudolf Ranglack (aus der Wilhelmstraße 64), für alle das Essen mit seinem Mercedes-Lastwagen, egal, wo wir uns auf den Ausflügen befinden.


Am 29. Juli sind Else und Karl auf große Fahrt gegangen. Drei Wochen. Gen Osten nach Marienburg. Frohe Fahrt euch Beiden.


2. August: Sonntag waren wir wieder auf Fahrt mit dem Missionskreis Richtung Nudow – Rohrlake. Nach den letzten Hundstagen mit 34°C im Schatten, war die Abkühlung wunderschön und so herrlich zum Laufen. Malzkafe schmeckt auch gut, wenn man ihn draußen selber kocht. An der Rohrlake klang zum Abschied das „Schönster Herr Jesu“ wirklich dankbar empor. Oh, Herr Jesus, mach uns doch noch viel freudiger und gehorsamer gegen Dich.

Nächsten Sonntag ist Kinderfest. Oh, wie wonnig ists nach so langer Zeit all die warmen Händchen wieder zu halten. Ich freu mich so, dass Luzie die Ferienwanderungen mitmacht.

Wie wirds wohl der Mutte gehen mit ihrem Ingelein? Am Sonntag hab ich einen Katzenpfötchen-kranz gewunden und dabei an die Beiden gedacht.


6. August: Es war heut kaum noch zu ertragen, diese Ungerechtigkeit von Papá. Warum nur überhaupt? Was hab ich denn getan? Mein Herz, das saust und hämmert, als wollt es nicht mehr bleiben an seiner Stelle. Da dacht’ ich wirklich, es wär’ besser, es hörte ganz auf und stünde still. –

Doch nicht verharren darf ich nach dem Beruhigen bei solchen Gedanken, das wäre nicht recht. Doch es ist nicht in meiner Macht die Familie zu ändern. Sie will es ja auch gar nicht.


18. August. Anny fragt aus Badenweiler an, warum ich zu wenig schreibe (habe ich doch extra Briefpapier bekommen). Anny kann sich nicht recht vorstellen, dass ich sehr viel zu tun habe, fest im elterlichen Geschäft eingespannt bin und ganz andere Sorgen habe als sie. Sie schreibt allerdings selbst recht wenig. Seit sie diesen Freund hat, sind ihre Mitteilungen noch mehr allgemein, kurz, leichtlebig, global dahingeworfen, ohne erkennbare Tiefe als Ausdruck des Erlebens oder Fühlens. Die Grüße bleiben inhaltlich an der Oberfläche. Im Schwarzwald zeigt das Thermometer in diesen Tagen 30 bis 32°C an.


22. August: Am Sonntag war Missionsfest auf der Insel Hermannswerder. … Herr Pfarrer Christoffel ist offenbar krank. Frau Börner ist, glaub ich, heut gefahren, um in Persien zu helfen. Als eingetragenes Mitglied der Mission habe ich jetzt noch treuer zu sein. Herr, leite Du uns alle nach Deinem Willen.

Else und Karl sind von ihrer Ostland-Fahrt zurück und nun haben sie auch eine eigene kleine, sehr kleine Wohnung. In Potsdam, Heiligengeiststraße Nr. 3, „im Entenviertel. Ein reizendes Zimmer und eine „süße“ Küche bewohnen sie. Eigentlich müsste ich das ganz verschnörkelt schreiben, denn es ist so ein richtig altes Potsdamer Haus “, noch mit gläsernen Klingelzügen und geschweiften Treppengeländern. Vornehm!


16. September: Eine frohe Nachricht kommt ins Haus geflogen! Ein gesundes Mädel ist angekommen – und wo? Bei der Mutte!! Das Ingemädel hat ein Schwesterchen. Tausend Grüße, liebste Mutte (Heubüldt oo Richter).


25. September: Oh, diese Zeit. Mies war es schon vorher, dann war Papá auch noch im Krankenhaus, grad über seinen Geburtstag hinweg, vom 18. bis 23. September.

Nun ist auch Erichs Mutter schon zu früh gestorben. (Ladenthin, Erich, aus Rehbrücke (?), ist ein junger Elektromonteur bei Firma Sommer). Das Leid findet doch einen Jeden.


17. November: Morgen kommt die Traudel (aus Rheinsberg). Das sollen ein paar nette Tage werden! Wie wird sie sich freuen, hier zu sein und auch Gretel (Barsch).


27. Nov. 1933. Traudel ist auch schon wieder acht Tage fort. Was waren es für frohe Stunden. Wie hab ich sie doch gern, die kleine stolze Traudel. Und auch Gretel und Luzie. So waren wir vier zusammen. Sonnabend und Sonntag. Am Vormittag aus Anlass der Luther-Festwoche gemeinsamer Kirchgang zur Bethlehem-Kirche. Fest klang Pfarrer Richters Wort: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“.

Was vergangen, kehrt nicht wieder. Doch ging es strahlend nieder, leuchtet's lange noch zurück.“


Jedem alle meine guten Wünsche für das Jahr

1934

Am Sonnabend, den 6. Januar waren Pehlkes hier, Frau Melanie (Muster), Mausel (Annemarie Muster). Herr Paul Muster lag leider krank zu Haus. Dörthe, Peter und Paula waren ebenfalls hier, um Muttis gestrigen Geburtstag zu feiern. Ein Bild von Hans haben die Kühnbäume mitgebracht. (Hans sitzt in Berlin bei Kühnbaums auf dem Balkon). Ein Andenken an längst vergangene Zeiten.


10. Januar 1934: Von Ihm haben wir gewonnen Gnade um Gnade!

Luzie macht bald Hochzeit! Ist doch eine frohe Botschaft im neuen Jahr, gelt? Bis März ist sie noch hier. Jetzt, da der Termin fest steht, denkt man daran, dass es zwar Trauung heißt, es für uns aber Trennung bedeutet. Ja, unser Kreis der Nowaweser Jungfrauen wird immer kleiner.

Traudel! Sonnabend, Sonntag und Montag durfte ich wieder bei ihr in Rheinsberg sein. Und zusammen haben wir uns ins neue Jahr gesungen, gedankt, gelobt, gelacht und sind gesprungen. Hier und da, unterm Weihnachtsbaum, wie die Kinder.

Irmchen Seehafer ist nun auch verheiratet und heißt jetzt Wolter. Am Sonntag, den 14. Januar waren Dörthe, Peter und Herr Wolter hier.


18. Januar, Donnerstag: Missionsabend. Pastor Christoffel von der Blindenmission war bei uns. War das ein inhaltsreicher Abend! Die Fahrt von Herrn Christoffel von Persien bis zu uns nach Deutschland wurde lebendig. Durch einen Brief von Frau Lörner wurde uns über das dortige Weihnachtsfest erzählt. Oh, die Erlebnisse der russischen Flüchtlinge … durch eine Welt voller Leid sind diese Menschen gegangen. Vor 300 Jahren sind deren Voreltern damals fortgegangen aus Deutschland.

Gretel blühte richtiggehend auf an diesem Abend. Man sah direkt, wie sie Auge, Ohr und Herz voll trank und so lang entbehrte Worte aufnahm. Bei Verlobungskaffee und Kuchen von Rosemarie (Deutsch) und Hermann (Kloppe) wurde es recht ausgelassen und lustig. Ein herzliches ernstes Schlusswort sprach Herr Pastor Christoffel. „Jeder gebrauche seine Gabe, denn es sind wohl viele Glieder aber ein Haupt, viele Sinne aber ein Gott.“ Und dann sein Lieblingslied als Ausklang: „Schönster Herr Jesu“.


Montag, 22. Januar: Gestern, ein herrlicher Sonnensonntag, waren wir auf Fahrt vom Volkstanz aus. Die ersten gingen um ½ 9 Uhr in Potsdam am Brandenburger Tor zu Fuß ab. Um ¾ 1 fuhr ich mit der Bahn nach Potsdam. Rolf Giebel war auch mit im Zug und gemeinsam warteten wir auf Gretel. Dann ging’s mit dem Postauto nach Alt-Töplitz. Wie herrlich schön lag unsere Mark in der Sonne. Erst sah es dann ziemlich mau aus mit dem Tanzen. „Ein ganzer Junge war dort anwesend“. Doch dann kamen noch Steglitzer (aus Berlin) und es wurde ein froher Nachmittag. Um ½ 7 ging’s dann von Töplitz mit Gesang per Pedes (zu Fuß) zurück zur Nowaweser Heimat. Hell lag der Mond auf den märkischen Landstraßen. Der Scheinwerfer von Ütz winkte zu uns herüber. Immer und immer wieder. Weiter ging’s: Leest, Grube, Bornim, Bornstedt, vorbei an des Großen Königs Weinberg (Sanssouci). Nach 2 ½ Stunden tüchtigen Fußmarsches waren wir am Bahnhof Potsdam. Gretel fuhr weiter mit den Steglitzern und ich purzelte nach Haus, um dann noch bei Tante Betty (Pehlke), eine kurze Visite zu machen. Pehlkes gehen meist sehr spät zur Ruhe. Ihre Wohnung in der Priesterstraße 57a duftet stets nach Bohnerwachs und Bohnenkaffee.


Am 15. Februar zum Tanzfest (Fasching) gewesen im Parkrestaurant Südende (Berlin). Nett war’s. Vom eleganten Gesellschafts- bis zum Insel-Kleid war alles vertreten. Oh und mein „Wüstenläufer.“ Was mag der Junge sich wohl vorgestellt oder gewünscht haben?

Punkt 2 Uhr am Morgen lag ich endlich im Bett. Nein, wie kann man nur so unsolide sein.


3. März, 7 Uhr morgens: Hochzeit hat das Luziemädel heut mit Alwin Barth. Um ½ 4 Uhr werden wir stehen und warten auf des Herrn Wort. Lass leuchten Dein Angesicht über Ihnen, oh Herr, und sei Du ihnen gnädig! Wir lassen Dich nicht, du segnest uns denn! Amen.


Am 29. April: Mittags mit den Eltern zu Familie Klingt. Herrlich, vom Neuen Palais die Lindenallee hinunter nach Golm. Wie traulich lag Eiche in der Sonne. Da steht der Kirchturm. War doch gar nicht so lang her, dass wir da getanzt haben (aber nicht in der Kirche, sondern im Saal der Gaststätte „Onkel Emil“).

Man kennt sich zwar jahrelang vom Sehen aber nie hab ich gewusst, dass der Siegfried so nett erzählen kann. Dass er Ostern grad in Rheinsberg war, freute uns Beide. Aber mit Dir in die Heide lauf ich doch nicht, wenn du auch noch so schön singst: „Meine Augen die gehen wohl hin und her, du strahlenäugig Mägdelein“.

Ja, und von Klingts ging’s dann durch grüngoldene Wiesen nach Haus.

Anschließend Festabend der Mission. Unser lieber Herr Christoffel kam zu uns. War das ein Tag!

Oh, all die guten Wünsche und Gedanken, all die Worte, die gesprochen wurden. … Die Steglitzer der Bekennenden Kirche zogen davon, zurück nach Berlin. Wir sangen ihnen: „Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl“ – Luzies Lieblingslied. Und als Grußwort der Friedenauer (Teilnehmer aus Berlin-Friedenau) von Fräulein Bombe, zufällig(?) Luzies Trautext vorgetragen: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen“, Jesaja 54.10. Was war das nur an diesem Abend – alles was da gesprochen wurde, hatte eine Erinnerung für mich, schien von ganz persönlicher Bedeutung auch für mich zu sein. Der Saal (im Hof der Priesterstraße 18) war ganz erfüllt von süßem, schweren Fliederduft. Und ganz, ganz still wurde es in unserer großen Abendfamilie, als Christoffel zu uns sprach. Möge sein Wunsch in Erfüllung gehen, dass wir alle immer mehr erkennen, wie lieblich und voller (Um-)Sorgen es ist, einander dienen zu dürfen.

Emma Hönow trug das Gedicht des Anton Bernhart vor: „Wir Blinden“.

Pastor Viktor Hasse sprach das Abendgebet: „Du sollst uns gottbefohlen sein“. Es begleitete uns durch die Nacht nach Hause.


06. Juli: Mein 22. Geburtstag.

Frohe Ferienwanderung der Kinderkirche zur Steinstraße und in die Parforce-Heide. Dort führen die Kinder das Singspiel „Die Vogelhochzeit“ auf.


Vom 4. August bis zum 1. September war ich in Badenweiler. Wiedersehen gefeiert mit dem lieben Wald, den Wiesen und den Bergen. Am Sonntag, den 26. August Fahrt auf den Belchen in aller Frühe durch tiefen Nebel hinauf zum Licht. Oben den Blick hinunter in unser geliebtes Heimatland. Ein Tag voller Weite und Schauen. Heimzu über die Kälbelescheuer, durchs Klammbachtal voller Dank und Sang durch Schweighof heim. Und dann mit Anni und Bertel schnell zum Sängerfest.


Ein Weiteres soll auch hervorleuchten und voller Dank in mir bleiben: Die Begegnung mit der Mutte. Sonnabend-nacht oder Sonntag-früh sind wir nach 15 Stunden Bahnfahrt müde heimgekommen aus dem Schwarzwald. Hier, zu Hause, finde ich von Dörthe und Peter einen Zettel vor: Sonntag, also heute, ist Sophie (die Mutte) in Spandau! Ja, da war es im Johannesstift wunderschön. Über die erste Wiedersehensfreude bis zum inneren Wiederfinden. Und dann durften wir hören von ihrem Leben und Erleben. Wie spürt man doch ihr und ihrem Gatten, dem Goldschmiedemeister in Emden, die Gottesnähe an, in der sie leben. Geht doch von ihr noch immer, ja verstärkt, eine Kraft aus, die auch uns weiterbringen möge.


Seit Oktober 1934 bin ich der „Bekennenden Kirche“, hier als Nr. 13, zugehörig. Unser Hort ist das Pfarrhaus, Lutherstraße 1, bei Pfarrer Viktor Hasse. Wir stehen ein wider jegliche Gewalt und jeden Gewissenszwang. Wir ahnten schon bald nach dem Regierungswechsel im Vorjahr, wohin die „allgemeine Fahrt“ im Lande gehen wird.


Vom 17. November bis 17. Dezember war Anny dann hier. Es war nett und doch war ich traurig, dass unser Zusammensein seelisch nicht tiefer war. Vergebens habe ich den Grund gesucht. Eine Schwester? eine Freundin? Meine Selbstbefragungen wurden eigentlich nichtig. Eins, was uns allen Freude machte, war, dass Luzie Barth ganz unverhofft kam. Dieser, mein geheimer Wunsch ging in Erfüllung. Es war schön aber doch nicht Zeit genug, alles zu bereden.


Unser Krippenspiel der Weihnachtsgeschichte führen wir wieder mit schönem Erfolg im Saal des Hofgebäudes Priesterstraße 18 auf. 30 Kinder und Jugendliche gehören dazu. Hier einige der Teilnehmer: Dieter Hasse, Walter und Hermann Kloppe, Hertha Thomas, Schmidtchen, Rosemarie Deutsch, Friedel Sarnow, Else Scholz, Lütgert, Nickel, Gisela Kerff und Emma Hönow.


Auf dieser Seite des halb gefüllten Tagebuches brechen die Eintragungen von Anne-Marie am Jahresende 1934 ab und werden auch nicht wieder aufgenommen.

So versucht ihr Sohn Chris J., aus weiteren vorhandenen Unterlagen dem Lebensfaden weiter zu folgen.


1935 – ein prall gefülltes Jahr

Programm zum Missionsfestabend am 24. Februar 1935 zu Nowawes, Schulstraße 8c:

1. Gemeinsames Lied: „Großer Gott wir loben Dich“

2. Begrüßung

3. Chorlied: „Ich schau’ nach jenen Bergen“

4. Gedicht: ( ), vorgetragen von Friedel Sarnow

5. Vortrag über die Blindenmissionsarbeit in Persien: Frau Lörner

6. Gemeinsames Lied: „Die Sach’ ist Dein, Herr Jesu Christ

7. - Pause -

8. Gemeinsames Lied: „Du meine Seele singe“

9. Gedicht: ( ), vorgetragen von Rosemarie Deutsch

10. Lichtbilder aus Persien von der Missionsarbeit

11. Chorlied: „Mein schönste Zier…“

12. Ausklang: Pfarrer Hasse spricht

13. Schlusslied: „Auf, denn die Nacht wird kommen“.


April 1935: Wieder eine Werbe- und Verkaufsmesse für elektrische Haushaltgeräte. Obwohl unsere Herde immer noch alle weiß sind, wurde die Bezeichnung der Messe der neuen Zeit angepasst. So ist es in der Potsdamer Tageszeitung vom 30. März 1935 zu lesen:



Morgen, 31. März, mittags um 14.00 Uhr wird die

1. Braune Messe, Deutsche Woche Nowawes,

vom Gauleiter Wilhelm Kube in der Kammgarnspinnerei eröffnet.

Geöffnet täglich von 10 Uhr vormittags bis 9 Uhr abends. Eintritt 25 Pfennig.



Draußen haben wir -4° bis -1°C und leichte Schneeschauer. Es fröstelt einem in Deutschland.


28. Juni 1935: Sportfest auf dem Sportplatz am Ende der Priesterstraße. Beteiligt waren:

- Der Ortsausschuss Nowawes für Jugendpflege (Leiter ist Herr Dr. Vortisch),

- Der Christliche Verein junger Männer und derselbe für junge Mädchen.

- Der Volkstanzkreis und natürlich alle ...

- Sportvereine von Nowawes und Umgebung. Ein sehr heißer Tag und es ging auch hoch her.


Bald darauf hatten wir wieder eine Wochenendfahrt zum „Hölzernen See (Dubrow) in der Schorfheide.


Sommer-Fahrt des Helferkreises der Kinderkirche (innerhalb der Friedrichskirchen-Gemeinde)

nach Rheinsberg (Mark) mit Fuhrunternehmer und gleichfalls Gemeindeglied Rudolf Ranglack auf seinem Mercedes Lastkraftwagen.


Am 07. September 1935 heiraten Rosemarie Deutsch und Hermann Kloppe.


Kleine Notiz zu unserer Firma, also zu der meines Vaters: Alle Lehrlinge die bei uns lernten erhielten nach ihrem Lehr-Abschluss woanders immer sofort eine Stellung (weil wir absichtlich mehr ausbildeten, als wir beschäftigen konnten). Jede einstellende Firma wusste: Diese Gesellen waren durch eine strenge Lehre gegangen. Die konnten was. Dazu gehörten unter vielen anderen auch Erich Ladenthin, Ferdinand Monje, Wilhelm Adlung (Helmi), Sohn des Schlossers Wilhelm Adlung und seiner Frau Anna Minna, aus der Großbeerenstraße 65 und später Priesterstraße 27 sowie Griegorieff aus der Russischen Kolonie Alexandrowka Nr. 7.

Die Genauigkeit der Arbeitsanforderungen in meines Vaters Betrieb ging aber aus meiner Sicht mitunter in die Pedanterie, wenn wir bei der Inventur beispielsweise tausende Kabelschellen zählen mussten. War nicht der Zeitaufwand für das Zählen wesentlich teurer, als die Pfennigartikel, deren Anzahl ohnehin nicht zu ändern gewesen wäre, wenn sie mal nicht ganz gestimmt hätte? Und normale Verluste waren sowieso nicht völlig meidbar. Solche Gedanken durfte ich dem Chef allerdings nicht anbieten. Na ja, die Gesellen sollten auch den Wert des geringfügigen Materials „in Ehren halten“, nichts aus einer Nachlässigkeit, aus einer Unachtsamkeit, verschludern.


In diesem Jahr scheint eine Art von „Heiratsfieber“ ausgebrochen zu sein. Keine Sorge, ich bin nicht darunter. Vielleicht sind es die letzten unter meinen Verwandten / Bekannten für dieses Jahr: Am 02. November heiratet also mein Cousin Felix (>der Glückliche<) Knoll. Die Auserwählte ist die junge Witwe Anna Heinrich, geborene Wuttke aus Drewitz. Sie hat in ihrer ersten Ehe schon drei Kinder geboren, zwei davon verloren und bringt die kleine Inge nun in den neuen Ehestand mit ein. Dass sie eine schon so erfahrene Frau und mehrfache Mutter ist, sieht man der kleinen zarten 28-jährigen nicht an.


1936

Am 04. März beginnt die erste Fahrt des größten jemals gebauten Luftschiffes. LZ 129, „Hindenburg“, 245 m lang, 41 m Durchmesser, elegant-mittelschlank (gegenüber dem schlanken, noch schöneren „Graf Zeppelin“, LZ 127), silbrig glänzend – eine wahre Pracht. Am Monatsende dann „der Sprung über den großen Teich“ vom deutschen Bodensee zum Januarfluss in Brasilien – also nach Rio de Janeiro.

Ostern heiraten meine Freundin Traudel Fick und Erich Simon in Rheinsberg.

Im Mai bin ich wieder zu Gast im Süden, im Schwarzen-Walde.



Liebe Leserinnen und Leser,


hier haben wir eine kurze Pause, weil der Bericht über das Leben jener Menschen in ihren Kinder- und Jugendjahren an dieser Stelle endet.



Hier geht es zu den Bildstrecken:


- Die Kinder- und Jugendjahre des Alfred Richard Janecke (1900 bis 1936)


- Die Kinder- und Jugendjahre der Anne-Marie Sommer (1913 bis 1936)


- Die Jahrzehnte der gemeinsamen Lebenszeit (1936 / 1941 bis 1983 / 2003)



Liebe Leserinnen und Leser,


nun geht es mit dem Text im Jahre 1936 weiter:

Die beiden einzelnen Lebensläufe münden nun bald in einen gemeinsamen Doppel-Lebeslauf.




Alfred August Richard Janecke (1900 bis 1983)

Lebensorte: Rixdorf Kreis Teltow, Berlin, Nowawes-Neuendorf = Potsdam-Babelsberg

oo

Anne-Marie Sommer (1913 bis 2003)

Leben in Nowawes = Babelsberg, Potsdam und Ferch im Kreis Potsdam-Mittelmark.


Notizen zu unserer Lebenszeit

Ein Beitrag zur Familienforschung und Heimatgeschichte


Teil 3 – Die Zeit der beiderseitigen „Vorprüfungen“

Teil 4 – Die Jahrzehnte der gemeinsamen Ehe


Autor: Chris Janecke,

Bearbeitung aktualisiert: im August 2025, E-Mail: chris@janecke.name



Es handelt sich im Folgenden um die Fortsetzung einer Nacherzählung von Chris J., die sich auf Dokumente, Notizen und persönliche Erinnerungen stützt. Dem Autor ist es bewusst, dass Text und Bilder nur relativ wenige herausgegriffene Begebenheiten aus dem langen Leben darstellen.



1936

Anne-Marie: Seelenfindung in diesem Jahr. Ich bin nicht mehr alleine.

Der Auftakt dazu war, als mich Herr Richard Janecke in das Opernhaus nach Berlin einlud. Wir kennen uns ja lange von der Arbeit in der Kinderkirche – etwas entfernt voneinander; jeder mit seiner Kindergruppe.

Es war Mittwoch, der 24. Juni '36. Wir sahen und hörten den >Rosenkavalier< und saßen dazu im Parkett, in der 11. Reihe, Mitte. Am nächsten Tage bedankte ich mich höflich mit einer Karte: „Werter Herr Janecke ...“.

Am Sonntag nach meinem Geburtstag hatten wir dann erstmals etwas Zeit zum vorsichtigen gegenseitigen Näher-Kennenlernen. Am 19. Juli schrieb mir Richard (als Lesezeichen gestaltet) den Spruch von Maria Feesche:


Wenn zwei zu Freund sich werden auf dieser Erden

und kennen kein besseres Wandern als heimwärts,

wird einer dem andern auf dieser Erden

zur Himmelsleiter werden.“


Anne-Marie: Na, mal sehen. Auch ich wählte einige Reime (die meisten schmiegten sich wohl ein wenig harmonischer, als jener der guten Frau Feesche – aber es kommt ja auf den „gedanklichen Herzensinhalt“ an). So gingen immer wieder Kurzbriefchen innerhalb des Ortes hin und her, denn gemeinsame Zeit hatten wir ja nur am Sonntag, weil jeder bis über beide Ohren in seinem Betrieb eingespannt war. Richard war sein eigener Chef; ich dagegen fühlte mich in meinem Zuhause etwas eingesperrt.

Seine Briefe trugen stets wechselnde Aufschriften des Briefumschlags, wie: „Für Stern Maria“ oder „Fräulein Sommer, Priesterstraße 68, im Laden“ oder ähnliches. Es war immer ein bisschen als witzig aufmunternd beabsichtigt.

Nachdem der A. Rich. Janecke in meinem Leben aufgetaucht war, gab es beinahe täglich einen kurzen Telefonanruf von ihm bei mir. Eigentlich sehr schön – aber dann auch schrecklich, wenn ja oft der Chef (also mein gestrenger Herr Vater) daneben saß und darauf wartete, dass er mit mir weiterarbeiten konnte, beispielsweise in der Buchhaltung. Richard merkte das ja an meinen zu kurzen Antworten, denn viel sagen, also „privates“, konnte ich ja ohnehin nicht und dann war ich voller Hemmung, Nervosität und Aufregung. Und der Chef, blieb natürlich auch stets wie angewurzelt sitzen, denn die Arbeit hat Vorrang vor irgendwelcher Tändelei am Arbeitstage. Es hätte da mehr Feingefühl beider Herren bedurft. Das hätte mir gewiss gut getan. –


Ganz unproblematisch habe ich mich dagegen mit Richards Hündin angefreundet. Dieses hübsche, schmiegsame, zartgliedrige Mischlingstier muss ausgerechnet auf den Namen „Lumpi“ hören. Ein Bild von ihr hängt schon mal bei mir Zuhause. Das ist unverfänglich gegenüber elterlichen Bemerkungen. Dieses Foto hat Ina Schatzmann, Foto-Atelier in Potsdam, Am Alten Markt 3, gefertigt.


Heute schickt mir Richard ein selbst geschriebenes Notenblatt. Ohne Text. Er meint, ich könne es mir ja selbst mal vorsingen, dann würde ich schon hören, was er meint. Auf unserem Klavier bekomme ich die Musik ja hin, aber ach, und nun muss ich ihm eingestehen, dass ich ja gar nicht recht singen kann – obwohl ich dies' aber gerne tue. Richard schreibt das Notenblatt zwei Tage später nocheinmal, nun aber mit Text. Es ist die Arie des Giovannini, von Johann Sebastian Bach:

Willst du dein Herz mir schenken, so fang' es heimlich an. ...“

Und schon bin ich mittendrin in den Heimlichkeiten, die doch überhaupt gar nicht so meine Art sind. Also das ist so: Die Besuche bei allen Kunden, das Austragen der Rechnungen, all unsere Freizeit-„Fahrten“, nehme ich ja immer zu Fuß wahr. Mit einem Fahrrad wäre das alles viel schöner, schneller und leichter zu bewerkstelligen. Aber nein, der Chef, der ja allem Neuen gegenüber soo sehr aufgeschlossen ist, erlaubt das seiner Tochter nicht – und ich bin ja auch erst 23 Jahre alt. Bisher ging es ja auch >ohne< ganz famos – ist seine Denkweise. Und natürlich möchte ich auch mit Richard mal Radtouren unternehmen. Deshalb übt sein jüngerer Freund Christlieb Albrecht, der Organist, mit mir heimlich einige Runden am Sonntag-Abend. Da muss ich wieder an meinen Bruder denken, der gegen den väterlichen Willen Hockey spielte und wie das damals ausging mit dem Unfall und der Bein-Amputation. Zu manch einer nützlichen Sache, zumindest akzeptablen Angelegenheit, führt der Weg, wenn es überhaupt einen gibt, manchmal über die Abgründe eines schlechten Gewissens. Ich hoffe, der Herr dort droben, wird es mir nachsehen – ist es doch keine böse Tat. Und Vater und Mutter ehre ich ja sowieso, wenn mir das auch oft nicht leicht wird. –

Ich schreibe an Richard auch einige Zeilen zur Wiederkehr des Sterbetages seiner Mutter Klara, einer geborenen Dittwaldt, deren Leben schon mit 61 Lebensjahren am 3. November 1933 endete. Sehr gern hätte ich sie kennengelernt.


Anne-Marie: Dezember 36: Im Kontor hat Ordnung zu herrschen, sagt der Chef. Hier sei nicht der Ort für weihnachtlichen Krimskrams. Aber eine „Neuerung“ trotze ich ihm doch ganz still ab. Jetzt zum Winteranfang steht zum Herzerwärmen auf meinem Schreibtisch entgegen jeden Reglements eine Schale mit zarten Crocussen, die Richard mir schickte und daneben sein Bild, auch mit Lumpi drauf.


1937

Anne-Marie: Ostern, 27. März. Nun ist es soweit. Wir treten vor meine Eltern und begehen unsere Verlobung. –– „Du schenktest mir Rosen in schlanker Vase aus unserem Garten, der fern im Traumland in Blüte steht“.

Der Chef zeigt sich so, als hätte er in Richard einen Gesellen vor sich, der gekommen ist, um bei ihm nun seine Meisterprüfung abzulegen und Mutsch hat von sich aus kaum die Möglichkeit für ein herzliches interessantes und vielleicht alle interessierendes Gespräch.–

Am Abend wurde es dann für uns gelöster; wir fuhren wieder ins Opernhaus nach Berlin.

Ein Freund von Richard und früherer Arbeitskollege im Lokomotivbauwerk, der Diplom-Ingenieur Reinhold Matzke (1902–1989), schenkt uns zu diesem Anlass zwei „handfeste“ von ihm gefertigte Ringe „aus einem Stück Lokomotive“. – Wenn das nicht hält?


Nun bin ich „Dienerin zweier Herren“. Weil meine Eltern nicht meinem Wunsch zu einer Berufsausbildung entsprachen, weil ich gleich seit dem Schulabschluss im Familiengeschäft mitzuarbeiten hatte, führt mich Richard vom 07. April 1937 in seinem kleinen Unternehmen als „Licht- und Fotopauserin“. Das erfolgte nach längerer gründlicher innerbetrieblicher Unterweisung oder Anlernzeit und den gemeinsamen Übungen bis zur Perfektion. Einige der Lesenden werden das zum Teil kennen: Arbeit im fast dunklen Fotolabor: Ablichten der Originale im großen Fotokasten, Fertigen der Negative im Entwicklerbad, Behandlung im Wasserbad, im Fixierbad, erneutes Wässern, trocknen der Papiere – alles ähnlich wie beim Photographen, nur eben nicht auf kleine Fotos beschränkt, sondern bis Blattgröße DIN A 2 (etwa 60 x 42 cm). Des weiteren die Lichtpausanlage mit dem knapp 2 m hohen Glaszylinder, durch den die mit Hochspannung betriebene Kohlestiftlampe mit ihrem gleißend hellen Licht geführt wird und die dabei das Papier belichtet. Belichtet – je nach Qualität des Originals mit wechselnder Zeitdauer-Anwendung – aus Übung und von Erfahrung bestimmt. Wegen des Lichtbogens der Lampe riecht es im gesamten Raum stark nach Ozon. Dann anschließend die Entwicklung der belichteten Pausen im Dampf der 25%-igen Ammoniak-Lösung, die einen in Augen und Lunge „beißt“.

Bei diesem Verfahren gehen die zu bearbeitenden Papierformate bis DIN A 0 (ungefähr 1200 x 840 cm) aber in der Länge auch darüber hinaus. Dann die Druckverfahren mit den anderen Vervielfältigungsapparaten. Zu künstlerischen Arbeiten dient der Einzeldrucker, bei höchsten Ansprüchen der Glasdrucker, für eine höhere Auflagenzahl der Stapeldrucker, mitunter der Rotations-Rollendrucker. Damit befasse ich mich nun auch. Natürlich gehört da allerlei mehr dazu, als ich hier kurz erwähne. Aber nun eben der mich krönende Abschluss: Ich nun als „Licht- und Fotopauserin“. Da guckte mein Vater, der Chef, nicht schlecht, als er das vernahm. So arbeite ich freiwillig in beiden Betrieben, was sehr anstrengend ist aber so sind wir Verlobten zumindest ein paar Stunden Hand in Hand tätig und sehen uns öfter, als nur am Sonntag-Nachmittag.

Beim Entstehen von Richards Kunstschrift-Werken schaue ich nur von weitem mal scheu-ehrfurchtsvoll hinüber. In jener Arbeitsphase darf sich niemand mucksen, ihn nie ansprechen.


Am 06. Mai ein schreckliches Unglück. Nach einem Jahr seines Bestehen brennt bei einem Gewitter das größte Luftschiff „Hindenburg“ in Lakehurst (USA) ab. Die Wasserstoff-Füllung entzündete alles so heftig, dass nach einer halben Minute nichts mehr vom Luftschiff übrig blieb, als ein völlig verbogenes, teils zerschmolzenes Aluminium-Gerippe. Wie durch ein Wunder konnten von den 97 Menschen 62 Personen gerettet werden. Unter den Opfern aber befand sich auch Luftschiff-Kapitän Lehmann, dem bei jener Fahrt jedoch nicht das Kommando oblag.


Anne-Marie: Am 15. Mai heiratet der Sohn Ernst meines Patenonkels (des Potsdamer Architekten Paul Muster, Sigismundstraße) die Ina Schatzmann aus dem Fotoatelier Schatzmann, in Potsdam, Alter Markt 3. Sie ist 2½ Jahre älter als ich. Gleich nach der Hochzeit ziehen sie von Potsdam nach Kohlhasenbrück, in den Königsweg 310, in das frühere große Gasthaus, umgebaut als Wohngebäude, in dem nun 17 Familien Platz finden. Eine angenehm ruhige Gegend, nahe an Wald und Wasser, „auf der Grenze“ zwischen den Städten Berlin und Nowawes liegend.


Am nächsten Wochenende unternehmen wir zu zweit einen Fahrradausflug nach Lehnin – zum Kloster und dessen landschaftlich reizvoller Umgebung.


Sonntag, 30. Mai 1937. Aus Rheinsberg (Mark), der Stadt des „jungen Fritz“ (dem späteren König Friedrich II., dem später Großen), gehen unsere schriftlichen Grüße an die Sommer-Eltern nach Nowawes: „ Aus dem Rheinsberger Nest Euch recht herzliche Grüße. Wir sind hier gut gelandet und werden von allen Seiten verwöhnt. Gruß Anni und A. Rich. Janecke.“ (Sein Familienname will stets genannt sein, denn die künftigen Schwiegereltern und mein Verlobter sind ja per „Sie“ miteinander – es gab da noch kein entgegenkommendes Angebot der Älteren).

Wir sind hier in Rheinsberg zum Geburtstag meiner Freundin Gretel Barsch – und zwar bis Gransee mit der Bahn gefahren (also nicht bis zum bekannten Rhein, hier fließt eher der märkische Rhin) … und dann mit unseren Fahrrädern nach Rheinsberg gerollt.


Anne-Marie: „07. Juli: Mir ist's momentan Zuhaus' so, als hätt' ich Urlaub. Ich kann tun und lassen was ich möchte, kann mir die Zeit frei einteilen. Das ist schön. Der Chef ist in Triberg, Meersburg, Rothenburg, Würzburg und sendet von dort Kartengrüße. Das ist fein. Ob er wohl daran gedacht hatte, dass seine Tochter gerade 24 Jahre alt wurde? Ach nein, dann hätte er es erwähnt. Es gibt wichtigeres.


Oktober. Gleich nach Richards Geburtstag machen wir uns ans Werk. Für alle Verwandten und Bekannten wollen wir zur bleibenden Erinnerung zum Weihnachtsfest einen immerwährenden Geburtstagskalender fertigen, der aber auch für andere Gedenk- oder Festtage verwendbar ist. Das Deckblatt zeigt das Bild eines Gartens (unser Wunschtraum: ein eigener kleiner Garten) und dazu ein passendes Gedicht. Die Monatsblätter werden mit einer zur jeweiligen Jahreszeit passenden Blume und einem Spruch geschmückt und die Flächen der Blumen mit Guache-Farben ausgemalt. Schon geht das Entwerfen los – bis alles für „alle“ fertig ist – ein enormer Aufwand. Aber nachdem wir dann fertig waren (durchaus in doppeltem Sinne), waren auch die Mühen bald vergessen. Es ist uns, besonders natürlich Richard, gut gelungen. Mir oblag im Wesentlichen das Lichtpausen und das farbige Ausmalen.


1938

Ab 1. April heißt unsere Stadt nicht mehr Nowawes, sondern Babelsberg, erhielt die neue Bezeichnung des benachbarten gleichnamigen Schlossparks. Seit der Ortsgründung vor rund 188 Jahren war der bisherige Name für den Ort der Weber und Spinner gut. Die jetzige Regierung aber wollte „Nowawes“ nicht mehr aushalten, weil es böhmisch, gar slawisch und damit sogar ost-ausländisch ist und somit un-arisch auftritt. Nowawes bedeutet im Deutschen schlicht „Neuendorf“ / „Neues Dorf“, so wie ja auch der bedeutend ältere Schwester-Ort heißt. Nun soll Babelsberg aber um Himmelswillen nicht etwa an den biblischen Turmbau erinnern.


Erwähnte ich im Vorjahr die Hochzeit von Ernst Muster und Ina Schatzmann, so berichte ich nun, dass am 27. August die Tochter des Hauses Muster, Annemarie, genannt Mausel, den Herrn Martin heiratet oder umgekehrt. In der Vergangenheit hatten wir uns öfter freundschaftlich besucht, nun aber zieht sie leider (natürlicher Weise) zu ihm nach Niederlichtenau bei Frankenberg, im Großraum Chemnitz liegend.

Musters besitzen ein Auto. Einen Hanomag. Solch ein feines kleines (zweisitziges) „Kommissbrot“.

Richard: „Zu klein. Auf dem Fahrrad ist mehr Luft nach oben“. Da wir gerade von Autos sprechen – der Autohersteller DKW-Autounion verwendet für seine Karossen überwiegend Sperrholz, mit Kunstleder überzogen. Wohl eine nur geringere Stückzahl wird mit der Stahlblechkarosserie hergestellt. Es laufen jedoch Versuche, für neue Fahrzeug-„Behausungen“, völlig aus Kunststoff bestehend. In Potsdam-Golm ist der Reiherberg das Versuchsgelände. Bergab in Überschlagversuchen wird getestet, was die neuen Modelle aushalten, wird erforscht, was bei diesen Werkstoffen, eventuell verstärkend, zu verändern wäre. Früher wurde diese Strecke von der dortigen Gaststätte als Nebenattraktion angeboten: Der Rutschberg – Sommerrodeln vom Grashang hinab.


Anne-Marie: Jetzt im Herbst 38, nachdem wir eineinhalb Jahre verlobt sind, „ergibt es sich mal“, dass meine Eltern einen ersten Besuch in der Wichgrafstraße 22 bei Vater August Janecke, seiner Tochter Käte, meinem Richard und Hündin Lumpi „machen können“. „War das aber eine schwere Geburt“ – und doch so einfach – diese freundlich-unverbindliche Kaffeestunde anlässlich der Verbundenheit der „Kinder“.


Am 09. November 38, in der „Reichskristallnacht“, der Pogromnacht, in der viele Geschäfte der jüdischen Mitbürger zerstört, Synagogen angezündet wurden, haben es wohl auch die letzten Ungläubigen gesehen – wohin Deutschland entwickelt wird – egal auf welcher Seite diese stehen.


1939

Der Ehemann Hermann meiner Tante Hedwig Knoll / Vater meiner Cousins Walter und Felix, starb im Alter von 83 Jahren am 27. März 1939 und wurde am 31. März im Friedgarten an der Goethestraße bestattet.


31. März 1939: Unsere vormalige Stadt Nowawes heißt, wie ihr wisst, seit einem Jahr Babelsberg. Morgen aber wird sie nach Potsdam eingemeindet. Das ist kein April-Scherz. „Wir“ werden dann „Potsdam-Babelsberg“ heißen und viel der Selbständigkeit einer blühenden Handwerks- und Industrie-Stadt aufgeben, nur noch ein Anhängsel der größeren Stadt Potsdam, der Stadt der Verwaltung und der Soldaten sein.


Heute, am Palm-Sonntag, den 02. April 1939 um 20.00 Uhr, gibt der betagte und hochverehrte Organist und Glockenist des Glockenspielwerkes der Garnisonkirche, Herr Professor Otto Becker in der Stätte seines langzeitigen virtuosen Wirkens, altershalber sein Abschiedskonzert. Er wird uns Werke von Bach und Händel zu Gehör bringen. Eine Ära geht zu Ende.

Herr Prof. Becker hatte bis zum Vorjahr auch die Veranstaltungen in der Synagoge, Wilhelmplatz 2, musikalisch betreut – bis zu deren antijüdischer gewaltsamer Brand-Zerstörung in der Pogromnacht, am 09. November '38. Eine schreckliche Entwicklung.


Anne-Marie: 20. Mai 1939: In unserem Hause (Priesterstraße 68 in Nowawes) verlobt sich meine Nachbarskinder-Spielgefährtin Lisa Brückner mit Kurt Jakob.


Ich schreibe: Vorerst ein so sehr schöner Sommer in meinem 25. Lebensjahr –

denn schnell ziehen weitere dunkle Wolken „am politischen Himmel“ auf ...

Mein Verlobter Richard und ich, wir haben gemeinsam Urlaub – Ferientage während der Brautzeit. Wir dürfen diese an der Ostsee genießen. Ich werde hier in meinem Bericht nicht jedes kleine Erlebnis wiederholend beschreiben. Es handelt sich nur um kurze Notizen, um einen in Sätze gekleideten „Übertrag“ der Ausgaben aus dem Wirtschaftsbüchlein unserer Reise.


Freitag, 21. Juli 1939

Der Dampfer schwimmt mit uns von Berlin nach Stettin. Die Fahrt geht über Spandau, Oranienburg, weiter auf dem Oder-Havel-Kanal, durch das mächtige Schiffshebewerk Niederfinow und hinter Oderberg dann nach Norden über Schwedt – zur See.

Richard merkt hier noch dringend an – weil es doch etwas technisch so Großartiges ist:


Bei dem Schiffshebewerk handelt es sich um das erste Großhebewerk in Deutschland.

In ganz Europa ist es die größte solcher Anlagen. Sieben Jahre betrug die Bauzeit. Fünfeinhalb Jahre ist die Anlage derzeitig jung, da auch wir diese passieren (Inbetriebnahme: März 1934). In dieser Zeitspanne wurden bereits mehr als 100.000 Schiffe gehoben oder abgesenkt. Die größten Schiffe dürfen durchaus etwas mehr als 1.000 t Tragfähigkeit besitzen. Das Hebewerk ist insgesamt 60 m hoch und dessen Gerüst besteht aus 14.000 t Stahl. Die Bauteile wurden mit etwa 5 Millionen Nieten zusammengefügt.

Die Länge des Hebewerks beträgt 94 m und dessen Breite 27 m. Der darin aufgehängte Trog ist 82 m lang, 12 m breit und hat eine Tiefe von 2,50 m. Dieser Trog hängt über der aus Beton und Stahl gefertigten 4 m dicken Grundplatte. Gehalten wird der wassergefüllte Trog mit seiner Gesamtmasse von 4.300 t von 256 Stahlseilen. Jedes dieser Seile ist mehr als 50 mm dick. Die Dauer des Hebens oder Absenken beträgt für die 36 m Höhenunterschied zwischen den beiden Wasserwegen nur 5 Minuten aber der gesamte Vorgang des Schleusens benötigt 20 Minuten.


Vor sechs Jahren hätte man also diese Wasserreise, so wie wir sie jetzt erleben, noch gar nicht unternehmen können. Für die beiden Fahrkarten und den Transport unserer Fahrräder von Berlin nach Stettin bezahlen wir insgesamt 12,- RM (Reichsmark).

Von Stettin rollen wir die knapp 10 km bis zum Südzipfel des Dammschen Sees und steigen in Alt Damm von den Rädern. Das ist unser erstes Aufenthaltsziel für die nächsten Tage und von hier aus werden wir also unsere Ausflüge unternehmen. Schon lockt uns nach der Reise das Abendessen. Ein angenehmes schlichtes Quartier haben wir bei Frau Korona Johl bekommen.


Donnerstag, 27. Juli 1939

Anne-Marie: Bis heute waren wir in Alt Damm. Nun fahren wir mit der Bahn in Richtung Norden über Gollnow bis nach Wollin. Dann mit den Rädern die restlichen 13 km nach Kolzow. Hier in Kolzow angekommen, sind wir schon fast am Meer – etwas landeinwärts gelegen, etwa so, wie damals, als ich (Anne-Marie) mit der Familie auf Usedom, in Trassenheide weilte. Wir finden eine geeignete Herberge im Gasthaus mit der angegliederten Bäckerei von Frau Emma Behl. Hier bleiben wir den zweiten Teil des Urlaubs.

Nachdem wir uns während einer Radtour geraume Zeit auf der Wiese ausgeruht hatten, unternahmen wir einen Spaziergang, ließen die Fahrräder derweil am Wiesenrand liegen. Als wir zurückkamen, sahen wir, dass neugierige Kühe unsere wohl wenig schmackhaften Gummispritzlappen von den Vorderradschutzblechen abgenagt hatten. So eine pommersche Begrüßung!


Sonnabend, 29. Juli 1939

Hier ein Beispiel für unsere Ausgaben an einem dieser Urlaubstage:


2 x Morgenkaffee (0,50), Milch (0,25), 4 Brötchen (0,30)

1,05 RM

Ansichtskarten und Portomarken

0,59

2 Mittagsgedecke je 1,25

2,50

2 x 2 Stück Kuchen am Nachmittag

0,40

Abendessen: Hackepeter und Leberwurst (0,45), Brot (0,10), 3 Bier (a 0,25)

1,30

2 x Nachtquartier (a 1,50)

3,00

Summe der Ausgaben an diesem Tage

8,84 RM


Donnerstag, 03. August 1939

Wie im Fluge vergingen diese Tage – und schon müssen wir wieder Abschied nehmen.

Wir fahren von Kolzow gemütlich die etwa 30 km bis nach Swinemünde, „dem Tor“ zwischen der Ostsee und dem Stettiner Haff. Am „Fischbollwerk“ kaufen wir frischen Fisch bei Frau Köhler. Dann geht es mit der Fähre nach Stettin, wo wir im Hotel „Timm“, Am Bollwerk 9, nächtigen.


Freitag den 04. August 1939

Von Stettin bringt uns der Dampfer „Fritz II.“ flussaufwärts zurück ins Brandenburger Land bis nach Zerpenschleuse. Als Reisegetränk hatten wir unsere Aluminium-Feldflaschen mit Buttermilch gefüllt. Unterwegs, dicht über dem vielen Wasser sitzend, war der Durst nicht groß. Als wir deshalb erst später die Flaschen öffneten, war die Buttermilch in den Flaschen durch die viele Schaukelei in: unten Wasser und obenauf Butterklümpchen fein säuberlich voneinander geschieden.

Weil es inzwischen schon zu spät ist, um noch nach Nowawes zu kommen, bleiben wir über Nacht in Spandau, im Hotel „Zum Stern“. Wir schlafen im Zimmer 6. Einen Tag Urlaub haben wir ja ohnehin noch und in den Ferien wollen wir es uns auch einfach mal leisten, ohne zum Ende in Eile zu geraten.


05. August 1939

Den Sonnabend-Vormittag verbringen wir noch in Spandau und lernen kurz einen Teil der nahen Umgebung kennen. Am Nachmittag setzen wir uns auf die Räder und rollen über Groß Glienicke, Neufahrland und Potsdam nach Hause, so dass wir pünktlich um 6.00 Uhr am Abend, genauso wie geplant, wieder Daheim in Nowawes, ach nein, in Potsdam-Babelsberg ankommen.

Für unseren 16-tägigen Urlaub vom 21. Juli bis zum 05. August 1939 haben wir für 2 Personen – für Fahrgeld (Nowawes – Ostsee und zurück), alle Übernachtungen, Lebensmittel (in Gasthöfen und Läden) sowie für kleine Nebenausgaben 149,36 RM oder aber 74,68 RM „pro Nase“ benötigt.


Urlaubs-Nachworte

Drei Wochen nach unserem Aufenthalt an der See wird schon wieder ein Krieg begonnen. Später wird man ihn den Zweiten Weltkrieg nennen, der wiederum von Deutschland ausging. Unermessliches Leid bringt er über die Völker, auch über ein Vielzahl von Menschen des eigenen Landes. Wir hoffen, dass er schnell vorübergeht (aber die Zukunft weiß, dass er wird fünf Jahre dauern wird). Unsere Urlaubstour werden wir nie vergessen aber auch nie wiederholen können. Unser Ferienort Alt Damm wird völlig verwüstet sein. Stettin ist zerstört und in vielen Orten sieht es nicht besser aus.

Das gesamte Gebiet in dem wir uns aufhielten, wird ab Sommer 1945 zum polnischen Staatsgebiet gehören, nicht mehr ein Teil „unserer Heimat“ sein und es wird uns verschlossen bleiben. Die deutschen Einwohner werden zwangsweise vertrieben, „umgesiedelt“, sofern sie nicht vorher flüchteten. Die Neubesiedlung der Orte und Wohnstätten wird zum großen Teil durch polnische Binnen-Flüchtlinge erfolgen, die wiederum von der Sowjetunion aus ihren östlichen Gebieten verdrängt wurden, obwohl sie keinerlei Schuld am Krieg trugen. Auch jene Grenze wird gewaltsam verschoben, was ebenfalls viel Leid verursachte.

Aber diese künftige Gewalt der Ereignisse ahnt wohl aus unseren Kreisen jetzt noch niemand!


Anne-Marie: November 1939. Meine Freundin Anny heiratet ihren Ernst. Er ist ein Unteroffizier. Sie ziehen nach Freiburg im Breisgau, Marienstraße 8. Der Krieg wirft auch über diese Hochzeit und Ehe seine Schatten. Noch wissen wir es nicht: Es wird eine sehr kurze Ehe und ein langer Witwenstand sein. Der junge Soldat Ernst wird die Zeit des Krieges nicht überleben.


Das Jahr 1940

Richard: In der Kriegs- und auch später in der Nachkriegszeit ist es in Wohnräumen nur gestattet, Glühlampen mit einer Stärke (Leistungsaufnahme) bis zu 15 Watt zu verwenden. Das war günstig für den Energieverbrauch und zum Verdunkeln gegenüber Aufklärungsflugzeugen sowie den möglicherweise nachfolgenden Bombern. Natürlich kann man bei diesen orientierenden Lichtpünktchen nicht arbeiten. Für das Betreiben unserer Lichtpausanlage mit dem gleißend hellen Licht der Kohlestablampe benötigte ich daher eine Sondergenehmigung und für diese als Voraussetzung vorher innen eine extra lichtdichte Verdunkelung aus schwarzem Vorhangstoff und außen Rolljalousien für Fenster und Tür.


Richard: Von 1917 bis 1930 war ich ehrenamtlicher Helfer in der Kinderkirche unserer Gemeinde. Diese Feierabend- und Sonntags-Tätigkeit, musste ich wegen des Geschäfts, wegen der Anstrengungen bis zum Umfallen, aufgeben. Jetzt, da die männlichen Helfer fast alle im Krieg sind, springe ich wieder ein, obwohl das kaum zu bewältigen ist.

Zu meinen Aufgaben gehört es auch, den Schriftverkehr zwischen der Gemeinde und den Frontsoldaten aufrecht zu erhalten – also alle Soldaten in den verschiedenen Regionen aus der Heimat mit aktuellen Informationen zu grüßen. Genauso ist der Gemeinde mit diesen „Rundschreiben“ aus den gesammelten Feldpostbriefen und-karten der Soldaten zu berichten, so dass jeder, so gut wie möglich, informiert wird – und die Soldaten wissen, dass man ihrer gedenkt.

Als Zeichen der Anerkennung schenkt mir unser lieber geehrter Pfarrer Viktor Hasse zu Weihnachten 1940 die neueste Ausgabe des Kindergesangbuches.


Elfriede Michel und Christlieb Albrecht (in dieser Zeit ist er Soldat auf Kurzurlaub) heiraten am
9. April 1940 im Französischen Dom in Berlin, Am Gendarmenmarkt, dort, wo Christlieb als Organist und Kantor tätig ist.


Fliegeralarme und Kelleraufenthalte werden häufiger aber Potsdam-Babelsberg ist noch verschont. Die angekündigten Bomber ziehen weiter nach Berlin.


1941

Anne-Marie: So, wie ungezählte andere Soldaten, fiel auch Ernst Muster im Vorjahr an der Westfront. Seine Mutter Melanie ertrug das nicht und nahm sich jetzt im März selbst das Leben. Ihre Schwiegertochter, die Ina (geb. Schatzmann) ist in Kohlhasenbrück nach nur drei Jahren Ehe völlig allein. Allerdings wird Ina später ihre Eltern zu sich nehmen ... und das wird sich als gut erweisen, da das Potsdamer Schatzmann-Haus, Alter Markt 3, am 14. April 1945 zerstört werden wird – und sie werden in Kohlhasenbrück überleben. Aber das alles wissen wir heute noch nicht.


1941 – „Wir haben unseren gemeinsamen Lebensweg beschritten“.

Unsere bürgerliche Eheschließung findet am 05. April, im Rathaus Potsdam-Babelsberg, beim Standesbeamten, Herrn Richter, statt. Als Zeugen der Eheschließung sind dabei:

Pfarrer Viktor Hasse und Anne-Maries Tauf-Patenonkel, der Stadtbau-Inspektor, Ferdinand Pehlke.

Die Trauung vollzieht Pfarrer Hasse einen Tag später, am Sonntag Palmarum während der Kinderkirchenzeit in der Friedrichskirche, in der wir ja beide Helfer, Kindergruppen-Betreuer sind.


Unser Trauspruch lautet:



Zur Freiheit seid ihr berufen aber durch die Liebe diene Einer dem Anderen.

Galater 5, 13.



Anne-Marie: Für die an unserer Trauung teilnehmende Kirchengemeinde hat Richard, wie sollte es anders sein, ein eigens dafür gedachtes Liederblatt gestaltet und die Hochzeitszeitung für „den privaten Teil“ ja sowieso. Unsere blumenstreuende Brautjungfer ist Hanna Kloppe. Zwei weitere Ehrenjungfern: Hedi und Annegret Giese, 22 und 17 Jahre jung, aus Richards naher Wittenberger Verwandtschaft. Ich ging im langen weißen Kleid und weißem Kopfschleier, der aber das Gesicht freihielt. Richard im neuen schwarzen Anzug und „wie es sich gehört“ mit Zylinder als Kopfbedeckung für die wenigen Schritte vom Auto bis zur Kirchentür. Später sehe ich auf den Fotos, dass ich im Gegensatz zu den Bildern meinen Freundinnen, auf dem Weg zur Trauung sogar etwas lächeln konnte.

Die private Feier fand dann im Hause meiner Eltern, Priesterstraße 68 statt. Außer der eigenen Familie waren bei der Hochzeitsfeier anwesend: Betty und Ferdinand Pehlke, Priesterstraße 57a (später => K.-Liebknecht-Str. 110), meine Tante Lieschen = Luise Hasait, aus der Potsdamer Charlottenstraße 106, Architekt Paul Muster, Potsdam, Sigismundstraße 13, Elisabeth und Viktor Hasse, aus der Lutherstraße 1, sein Bruder Hans Hasse, Hedwig (Hedi) und Annegret Giese, Emma Hönow vom Friedrichkirchplatz 2 und Freund Anton Bernhart.

In dieser Kriegszeit hätten wir allein die oben vorgestellte kleine Gesellschaft nicht beköstigen können. So lösten einige ihre Lebensmittelmarken ein oder brachten selbstgezüchtete Naturalien als Hochzeitsgruß mit.

Einige der weiteren Eingeladenen waren wegen des Krieges verhindert oder konnten überhaupt nicht mehr kommen.

Zu denen, die uns ihre Grüße postalisch sandten, gehörten:

Architekt Blohm, Potsdam, Kaiser-Wilhelm-Straße, (später => Hegelallee)

Ernst Meyer, Bankangestellter, Potsdam-Babelsberg, Lessingstraße 3,

Familie Seehafer, Berlin-Niederschönhausen, Lindenstraße 29a,

Familie Eschert, Berlin-Moabit Spenerstraße 32,

Anna Runge, Berlin Birkenstraße, Ecke Wilsnacker Straße,

Peter Kühnbaum, Pankow Paracelsusstraße 23,

Familie Knoll und Marie Steiner, Potsdam-Babelsberg, Wichgrafstraße 19 / 19a

Frau Sophie Richter, Emden, Zwischen den beiden Sielen 7,

Frau Simon, Berlin, Naugarder Straße 10,

Familie Fick, Rheinsberg, Paulhorster Straße 19,

Margarethe Barsch, Rheinsberg, Rhinhöhe 46,

Familie Kummerow, Potsdam, Heilige-Geist-Straße 3,

Familien Vicum und Barth, Potsdam-Babelsberg, Bülowstraße 2,

Familie Uhlmann aus Königsberg (Pr.),

Max Dittwaldt, Königsberg (Pr.) Bachstraße 25,

Lotte Sparre, Potsdam, Lennéstraße 21,

Familie Eales, Edith Nitsche, Berlin und die Familien Weiland und Borries, ebenfalls aus Berlin.


Anne-Marie: Meine Eltern schenkten uns zur Hochzeit das Schlafzimmer-Mobiliar und für die Küche einen Elektroherd. Letzteres war naheliegend, weil wir diese auch im elterlichen Laden verkauften. Dieser Herd hat uns bis 1975 sehr gute Koch-Dienste geleistet. Abgesehen davon: Meine Mutter hat weiterhin, bis zu ihrem Lebensende, täglich auf Holz & Kohle das Essen zubereitet. Hinzu kam als Umzugsgut in die künftige Ehe-Wohnung meine gefüllte „Aussteuerkiste“.

Richard: Mein Geschäft bestand bisher, seit dem 1. Mai 1926, in der Mittelstraße 22 => ab 1930 ist das nun die Wichgrafstraße 22, schräg gegenüber dem Friedhof gelegen.

Anne-Marie: Von 1913 bis jetzt, 28 Jahre lang, hatte ich in der Priesterstraße 68 gewohnt (das ist die spätere Karl-Liebknecht-Straße 121).


Nach der Eheschließung beziehen wir die Wohnung mit Geschäft in der Lindenstraße 39, gegenüber dem Bahnhof Babelsberg. Der Wohnungsteil besteht aus einem engen / sehr vollem kombinierten Wohn- und Schlafzimmer, einer geräumigen Küche sowie einer Außentoilette.

Ein Blick in die Zukunft: Um 1949 können wir aber eine Treppe höher einen Raum dazubekommen, den wir für uns und die Kinder als gemeinsames Schlafzimmer einrichten werden. Eine Entspannung der bedrückend engen Verhältnisse. Hier in der Lindenstr 39 (nach dem Krieg wird das Grundstück Rudolf-Breitscheid-Straße 46 heißen) werden wir 15 Jahre lang, bis 1956 wohnen und arbeiten.

Anne-Marie: War ich seit 1927 Familienmitarbeiterin im väterlichen Betrieb, so hatte ich ab 1937, seit der Verlobungszeit, in beiden Betrieben, Sommer und Janecke mein Tun. Nun, seit der Heirat werde ich als mitarbeitende Ehefrau, des Richard Janecke, als „Licht- und Fotopauserin“, geführt.

November 1941:

Anne-Marie: Heute am 14. November starb der Vater meiner (damals kleinen) Spielgefährten Heinz und Lisa Brückner, der Schiffsmaschinist Franz Brückner, aus der Priesterstraße 68, im Alter von nur 51 Jahren. Er war 1890 geboren worden.–

Zur Adventszeit und zum Weihnachtsfest schmücken wir nun zum ersten Mal unsere gemeinsame Wohnung. Zu den Neuerwerbungen gehören: ein beleuchtbarer rot-gelb „geflammter“ Adventsstern der Firma Karl Friedrich aus Annaberg-Buchholz. Dazu der Adventskranz, an Bändern auf einem Tisch-Ständer hängend. Drei Krippen aus Pappe mit farbigen Darstellungen zur Weihnachtsgeschichte, die von hinten beleuchtet werden können. Diese vermitteln einen warmen herzerfreuenden, besinnlichen Eindruck des Friedens.


1942

Anne-Marie: Im nächsten Jahr werden wir wahrscheinlich zu dritt sein.

In den Dezembertagen lasse ich von unserer Ina Muster ein Foto von mir anfertigen (was ich Richard nicht sage: als ein Erinnerungszeichen, falls bei der Geburt etwas „schieflaufen“ sollte). Ina knipst auch gleich, ebenfalls als ein Andenken, unsere liebe kleine Hündin, die ich ins Studio mitnahm.

Einer unserer vielen Kundenaufträge bestand darin, das Bild eines künstlerisch aus einem weißen Mineral gestalteten Kinderkopfes zu fotokopieren. Der Urheber hatte dieses Werk >Mirko< genannt, was als >der Friedliebende< übersetzt werden kann; möglicher Weise der Vorname des realen Kindes, das als Vorbild / Modell gedient hatte. Von dem Aussehen und der künstlerischen Gestaltung waren wir derart fasziniert, dass wir uns sagten: Wie schön wäre es, wenn auch unser Kind etwa so aussähe – „engelsgleich“.


1943

Richard: Im Januar erwirbt Anne-Marie im Berliner Möbelhaus am Rosentaler Platz ein praktisches Kinderbett. Sehr solide gebaut, Naturholz und mit Holzbolzen leicht und fest zusammensteckbar. Prima – es war das einzig Vorhandene. Aber eine große schwere Schlepperei, besonders bis zur S-Bahn, denn Anne-Marie ist ja hochschwanger. Sie hatte niemanden, der ihr tragen half. Ich selber musste ja das Geschäft offenhalten und kann wegen meiner Behinderung ohnehin nicht helfen.– Einen Tag später: Es war dort die letzte Möglichkeit dieses Einkaufs. In der Nacht wurde Berlin wieder bombardiert und auch jenes Haus zerstört. Nur „unser“ Bettchen wurde, vorzeitig, gerettet.

Ein großer Tag! Am 18. Januar 1943 wurde zwischen zwei Luftangriffs-Sirenenwarnungen im Kreiskrankenhaus, Lindenstraße (auf dem Gelände der Oberlin-Klinik) unser erstes Kind >Anngret< geboren. Anneleins Taufe fand dann am 13. Juni 1943, am 1. Pfingstfeiertag, im Kindergottesdienst der Friedrichskirche statt. Unser Kind erhielt den Taufspruch:


Was nützte es dem Menschen wenn er die ganze Welt gewönne

und nähme doch Schaden an seiner Seele?


Anne-Marie: Meine Tante Hedwig Knoll, geborene Sommer, starb am 27. April 1943 als Witwe mit 79 Jahren. Sie wurde am 29. April auf dem Friedhof an der Goethestraße bestattet.


Am 16. Juni '43 starb die liebe kleine Hündin „Lumpi“ nach einem langen freundlich gelebten Hundeleben an Altersschwäche, bei Opa und Käte in der Wichgrafstraße 22. Sie schläft nun bei ihrem Frauchen Klara Janecke, geborene Dittwaldt, schräg gegenüber. Wir behalten sie in lebendiger Erinnerung, gestützt von dem gerade ein halbes Jahr jungen Bild von ihr.


Im Hochsommer können wir einen Urlaub einlegen. Wir fahren nach Krombach ins Sudetenland. Dort haben wir eine Unterkunft auf dem Anwesen des Bauern Moser. Anfangs war die Familie uns gegenüber zurückhaltend, denn Deutsche waren ja Besatzer in diesem Gebiet, aber das Verhältnis wurde herzlich, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass wir keine Nazis sind, sie uns vertrauen konnten. Von Krombach ging ich hinüber zum Kurort Oybin, im benachbarten Zittauer Gebirge, um die notwenigen kleinen Zusatz-Lebensmitteleinkäufe zu tätigen.


1944

Das neue Jahr bringt uns einen weiteren schweren Lebenseinschnitt. Es sollte in diesem Jahr (rechnerisch idealer Weise im Mai) unser zweites Kind geboren werden. Nun aber gab es die vorzeitige Fehlgeburt eines Jungen. Auf einen Namen hatten wir uns noch nicht festgelegt.

Annelein erhält am 23. Mai ihre Erst-Impfung gegen Pocken.

Im Sommer hat sie Masern und eine schmerzhafte Mittelohrentzündung.


1945

Januar

Richard: In dieser Winterzeit soll ich, weil vom Wehrdienst ausgemustert, zumindest zum Volkssturm. Alle „waffenfähigen Volksgenossen an die Heimatfront!,“ also alle halbwüchsigen Kinder, Invaliden und anderweitig Unfähige. Weil ich ja nun gehbehindert bin und auch den Laden von 8-13 Uhr sowie von 15-18 Uhr offen halten muss, will man bei mir zumindest Handgranaten einlagern. Von einem solchen gedachten Vorrat soll ich von der Ladentür aus, eventuell doch vordringenden Vertretern fremder militärischer Mächte diese Munition entgegenschleudern. Soll, als meine dann letzte Lebenshandlung, andere Menschen töten – das ist der von mir geforderte Beitrag für den „Endsieg“. – Ich gefährde mich / uns, indem ich es ablehne, in dieser Art den Sieg über die halbe Welt zu erringen. So wird uns vorerst mit dem Entzug der Lebensmittel-Bezugsmarken gedroht. Das ist zwar ein entsetzlicher Gedanke – durchhalten, wieviel Tage ohne Nahrung? Aber es hätte für uns auch anders kommen können. Etwa ähnlich, wie die Wirkung eines Granatenwurfs oder die „Antwort“ darauf. Vieles um uns herum spielt sich nicht „auf dem Feld der Ehre“ ab. Und was soll das bewirken? Der Volkssturm, als letztes Aufgebot, ist doch nur ein unsinniges laues Lüftchen, dass hinweg gefegt werden wird.


April

In den späten Abendstunden des 14. April wird das historische Zentrum der Stadt Potsdam von Flugzeug-Bomberverbänden der Amerikaner und Briten fast vollständig zerstört.

Es betraf vor allem das Herz der Stadt Potsdam: Schloss, Nikolaikirche, Palais Barberini, Bürgerhäuser um den Alten Markt, ja, gesamte Straßenzüge, Gaststätten, so auch das Café Heinzelmann mit Amphitheater, Wackermanns Höhe in der Schützenstraße am Brauhausberg, das Kino „Bergtheater“ in der Leipziger Strasse 73 / 74, das noch nicht fünf Jahre alt war, das Reichs-Archiv / Heeres-Archiv, den Bahnhof, sowie große Teile des Reichsbahn-Ausbesserungswerkes und weitere Stätten in der Stadt.

Über Babelsberg fallen nur wenige Bomben hernieder. Anschließend aber sorgt die Artillerie der einziehenden sowjetischen Armee für weitere gravierende Zerstörungen. Der Krieg, der von Deutschland ausging, ist nun endgültig, und auch nach Potsdam, zurückgekehrt. –

Der Fuhrunternehmer Rudolf Ranglack, der viele unserer Gemeindefahrten mitgestaltet und uns gefahren hatte, wurde bei einer Fahrt mit seinem Lkw durch Potsdam in der Nacht des
14. April 1945 von dem Bomben-Großangriff überrascht. Er hatte mit seinem 10-jährigen Sohn eine Zuflucht in einem Schutzraum des Brauhausberges aufgesucht. Der Schutzraum im Bunker wurde von einer Bombe der alliierten Briten und Amerikaner getroffen. Rudolf Ranglack war 46 Jahre alt und auch er wurde dort tödlich verletzt, genauso wie sein jüngster Sohn und der Kraftfahrer seines zweiten Lastkraftwagens, Gustav Weidner (4.6.1900–14.4.1945).

Die auf der Straße abgestellten Lkw blieben dagegen bei dem Angriff unversehrt.

Der Gedenkstein des Familiengrabes auf dem Friedhof in der Babelsberger Wichgrafstraße zeigt:



Auguste Ranglack Hermann Ranglack

geb. Alschner Stellmachermeister

4. Jan. 1870 – 7. Jan. 1946 7. Jan. 1868 – 19. Dez. 1945


Dorothea Ranglack Rudolf Ranglack

geb. Brendel Fuhrunternehmer

28. Okt. 1902 – 29. April 1974 22. Febr. 1899 – 14. April 1945


Rudolf Ranglack, jun.

Geb. 1935 – 14. April 1945



Mai 1945

Richard: Nun ist dieser entsetzliche Krieg endlich vorbei. Befreiung. „Chitler kaput“, sagen die sowjetischen Soldaten. Manchmal wird auch „Xitler“ oder „Gitler“ geschrieben. Für das Unsägliche bedarf es keiner Einheitlichkeit. Jeder weiß zu gut, was es für alle bedeutet.

Es gibt zuviel vom entsetzlichen alten, was zum Teil erst jetzt langsam zu uns durchsickert – und auch das wird nur ein Bruchteil sein.

Neues bringt nicht nur Erleichterung, sondern auch andere Sorgen: Es gibt kein Arbeitsmaterial mehr – wir arbeiten mit restlichen Beständen. Und es gibt eine nur eingeschränkte Arbeitsgenehmigung für uns, denn die neue sowjetrussische und deutsche Verwaltung hat große Angst vor Druckerzeugnissen (illegale Flugblätter), so es sich nicht um ihre eigenen Befehle oder Weisungen handelt. Demzufolge haben wir kaum Geld und fast nichts zu essen, so dass ich bei der Arbeit öfter umfalle, mir schlecht wird vor Hunger mit Kreislaufstörungen.


Mein schönes Fahrrad

Es ist ein Fahrzeug der ADLER-Werke in Frankfurt am Main, die dort auch Personenkraftwagen herstellen. Ganz selbstverständlich sind (in dieser Zeit) alle Pkw und auch die Fahrräder über der Verkupferung zum Korrosionsschutz, in schwarzer Farbgebung gehalten. Das Rad ist jetzt zehn Jahre alt, also für meine Begriffe noch fast neu. Es ist ein grundsolides Fahrzeug. Die Räder haben einen Durchmesser von 26 Zoll, mit einer Bereifung 1,75 x 2. Bei der Bereifung handelt es sich um Wulst-Reifen, deren Wülste (ohne Drahteinlagen) hinter die Felgenhörner greifen. Das Hinterrad kann man an den Ausfallenden der Hinterradgabel mit den beiden Spannvorrichtungen exakt justieren. Der vernickelte Lenker ist der übliche „Gesundheitslenker“. Die Handgriffe bestehen aus hohlgebohrtem Holz mit Metallringen zur Randeinfassung an der Öffnung. Unter der rechten Lenkerseite der Handgriff für die Vorderradbremse. Die Bremsen sind als Trommelbremsen mit der Nabe des Laufrades verbunden.

Am Gabeldurchgang durch den Rahmen ist der Lampenhalter befestigt. Der Scheinwerfer ist hochmodern. Er wird nicht, wie vordem üblich, mit Karbid, sondern mit elektrischem Strom betrieben. So können die Glühlampen des Scheinwerfers (für Fern- und Abblendlicht) und auch für die Rückleuchte aus einer gemeinsamen Stromquelle gespeist werden. Diese besteht aus einer 3-kammerigen Flachbatterie, 4,5 V, etwa 6 x 5 x 1,5 cm groß, die im Scheinwerfer untergebracht ist. Das Pflegen und das Auswechseln der Batterie geht unproblematisch ohne Werkzeug, weil die beiden Gehäuseteile der Lampe mit Scharnier und „Schnapp-Verschluss“ verbunden sind und diese Lampe sich somit leicht öffnen und schließen lässt.

Der Clou des Fahrrades aber ist eine Dreigang-Schaltung, im (vergrößerten) Tretlager untergebracht, deren gekapselte Zahnräder vor Staub geschützt im Ölbad rotieren. Betätigt wird die Schaltung mittels einer Zahnstange, deren Handhebel am Rahmenrohr befestigt ist und der zum exakten Schalten von einer „Kulisse“ geführt wird. – Für höchste Bequemlichkeit sorgt ein weicher, breiter, gut mit Druck- und Zugfedern ausgestatteter Sattel. Ein stabiler Gepäckträger komplettiert das Fahrzeug. So also sieht mein treuer Begleiter aus. Kann er auch nicht fliegen, wie der Name „Adler“ eigentlich zu versprechen scheint, so rollt er aber sehr gut und zuverlässig. –


Ein dramatisches Geschehen: Heute war wieder Besuch von Roten Armisten hier. Nach dem inzwischen erfolglosen „Uri, Uri dawai, dawai!“, wollten sie mein Fahrrad mitnehmen, ohne dass ich „aufgeschmissen“ wäre. Ein Soldat hatte sich schon auf das Stahlross geschwungen, stieß sich aber wohl ganz erbärmlich an der Sattelnase in „den Schritt“. Bei der Drei-Gang-Schaltung im Tretlager war kein Gang, sondern der Leerlauf eingelegt, so dass die Pedalarme sich bei stehendem Fahrrad drehten, ohne das Kettenblatt mit Kette und Hinterrad zu bewegen. Der Soldat trat somit kräftig „ins Leere“. Schmerzerfüllt dachte er wohl: „Veloziped kaput“ und ließ es „fahren“, das heißt, Anne-Marie konnte es von ihm wieder vorsichtig übernehmend fortführen, ohne sich dabei nochmals umzusehen. Sie wusste nicht, was hinter ihr aus Schmerz, Demütigung und Rache passieren könnte – bezahlten doch für kleine Zwischenfälle andere Leute mit ihrem Leben oder ersatzweise „Frau, komm mit“. Eine unerträgliche Spannung hielt an und es passierte – nichts. Die Soldaten trollten sich ohne einen Erfolg. – Grund für großen Dank nach oben.


Juni 1945

Angesichts des Geschäftsniederganges habe ich die Möglichkeit, in der Babelsberger Stadtverwaltung (wie schon 1926) mit meinen Leistungen aushilfsweise tätig zu sein. Solche Arbeiten erledige ich als Auftragnehmer ja sowieso, nun aber übergangsweise als Angestellter. Ein Erfolg, denn für dieses Tun erhalte ich eine geregelte kleinere Entlohnung und einen Dienstausweis (Nr. 1216) mit dem wichtigen Vermerk, dass mein Fahrrad – zur Ausübung dieses staatlichen Dienstes benötigt wird und daher nicht der sowjetischen Beschlagnahme unterliegt.


Mein Schwiegervater, der Mechaniker und Elektro-Techniker, Innungsschriftführer, Lehrmeister, Meisterprüfer, Gerichtssachverständiger, ... und Firmenchef , Max Sommer aus der Priesterstraße 68, macht sich nun in seinem 70. Lebensjahr, mit Aktentasche und darin Werkzeug und die ziemlich leere Stullenbüchse, auf die täglichen Wege, um in Haushalten irgendwelche dringenden Elektroschäden zu beseitigen. Er darf in Ausübung seines Berufes zum Transport von Material (soweit solches noch vorhanden ist) sogar seinen eigenen alten Handwagen benutzen und erhielt dafür ebenfalls einen Ausweis / Berechtigungsschein – jener in kyrillischer und deutscher Schrift ausgefertigt.


Juli 1945

Die Sowjets beginnen damit, von unseren Arbeitskräften die Fabriken ausräumen zu lassen. Kriegsreparationen. Die sowjetische Besatzungszone hat statt bzw. für Gesamtdeutschland zu bezahlen. Alles Herausgerissene soll Richtung Moskau. Ob jene Leute unsere Technik ohne irgendwelche Anleitungen dort jemals irgendwo wieder aufbauen und nutzen werden? – Das ist nicht unsere Angelegenheit. Herausgerissen wird auch das S-Bahn-Gleis vor unserem Wohnhaus am Bahnhof Babelsberg – zumindest wohl bis kurz vor Wannsee, (wo die westlichen Alliierten die Berliner Stadtteile besetzt halten). Dazu werden männliche, wie weibliche deutsche Bewohner herangezogen. Anfangs wohl ehemalige Parteigenossen der NSDAP, die aber in ihrer Anzahl nicht ausreichen. Das Herz möchte einem zerbrechen, selber das Geschaffene zerstören zu müssen. Aber so ist es: „Der Staat (und dessen Volk), der die Suppe eingebrockt hat, muss sie auch auslöffeln“ – eine alte Volksweisheit.

Wieviel Not, Zerstörung und Elend haben die Deutschen in anderen Ländern angerichtet?

Nachdem die Kraftfahrzeuge und Telefone sowieso, auch die Fahrräder registriert oder beschlagnahmt sind, werden als nächstes die Radioapparate in der Stadt erfasst. „Erfasst“ im sehr direkten Sinne des Wortes. Unser einziges Familienradio, das bei meinem Vater August in der Wichgrafstraße stand, der es preußisch genau nach Vorschrift der Obrigkeit meldete – auch aus Sorge vor der angekündigten Strafe im Unterlassungsfall, wurde daraufhin eingezogen. Die Wohnungen der zahlreichen Offiziere müssen mit Musika ausgestattet werden und wir könnten ja auch die Rundfunkbeiträge der benachbarten West-Alliierten hören. Radio also auch futsch! Aber eine Anzahl alter Bücher der Klassiker hat der Vater noch, die sich nicht parteipolitisch geändert haben.

Die Fenster unserer Wohnung sind zum Teil noch verbrettert. Innen herrscht schwaches Dämmerlicht.

Nachdem Soldaten (mehrmals) in unsere Wohnung kamen und nach Wertsachen suchten, die Uhren mitgenommen hatten, blieb (einmal) ein ganz junger Soldat allein bei uns zurück, saß eine Weile ruhig auf einem Stuhl, wie in sich versunken und ging dann bald mit stillem Gruß hinaus. –

Statt der S-Bahn nach Berlin, gibt es jetzt eine Notverbindung mit der Dampfbahn von Wannsee über Babelsberg nach Werder auf nur noch einem einsamen Gleis. Es sind drei Zugpaare am Tag, bunt zusammengesetzt aus Güterwagen und Personenwagen ohne Glasfenster. Das ist schon hilfreich und spart Zeit, wie auch Schuhsohlen für das Laufen zwischen Potsdam und Wannsee. Das wurde inzwischen ohnehin unmöglich, denn auch das Gebiet um die Ufa-Stadt (Gelände der Filmproduktion) ist derweil für die russischen Interessen weiträumig abgesperrt und man kann nur noch auf dem großen Umweg durch Potsdam in Richtung Wannsee und Berlin gelangen.

In Potsdam, nahe der noch von Deutschen zerstörten, einstmals so bildschönen Glienicker Brücke, wurde auch ein Dampfschiffsverkehr nach Wannsee aufgenommen. Die Zugangsstrecke von Babelsberg durch den Park und die Allee nach Glienicke wurde allerdings von der SMAD (Sowjetische Militär-Administration) ebenfalls gesperrt; man kann nur über den Umweg durch Potsdam zur Glienicker Brücke gelangen. Ja wir sind wohl um weit über 100 Jahre zurück geworfen. Doch es soll kein übermäßiges Klagen sein. Wie mag es in den Ländern aussehen, in welche die Deutschen den Krieg brachten?


Am 19. Juli 1945 stirbt Frau Luise Marie Fix, geborene Naumann, die Ehefrau von Paul Fix, Eiswerke, Wiesenstraße 32. Sie wurde am 26. September 1864 in Britz, Kreis Teltow, geboren. Geheiratet hatte sie den Paul dort mit 28 Jahren, an ihrem Geburtstag, dem 26. September 1892.

Es sind / waren die Nachbarn in meiner Kindheit, aus der Generation meiner Eltern – Erinnerungen an besonnte Tage.


August 1945

Richard: Gleich nach der Potsdamer Konferenz gab es Befehle für weitere Wohnungsräumungen und die alte Unruhe flammt in großem Umfang erneut auf. Ein weiteres Gebiet wurde in Potsdam von den Sowjets beschlagnahmt – das Areal zwischen der Parkanlage „Neuer Garten“ und dem „Pfingstberg“, inclusive der relativ neuen Estorff-Siedlung, wo auch die Musiker-Familie Kempff lebte. Alle Bewohner mussten ihre Wohnungen, also auch ihr Hauseigentum, binnen weniger Stunden verlassen. Selbstverständlich entschädigungslos und ohne Möbel.


Der Befehl Nr. 19 der Sowjetischen Militärverwaltung schreibt nun auch für mich und meine Druckgeräte die Registrierungspflicht binnen einer Woche vor. Versäumt jemand diesen Termin,
z. B. aus Unkenntnis, werden diese Personen „zur strengsten Verantwortung“ gezogen, was immer das auch heißen mag. Sibirien? Druck- und ähnliche Arbeiten bedürfen jetzt der Genehmigung, müssen vorher zur Kontrolle eingereicht werden. Deshalb fertige ich für die Kunden eher „ungefährdende“ Traueranzeigen, geschäftliche Hinweise für Öffnungszeiten, Sprüche, Ehrenurkunden usw., einfach als Unikate von Hand, in Kunst- oder Plakatschrift. Trotzdem müssen wir uns immer wieder auf der sowjetischen Kommandantur zur Befragung (zum Verhör) melden. Als „Klein-Maschinenbesitzer“ (Kapitalist) sowieso und weil man kaum glaubt, dass der Mensch so ordentlich (eben, wie gedruckt) mit der Hand schreiben kann.

So kommen von 100 Kunden-Anfragen vielleicht 2 bis 3 Aufträge zustande und das tägliche Brot ist sehr knapp. Die Miete kann ich schon nicht mehr voll zahlen. Nicht mal aus unserer schmalen Spar-Rücklage, denn alle Bank-, Spar- und Postscheckkonten wurden ja von der Administration gesperrt.

Der Stadtautobus fährt wieder von Babelsberg nach Potsdam und zurück. Das aber ist auch eine Tortur, da wegen der Überfüllung der Fahrzeuge schon wieder jene, die mit den stärksten Ellenbogen, den Vorrang haben. Und oft fällt der Bus aus, wegen technischer Defekte bei mangelnder Reparaturmöglichkeit. Oder: der volle Bus muss geräumt werden, weil sowjetische Offiziere, für die die konfiszierten Autos nicht reichten, irgendwohin fahren wollen.


Anne-Marie: Ich war mit dem Fahrrad auf dem Heimweg. Im Birkenwäldchen an der Berliner Straße hielt ich an, um einige Pilze für eine schmackhaftere Mahlzeit zu finden. Meine Tasche hatte ich an den Lenker gehängt und ging mit dem Körbchen in Sichtweite des Rades, im engeren Umkreis auf Suche. Wie groß doch mein Erschrecken, als das Fahrrad plötzlich verschwunden war. Gestohlen, aus meiner Nähe, als ich mich gebückt hatte – und ich hatte niemanden bemerkt. Auch die Tasche mit den Lebensmittelmarken, Papieren, Schlüsseln usw. – alles fort! Schon allein der Verlust der Lebensmittelmarken – gar nicht auszudenken. Was nun? Ich traute mich kaum nach Hause, das schier unfassbare Geschehen zu beichten. – Am Abend kam Vater Monje, der Gärtner aus dem Park Babelsberg, der unsere Palmen in der Priesterstr. 68 pflegt und zwei Söhne bei uns in der Elektrikerlehre hatte, zu uns. „Gottlob“, sagte er zu uns, „ist ja die Mutter wieder zurück gekommen“ … und legte die Tasche, die er unterwegs gefunden hatte, in meine Hände. Der Tascheninhalt war vollständig. Zwar war das Fahrrad futsch aber mir war nichts passiert und die Tasche war wieder da. Der Dieb war jemand, der keine wertvollen Lebensmittelmarken brauchte, nichts benötigte, außer das Fahrrad. Es war mir eine Lehre. – Herr Monje hatte sich gedanklich noch Schlimmeres ausgemalt, als er meine Tasche fand und war erleichtert. Trotz des Kummers um den Fahrradverlust – ein Abend voller Dankbarkeit.


Für uns in der sowjetischen Besatzungszone wurde eine Einstufung der Nahrungsmittelzuteilung auf Lebensmittelmarken-Karten in sechs Personengruppen vorgenommen:

Karte 1: für Schwerstarbeiter

Karte 2: für Schwerarbeiter

Karte 3: für Arbeiter

Karte 4: für Angestellte

Karte 5: für Kinder bis zu 15 Jahren

Karte 6: für Sonstige (Wir selbständigen Geschäftsleute also fallen unter >Sonstige<)

Die Mengenversorgung erfolgt nach dieser Abstufung und – sofern die Vorräte reichen. Die Rationssätze für einen Tag mit Lebensmitteln lagen zum Ende des Jahres 1945, wenn das Angebot zur Verfügung stand, zwischen 450 und 250 Gramm Brot, zwischen 20 und 10 Gramm Fett, 65 bis 30 Gramm Fleisch pro Person. Der Durchschnittslohn beträgt etwa 200 Reichsmark (RM) im Monat. Auf dem so genannten „schwarzen Markt“ wurden 1945 für ein Brot 30 bis 40 RM gefordert, für ein Kilogramm Zucker etwa 90 RM und für eine ausländische Zigarette 8 RM. (Quelle: Dieser Abschnitt wurde sinngemäß aus dem Buch „Mein Jahr 1945“ von Friedemann Behr entnommen).


September

03. September 1945. Das Ernährungsamt teilt mit: „Vom 3. bis 9. September dürfen nur 100 Gramm Fleisch je Verbraucher ausgegeben werden. Die Lebensmittelkartenabschnitte E 15 / J 15 dürfen nicht beliefert werden. Inhaber der Lebensmittelkarte 2 erhalten statt 50 Gramm Fleisch,
1 Ei. Verstöße werden mit Geldstrafe oder Gefängnis geahndet“. (Quelle: auch dieser Abschnitt wurde sinngemäß aus dem Buch von Friedemann Behr „Mein Jahr 1945“ entnommen).


Mein Onkel Max Dittwaldt (Mamás Bruder) schreibt aus Königsberg

Am 26. September 1945 stürzt meine älteste Schwester Marie Weiland in Berlin auf der Straße, zieht sich dabei einen Oberschenkelhalsbruch zu und stirbt noch an Ort und Stelle an Herzversagen. Sie wurde 80 Jahre alt. Man hätte ihr auch im anderen Falle nicht helfen können, außer das Bein zwischen Sandsäcken zu fixieren. Das alles ist sehr traurig.


Oktober 1945

Richard: Die Gemeinde der Friedrichskirche (und hier der Helferkreis der Kinderkirche) gedenkt meines Geburtstages und bringt mir, da ich krank bin, Obst-Grüße vom Ernte-Dankfest-Altar. Ganz rührend! Ja, auch in den Helferkreis hat der Krieg unersetzbare Lücken gerissen. Es fehlen einige der lieben, treuen Gesichter. –


Richard: In diesem Jahr wird es früh herbstlich. Für meine Schreibarbeiten unschön. Kälte äußerlich und innerlich. Zu klamme Finger, die bei leerem Magen und müdem Geist, den Pinsel und die Feder für saubere Schrift nicht exakt beherrschen können. Ich denke häufig an die Zeit des herrlichen Frühjahrswetters vor dem Kriegsende, in der Anne-Marie uns ständig das rein vegetarische „Wildgemüse“ von der Wiese geholt hatte. Es gehörten wohl dazu: Löwenzahn, Sauerampfer, zu viel Melde, Kanadische Goldraute (diese aber nie als Salatbestandteil, nie ungekocht!), Klee, Hahnenfuß, Schafgarbe, Hirtentäschel, Giersch, Spitz- und Breitwegerich und junge Brennnesseln sowieso ... Aber ach, weil die erforderliche ausgleichende und stopfende „Grundmasse“, beispielsweise Kartoffeln oder Reis meist fehlte, führte auch dieses an sich gesunde Gemüse zu Durchfällen. Als pikante Anreicherung des süß-sauren Soßensuds gab es statt der früher erhältlichen Kapern für einen kurzen Zeitraum Knospen der Sumpfdotterblumen von den überschwemmten Nuthewiesen. Das werden wir bis weit in die '50-er Jahre so halten, denn Nahrung ist rar und auch die Vitamine von Kräutern werden dringend benötigt. Diese sind, kleingehackt, als Rohkost besonders wertvoll.

Viele Leute sind in dieser 1945-er Zeit an der Ruhr erkrankt mit Austrocknung und Kräfteverfall.


November

Richard: Erschreckend haben im Herbst die Fälle der Selbsttötungen unter den Einwohnern zugenommen. Auch sind viele rührige Leute, die einen ehrlichen Neuanfang nicht nur beginnen, sondern für die Stadt gestalten wollten, verschwunden. Nach Sibirien, vermutet man. Grundlos wahrscheinlich oder nach irgendwelchen Denunziationen. Ins Arbeitslager, ins Zuchthaus oder sogar in den Tod gebracht.


Anne-Marie: Am 23. November 1945 starb mein Vater, der Mechaniker und Elektrotechniker Max Sommer im Städtischen Krankenhaus Babelsberg, mit 70 Jahren an Herzschwäche bei Abzehrung. Als wir ihn beim Besuch, kurz nach dem Eintritt des Tode sahen, fanden wir ihn mit ruhigem, entspanntem Gesicht vor. So wollen wir annehmen, dass er vorher seinen Frieden gefunden hatte.


November 1945: Die Familie Janecke erhält von Richards Onkel Max und Tante Gertrud Dittwaldt , die in Königsberg, in Ostpreußen lebten, das erste Lebenszeichen dieses Jahres, nach dem Ende des Krieges. Was war in der Zwischenzeit nach dem vorigen Kontakt nicht alles geschehen –.

Kurz-Nachrichten von Ereignissen in Königsberg in Ostpreußen:

Erstaunlicher Weise wurde Ostpreußen erst im Sommer 1944 in die Kriegshandlungen einbezogen: Zwei Flugzeugangriffs-Wellen britischer Bomber, der Anti-Hitler-Koalition, zerstörten in den Nächten vom 26. zum 27. August und vom 29. zum 30. August den Nordteil der Stadt Königsberg und große Teile der Innenstadt. Dittwaldts leben immer noch, unbeschadet, im Musiker-Viertel, nördlich des Stadtzentrums, in der Bachstraße 25a, im Parterre.

Das Gebiet Ostpreußens wurde im Kriege nicht planmäßig evakuiert, die Menschen generell nicht über die Konsequenzen aus dem wahrscheinlichen weiteren Kriegsverlauf informiert, denn Königsberg sollte als Festung dienen, ein Bollwerk sein. Der täglichen Propaganda in Rundfunk und Presse zufolge, glaubten wohl sehr viele Menschen noch an einen baldigen „Sieg-Frieden“. Wohl nur ein relativ geringer Anteil der Bevölkerung sah daher die Zweckmäßigkeit oder sogar die dringende Notwendigkeit und Möglichkeit einer „rechtzeitigen“ Flucht in das deutsche Kernland.

Am 21. Januar 1945 aber fuhren die letzten Flüchtlingszüge von Königsberg „heim ins Reich“.

Der Königsberger Nordbahnhof war erst 1930 in Betrieb genommen worden. Von diesem fuhren die Züge der Deutschen Reichsbahn ab aber auch jene der Samlandbahn.

Ab 22. Januar wurde der Bahnverkehr in Richtung Berlin von der sowjetischen Roten Armee abgeriegelt. Von diesem Tage an war eine Flucht aus Ostpreußen nur noch auf dem Seeweg von Pillau aus (Name ab 1945: Baltisk / Baltysk) möglich. Das bedeutete: Von Ende Januar bis zum April 1945 verließen etwa 451.000 Menschen per Schiff das ostpreußische Gebiet.

Das Ehepaar Dittwaldt befand sich unter ihnen.


Alle Schiffe hatten das Ziel, das deutsche Reichsgebiet oder auch Dänemark zu erreichen. Verschiedene Flüchtlings-Schiffe mit den Zivilisten wurden unterwegs auf der Ostsee mit Torpedos angegriffen und sanken – erreichten ihr Ziel nicht.

Auch wählten viele Trecks zu Fuß den Weg oder mit Pferd und Wagen, um über das Eis des Frischen Haffs und dann auf der Frischen Nehrung vorerst in die Freie Stadt Danzig oder bis nach Ostpommern zu gelangen. Man rechnete auf diesen Wegen mit etwa 500.000 Flüchtlingen. Von den nur langsam vorankommenden Trecks wurden viele von den Kampfhandlungen eingeholt – auch von der westwärts in Richtung Berlin stürmenden Roten Armee überrollt und aufgerieben.

Zum Kapitulationstag der deutschen Armeen am 8. Mai 1945, befanden sich noch etwa weitere 500.000 Zivilisten in Ostpreußen, davon etwa 110.000 allein in der Stadt Königsberg. Nach späteren Schätzungen der Hilfsorganisationen und der Regierungen in den deutschen Westzonen überlebten etwa 25.000 Personen die Zeitspanne bis zur engültigen Ausweisung aus der Heimat 1947 / 1948.

Königsberg wurde nach dem Kriegsende das autonome sowjetische Gebiet Kaliningrad. Die zerstörte Stadt wurde enttrümmert, gewaltige Restbestände abgerissen und die Stadt anschließend völlig neu aufgebaut. Nur wenige Gebäude erinnern daher heute an die deutsche Vergangenheit. Kaliningrad galt bis 1990 als „verbotene Stadt“ in der „Freien Wirtschaftszone Jantar“. Erst seit dieser Zeit sind dorthin wieder Besuchsreisen deutscher Bürger möglich – aber diese Stadt ist nicht die alte Heimat – nicht wiedererkennbar.


Max Dittwaldt schreibt am 10. November 1945 sinngemäß – Am 8. März habe ich in meinem 70. Lebensjahr gemeinsam mit meiner Frau Gertrud, Königsberg eigentlich gegen meinen Willen verlassen. In unserem Alter konnten wir einen Fußmarsch von weit mehr als 700 km in einem Treck nicht wagen. Wir versuchten nach Pillau mit der Bahn zu kommen und von dort aus ein Schiff zu erreichen. Von unserem Wohnungsinhalt konnten wir nichts mitnehmen. Wir hinterließen eine zerstörte Existenz. Kein Mobiliar, keine Erinnerungen wie Bücher oder Fotoalben (so können wir Euch später nicht einmal Bilder aus unserer Zeit vererben), keine liebgewordenen Gegenstände. Nichts. In einem kleineren Handkoffer die notwendigen Papiere, Waschzeug, notwendigste Leibwäsche und im Rucksack etwas „Reise-Proviant", ansonsten nur unser „nacktes Leben“, das wir möglichst retten wollten.

Tatsächlich brachte uns dann eine Eisenbahn nach Pillau an der Frischen Nehrung. Dort warteten wir in einer unüberschaubaren Anzahl von Flüchtlingen auf ein Schiff, das uns nach Lübeck oder Kiel bringen sollte.

Wir fanden nach 15 Tagen Wartezeit Platz im Zwischendeck eines Schiffes, das am
23. März den Hafen Pillau verließ. Natürlich waren wir die Zeit über nicht ohne Bangen, weil ja eine Anzahl von Flüchtlingsschiffen mit den verhassten Deutschen auf dem Wege über das Meer angegriffen wurde.

So sank das Kreuzfahrtschiff „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar mit 9.000 Flüchtlingen und 400 Mann Besatzung. Nach Angabe konnten ungefähr 1.200 Menschen von herbeieilenden Schiffen gerettet werden, die die Annäherung an die Stelle der Katastrophe wagten, obwohl ja unklar war, ob feindliche U-Boote noch in der Nähe waren. Ähnlich erging es den Menschen auf der „Steuben“ und der „Karlsruhe“. Ihnen allen gilt unser Gedenken.

Für uns ging es über die Danziger Bucht und die Ostsee, vorbei an der Halbinsel Hela, an Kolberg und Wollin. Unserem Schiff passierte kein Unheil. Die Reise endete aber nicht in Lübeck sondern bereits in der Pommerschen Bucht, in Swinemünde. Doch wir waren glücklich aber erschöpft, froh, das Schiff lebend verlassen zu können. Von hier aus brachte uns ein kleines Dampfschiff von Nord nach Süd über das Stettiner Haff nach Ueckermünde. Und wir hatten dort erneut „Glück“. Die zuverlässige Deutsche Reichsbahn brachte uns sogar in dem Wirrwarr dieser Tage von Ueckermünde nach Schwerin. Dort befand sich die Auffangstelle für Reichsbahnbeschäftigte. Sie wollten aber trotz kriegsbedingten männlichen Personalmangels, einen 70-jährigen Amtmann nicht mehr einsetzen und schickten uns per Bahn weiter nach Lüneburg. Das war uns insofern auch recht, denn hier wohnt sowohl Frau Bischoff, eine Schwester meiner ersten Frau Margarethe, als auch nahe Verwandte von Gertrud, unter anderen auch Susi May. Am 28. März trafen wir hier in Lüneburg ein. Diese Fluchtzeit war für uns nicht ganz leicht, aber verglichen mit anderen zu Fuß auf dem Treck mit Pferdewagen, mit Kinderwagen, wo viele erfroren, verhungerten oder von den kriegerischen Ereignissen getötet wurden, war unsere dreiwöchige Fluchtdauer verhältnismäßig kurz und mit etwas Humor könnte man sagen: „komfortabel“. Wir wurden behütet.

Wir suchten hier in Lüneburg Bekannte auf (die Bischoffs) aber deren Drei-Zimmer-Wohnung war von Flüchtlingen überfüllt. Hier wohnten bereits zusätzlich Lisbeth Goeritz aus Rostock, die ältere Schwester meiner ersten Ehefrau und auch deren jüngste Schwester Gertrud mit ihrem Mann Fritz aus Marienwerder. Der einzige Sohn von Lisbeth, Hans Günter Goeritz, kann nicht hier sein. Ihn ereilte ein trauriges Schicksal. In Königsberg hatte er ja eineinhalb Jahre bei uns gewohnt, in der Zeit, als er sein Medizinstudium zu Ende brachte. Er kehrte im Sommer '45 aus Riga zurück, kam aber in Eutin in ein Kriegsgefangenenlager, in dem er die Gefangenen ärztlich betreute. Dabei hat er sich mit der Diphtherie infiziert. Arzneimittel gab es nicht, obwohl es schon seit 1891 den Behringschen Impfstoff gibt, den es aber dort eben nicht gab. Er ist vor 2 Monaten, am
30. September 1945 in Heiligenhafen gestorben. So fehlt auch seiner 71-jährigen Mutter nun die Stütze in ihrem einsamen Alter.

Dank eines weiteren glücklichen Umstandes bekamen wir sogar noch am Ankunftstag in Lüneburg ein privates Obdach zugewiesen, das von der Verwaltung gerade erst beschlagnahmt worden war. Unsere Flüchtlingsbleibe ist ein kleines zweifensteriges Zimmer bei der rüstigen 76 Jahre alten Oberschullehrerin a. D., Fräulein Karnstädt, Ilmenaustraße 1, in der 2. Oberetage. Fräulein Karnstädt ist eine rührend gütige und immer von sich aus hilfsbereite Dame, obgleich drei Zimmer ihrer Vierraum-Wohnung mit Flüchtlingen vollbesetzt sind und ihre bisherige Ruhe dahin ist. Sie hat auch ihre Lehrtätigkeit – privat – wieder aufgenommen, um der notleidenden Jugend und auch Erwachsenen die englische und französische Sprache zu lehren. Dafür hat meine liebe Frau deren Anteil der Hausarbeit übernommen und ich besorge die Einkäufe mit Ansteherei, sowie alle Basteleien in „unserem“, als auch in Mimmi Bischoffs Haushalt. Das ist ein Ausgleich zur fehlenden beruflichen Arbeit. Benötigte man mich in Königsberg über das 70. Lebensjahr hinaus, so wird man hier eben als „Flüchtiger vom früheren Dienstposten“ und von der Reichsbahndirektion in Hamburg eher als lästiger Ausländer angesehen und schofelhaft behandelt. Aus Ostpreußen – „vom andern Ende der Welt“. So etwa. Über diesen Winter ohne Heizung denken wir nicht nach, ebenso nicht über eventuelle spätere Pläne. Sicher scheint aber, dass wir wohl nicht in das nun russische Königsberg zurückkehren können.

Wir leben sehr bescheiden und zwangsläufig fast nur vegetarisch, brauchen aber über etwaige Ernährungssorgen nicht klagen. Wie es in dieser Hinsicht bei Christel und Walter Sauerlandt geht, (Tochter von Max Dittwaldt), wie sie untergekommen sind, (als Ausgebombte) noch haben wir keine Verbindung zu ihnen.

Wir danken Euch für die Nachrichten über alle Verwandten in der Heimat. Nun ist auch Tante Marie (Weiland in Berlin, die älteste Schwester von Max) heimgegangen nach einem arbeitsreichen und tapferen Leben. Für Euren nächsten Brief an uns einige Fragen: Wisst Ihr etwas über Georg und Bruno Weiland? Wie geht es allen Sotschecks? In welcher Zone liegen denn jetzt Potsdam und Babelsberg? Trotz aller Rundfunknachrichten wird man nicht recht klug daraus. Wie ist die Wirtschaftslage und die Ernährungssituation bei Euch? Lieber Richard, wenn es mit der Arbeit schwierig ist, kannst Du nicht Arbeit von den Besatzungsstellen bekommen? Unsere britischen Besatzer bezahlen hier die zivilen Deutschen gut.


Dezember 1945

Richard: Zwischendurch wurde mein Geschäft von der Verwaltung erneut für 6 Wochen ohne Begründung geschlossen. Keine Arbeit, kein Material, keine Einnahmen, kein Lebensunterhalt und daraus folgend war nur eine Teil-Mietzahlung an den Hauswirt / Vermieter möglich.

Mein Hauswirt, Herr Max Wa., hat mich sofort bei Gericht verklagt, da ich die Miete von 60,- Mark nicht voll zahlen konnte. Der Vorkriegsvertrag gilt eben, egal, was inzwischen passierte, egal, ob man Geld bekommt und zahlen kann oder nicht. Eine gütliche Regelung durch Einsicht in die Möglichkeiten hatte Herr Wa. abgelehnt. Das Argument der unbeeinflussbaren „Höheren Gewalt“ steht nur dem Staat zu, nicht dem Bürger. Das von mir angerufene Mieteinigungsamt, das jetzt sehr viel zu tun hat, setzt sich wohl mehr für die Rechte von Mitgliedern der KPD ein. Für mich als selbständig Gewerbetreibenden hatten sie nur ein müdes Lächeln übrig aber keinen Rat. Man will uns nicht – ich bin kein Fabrikarbeiter, sondern ein „Kapitalist“, der sich und seine Frau ausbeutet. –

Der weise Richter legte fest: Ich solle ohne Verzug die Miete zahlen, sobald ich es kann.

Einen besseren Urteilsspruch hätte ich mir nicht wünschen können. Dieser war mehr an die Adresse des Hauswirts gerichtet, dass er dann sein Geld bekommt, denn ich war ja kein Zahlungsverweigerer. Das Urteil gab mir den Schutz, nicht mit der Familie auf die Straße zu fliegen. Danke!


Um Material (Papier und Farben) zu bekommen, waren wir, Anne-Marie und ich, zwei Tage nach und in Berlin unterwegs. Im offenen Güterwagen reisten wir, ohne Schutz vor dem glühenden Funkengestiebe der unzureichenden, feuchten Braunkohlefeuerung für die Lok. Unsere beiden Schnitten waren schon am ersten Tag aufgegessen. In Berlin bekamen wir nichts Eßbares, denn die Potsdamer Lebensmittelmarken gelten einige Kilometer weiter, in Berlin, nicht. Legal, frei verkäuflich sind Lebensmittel auch nicht. Völlig übermüdet, durchgefroren und ohne ein Ergebnis kehrten wir zurück. Es war kein guter Ausflug und Anne-Marie ist zudem hochschwanger.

Weitere größte Abstriche in den mageren Fleisch- und Fettrationen sind angeordnet worden. An der Stelle von Fleisch wurde als Ersatz Magermilch (mit Wasser verdünnte Kuhmilch) angekündigt, die aber nicht weit reichte. Wir zum Beispiel sahen auch nichts von dieser eher hellblauen Fleischersatz-Flüssigkeit.


Dafür begingen wir Weihnachten sehr besinnlich. Am Vormittag in der den Umständen entsprechend festlich geschmückten Friedrichskirche. Zum Mittag hatten wir einen gedachten Gänsebraten (der Humor darf nicht untergehen). Am Nachmittag waren wir mit unserem knapp dreijährigen Töchterchen in der Oper „Hänsel und Gretel“, von Engelbert Humperdinck. Wir meinen, für Annelein bedarf es gewiss später einer Wiederholung. Für uns war es einfach schön.

Dazu die Erwartung unseres nächsten Kindes, das in diesen Tagen geboren werden soll. Möge den Kindern in ihrem Leben doch eine dauerhaft friedliche Zeit beschieden sein.


Am Vormittag des 29. Dezember 1945 wurde uns von Anne-Marie ein Junge geboren. Christoph soll er heißen. Wieder in eiskalter Zeit, dem Kreiß-Saal fehlen Fenster, einiges ist mit Pappe vernagelt – erinnernd an die karge Herberge in einer abweisenden Welt vor rund zwei Jahrtausenden ... und seither ewige Wiederholungen.


Aus Anne-Maries Taschen-Notiz-Kalender (geführt vom 29. Dezember 1945 bis 14. April 1946), speziell zur Entwicklung von Christoph. Ein Lebensbeginn in der Hungerzeit nach dem Kriege.


Sa., 29.12.45

Geburt nach 9.00 Uhr, 3.630 Gramm, 59 cm – ein Großer.

So., 30.12.45

Herr habe Dank. Du wachst mit uns.

Richard, Liebster! Ein Junge! Freust Du Dich?

Mo., 31.12.45

Du liebes kleines Wesen, bist mir so nah und doch noch ein bissel fremd.

So ganz anders, als Dein Schwesterlein.

Woher stammt der Ausdruck Deines Gesichtlein bloß?

1946

Seit dem 10. Januar fährt nun auch wieder die Elektrische (die Straßenbahn) von Potsdam nach Babelsberg und zwar mit Verbesserungen gegenüber der Nazizeit, besser, als im vorigen Jahr, als die Straßenbahn gänzlich stillgelegt war.

Eine Anzahl von Straßennamen sind geändert worden. Die politisch belasteten, wie Göringstraße sofort noch im vorigen Frühjahr, inzwischen aber auch die Priesterstraße => Karl-Liebknecht-Straße, die Lindenstraße => Rudolf-Breitscheid-Straße, Großbeerenstraße => Ernst-Thälmann-Straße, ... . Alles noch fremd, auch etwas sperrig. Man wird sich gewöhnen.


Anne-Marie: Meine herzensgute Tante Marie Steiner, geb. Sommer, starb am 05. Februar 1946 im Alter von 78 Jahren und wurde am 09. Februar 1946 auf dem Friedhof an der Goethestraße beigesetzt.


Anne-Marie: Unser Geschäft wurde von der Verwaltung, wohl in notwendiger Abstimmung mit dem sowjetischen Militär, mal wieder geschlossen. Ergebnislose Kontrollen bei uns nach Flugblattfunden im Stadtgebiet.

Wir haben keine Einkünfte zum Überleben, fast nichts mehr zu essen. Diesmal gehe ich ohne Aufforderung zur Kommandantur, um unsere Situation darzustellen und um Aufhebung der grundlos erscheinenden Sperrung zu bitten. – Wir hören und lesen oft, wie sehr kinderlieb die sowjetischen Soldaten seien und wie sehr sie alle die Frauen und Mütter ehren – so nehme ich also beide Kinder mit. Die Audienz war kurz. Es war für mich erstaunlich, dass uns die Ordonnanz in den Büroraum führte, – denn dort saß der Offizier am Schreibtisch und auf dessen Schoß, eine Zigarette rauchend, die ebenfalls uniformierte Dolmetscherin. Ich trug, beide anschauend, mein Anliegen vor. Die beiden unterhielten sich kurz und die Dolmetscherin sprach zu mir in klarem Deutsch: „Frau, nimm deine Kinder und geh ins Wasser, dann brauchst du kein Brot. Wasser gibt es hier genug.“ – Ich weiß kaum noch, wie ich nach Hause wankte. Was musste diese Frau in ihrer Heimat und auf dem Feldzug von uns Deutschen erlebt haben, dass sie derart reagierte. Die Sperrung wurde nicht aufgehoben – aber einige Zeit später – mal wieder.


Am 17. Mai 46 wird die DEFA (Deutsche Film Aktiengesellschaft) gegründet – genehmigt von der sowjetischen Militäradministration zwecks Herstellung von Filmen aller Kategorien. Der erste Film unter der Regie von Wolfgang Staudte: „Die Mörder sind unter uns“. In der Hauptrolle Hildegard Knef. Die Innenaufnahmen fanden im Althoff-Atelier am Babelsberger Park statt.


Am 09. Juni, am 1. Pfingstfeiertag, wird unser Christoph während des Kindergottesdienstes in der Friedrichskirche getauft. Er erhält den Taufspruch: „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater gezeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen! (1. Joh. Kapitel 3, Vers 1).


Anne-Marie: Im Sommer sind wir in Lietzow auf Rügen, in der >Pension Strandburg< mit angeschlossenem Café. Aus gegebenen Gründen nennen wir die Einrichtung bald >das Räubernest<. Wir hatten gehofft, dass die Versorgung hier eventuell günstiger wäre. Zu essen gibt es auch hier wenig aber sättigende Kartoffeln sind vorrätig. Christoph hat sich das zu lange Band des Klingelhäschens um den Hals geschlungen. War es ein Engelshinweis, dass wir angehalten wurden, jetzt sofort nach ihm zu sehen? ... und ihn in letzter Minute retten konnten.

Oder auch diese Situation, als ich vor einiger Zeit mit dem Kinderwagen, durch das Birkenwäldchen ging, damit Christoph hinaus kam aus dem Ammoniak der sonnenlosen Geschäftswohnung und frische Luft erhielt – und Soldaten mich mit vorgehaltener Waffe anhielten, uns, Mutter mit Säugling, nach Griebnitzsee brachten – aber sonst dort nichts geschah, als die anscheinend völlig nutzlose Befragung zum „Woher“ und „Wohin“ und die genaue Untersuchung des Kinderwagens ... aber dabei mein Zittern am ganzen Körper – vor Aufregung.

Wir persönlich haben vor dem Krieg, während des Krieges und auch jetzt, nie etwas Schlechtes getan. Aber auch wir stehen doch immer unter dem Verdacht bei der neuen Macht.

Gewiss, es gab für andere Menschen weitaus Schlimmeres – ich denke daran, dass verschiedene Mitbürger nach Verhör einfach verschwunden blieben. Ich denke an Herrn Hille, der auf dem Heimweg von der Arbeit erschossen wurde, als er sich beschützend vor eine Frau stellte, ich denke an den Stadtbaurat Arno Neumann, (Sohn des bekannten Sozialdemokraten Paul Neumann), der am 03. August auf dem Weg nach Hause, zur Wilhelmstraße 22, >auf der Flucht< erschossen wurde – also Vorkommnisse, lange nach der Befreiung, in dieser neuen Friedenszeit.


Ein Resümee: „Der Zweite Weltkrieg hatte in weiten Teilen der Welt die bisher größten Kriegsverheerungen bewirkt. Die Verluste an Menschenleben erreichte die bis dahin unvorstellbare Dimension von 55 Millionen; die Sowjetunion verlor 20 Millionen (ein sehr großer Anteil davon die Ukraine), Deutschland 6,5 Millionen, Polen 6 Millionen, Jugoslawien 1,7 Millionen, Frankreich 600.000, Großbritannien 375.000 und die USA 405.000 Menschen. Ungefähr 11 Millionen Menschen wurden in faschistischen Konzentrationslagern, Vernichtungslagern und Zuchthäusern ermordet“ – darunter ein besonders großer Anteil jüdischer Mitmenschen. (Dieser Abschnitt „Resümee“ wurde sinngemäß entnommen aus dem Buch von Friedemann Behr „Mein Jahr 1945“).


August:

Max Dittwaldt schreibt am 3. August 1946 aus Lüneburg an seinen Neffen in Potsdam-Babelsberg:

Liebe Janeckes alle z'sammen!

Nach der Rundfunkpropaganda die wir hören, müsstet Ihr im russischen Sektor doch ausreichend mit Lebensmitteln versorgt sein. Die Wirklichkeit scheint aber das Gegenteil zu zeigen. Dass es aber so ist, dass Ihr auch nach Möhrenkraut, Sauerampfer und Kartoffelschalen greift, hätten wir nicht angenommen. Wir hoffen aber, dass für Euch mit der neuen Ernte inzwischen eine Wende eingetreten ist. Bei uns kann man neues Gemüse und auch frische, gut ausgereifte Kartoffeln kaufen – pro Kopf und Woche werden 4 Pfund abgegeben. Im Herbst '45 hatte meine liebe Frau reichlich Obst und Gemüse einwecken können, so dass wir keine Not leiden müssen.

Leider darf man ja in Eure russische Zone nur Päckchen bis 500 g Gewicht schicken, sonst könnten wir Euch mehr senden.

Die angespannte Materialsituation ist wohl für Euer Geschäft tatsächlich existenzbedrohend – hier aber verfertigen sie den unglaublichsten Firlefanz als Kunstgewerbliches zu horrenden Preisen und werden diesen Zimt doch los.

Ihr habt in dem alten Miethaus Lindenstraße 39, nun eine völlig andere Absender-Angabe: Rudolf-Breitscheid-Straße 46. Ist der Name „Lindenstraße“ nicht mehr gut genug? Wer ist denn nun Breitscheid? Und warum bekommen alle Häuser veränderte Hausnummern, da doch nichts neu gebaut ist? Ist denn das Kuddelmuddel nicht schon groß genug? –


Die Antwortbriefe der Familie Janecke blieben natürlich nicht in Babelsberg, sondern wurden nach Lüneburg gesandt – sind daher nicht mehr greif- und lesbar.

Deshalb versucht Chris Janecke, 70 Jahre später, „sicherheitshalber“ nochmals eine Antwort („nach oben“) zu geben, damit nichts versehentlich ungesagt bleibt:

Lieber Großonkel Max! Zu Euren berechtigten Fragen: Das alte Miethaus in Babelsberg wurde just in dem Jahr errichtet, als Mäxchen Dittwaldt in Berlin das Licht dieser Welt erblickte.1874 war's. Der Name Lindenstraße war ein guter, ein historischer und durch alle Zeiten politisch unbelasteter. Rudolf Breitscheid war in der Weimarer Republik einer der führenden Kräfte der Sozialdemokratie. Er starb unter dem Naziregime 1944 als politischer Häftling im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar in Thüringen. Mit der Namensverleihung für diese Straße sollte die ehrende Erinnerung an ihn wachgehalten werden. Die Hausnummerierung erfolgte bisher vom Anfang der Straße aufsteigend, nun aber steigen in umgekehrter Richtung die Zahlen der Hausnummern vom Ende an. Man konnte dadurch die Zahlenlücken ausgleichen, die an einem Ende der Straße durch Zerbombung entstanden waren, denn ein Neuaufbau der Fehlstellen ist nicht abzusehen. –


Und geholfen haben die Dittwaldts sogar den Babelsbergern: Gertrud und Max konnten die Brotrinden der Schnitten nicht mehr gut beißen (und an eine hinreichende Versorgung mit gebissprothetischen Erzeugnissen war nicht zu denken), sammelten die abgeschnittenen Rinden und sobald ein kleiner Karton voll war, ging dieser als Liebesgabe in die Ostzone. Je nach Witterung und unterschiedlicher Reisedauer kamen sie mal gut an oder auch leider mal verschimmelt. Aus den guten bereitete Mutti Anne-Marie eine wohlschmeckende Brotsuppe, die wenn vorhanden, etwas gesüßt und vom „Eiweiß-Schnee“ eines Hühnereis bekrönt wurde. Nach der Währungsumstellung in den Westzonen 1948, von Reichsmark auf West-D-Mark, gab es dann aus Lüneburg auch Haferflocken für die Babelsberger. Kölln-Flocken, ein Genuss, der gerade mit einer Tüte das zulässige Päckchengewicht von 500 Gramm ausmachte, wenn, ja wenn es nicht auf dem Postweg von den Behörden offiziell oder von jenen Mitarbeitern privat beschlagnahmt wurde. In der Sowjetzone gab es ja mitunter auch schon wieder Haferflocken aber mit Schalen-Spelzen = Hacheln = Spreuteilen versetzt, so dass es besonders Kindern eine Quälerei bedeutete, diese hinunterzuschlucken und vorher gar manches auszusortieren und auf dem Tellerrand aufzureihen. Zum Hochfest gab es sogar Schokolade, mit einem aktuellen (Weihnachtsbild)-Überzug über die Normaltafel gestreift. Alles von unseren herzensgrundguten Verwandten.


November 1946.

Anne-Marie: Richard hält sich zur Erholung einige Tage in einer Villa des Krankenhauses „Heckeshorn“ in Berlin-Wannsee auf. Dort macht Christoph beim Besuch seine ersten Laufübungen im Garten, auch an der Hand seiner Patentante, der Diakonisse Elisabeth Gandert. Schwester Elisabeth hat ständig mit ihm die den Diakonissen täglich zustehende Weißbrotscheibe geteilt, damit er überleben konnte. Hier lerne ich auch die Krankenschwester Renate Zauleck kennen, die aus Pankow stammt. Dieser Name wird uns später noch öfter begegnen.


1947

Anne-Marie: Als Brotaufstrich gibt es Rübenmelasse, Sirup genannt. Auch Streckfett ist „beliebt“ – also Brotaufstrich ohne Fett, bestehend aus gekochten Zwiebeln, Gewürzen, Salz und Kartoffelmehl. Hatten wir bis zum Kriegsende noch Knochenseife, so gibt es jetzt „Ton-Seife“ – ohne Musik aber mit Sandbeigabe, die schaumfrei ist. Für die seltenere Haarwäsche habe ich noch die Reise-Seifenblättchen aus der Vorkriegszeit.


1948

Im Spätherbst gibt es in der HO (Staatliche Handelsorganisation) Schweinefleisch, völlig ohne Lebensmittelmarken, das Kilogramm 31,50 Mark. Im Backwarenladen kann man „Schweineohren“, kaufen (Gebäck mit Teil-Zuckerguss), das Stück zu 5,00 Mark – kaum erschwinglich.

Täglich gibt es Stromsperren. Wenig Möglichkeiten für die Geschäftsarbeit in jener Zeit. Zum Stopfen von Strümpfen bei Kerzenlicht reicht es, – um sich die Augen zu verderben. Den Kindern gefällt es insofern, als dass es Mußestunden gibt, in denen die Eltern für sie da sind: Wir spielen „Bauernhof“ mit selbstgebastelter Ausstattung, auf dem Wohnzimmertisch, Erzählungen gibt es – „wie es früher bei unseren Eltern war“, Ratespiele, wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“, „Mensch, ärgere dich nicht“, Quartett (Kartenspiel) und ähnliches.


Eingeschränkter Kur-Aufenthalt in Bad Elster im Vogtland

Richard: Das hilfreich gedachte heiße Moorbad war für mich zu anstrengend. Ich wurde bewusstlos und rutschte tief in das Moor der Wanne hinein. Wie im Zeitrafferfilm rasten die Bilder des zurückliegenden Lebens durch meinen Kopf und ich sah ein warmes helles Licht.

Doch irgendwann erwachte ich wieder. Man hatte mich „in letzter Sekunde“ aus dem Bad gezogen. Ich sagte nur (zu aller Entsetzen): „Ach hätten Sie mich doch einfach ... es war so schön“.


1949

Am 01. Februar erhielten Anne-Marie und ich unsere neuen Ausweise, die nicht mehr Adler und Hakenkreuz als Emblem tragen. Das ist nun endlich vorbei. „Deutscher Personalausweis“ heißt er.


Im Hochsommer nehmen wir uns einige freie Tage und fahren nach Neuglobsow, an den Großen Stechlin. Entspannte Tage. Treffen mit guten Bekannten. Sogar eine Bootsfahrt über den See. Es sind gute Erholungstage, für uns und die Kinder.


Am 01. September beginnt für unser Töchterchen die Schulzeit. Sie wird wie Anne-Marie in der Schule Auguststraße, die inzwischen aber Tuchmacherstraße heißt, eingeschult.


07. Oktober: Nachdem aus den westlichen drei Besatzungs-Zonen (der USA, England und Frankreich) die Bundesrepublik Deutschland (BRD) gebildet wurde, wird in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet.


1950

Ein erneuter Aufenthalt zur Gesundheitsstärkung. Diesmal mit der gesamten Familie nach Bad Brambach. Wir wohnen gut im Haus >Gertrudis< und freunden uns mit der Kurfamilie König an, die im gleichen Hause zu Gast ist.


Im September gibt es für die Kinder neue Schulbücher – neuen Inhalts gegenüber den bisherigen, die noch aus dem so genannten Dritten Reich stammten und zum Teil nicht mehr benutzt werden dürfen.


1951

Richard: Im April bringe ich einige Zeit in der Berliner Charité zu, bin aber kurz vor dem 1. Mai, unserem 25. Geschäftsjubiläum, zurück in Babelsberg.

Hier halten wir eine Rückschau auf unsere Arbeit:

Inzwischen habe ich auch Büromaterialien im Verkaufsangebot aber nicht so viele, wie der fast benachbarte Herr Babucke, denn der Schwerpunkt liegt bei mir doch in der eigenen handwerklichen Tätigkeit. Dazu gehören stets Kunst- und Plakatschriften für Sprüche, Urkunden, Widmungen usw.. Das Schreiben (saubere Abschriften) der Notizseiten der Drehpläne für die Filmproduzenten in Ausziehtusche und deren Vervielfältigung auf meterlangen Papierfahnen – also inhaltlich das: was, wo und mit welchen Schauspielern, wann zu drehen geplant ist. Kurz, den Fahrplan der Regie. Lichtpausen mit der Belichtung mit Kohlestablampe („fein“, wenn Stromsperren den Prozess unterbrechen – alles wiederholen auf meine Kosten), dann die schreckliche Ammoniakentwicklung, deren Geruch sich durch die Wohnung zieht, das Beschneiden der fertigen Kopien auf die Normmaße (Rohpapier von der Rolle aber Endprodukt meist im DIN-A -Format gefaltet, von A 6 bis über A 0).

Oftmals werden Aufträge zurückgezogen, wenn die Kunden für ihren Wunsch vom Staat / der Stadtverwaltung keine Vervielfältigungsgenehmigung erhalten. Chronischer Materialmangel ist ein weiteres Handicap. So hat beispielsweise die „Märkische Volksstimme“ (Zeitung) ein staatliches Lichtpauspapierkontingent aber selbst keine Maschine zur Verarbeitung – wir hatten die Maschinentechnik, erhielten aber kein Material-Kontingent, um für die Volkseigenen Wirtschaft tätig sein zu können – man kann ja solches Spezialpapier nicht einfach im Handel kaufen, sondern erhält es nach staatlich unbegründbarer Verteilung quartalsweise von der DHZ (Deutsche Handels-Zentrale Chemie – der DDR) zugeteilt. So bringen einige staatliche Betriebe zu ihren Aufträgen inoffiziell das ihnen zugeteilte „Rohmaterial“ zu mir, mit dem allein sie selber nichts anfangen können. Eine völlig „verkehrte Welt“ des angestrebten gerechten Sozialismus'.


Zur Palette unseres Verkaufsangebotes gehören auch: Ausziehtusche aller Farben (von Firma Heinze und Barock) in Fässchen oder Tubetten. Tinte (meist von Fa. Barock, Dresden), Füllfederhalter „Ursus“, „Heiko“ und „Markant“, alle Arten von Federn für Füller und Federhalter (Redis, Ato, To und andere). Fläschchen mit Büroleim (von Ligament), Prena-, später Nadir-Band (also heute Tesa-Film), Kugelschreiber und einzelne Minen (Tubetten), Bleistifte in allen Härte- und Weichheitsgraden. Radiergummis. Bleistiftanspitzer, Bleistiftverlängerungen, Graphitminen in Glasröhrchen für Zirkel. Reisszeuge nur wenige, weil zu teure Vorratswirtschaft aber Zeichenbretter. Lineale, auch solche mit Rädchen, um einfach Parallelen zu zeichnen. Dreiecke mit vielerlei Winkeln. Maßstäbe unterschiedlichster Vergrößerungen, aus Holz und in rotbraunem Kunststoff. Durchsichtige Hüllen in allen möglichen Größen, Panthographen (zum Vergrößern oder Verkleinern von Zeichnungen), Reiss-Zwecken, Büroklammern und anderes mehr.

Ferner: Koordinierung (nach Musterauswahlkollektion) von Stempelaufträgen als Babelsberger Partner des späteren VEB Stempel und Siegel Berlin, Alte Schönhauser Str. sowie für Klischees / (Clichés) und Faksimile-Stempel (für Unterschriften). Metallschilder für den Namenszug an der Klingel bis zu größeren Werbeobjekten.

Eigene Anfertigung technischer Konstruktionszeichnungen und Bauzeichnungen nach Handskizzen, zum Beispiel für den Bau von Tankstellen (Tankstellenbau Flügge) oder dem Errichten von Heizungsanlagen (Heizungs-Ingenieur Otto).

Den Losverkauf für die >Sächsische Landeslotterie< betrieben wir auch einige Zeit ,als weiteres „Standbein“.


Ein weiteres zermürbendes Geschäft war der Verkauf von Konzert- und Theaterkarten, vor allem für „Die Berliner Bühnen“. Für bestimmte Veranstaltungen hatten wir die Karten im Laden, für andere Veranstaltungen oder Theater-Häuser jedoch nicht. Da wurde also der Kundenwunsch notiert, dann die Berliner Theater abtelefoniert und dort die Karten also reserviert. Das ging natürlich zu dieser Zeit noch nicht im Telefon-Selbstwählverkehr, sondern immer durch Handvermittlung über das Fernamt (und dessen Warteschlange, „Hallo Frollein, sind Sie noch da?“), oftmals mit Gesprächsabbrüchen oder überhaupt keinem Durchkommen zum Gesprächspartner, bis die Verwaltung des Theaters selbst Feierabend hatte ­– nicht mehr erreichbar war. Dann kam unser Kunde am nächsten Tag, um sich zu erkundigen, ob er eine Karte erhalten könne, die er im positiven Falle dann beispielsweise 1 Stunde vor Beginn der Aufführung, in Berlin an der Abendkasse nun endlich gegenständlich in die Hände bekam – wenn nichts „schief gelaufen“ war. Ein zeitraubendes, schweißtreibendes Geschäft für alle Beteiligten. Irre viel Arbeit für wenig Vermittlungsgebühr der Karte.


Das Tätigkeitsspektrum ist also ein ungeheuer breites, aufreibendes, zersplittertes. Man kann später rückblickend vielleicht erhaben über eine „große Verzettelung der Kräfte“ reden aber es war der verzweifelte Versuch, sich mit verschiedenen „Standbeinen nach des Tausendfüßlers Art, über Wasser zu halten“. Erforderlich, weil besonders nach dem Krieg durch staatliche Einflussnahme oder einfach auch wegen Materialengpässen immer mal „eine Sparte“ in Mitleidenschaft gezogen wurde oder zeitweilig total ausfiel. Die Familie musste doch ernährt werden, Gewerbemiete musste bezahlt werden und so weiter.

Um diesem Arbeitsspektrum und -pensum überhaupt Herr werden zu können, hatten wir zwei Mitarbeiter eingestellt. Es sind Menschen, die zu jenen vielen gehören, die es in dieser Zeit besonders schwer haben. Es sind: Gustav Hansen und Charlotte Dyck.

Gustav Hansen war vor dem Krieg Lehrer. Während der Kampfhandlungen im Krieg wurde er schwer verletzt und verlor sowohl den linken Arm, als auch das rechte Bein, blieb aber am Leben. Es hat den Anschein, als komme er mit den die Gliedmaßen ersetzenden Prothesen zurecht. Über Details, wie es ihm geht, vermeidet er zu sprechen.

Charlotte Dyck in Berlin geboren, lebte in ihrer Ehezeit in Danzig. Ihr junger Sohn Hans verlor als Soldat im Krieg das Leben. Charlottes Ehemann wurde zum Ende des Krieges in Danzig erschossen. Sie konnte ihn im eigenen Garten eigenhändig nur notdürftig begraben und begab sich gleich anschließend mit einem Köfferchen auf die Flucht – alle Habe zurücklassend. Diese beiden Menschen sind auf ihren Wunsch fleißig bei uns für einen eher bescheidenen Lohn tätig.


Selbständig Gewerbetreibende sind vom Staat nicht gern gesehen – wer aber sollte diese Bedarfslücke ausfüllen bei verhältnismäßig niedrigem Verdienst – doch kein Volkseigener Betrieb! Die Einnahmen Selbständig Gewerbetreibender, also eine als kapitalistisch angesehene Wirtschaftsform, wurde vom Finanzamt bis zu über 80% besteuert; ja rund 80% der von uns mühsam und hart erarbeiteten Erträge überführt der Staat von uns in seinen Finanztopf. Ein Achtstundentag im Volkseigenem Betrieb (VEB) bei ähnlichen Tätigkeiten aber mit besserem sowie festen Lohn, erscheint uns dagegen eher mit Urlaub vergleichbar. – Wir haben auch erwogen dieses Geschäft aufzugeben und uns in ein Angestelltenverhältnis einzufügen. Das gelang aber bei Richard nicht, wegen der weiterhin zunehmenden Gehbehinderung, so dass der Betrieb bis zum Eintritt in das Rentenalter, dann in reduziertem Umfang, seinen Bestand hatte.


Bei vielen anderen Kleinstbetrieben löste sich die Problematik angesichts der Schwierigkeiten schon früher auf. Andere Leute gingen altershalber in den Ruhestand oder flohen in den Westen unseres Landes.


Unter diesen Verhältnissen begehen wir nun am 1. Mai das 25-jährige Bestehen des kleinen Betriebes – es sollte eigentlich Jubiläumsfeier heißen.


Anne-Marie fährt mit den Kindern für einige Tage nach Buckow in die Märkische Schweiz. Sie wohnen dort in der Wallstraße 4, bei Frau Schoene.


1952

Anne-Marie:

Hier kommen nun die beiden letzten Eintragungen in mein früheres Kinder-Poesiealbum: – von unseren vorerwähnten Mitstreitern.




Willst du glücklich sein im Leben,

trage bei zu and'rer Glück;

denn die Freude, die wir geben,

kehrt ins eigne Herz zurück.


Ludwig van Beethoven.


Zur freundlichen Erinnerung

Ihr Gustav Hansen


15. 1. 52


Was ich Dir wünsche bis zum letzten Schlag?

Ein wenig Sonnenschein an jedem Tag.

Für Deine Arbeit frische, frohe Kraft und

Heiterkeit, die stets mit Liebe schafft.

Ein starkes Herz, in Treu und Glauben fest,

ein heit'res Kinderlachen ungetrübt

und – eine Seele, die die Deine liebt.


In herzlicher Verbundenheit

Lotte Dyck


Potsdam-Babelsberg, 27. Januar 1952



1952

Max und Gertrud Dittwaldt konnten innerhalb von Lüneburg von der freundlichen aber doch provisorischen, räumlich beklemmenden Flüchtlingsunterkunft in der Ilmenaustraße 1, endlich in eine eigene kleine Wohnung ziehen. Die neue Wohnung liegt in der Soltauer Straße Nr. 5, im Erdgeschoss, rechts vom Hauseingang. Es ist ein zweckmäßig schlichter Bau, wohl in den vergangenen Nachkriegsjahren errichtet.


Im September beginnt für unseren Sohn Christoph die Schulzeit.


November. Eva-Maria hat ein Schwesterchen bekommen. Das zweite Kind von Rosemarie und Anton B. in Thüringen. Dieser Tag will froh, dankbar und mit Gratulation an die Eltern begangen werden. ... Und etwas später: Ich, Anne-Marie, darf sogar Taufpatin des Kindes werden. So kann ich die kleine Regina, leider nur aus der Ferne – dafür aber ein langes Stück, freundlich auf dem Weg durch ihr Leben begleiten.


1953

War es in diesem Jahr? – wir meinen, sicherheitshalber endlich einen Wachhund zu brauchen, der unserer schwarz-weißen Katze >Lola< Gesellschaft leistet. Der Tierarzt Dr. Erwin Holz aus der Potsdamer Nansenstraße 7, vermittelt uns einen heimat- und namenlosen grau-schwarzen Drahthaar-Fox-Terrier-Mischling, den wir >Struppi< nennen und der „aus eigenem Antrieb ohne besonderen Auftrag“, sofort bei uns seinen Wachposten bezieht. Gegen uns und auch die Katze ist er umgänglich, ja schmusig, hingegen darf ihm keine Uniform ins Blickfeld geraten – egal ob Eisenbahner, Postbote oder bei uns im Laden sowjetische Offiziere. Ein teuflisches Spektakel könnte größer nicht sein; unter lautstarkem Vorweisen seines ansehnlichen Gebisses. Wer weiß, was er in seinem bisherigen Dasein erlebt hat? – Aber so besteht auch eine Lebensgefährdung für ihn selbst in unserer Wohnung, seinem Arbeitsterrain und Herrschaftsbereich, denn mit den Militärs ist nicht zu spaßen und lautstarke verbale Drohungen verlassen deren Münder.


1954

Ein Nachzügler kommt! Trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten hatten wir uns doch entschlossen, nochmals einem Kind das Leben zu geben, verbunden mit unserem Wunsch, dass es ein leichteres und ein friedvolleres Dasein werden möge, als wir es über Zeiten erlebt hatten und gegenwärtig durchleben.

Am 16. August wird unser jüngstes gesundes Söhnlein >Jörg< geboren. Er ist aber kein gebürtiger Babelsberger. Weil Anne-Marie für die „Endzeit“ der Schwangerschaft mehr Entspannung und Ruhe ärztlich verordnet bekam, auch viel frische Luft, verbrachte sie die letzten drei Wochen in einer der Holz-Baracken des Gesundheitswesens, im >Müttererholungsheim< auf dem Krähenberg im nahegelegenen Dörfchen Caputh und ebendort kam dann auch Jörg auf diese Welt.


1955

Richard: Im April stehen bei mir zwei Genossen der Sozialistischen Einheitspartei (SED) mit einem Anliegen, eher einem Auftrag, in meinem Laden: Ich möge doch das Schaufenster meines Geschäfts zum 1. Mai, dem Kampftag der Werktätigen würdig ausschmücken. Sie hätten da so ihre Vorstellung bereits fertig mitgebracht: Rote Fahne der Arbeiterklasse, den Hintergrund füllend, davor in groß und diagonal eine zentral vorgegebene Mai-Feiertags-Losung (auf die sie noch warten), etwa in Pappbuchstaben auf Holzleisten und vielleicht noch ein von mir geschriebenes feierliches Kampfgedicht. Neue Klassiker gäbe es da mehrere. – Ich war perplex, sagte, dass ich mir etwas zur Gestaltung überlegen werde. Mein dann verwirklichter Beitrag ist in der Bilderserie enthalten.


Anne-Marie: In diesem Jahr wählt mein Cousin Hellmut Runge (1903–1985) die benachbarte Stadt Berlin, seine Geburtsstadt und auch die seiner Tochter, wieder als Wohnort, zieht also von Potsdam-Babelsberg wieder zurück nach Berlin, nach Berlin-West. Er hatte bisher im Nachbarhaus Rudolf-Breitscheid-Straße 45 den Laden: Runge, Sport- und Spielwaren. Die Umzugsdistanz zu seinem neuen Wohnsitz ist mit der S-Bahn eine kürzere Wegstrecke. Das ist keine große Entfernung aber in der Augen der DDR-Regierung ist dieser Wohnortwechsel ein Landesverrat, ein Verbrechen mit der Bezeichnung: Republikflucht! Viele -zig Tausend, ja mehr als zwei Millionen Menschen verlassen das Land des Arbeiter- und Bauern-Staates und damit die Diktatur der Funktionäre, bis 1961 – deshalb glaubte man, mit härtesten Maßnahmen gegensteuern zu müssen. Das Verlassen des Gebiets der DDR wird mit langjährigen Gefängnisstrafen belegt – für den Fall, dass man beim Grenzübertritt, mit der Absicht des Wohnortwechsels, erwischt wird. Auch Hellmut benötigte für diesen Umzug keinen Möbelwagen, sondern lediglich seine Aktentasche. Seine Ausreise für den Wohnsitzwechsel hatte zur Folge, dass er für die nächsten Jahre keine besuchsweise Einreiseerlaubnis für das Staatsgebiet der DDR bekam. So durfte er seine inzwischen betagte Mutter, die das Geschäft vorerst noch allein weiter betrieb, nie mehr besuchen, auch nicht Jahre später, bereits dauererkrankt zu ihrem 90-sten Geburtstag und er erhielt ebenso keine Genehmigung, sie im Sterbezeitraum noch einmal zu sehen. Genauso verwehrte ihm die DDR-Obrigkeit die Teilnahme an der Beerdigung seiner Mutter. So erging es Ungezählten! Und so sahen auch wir den Cousin Hellmut über viele Jahre nicht mehr.


1956

Am 01. Mai besteht das Geschäft nun 30 lange Jahre. Was alles ist in jener Zeit passiert. – Ein Detailbericht könnte Bände füllen. Für uns aber ist es zu diesem Termin wieder Zeit für ein Familien-Entwicklungs-Foto. Im Jahr 1942 erzählten wir euch Lesenden vom Kinderkopf Mirko. Ich hole das Bild noch einmal hervor. Und Ihr habt die Möglichkeit zu vergleichen. Gleicht unser jüngstes Kind doch unserem damaligen Ideal! Könnten wir ein Hologramm fertigen und beide Köpfe in die gleiche Stellung drehen – die Ähnlichkeit , ja, die Übereinstimmung zwischen „Jörg und Mirko“ wäre eine noch Verblüffendere. Er ist uns doch sehr gut gelungen! ... und in beiliegender Bilderserie auch von euch betrachtbar.


Im Herbst ziehen wir mit der Wohnung in die Wattstraße 12, zum Hauswirtsehepaar Karl und Martha Klawon, zwei Jahre später dann auch mit dem verkleinerten Geschäft dorthin, bis es dann durch das Rentenalter im Wesentlichen endete.

Beim Reinigen und dann Einrichten der Wohnung hören die Kinder (wir Großen sind noch im Geschäft) die Nachrichten über den Volksaufstand in Ungarn für freie Wahlen, politische Unabhängigkeit und demokratische Verbesserungen. Anfang November wird diese Bürgerbewegung für Freiheit von der sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen. Später wird man wissen: Mehr als 3.000 Menschen starben. Wir denken dabei zurück in unser Jahr 1953 und die Ereignisse um den 17. Juni.


1957

Festlich wird die Konfirmation unserer Tochter begangen.


1960

Konfirmation unseres Sohnes Christoph, nach einer aufgeregten parteipolitischen Bearbeitung von uns Eltern, dass doch selbstverständlich die sozialistische Jugendweihe in diesem Jahr den Vorrang habe. Wir überließen die Entscheidung unserem Sohn. Aber auch der hitzig-fanatische Umgang mit seinen Eltern hatte die Entscheidung in ihm bereits getroffen.

Richard: Im August fahre ich mit unseren beiden Großen in den Urlaub, in den Harz nach Schierke. Anne-Marie und unser Jüngster sowie der Hund „hüten“ derweil zu Hause das Geschäft. Anders und gemeinsam ließ es sich leider nicht einrichten. Es sind gute Tage im Handwerker-Erholungsheim. Noch kann niemand ahnen, dass, genau wie damals an der Ostsee (Stettin und Kolzow im Wolliner Gebiet) auch hier der letzte Urlaub für uns möglich ist. Der Urlauberort Schierke und der Brocken werden ab August 1961 im gesperrten innerdeutschen Grenzgebiet liegen.

1961

1. Mai: 35 Jahre seit der Geschäftsgründung.

Nun ist es soweit. Am Sonntag, den 13. August, werden die Grenzen der DDR geschlossen und in der Folgezeit weiter befestigt, da die Flüchtlingsströme aus dem Paradies eines jeden Arbeiters und Bauern in die BRD immer stärker wurden. Ein „Antifaschistischer Schutzwall“ gegen die „Bonner Ultras“, wie Walter Ulbricht gern sagt, nachdem er den Begriff „Mauer“ abgelegt hat. Zum Andenken an dieses Ereignis verleiht ein Teil des Volkes dem Staatsoberhaupt unter weiteren Ehrenbezeichnungen nun auch den Namen: >August XIII.<

Anne-Marie: Es stirbt im Städtischen Altenheim, Potsdam, Holzmarktstraße 5, 91-jährig, Helene Runge, geb. Beerbaum (13. April 1870–31. Oktober 1961). Sie ist die Mutter meines Cousins Hellmut. Am 07. November wird sie bestattet. Ihr Sohn Hellmut, der in West-Berlin lebt, hat von der DDR-Führung keine Einreiseerlaubnis zu ihrem Geburtstag oder zur Beerdigung bekommen.


1963

Der Betrieb geht am 01. Januar '63 für 4 Jahre auf den Namen von Anne-Marie über, danach werden wir die Selbständigkeit aufgeben.

Das Leben des Terriers >Struppchen< neigt sich offenbar seinem Ende zu. Wir wissen ja nicht, wie alt er wirklich ist; bei uns wohnte er etwa ein Jahrzehnt. Als für ihn das Dasein erkennbar zur Qual wurde, erlöste ihn sanft die Tierärztin, Frau Dr. Worseck, in der Karl-Liebknecht-Straße 114. Sie sagte uns später, dass es gut so war, weil der Krebs die Funktion seiner Organe bereits stark beeinträchtigt hatte.


1964

Aus dem Tierheim bekommen wir nun den ebenfalls bereits erwachsenen schwarz-weißen Glatthaar-Terriermischling >Luxi<, der bis etwa 1972 mit uns wohnen wird.


1966

Im vorigen Jahr hat Richard das Rentenalter erreicht. Per 31. August dieses Jahres haben wir den Betrieb nach 40 Jahren offiziell aufgegeben, abgemeldet, geschlossen.

Ein wehmutsvoller Rückblick – und eine große Erleichterung.


1967

Anne-Marie: Von 1967 bis 1975 bin ich nun außer Haus tätig: In der Oberlin-Klinik und dort sowohl in der Reparatur-Annahme der Orthopädie, als auch in den Verwaltungen des Handwerkerhauses und des Mutterhauses, werde als Bürokraft mit verschiedenen Aufgaben geführt. Der Stundenlohn beträgt 2,71 MDN (Mark der Deutschen Notenbank der DDR). –

Eine notwendige Schilddrüsenoperation hätte mich fast das Leben gekostet. Bei der Anamnese war wohl nicht schriftlich erfasst worden, dass ich ein Blutverdünnungsmedikament nehmen muss und so erlitt ich einen unvorhergesehenen starken Blutverlust, da die Blutung während der Operation schwer zu stillen war.


1968

In diesem Jahr wird unser Jüngster eingesegnet. Das letzte Fest dieser Art in unserer Familie.


1973

Unsere Tochter heiratet im Mai den Schlosser-Meister F. W. Sch. und unsere 1. Schwiegertochter wird in Berlin von einem kräftigen Jungen entbunden.


Nähere Angaben entfallen hier und bei folgenden Ereignissen, da noch ein gewünschter Datenschutz besteht – über noch lebende Menschen wird nicht detailliert berichtet. – Die Texte, in denen die inzwischen erwachsenen Kinder eine wesentliche Rolle spielen würden, werden zwangsläufig kürzer.


1976

Wir ziehen von der Wattstraße 12 zum neuen >Wohngebiet Stern<, Johannes-Kepler-Platz 2, Wohnung 35. Es ist ein Neubau mit Fernheizung im 5. Stockwerk. Ein Jahr später werden wir sogar wieder einen Telefonanschluss erhalten! Anne-Marie ist zählt nun 63 Lenze.


1983

Anne-Marie: Am 02. März schließt sich Richards Lebenskreis. Er wurde 82 Jahre und 5 Monate alt.

Wir haben eine an Körper und Seele kräftezehrende mehrjährige Zeit des Pflegens durchstanden.

Am 06. Juli vollende ich mein 70. Lebensjahr und meine 2. Schwiegertochter bringt am gleichen Tage einen Jungen zur Welt.

Die Wohnung am Keplerplatz ist für mich alleine zu groß und geeigneter Wohnraum wird dringend benötigt. So kommt ein Wohnungstausch zustande und ab 01. Oktober lebe ich in der Albert-Klink-Straße 3 (das ist die frühere und auch wieder spätere Burgstraße, die die Nikolaikirche mit der Heiligengeistkirche verband). Wieder ist es die 5. Etage. Es ist eine 1-Zimmer-Wohnung mit einem „Schlafalkoven“ und einem Balkon über die Zimmerbreite. Sehr schön. Vom Balkon blicke ich über die Freundschaftsinsel und die Havel zum Park Babelsberg. Bis zum Frühjahr 1997 werde ich in diesem Wohnraum leben.


1984

Ich versuche, meinen kleinen Bekanntenkreis mit gegenseitigen Besuchen zu pflegen. Auch finden wir uns öfter in der Gemeinschaft der Christoffel-Blindenmission zusammen zu Vorträgen, Gedankenaustauschen und um gemeinsam Freundesbriefe versandfertig zu machen.

Aktiv bin ich auch in der gegenseitigen Hilfe in der Hausgemeinschaft und deren Umfeld.

An einem kalten Wintertag wird sich ein kranker streunender Kater zu mir gesellen, den ich Peter nenne. Bald wird er zum schmusigen Haustier – ein treuer Kamerad.


1985

In seiner Geburtsstadt, in Berlin-Charlottenburg, stirbt mein guter Vetter Hellmut Runge (09. August 1903–23. Mai 1985), im Alter von 81 Jahren, während einer Narkose für einen kleineren operativen Eingriff. Für ihn war der Übergang wahrscheinlich nicht schwer – obwohl er nach seinen Planungen noch einiges vorhatte. Hellmut war uns lebenslang sehr freundlich zugetan und auch er musste „auf seinem langen Weg“ viele Tiefen durchwandern.


1989

Am 09. November. Nach monatelangen Demonstrationen des Volkes, werden plötzlich und unerwartet die Grenzen der DDR nach Berlin und zur Bundesrepublik geöffnet. Nun, nicht alle gleichzeitig – dazu war der Arbeiter-, Bauern- und Grenzsoldaten-Staat zu sehr selbst von sich überrascht – aber ab sofort uneingeschränkte Reisefreiheit. Ein Zeichen dafür, dass die Regierung der DDR ihren Staat, nach 40 Jahren schwieriger Herrschaft selbst auflöst. Wer hätte das gedacht?


1993

Am 06. Juli begehe ich die Vollendung meines 80. Lebensjahres, im Familienkreis festlich begangen. Für die Kinder habe ich ein Studio-Foto von mir fertigen lassen. So, meine ich, kann man mich gern in der Erinnerung behalten – besser als ein Bild, später aus letzten Tagen. Leider kam ich auf dem Weg zum Fotografen in einen Regenschauer, „der meine Frisur nach seinem Willen legte“. Macht nichts – ist es doch Natur.


1994

Am 16. Juli 1994 stirbt meine Freundin aus der Jugendzeit, Margarete Baensch geb. Barsch im Alter von 80 Jahren. Sie war am 29. Mai 1914 geboren worden. Wir waren, wenn auch lange Zeit mit örtlicher Distanz, wie ein Herz und eine Seele.


In dieser Zeit wird unser Miethaus modernisiert. „Totalsanierung unter bewohnten Bedingungen“. Das ist ein lang anhaltender Arbeitsprozess mit viel Lärm, Schmutz, Unruhe, dem Herausreißen der Elektroleitungen (mit dem Aufstemmen der Wände), Auswechseln der gesamten Heizungsanlage, Demontage der Wasser- und Abwassereinrichtungen bei zeitweiliger Nichtbenutzbarkeit der Toilette, Herausreißen aller Fenster und Türen mit ständiger Zugluft, Balkonabriss und Neuaufbau, täglich erforderliche Bau-Reinigungen – alles über einen langen Zeitraum mit Verzögerungen, mit Gerüst vor dem Haus und undurchsichtigen Planen zugehängt. Notwendig auch die ständige Begehbarkeit der offenen Wohnung für die Handwerker. Eine enorme Belastung für die Bewohner. Wenige, die es konnten, zogen aus, andere waren tagsüber auf der Arbeit aber solche alten Leutchen wie ich, mussten die gesamten Schwierigkeiten über viele Monate aushalten.


1997

Im Februar habe ich eine Darmoperation im DRK-Krankenhaus Berlin-Westend. –

Besonders meine Tochter und der Schwiegersohn unterstützen mich ständig sehr. Mit den Fahrereien zwischen beiden Wohnsitzen, meinem und dem ihrigen, ist das ein starker Aufwand. Zufällig ergab es sich, dass bei meiner Tochter im Miet-Haus eine kleine Wohnung frei wurde, so dass ein Wohnungstausch äußerst günstig erschien, um die Belastungen zu veringern.

Zum 30. April 1997 verabschiede ich mich deshalb von der Hausgemeinschaft der Albert-Klink-Straße 3.

Die „Kinder" kamen, so kann man es sagen, vonnunan beinahe nicht mehr zu mir zum Besuch, weil wir ja jetzt Tür an Tür wohnen, Nachbarn sind. Vom 1. Mai 1997 bis zum 30. November 2001 wohne ich nun in der Potsdamer Waldstadt-I, Johannes-R.-Becher-Straße. Diesmal im
1. Obergeschoss und vor dem Balkon habe ich einen großer Schatten spendenden Baum. An der Informationstafel des Hauses habe ich mich gleich schriftlich „als die Neue“ vorgestellt. Aber umgezogen bin nicht nur ich, sondern Kater Peter ebenfalls – das muss ich nachtragen.

Am 02. August wird mein Enkelsohn Johann eingeschult. Kinder, wie die Zeit vergeht.


1998

Meine großen Kinder begehen in diesem Jahr ihre Silberhochzeit und wir alle gemeinsam meinen 85. Geburtstag. Sie organisieren eine festliche Fahrt zum Großen Stechlin.


Der Platz der Einheit, er heißt seit der Teilung Deutschlands so, früher Wilhelmplatz, wurde mit zwei beleuchteten Diagonalwegen neu gestaltet.


Am 11. Dezember '98 starb Kater Peter nach einem langen Katzenleben an Altersschwäche. Im kalten Dezember 1984 war er als erwachsenes Tier „von der Straße“ zu mir gekommen. 14 Jahre lebten wir einträchtig harmonisch zusammen. Er war mir eine Hilfe, Freude und Liebe. (Die Fotos zeigen ihn im November 1990.)


1999

Es stirbt meine Freundin Luzie Kaiser, geb. Vicum, verwitwete Barth (1913 –1999, 86 Jahre). Unsere Freundschaft begann in unserem Einschulungsjahr 1919.

Der Kreis meiner guten Bekannten wird immer kleiner. – Ich zähle sie hier, für euch, liebe Leser, nicht alle auf, obwohl sie ein ehrendes Erinnern, ein gedankliches Wachhalten verdient haben. Die Todesnachrichten vieler jahrzehntelanger Wegbegleiter häufen sich – aber kaum kommt etwas Neues hinzu – das ist der Lauf der Zeit.

Und nun doch etwas, dass zu den Neuigkeiten gehört: Mein zweiter Sohn heiratet an seinem Geburtstag seine nun schon langjährige Freundin. Ein großes erfreuliches Doppelfest.

Es bleibt mir nicht erspart, dass ich zu einer zweiten Darmoperation in die Klinik muss.


2000

In diesem Jahr, so wurde es angekündigt, werden nun auch hier in der Joh.-R.-Becher-Straße die Häuser saniert. Ach du Schreck. Erneut die gleiche Tortur, die ich schon in der Albert-Klink-Straße über eine lange Zeit durchlebt hatte und aushalten musste.

Eine weitere Operation steht wegen Brustkrebs an, am 04. Juli in unserer Potsdamer Ernst-von Bergmann-Klinik.


31. Dezember 2000 * Ein neues Jahrtausend beginnt – das erlebt nicht jeder * 01. Januar 2001.


2001

Einige Streiflichter aus dem derzeitigen Baugeschehen im Stadtzentrum:

In die Neugestaltung der Freundschaftsinsel wurde viel Geld und Arbeit investiert. Sie erhielt eine zusätzliche Zugangsbrücke an der Mündung der Nuthe in die Havel. Die Insel wird einen Teil für die diesjährige Bundesgartenschau bilden.

Wiederaufbau des 1965 /1966 gesprengten Fortunaportals (von 1701) zum Hofareal des Stadtschlosses. Schon Ende des nächsten Jahres soll es sich wieder als „Zugangspforte“ in bis zu 23 m Höhe am Alten Markt erheben.

Im „Lustgarten“ (oder besser: am Exerzierplatz), wird auch wieder bald das Schlossbassin mit der Figurengruppe um Neptun entstehen.

Am Neuen Markt wird derzeitig der Kaiserlich-Königliche Kutschstall restauriert, der anschließend musealen Zwecken dienen soll.

Fast beendet sind die Sanierungsarbeiten am Geburtshaus meines Vaters, Schwertfegerstraße 8 / Ecke Schloss-Straße. Die damalige Fast-Ruine erstrahlt in neuem Glanz. Was doch inzwischen so alles ermöglicht werden konnte.

Für den Wiederaufbau, vorerst des Turms, der früheren Garnisonkirche wird fleißig Geld gesammelt – für den Ort, diesen wieder erlebbar zu machen, an dem auch so einige unserer Vorfahren-Verwandten getauft und getraut wurden. Dafür bin ich dankbar. Ein Ort der Versöhnung ist für alle ein Gewinn.

Muss man, wie eine Anzahl von Gegnern des Vorhabens es tut, störrisch langzeitig darauf beharren, da der Berliner Reichstag 1933 in Berlin in Brand gesetzt und deshalb dieser Ort für einige Stunden als Behelf für die erste Sitzung des neuen Reichstages bestimmt wurde, dass sich Hindenburg und Hitler vor dem Haus die Hand gaben, Reden geschwungen wurden und dieses Gotteshaus nur als Zeichen des Militarismus gelte – es deshalb nicht recht sei, es für friedliche Zwecke, im Sinne der Toleranz und der Versöhnung, wieder aufzubauen.

Ich dagegen meine: Viel mehr Toleranz, Versöhnung und Nächstenliebe, viel mehr harmonisches Miteinander sind nötig! Wir werden uns mit einer Spende beteiligen. –

Nicht vergessen werden darf der erneuerte Bau des früheren Saals der Nikolaikirche, dem neuen Konzerthaus in der Wilhelm-Staab-Straße.


Manches jedoch kommt allerdings anders, als man denkt und wünscht. Im Herbst 2001, am
12. Oktober, stürzte ich in der Wohnung und zog mir dabei einen Oberschenkelhalsbruch zu. Mein 27-jähriger Enkel Frank fand mich, noch am Boden liegend, als er von der Arbeit kam, half mir und informierte Rettungskräfte sowie seine Eltern, meine Tochter und Schwiegersohn. Im Krankenhaus stellte mich die Operation wieder her, doch eine Wiederholung eines solchen oder ähnlich dramatischen Zwischenfalls, wollte niemand riskieren – ohne eine Tagesbetreuung.

So wurde ein Heimplatz für mich in Erwägung gezogen. Der Gedanke, die persönliche Freiheit aufzugeben, fiel mir unendlich schwer – weil zwar der 88-jährige Körper nur noch geringer belastbar ist, aber der Kopf klar, der Geist frisch. Die Suche einer geeigneten Betreuung mündete in die Entscheidung zu einem Platz im Seniorenheim in Ferch, Burgstraße 7 ... in einem sehr schönen großen Zimmer.

Den Umzug erledigten die Kinder und der Enkelsohn, währenddessen ich in der Wohnung meiner Tochter den Großteil dieses Tages verbrachte. Am Nachmittag, zur Kaffeezeit, wurde ich abgeholt und mein eigenes gewohntes Mobiliar stand bereits frisch poliert in meinem neuen Zimmer der Seniorenresidenz Ferch, als hätten es nie woanders gestanden. – Hier durchlebe ich nun meine Zeit von Dezember 2001 bis zum Dezember 2004. Aber hier ist man, wenn auch betreut, als ältere Dame eben nicht sein eigener „Herr“ – das Leben auch hier nicht ohne Schwierigkeiten und Hindernisse ... angefangen von vergessener Essensversorgung bis zu unerwünschten Besuchen geistig verwirrter Miteinwohnerinnen.– Zumindest kommen die Kinder sehr häufig zu Besuch und zu gemeinsamen Spaziergängen – ich allerdings im Rollstuhl.


Unser guter treusorgender Hans Otto (1925–2001) – aus meiner Seehafer-Verwandtschaft – starb am 25. November. Nun ist Marianne ohne ihren Hanselmann. Sie, geboren 1828, wird ihm am
15. März 2006 folgen und sind dann auf dem Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf wieder vereint.


2002

Unser Geld. Der Staat verabschiedet die bewährte D-Mark mit deren Pfennigen – der EURO, mit Cent-Münzen, kommt.

August. Hochwasser, auch an Elbe und der Oder – mit vielen Schäden.


2003

In diesem Juli mein 90-ster Geburtstag – aber gemeinsam mit meinem Enkelsohn Martin, begehen wir zusammengezählt den „110.“.


So gestaltete sich, kurzgefasst, diese Endphase meines langen, meist angestrengten Daseins.


Am 12. Dezember 2003 starb Anne-Marie Janecke, geb. Sommer.


- Ende dieses doppelten Lebenslaufes des Ehepaares Janecke oo Sommer -


Hier geht es zu den Bildstrecken:


- Die Kinder- und Jugendjahre des Alfred Richard Janecke (1900 bis 1936)

- Die Kinder- und Jugendjahre der Anne-Marie Sommer (1913 bis 1936)


- Die Jahrzehnte der gemeinsamen Lebenszeit (1936 / 1941 bis 1983 / 2003)