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Mein Aufenthalt im Kindererholungsheim „Grünheide“,

auch Kindergenesungsheim genannt,

in Grünheide, Kreis Auerbach, im sächsischen Vogtland,

im März 1955, in meinem 9. Lebensjahr – während des 3. Schuljahres


Bearbeitung: ergänzt im Mai 2025 Kontaktpartner: chris@janecke.name

Zu diesem Bericht gibt es einige Bilder – bitte hier klicken.


Die Einladung zum erholenden Reisen kam an meine Eltern und an mich von der Sozialversicherung. Die ärztliche Kinder- und Jugendfürsorge in Potsdam-Babelsberg hatte für mich einen Erholungsantrag gestellt, der befürwortet wurde. Im März soll es nach Grünheide gehen. Während die Menschen in meiner Heimatregion sich auf den Frühling einstellenman denkt schon langsam an Ostern, an kurze Hosen und weiße Kniestrümpfe für den Sonntag, – ist es dort, im fast sibirischen sächsischen Mittelgebirge, noch eisiger Winter und auch tief verschneit. Darauf wurden die Eltern hingewiesen und dementsprechend auch der Koffer gepackt.



Schneeflöckchen, Weißröckchen


Schneeflöckchen, Weißröckchen, jetzt kommst du geschneit,

du wohnst in den Wolken, dein Weg ist so weit.


Komm, setz dich ans Fenster, du lieblicher Stern,

malst Blumen und Blätter, wir haben dich gern.


Schneeflöckchen, Weißröckchen, komm zu uns ins Tal,

dann bau'n wir den Schneemann und werfen den Ball.


Text nach Hedwig Haferkorn



Herrliche Winterwochen im Kindergenesungsheim

Zum ersten Mal in meinem Leben verreise ich ganz allein – also mit vielen anderen Kindern. „Verschickt“, so heißt es in der üblichen und Amts-Sprache, werde ich. Das sollten wir fröhlich sehen, obwohl die kleine Silbe „ver-“ für mich meist was Abträgliches enthält, wie bei Versehen, vergessen, verschnitten, versäumen, verbieten, verteufeln, vertauschen, verzweifeln, verzagen, ver... und nicht gefunden, ver-sucht, ver-schickt – ich möchte aber gern auf dem richtigen Weg ans Ziel kommen. Bestenfalls also ge-schickt werden. Völlig ohne ver- ... .

Ich bin jetzt 9¼ Jahre alt. Die Abreise zur Erholung ist nicht so fröhlich, die Zugverbindungen weisen größere Zeitabstände auf. Es ist recht kalt. Wir, also Mutti und ich, mussten bereits gestern am sehr späten Abend in Potsdam-Babelsberg aufbrechen und Mutti brachte mich in der Nacht zu dem noch kriegsruinösen Stettiner Bahnhof, dem späteren Ost-Berliner Nordbahnhof, von dem der Zug in den winterlich sonnigen Süden abfahren sollte. Einige Stunden hatten wir müde aber geschützt vor dem Schneefall in dem ziemlich zugig-feuchtkalten, dunklen Bahnhofstunnel, dem Bahnsteigverbinder auf dem Vulkanfiber-Koffer sitzend gewartet, dösend, halb schlafend. Irgendwann rief dann eine Frau im Dunkeln den Zielort unserer Reise und anschließend unsere Namen auf. Dabei halfen ihr Taschenlampe und Namen-Listen. Äußerlich bekleidet war sie mit einem dunkelgrauen Lodenmantel, auf dessen Rücken mit Sicherheitsnadeln ein Tuch mit „Rotes-Kreuz auf weißem Grund“ befestigt war. So erfuhren wir, zu wem wir gehörten, bis dann das Geschiebe im Dunkel zwischen all' den fremden müden Menschen in den frühen Morgenstunden begann und sich der Zug später, nach kurzem Abschied, elternlos in Bewegung setzte. Sehr viele Kinder waren es wohl nicht aus dem Raum Berlin, wie ich später hörte aber eigentlich nur teilweise verstand. Der Zug hatte mehrfach lange Aufenthalte. Vielleicht waren die Kohlen für die Lokomotive aufgebraucht oder zu nass – möglicher Weise das Wasser alle oder es gab andere Ursachen – wir erfuhren es nicht und wir wechselten zwischendurch auch die Bahn. Dass an diesem Tag kein Kind ver-lorenging war für mich schon erstaunlich. Am Nachmittag, als es bereits wieder dämmerte, kamen wir in Auerbach an – in einem anderen Land, im Vogtland. Dort stiegen wir in einen alten Bus, der uns, inzwischen schon wieder im Dunkeln, nach Grünheide brachte. Das war dann aber eine nur kurze Strecke – ungefähr fünf Kilometer. – Soweit meine Erinnerung an diese Reise.


Grünheide, mitten im Wald gelegen, gehört zum Ort Schnarrtanne.

Das Gebäude der Erholungs-Anlage in dem nun auch ich als Gast wohnen darf, heißt Haus Freundschaft“. Das hört sich ja schon mal freundlich an. Nach der Begrüßung und einem Abendessen packen wir den Koffer aus und die Erzieherin prüft, ob nach dem Inhaltsverzeichnis auch alles vorhanden ist. – Schwupp, schon ist der Ankunftstag vorbei.

Ganz besonders eigen ist dieses Gefühl, das zwar heimatliche aber ganz neue duftende Stück Seife aus der Schale zu nehmen, ähnlich wie die Zahnbürste, die nun, anders als sonst, in einem eigenen Behälter mit Lüftungslöchern liegt. Eine letzte Verbindung zur Heimat und doch ganz anders. Anders ist das als zu Hause. Zu Hause mag ich zum Waschen der Hände die braune Glycerin-Seife, die so halbdurchscheinend ist.


Erst am nächsten Tag können wir draußen, nun im Tageslicht, so recht erkennen, wo wir uns befinden. Wir wohnen in einem sehr schönen älteren, dunkelbraunen Holzhaus und alles ringsherum ist tief verschneit. Die Nadelbäume ächzen unter der Last des Schnees oder –schnarren sie gar? Auf unseren ersten Spaziergängen erfahren wir, dass die vielen kleinen Bäche trotz des strengen Frostes nicht zufrieren, weil das Wasser dafür zu schnell fließt.

>Grünheide< – das ist keine Stadt, nicht mal ein Dorf. Früher, um das Jahr 1700, bezeichnete man damit das Forsthaus, nur ein Grundstück, auf dem vielleicht 5 bis 8 Personen wohnten. Seltsam finde ich das: Das Forsthaus mitten im dunklen Walde aber dessen Name stammt aus der hellen Heide – aus einer eigentlich baumarmen besonnten Landschaft, wo der Heidrich lebt und auch die Erika – nicht aber der Forstmann. Hier im Land der Vögte ist manches völlig anders. (Vögte waren damals Amtspersonen, herrschende Verwalter – die mussten es eigentlich wissen.)

In der weiteren Umgebung bestehen von alters her bäuerliche Wirtschaften, finden wir den Bergbau aber hauptsächlich die grüne Waldwirtschaft.

Im Jahre 1888 erholten sich hier im Walde erstmals 24 Großstadtkinder und

im Jahre 1934 sollen bereits 1.500 Gäste diese Sommerfrische aufgesucht haben. Aber es waren das nicht alles Gäste der Försterfamilie.

Zwischen 1940 und 1950 sah man hier hauptsächlich Kinder, deren Familien im Krieg „ausgebombt“ waren. Ab 1950 begann der Hochbetrieb medizinisch begründeter Kinderkuren – und jetzt gehören auch wir zu den genesenden „Luftschnappern“.

Ich habe die alt-geerbten schwedischen Winterstiefel an, mit der speziell gefalteten, beiderseits seitlich angenähten Lasche unter den Schnürsenkeln, bei der kein Schneeschmelzwasser eindringen kann. So etwas hat hier noch niemand gesehen. Es wird im Heim sehr darauf geachtet, dass die Schuhe nach der Heimkehr von den Spaziergängen ordentlich getrocknet und anschließend gut gefettet werden.

Gleich am Tag nach der Ankunft schreiben wir nach Hause, dass wir gut angekommen sind und dass es uns hier gefällt. Unsere vollständige, etwas sperrige Absender-Anschrift lautet:


Sozialversicherung

Anstalt des öffentlichen Rechts

Kindergenesungsheim „Grünheide“

Grünheide Kreis Auerbach (Vogtland)


Ich war schon bereit dazu, lieber eine Kurzfassung davon als Absender für den Brief zu wählen – aber wir brauchen überhaupt keinen Absender auf den Umschlag schreiben, denn die Heimleitung drückt einen Absender-Stempel auf die Rückseite. Nur bei den Ansichtskarten werden wir kürzend tätig, weil der Stempel zu groß ist – aber wir müssen ja sowieso auch auf das Angeben einer Straße mit Hausnummer verzichten.

Später schreibe ich noch einige Kurzbriefchen oder Ansichtskarten. Wir haben davon mehrere Sorten: Das Bild vom Haus „Freundschaft“ und das Foto vom Haus „Junger Pionier“ – von diesem eine Sommer- und eine Winterausfertigung sowie eine Karte mit zwei Außenansichten des „Jungen Pionier“, dem Speisesaal und einer Jungenschar im Waschraum. Ich wähle „mein“ Holzhaus aus, im Schnee zwischen den Tannen stehend. Auch meiner ältesten Patentante Elisabeth schreibe ich ein kurzes Briefchen.

Klar, wir Jungen im Erholungsheim tauschen unsere Erfahrungen aus aber es dauert eine Weile, bis ich bestimmte Worte auch verstehe, die aus den Mündern der Kinder kommen, die aus sächsischen Ballungszentren der Industrie zur Erholung hierher geschickt wurden.

Zum Beispiel wusste einer dieser Jungen, dass ein bestimmtes Auto überhaupt nicht mit Benzin fahren könne, sondern dazu „Euel“ brauche, was so ein regionaler Begriff für Dieselkraftstoff ist. Das war mir dann bald klar wie dicke Tinte und seine wichtige Mitteilung war so etwas wie „Eueln“ nach Athen tragen. Den Verwandtschaftsgrad zwischen ihm und seiner „Oumi“ konnte ich mir auch leicht erschließen. Doch dann wurde es für mich schwierig: das „Ei for bipsch“ (oder so ähnlich) hat nichts mit Eiern zu tun. Man soll es angeblich ins Deutsche übersetzen können mit: „Sieh mal einer an“ oder möglicher Weise mit „Na, so 'was aber auch“ oder vielleicht „Na, da schau her“ oder man will damit einfach nur „Aha“ zum Ausdruck bringen. Das musste ich erst lernen. Dann trieben sie es auf die Spitze und es begann mir gegenüber ein richtiges Angeber-Lehrprogramm. So sollte ich, nur als eines der Beispiele, darlegen, was „ä Modschekiebsche“ ist, obwohl es jetzt, im Märzenschnee, überhaupt keine Marienkäfer zu besichtigen gibt. Auch das habe ich nicht alleine herausbekommen. Manches aber kenne ich inzwischen schon. Diese Lehrstunden haben meine Sinne geschärft, dafür bin ich dankbar – sonst hätte ich viel, viel später zum Beispiel nicht „aus dem Handgelenk“ übersetzen können, was wissende Sachsen beispielsweise unter einer „Berdenacksbrieh'“ verstanden („Pertinax-Brühe“, ein erhitztes, noch flüssiges Kunstharz, in Verbindung mit Baumwolle, in der DDR zu Autokarosserien verarbeitet. P 70, Trabant). Für manchen der Südländer mag das eine vertraute Begrifflichkeit darstellen, für andere eine unverstehbar heimische Vokabel sein, bei der auch kein Konrad Duden hilft. Für mich jedoch war das ratende Übersetzen nach diesen Übungen mitunter etwas leichter.

Insgesamt wurde mir aber recht deutlich bewusst, wie sehr es mir bisher an Bildung mangelt. Man darf es auch nicht an Demut fehlen lassen. Und wie eingangs erwähnt: Eine eher geringe Anzahl von Kindern kam aus der Berlin-Brandenburger Region. Man kann einfach nicht von „der deutschen Sprache“ reden – weil es so viele unterschiedlicher Mundarten gibt.

Solche Sprachstudien und Bildungsstunden können viel zur Erholung beigetragen.

Das Wichtigste für die Erholung ist aber trotzdem Bewegung an frischer Luft und auch das gute Essen.

Im Winterwald dunkelt es schnell, deshalb sind wir oft vormittags draußen und nachmittags, nach Mittagsruhe und Vespermahlzeit beim Spielen im Gruppenraum.

Schöne Berichte über viele lange Wanderungen müssen deshalb hier zu kurz kommen. Wegen des hohen Schnees können wir nicht einfach so durch den Winterwald laufen, sondern nur dort entlang, wo extra vorher Schneepflüge die Schneemassen zur Seite geschoben haben. Wir haben hier einen großen Holzkasten mit einer dreieckigen Grundfläche. Die unteren Holzkanten sind mit Eisenwinkelschienen ausgerüstet. Dieser oben offene Dreieckkasten ist mit vielen Feldsteinen extra beschwert und wird von zwei Pferden gezogen. So wird der Schnee zu den Seiten geschoben, gepflügt, ähnlich wie ein Boot sich durch das Wasser ... aber nicht von Pferden gezogen.

Dort, wo Bächlein (Rinselwässer) über Kiesel springen und das fließende Wasser an den Rändern den Schnee abwäscht, lugt das blätterlose Zweiggestrüpp der Blaubeeren hervor, die hier gern Schwarzbeeren genannt werden. Während der Zeit unseres Aufenthaltes zeigten sich uns aber weder Blaubeeren noch Schwarzbären.

Bei den Spaziergängen hören wir oft die Bäume im Wind knarren oder schnarren. Daher auch der Name des Ortes „Schnarrtanne“? – und ich dachte es wären Spechte, die da so schnell klopfen. Nein, nein, es ist alles ganz anders: Das Wort „Schnarre“ soll von der Misteldrossel stammen, für diese soll das ein Kosename sein. Der Name des Ortes bedeutet also: „Der Tannenwald, in dem sich der Schnarrenvogel oder die Drossel angesiedelt hat und dort (von uns liebkost) gerne lebt“.

Eine Anzahl von Volksliedern lernen wir hier. Dazu gehört zum Beispiel das mundartliche Lied über den Reh- und Hirsch-Geweihsammler, einem armen Wildteile-Dieb, der ein bisschen reicher werden wollte und dabei knapp an der Gefängnisstrafe vorbeikommt. Das geht etwa so:

... oder, etwas harmloser ist dieses Lied:

und bei beiden Liedern gehören immer froh juchzend jauchzende Jodler dazwischen, damit es so recht zu Herzen dringt sie beschönigen ein bisschen gekonnt den Text, wenn es wie oben um Diebstahl und Gefängnis geht. Su sein de Bergleit ebend. Da kann man nix machen. Es gab aber in dieser Zeit noch weitere Lieder.


Besonders schön ist es, wenn zur Nachtruhe die Erzieherinnen auf dem Flur – bei offenen Schlafzimmertüren – gemeinsam Abendlieder singen. Dazu gehören auch:


Komposition: Christ. Heinrich Rinck, im Jahre 1827

–––––

1. Abend wird es wieder, über Wald und Feld

säuselt Frieden nieder, und es ruht die Welt.


2. Nur der Bach ergießet sich am Felsen dort, wo er rauscht und fließend immer, immer fort.

Text n. Heinr. Hoffmann v. Fallersleben (1798–1877)

–––––

3. Und kein Abend bringet Frieden ihm und Ruh,

keine Glocke klinget ihm ein Rastlied zu.


4. So in deinem Streben bist mein Herz auch du: Einer nur kann geben – wahre Abendruh.


Musikal. Komposition: Peter Schulz, Berlin, 1790

–––––

1. Der Mond ist aufgegangen,

die goldnen Sternlein prangen

am Himmel hell und klar.

Der Wald steht schwarz und schweiget

und aus den Wiesen steiget

der weiße Nebel – wunderbar.

Sieben-Verse-Text: Mathias Claudius (1740–1815)

–––––

3. Seht ihr den Mond dort stehen?

Er ist nur halb zu sehen,

und ist doch rund und schön.

So sind so manche Sachen,

die wir getrost belachen, weil

uns're Augen sie nicht sehn.


Bei Wanderungen, Spiel und Sport, Essen, Trinken, Wandern, Fröhlichsein, Singen und vieler Ruhe, gehen diese drei besonders kurzen Wochen schnell vorbei und schon sehr bald werden wir wieder auf langen Wegen in die verschiedenen heimatlichen Ecken unseres großen Landes treisen.


Was ich jetzt noch nicht wissen kann: Diese Zeit in Grünheide ist ein großer Auftakt für weitere, in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren notwendige und ermöglichte Erholungsaufenthalte für mich, in verschiedenen Erholungseinrichtungen. Eine großartige Leistung von Sozialversicherung, dem Staatlichem Gesundheitswesen der DDR und der Volksbildung, wie eine solche wohl nicht von vielen Ländern dieser Erde vorgesehen wird und ermöglicht werden kann, – verordnet von dem durch die Schulen wandernden Arzt, der alle Schulgebäude und deren Insassen aufsucht und daraufhin wichtige Entscheidungen in Verbindung mit der Kinder- und Jugendfürsorge trifft.

Auch dafür bin ich dankbar. Danke!!! –



Erinnern sich denn heute noch weitere „Kinder“ an einen damaligen schönen Aufenthalt im Kindergenesungsheim „Grünheide“?

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