Zur Ahnenliste „Sommer“ im Familienverband „Janecke“ gehörend:
Notizen zum Lebenslauf des Witwers
Carl Heinrich Franz Runge
* in Berlin, 11. Mai 1846 bis † in Berlin, 19. Januar 1936.
Gelebt in Nowawes und in Neuendorf bei Potsdam sowie hauptsächlich in Berlin
sowie zum Lebenslauf seiner zweiten Ehefrau, der Witwe
Anna Louise Ulrich, geborene Schütte
* Stüdenitz (bei Breddin in der Prignitz), 28. Mai 1865 bis † in Berlin, 29. März 1946.
Zeitweilig gewohnt in Berlin, in Neuendorf bei Potsdam und wieder in Berlin.
Ein Beitrag zur Familienforschung und Heimatgeschichte
Autor und Kontakt für Fragen, Meinungen und Ergänzungen:
E-Mail: christoph@janecke.name Bearbeitungsstand: November 2020
Zum vorliegenden Text gibt es auch einige Bilder – bitte hier klicken.
Bei den oben Genannten handelt es sich um die Generation der Urgroßeltern des Autors. Wenn du Interesse hast, mehr darüber zu lesen, was sich in dieser Zeit im Leben der Menschen abspielte, so sieh’ bitte auch in die Dokumentationen „Zeitgeschichte“ und „Zeitgenossen“.
Für das Können gibt es nur einen Beweis: Das Richtige tun.
nach Marie von Ebner-Eschenbach, Schriftstellerin 1830–1916
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Wegweiser für die Beziehung zwischen den Hauptpersonen (Probanden) dieser Niederschrift und den heute lebenden Personen des „Familienzweiges“.
Diese Liste kann auch gern von unten (aus der Gegenwart) nach oben gelesen werden.
Generation |
Zeitraum |
Namen des jeweiligen Ehepaares
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08–12 |
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Natürlich reicht diese Liste viel weiter in die Vergangenheit zurück aber solche Angaben sind momentan für die Darstellung des Lebens dieses Paares (Fettdruck unten) nicht gefragt. |
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07 |
ca. 1780 bis etwa 1840 |
Johann Friedrich Daniel Runge oo Dorothea Sophie Seeger |
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06 |
1815 bis 1892 |
Erdmann Daniel Franz Runge oo Johanne Frieder. Henriette Ehm |
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05 |
I. 1846–1901 II. 1846–1946 |
I. Ehe: Franz Runge oo Marie Josephine Glaeser |
II. Ehe: Franz Runge oo Anna Louise Ulrich geb. Schütte
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04 |
1875 bis 1949 |
Rudolf Max Sommer oo Anna Margarethe Runge
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03 |
1900 bis 2003 |
Anne-Marie Sommer oo Alfred Richard Janecke
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02 |
1945 bis |
Der Autor dieser Niederschrift – Chris Janecke
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01 |
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Die Söhne des Autors (zu näheren Angaben besteht ein noch gewünschter Datenschutz)
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Die Ehepartner in der 2. Ehe der beiden Verwitweten: Carl Heinrich Franz Runge oo Anna Louise Schütte, verwitwete Ulrich
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Vater: Gen. 05 / Ahn 22.3 |
Mutter: Generation 05 / Ahnin 23
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Die Bedeutung dieser Familien-Namen |
Mittelhochdeutscher Über-Name. Es bezeichnet die senkrecht angeordneten Stangen zwischen dem oberen und dem unteren Holm an einem Leiterwagen. Berufs-Name für einen Stellmacher, Wagenbauer = Wagner.
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1. niederdeutsch für Schütze, 2. Erdwallaufschüttung, 3. Kornboden, auf dem Getreide aufgeschüttet wird, 4. ein(e) Rutsche-(Gefäß), 5. Anschwemmung oder Schuttanhäufung ––––––– Ulrich: althochdeutsch: erbe + reich |
Name:
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Runge |
geborene Schütte, verheiratete / verwitwete Ulrich, nunmehr verheiratete Runge aber später wieder eheverlassen.
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Vornamen: |
Carl Heinrich Franz
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Anna Louise |
Deren Eltern: |
Vater: Runge, Erdmann Daniel Franz.
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Vater: der Landwirt August Schütte in Stüdenitz, † vor 1902.
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Mutter: Ehm, Johanne Friederike Henriette |
Die Mutter ist Sophie Schmidt, † nach 1902.
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Geburt:
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Berlin, am Montag, 11. Mai 1846, abends 9½ Uhr. |
Geboren in Stüdenitz (bei Breddin in der Prignitz), am 28. Mai 1865.
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Taufe:
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Berlin, Sophienkirche, am 31. Mai 1846. K-Buch 1846, S. 242, Nr. 507
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Beruf / Stand:
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Zimmer-Meister und Maurer-Meister |
Besuch des Lyceums in Moabit, bei Berlin, Banklehre in Berlin, Mitarbeit im familiären Gastwirtschaftsbetrieb, Hausfrau und Mutter von 3 Kindern.
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Wohnanschriften vor der Eheschließung
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Franz Runge: Moabit, Spener Straße 32, F. R.: Neuendorf, Forststraße 15 (das ist nach 1945 die Dieselstraße 12). 1902: Karl Heinrich Franz Runge wohnt in Neuendorf, Spornstraße 1. 1902: „Elisabeth“ Ulrich, geb. Schütte in Neuendorf, Schulstraße 15. Gemeisames Wohnen in Neuendorf, Luisenstraße 16.
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2. Eheschließung / 2.Trauung der beiden verwitweten Partner |
Zweite Ehe: in Neuendorf, am Sonnabend, 05. Juli 1902. Zeugen der Eheschließung: Der Landwirt Wilhelm Schütte, 45 Jahre alt, wohnend in Stüdenitz und Emil Seehafer, Büroassistent, 36 J., wohnend: Berlin, Spener Straße 32. (Schwiegersohn des Bräutigams). Reg.-Nr. Standesamt 19 / 1902 auf Film P 275, Seite 58 (Stadtarchiv). Trauung in der Bethlehemkirche, Pfarrer Karl Schlunk. KB Nr. 17 / 1902. Die Braut ist 37 Jahre jung, Witwe. Der Bräutigam ist 56 Jahre alt, Witwer und bereits Rentier. Beider Eltern leben nicht mehr.
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Wohnanschriften während der Ehe
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Wohnanschriften nach der örtlichen Trennung der Eheleute |
1919: Charlottenburg, Grolmannstraße 22, zusammen in einer Wohnung mit Sohn Walter und Schwiegertochter Frieda, genannt: Friedchen. 1941: Wilsnacker Straße-Ecke-Birkenstraße. Hier im Krieg ausgebombt. Danach: Notunterkunft in einem Haus nahe der Deutschen Oper / vor dem Neuen Tor. 1946: In gemeinsamer Wohnung mit Sohn Walter und Frieda: Berlin Mitte, Brunnenstraße 42.
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Tod / Gestorben: |
Berlin-Charlottenburg, mit 89 Jahren, am Sonntag, den 19. Januar 1936, im Altersheim „Bürgerstift“ in Berlin-Westend an Altersschwäche. Bestattung am 24. Januar 1936 im Krematorium Berlin, Gerichtsstraße. Reg.-Nr. Standesamt Charlottenburg C 221 / 1936.
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Gestorben in Berlin am 29. März 1946, mit 80 Jahren, 10 Monaten, 1 Tag,
in der gemeinsamen Wohnung mit Sohn Walter und Schwiegertochter Frieda Ulrich, geborene Hahn, in Berlin-Mitte, Brunnenstraße 42. |
Karl Heinrich Franz Runge erzählt uns ein wenig aus der Zeit um 1900, aus der Zeit vor dieser 2. Ehe.
Mit Tochter Margarethe wohne ich in inzwischen in Neuendorf bei Potsdam, in der Forststraße 15 (das ist die spätere Lützowstraße 15, nach 1945 wird das die Dieselstraße 12 sein).
Ihr wisst ja noch? Mit Marie, meiner Ehefrau, lebe ich seit vielen Jahren separiert. Sie wohnt in Neu-Weißensee, Goethestraße 25, in dem friedrizianischen Kolonistenhaus meiner Eltern, dort, wo ich vor vielen Jahren meinen Zimmerplatz, den Bau- und Lagerplatz eingerichtet hatte. Geschiedene Leute sind wir von Amts wegen mitnichten. Aber das ist nur ein familienrechtlicher Unterschied. Das Zusammenleben war in den Zeiten nach ihrem Schlaganfall zu schwierig, als dass ein erquickliches Zusammenleben noch möglich gewesen wäre.
1900, nur einige Notizen zu diesem bewegten Jahr:
- Am 07. August stirbt Wilhelm Liebknecht, Führer der Deutschen Sozialdemokratie.
- Graf v. Zeppelin entwickelt sein erstes starres Motor-Luftschiff.
- In Österreich wird herausgefunden, warum es bei Blutübertragungs-Versuchen von Mensch zu Mensch immer wieder zu plötzlichen Todesfällen kommt. Herr Dr. Landsteiner erkennt, dass es wohl vier zu unterscheidende Gruppen von Blut gibt, die sich miteinander nicht vertragen und benennt diese mit A, B, AB und 0.
- Zwischen Wannsee und Zehlendorf bei Berlin wird der versuchsweise Betrieb mit einem elektrisch angetriebenen Zug aufgenommen.
- Im Dezember hebt an der Glienicker Lake der Bau des Teltowkanals an. 1906 etwa soll er fertig sein.
- In den Haushalten beginnt man elektrisches Licht zu installieren. Man hat dann statt der Petroleumlampe nun die nicht blakende Glühlampe im Einsatz aber für deren eventuelle Ausfälle oder auch Feierlichkeiten, also „für gut“, immer noch die bewährten Kerzen zur Hand.
- In Berlin wurden in diesem Jahr 2.712.200 Einwohner gezählt. Solch eine Riesen-Menschenmenge benötigt unwahrscheinlich viel an Lebensmitteln. Das schaffen die Emma-Läden nicht. Zur besseren Versorgung wurden kürzlich Markthallen eröffnet.
- Wir begehen am 31. Dezember eine Jahrhundertwende. Das erlebt nicht Jedermann. Hoffentlich bringt uns das neue Jahrhundert, das Zwanzigste, nur Gutes!
1901
- Von diesem Jahr an, werden in Preußen alle erfassten Wetterdaten auch für die Nachwelt aufgehoben; die Wetterküche besitzt nunmehr regelmäßige Aufzeichnungen und ein Archiv.
Nichts als Ärger mit den Mietern: Unser Neuendorfer Postbote Müller (ein Königlicher Beamter, in diesem Punkt kann ich als Maurer- und Zimmermeister nicht mithalten, – ich bin eben ein Freier) überbringt mir am 14. Februar eine amtliche Postzustellungsurkunde. Nanu – Post von der Regierung? Am 12. 02. im Berliner Amte verfasst. Der urkundliche Siegel-Brief enthält für mich die Nachricht, dass der Schuhmachermeister W. Husemann, der in meinem Hause Moabit, Spenerstraße 32, sein Ladengeschäft betreibt, im Lager-Keller eine Werkstatt für seinen Gesellen eingerichtet habe – ganz im Widerspruch zur Baupolizei–Ordnung stehend, denn der Keller ist nur 1,90 m hoch, wenn just auch dieser Geselle kleinerer Statur. Ständige Arbeit bei Lampenlicht und Leimgedünst. Das erinnert doch etwas an Sklavenhalterei. Sieh’ mal da, wenn man nicht als Herr im Hause die Allgegenwart zeigt, tanzen die Mäuse auf dem Tisch herum. Das habe ich nun von meiner schnellen Gutmütigkeit mit Falltür und Wendeltreppe zwischen Laden und Keller. So muss ich nun reagieren und ihm wird es saurer, das tägliche Brot gleichermaßen zu verdienen.
Am 01. Mai hat meine Tochter Johanna (Seehafer) nun nach Frieda und Franz, ihr drittes Kind geboren. Das Mädelchen soll in der Taufe den Namen Dorothea erhalten und dann auch gerne tragen. Vorerst wird sie schon mal Dörthchen gerufen – nur, dass sie noch nicht darauf hört und reagiert aber man muss sie ja langsam dran gewöhnen.
Am 27. Juli, zur Mittagszeit, ist meine Frau Marie Josephine Runge, geborene Glaeser mit 55 Jahren in Weißensee, in der Wohnung Goethestraße 25, für immer entschlafen. (Kirchenbuch Nr. 525 / 1901). Nun findet die gequälte Seele ihre Ruhe. Ich fahre noch einmal nach Hamburg (zu meinem Neffen Glaeser), um alles Erforderliche zu regeln.
Ich wohne, wie ihr wisst, inzwischen in Neuendorf bei Potsdam in der Luisenstraße 16 (nach 1945 Wollestraße) in einem ebensolchen Kolonistenhaus aus der Zeit Friedrichs des Großen, ähnlich dem, wie wir es in Weißensee hatten. Ich bin Zimmermeister nun zwar immer noch, übe diese Tätigkeit aber seit einigen Jahren nicht mehr aus, überlasse diese Arbeit den Jüngeren. Ich trete ruhiger und werde im Adressbuch als Rentier geführt, was bitte nie schwedisch, sondern stets französisch auszusprechen ist. Das übliche deutsche Wort „Ruhegeldempfänger“ mag ich nicht, denn einerseits habe ich viel zu tun und überhaupt keine Ruhe, andererseits unterscheidet jenes auch nicht, ob die Rentenkasse oder wie in meinem Falle, ich selber etwas an mich auszahle – und das ist ein wesentlicher Unterschied!
Hier am Orte in Neuendorf, fand ich den Kontakt zu Anna Ulrich (geborene Schütte), die im Alter von 36 Jahren steht und verwitwet ist. Eine proppere Person. Ansehnlich! Sie führt die Gaststätte „Deutsches Wirtshaus“ in der Potsdamer Straße 9 (spätere Wilhelmstraße 15, nahe Linden- und Charlottenstraße gelegen). Ihr Ehemann war Georg Adolf Hermann Ulrich, ausgebildet am Lehrerseminar in Neuruppin. Anschließend hatte er sich einige Zeit in den Vereinigten Staaten von Nordamerika aufgehalten und eröffnete nach der Rückkehr ein Porzellangeschäft in Cassel. Zu jener Zeit lernte der Porzellan-Pädagoge dort wohl das zarte, noch halbe Kind Anna Louise Schütte kennen, das in Cassel zu Besuch weilte. Viel später aber wechselte er in die Berliner Gastronomie, weil sein Bruder Walter Ulrich auch in dieser Branche tätig war und ist. Am 27. November des Jahres 1900, nachmittags um 2 Uhr war er, der Hermann Ulrich, in seiner Wohnung ganz plötzlich nach einem Schlaganfall im 44. Lebensjahr verschieden. (KB Neuendorf Nr. 62 / 1900: Alter: 43 J / 8M / 2 Tge, Anzeige durch Wilhelm Schmidt aus Rixdorf, aus der Schütte'schen Verwandtschaft. Bestattet am 01. Dez. 1900). Hermann Ulrich hinterließ die Witwe Anna mit den beiden majorennen Söhnen Walter und Hermann, die damals noch in Cassel zur Welt gekommen waren.
In Neuendorf lerne ich den Zeichner und Landschaftsmaler Otto Thomasczek kennen, der unter vielen anderen Ortsansichten auch ein hübsches „Konterfei“ vom Ulrich'schen „Deutschen Wirtshaus“ gezeichnet hat. Eine größere Anzahl seiner Zeichnungen halten die Partien in ihrem Aussehen wunderschön fest. Bleibende Erinnerungen, die hauptsächlich in dem Schöneberger Postkartenverlag „Sommer“ auf Ansichtskarten fixiert werden. Vom „Wirtshaus“ und wenigen anderen Motiven gibt es aber keine Ansichtskarten. Die hat er wohl insgeheim nur Anna verehrt.
Die schwebenden Wissenschaftler Arthur Berson aus Berlin und Reinhard Süring aus Potsdam bewiesen bei einer Ballonfahrt das Vorhandensein einer Stratosphäre. Sie erreichten 10.800 Höhenmeter, wurden dort aber wegen der Kälte und des Sauerstoffmangels ohnmächtig, bis die abkühlende Luft die Sinkfahrt des Ballons selbsttätig einleitete und damit die Beiden rettete. Im Hochsommer herrschte dort oben eine Temperatur von etwa - 40°C oder noch weniger (also höheren Werten). Fernost-Sibirische Verhältnisse also.
Die Zeitungen berichten uns, dass im sibirischen Frostboden kürzlich ein vollständiges Mammut gefunden wurde. Nicht nur ein Skelett, sondern uraltes Frischfleisch.
Auf der Militärbahnstrecke Berlin – Zossen erreichte ein Elektrotriebwagen die noch nie da gewesene Geschwindigkeit von mehr als 200 km /h. Na, hoffentlich hat es das Messgerät nicht zu gut mit den Erbauern gemeint.
1902
Fortsetzung meiner ganz persönlichen Worte von 1901: Nun, da seit Maries Ableben Zeit ins Land gegangen ist ergibt es sich so, dass ich mich wieder binden möchte. Anna Schütte und Franz Runge sind ja beide verwitwet und frei. Nun, der jüngsten Einer bin ich nicht mehr, doch so ganz ohne Wünsche braucht man auch noch nicht sein.
Am Sonnabend, dem 05. Juli 1902, heiraten wir, Anna Louise Schütte verwitwete Ulrich, 37 Jahre und ich, gestandene 56 Jahre alt. Annas Vater war Landwirt in Stüdenitz bei Breddin, das in der Prignitz südwestlich von Kyritz liegt. Im Alter von 15 Jahren zog Anna von dort nach Berlin, weil sich ihr die Möglichkeit auftat, sich ab 1880 im Mädchenlyzeum (Moabit) weiterzubilden und dann eine Lehre im Bankgeschäft in Rixdorf (später Neukölln) aufzunehmen. Der gewandte und außerdem Verwandte Onkel Schmidt aus Rixdorf (einer der Brüder des Stüdenitzer Fleischers) vermittelte hier hilfreich und auch im Stüdenitzer Pastor hatte sie einen Befürworter ihrer Vorhaben.
Unsere kirchliche Trauung findet in der erst vor drei Jahren fertig gestellten Neuendorfer Bethlehemkirche statt. Ein stolzer neugotischer Bau von Ludwig v. Tiedemann, mit einem Glockenturm, der 55 Meter hoch in den Himmel ragt. Herr Pfarrer Karl Schlunk, der seit einem Jahrzehnt Pastor dieser Gemeinde ist, traut uns und trägt diese frohe Denkwürdigkeit in das Kirchenbuch Neuendorf unter Nr. 17 / 1902 ein. Auf dem Standesamt im Rathaus waren wir bereits am Vormittag des gleichen Tages. Eigentlich hätte es auch gern eine doppelte Hochzeit mit halbierten Kosten geben können: Mein Ältester, Sohn Carl Robert, heiratet am 30. September die Helene Beerbaum aus Biesdorf bei Berlin. Und irgendwie scheint das ansteckend zu sein, wie es sich im Folgenden zeigt.
Das Jahr 1903
Meine Tochter Franziska heiratet als Jungfrau, gleich uns, in der Bethlehemkirche zu Neuendorf, am 19. Januar 1903 mit 28 ½ Jahren den Junggesellen und Buchhalter Gustav Richard Oscar Eschert, 30 ¼ Jahre alt (Nr. 02 / 1903 im Kirchenbuch). Die Escherts haben in Nowawes ihren Familienstammsitz, auch wenn Oscar in Berlin arbeitet. Das Haus in Moabit, Spenerstraße 32 lasse ich nun von meiner Tochter Franziska und ihrem buchhalterisch geschulten Mann verwalten. Sie können dafür auch günstig im Hause in der Belle-Etage wohnen und mir spart es die Arbeit. Diese ihre Wohnung liegt in unserem Hause über Erdgeschoss und Hochparterre, zählt also als das 1. Obergeschoss.
Ihre Wohnung (links) hat folgende Größe und Ausstattung:
Entré oder Vordercorridor, - Erkerzimmer mit Parquettfußboden, - Vorderzimmer mit Stabfußboden, - Hinterzimmer, - Berliner Zimmer, - Mädchenkammer, - Hintercorridor, - Küche mit Speiseschrank, Fensterschrank, Küchenbrett, - Baderaum, Closet mit Hängeboden, Asphaltfußboden, - für die Corridore 2 Wandriegel (Kleiderhakenriegel),
2 Sicherheitsketten.
Die Wohnung rechts, sieht ähnlich aus:
Zimmer: 25,29 qm, - Erkerzimmer mit Parquettfußboden 26,68 qm, - Berliner Zimmer 26,25 qm, - Hinterzimmer 13,49 qm, - Entré oder Vordercorridor: 21,00 qm, - Hintercorridor 5,58 qm, - Mädchenkammer 4,03 qm, - Küche mit Speiseschrank, Fensterschrank, Küchenbrett und Port.stange 9,89 qm, - Baderaum, Closet mit Hängeboden, Asphaltfußboden,
2 Sicherheitsketten, das sind 122 qm Wohnraum, und insgesamt mit Küche und Baderaum etwa 140 qm (Quadratmeter). Die Wohnräume erhalten Tapeten, die Nebenräume ein Ölpaneel. Die Holzdielenfußböden der einfachen Räume tragen einen rotbraunen Anstrich.
Ihr wisst ja: Schauen die Bewohner nach rechts aus unserem Haus, liegt 150 Schritte weiter an der Straße „Alt Moabit“ das Kriminalgericht mit Haftanstalt – kurze Wege! Lieber gucken sie deshalb nach links und bevorzugen sie schönere Aussicht, also wie der Name schon andeutet, in Richtung Bahnhof Bellevue“.
Ein völlig anderes aber auch interessantes Thema: Man entdeckte kürzlich die Überreste eines großen Raubsauriers, der zu Lebzeiten etwa 8 t auf die Waage gebracht hätte; bei einer Körperlänge von 15 Metern. Erst jetzt, etwas sehr spät, erhielt er seinen Namen: „Tyrannosaurus Rex“.
Auf dem Brauhausberg in Potsdam beendeten die Bauleute das Gebäude der neuen Kriegsschule, vom Architekten Schwechten gestaltet.
In diesem Jahr wird am 09. August in Berlin mein Enkel Hellmut Franz Ernst Runge, Sohn meines Sohnes Carl Robert und seiner Frau Helene, geboren. Sie wohnten bislang in Berlin, Pasewalker Straße 8, nahe am Bahnhof Wedding, unmittelbar an der Ecke zur Gerichtstraße mit dem Krematorium. Kürzlich zogen sie aber ebenfalls nach Neuendorf und bekamen in der Blücherstraße 5 (nach 1945 Fultonstraße 5) eine gute Wohnung. Die Straße ist hübsch mit Rotdornbäumen bepflanzt.
Mein Enkelsohn Hellmut (von Robert und Helene Beerbaum) wird in der Blücher' 5 schon früh eine Murmelfreundschaft mit dem Töchterchen der Nachbar-Familie (Blobel) beginnen, die „dem Vernehmen der Zukunft nach“ ein Leben lang anhalten soll.
Aber auch wir sind nicht untätig. In der Neuendorfer Luisenstraße 16 gebiert Anna am 22. Oktober unseren Sohn Georg Franz. Das würfelt die vorher sauber geschichteten Generationen ein wenig durcheinander, nicht wahr?
(sinngemäße Abschrift) B
Eintrag der Eheschließung Nr. 19 / 1902
des Standesamtes in Neuendorf ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Neuendorf bei Potsdam, am 05. Juli 1902
Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschienen heute zum Zwecke der Eheschließung:
1. Der verwittwete Rentier
Carl Heinrich Franz Runge,
der Persönlichkeit nach bekannt, evangelischer Religion geboren am 11. Mai des Jahres 1846 zu Berlin, wohnhaft in Neuendorf bei Potsdam, Luisenstraße No.16,
Sohn des Zimmermanns Erdmann Daniel Franz Runge und dessen Ehefrau Johanne Friederike Henriette Ehm, beide verstorben und zuletzt wohnhaft in Weißensee bei Berlin
2. Die verwittwete Restaurateur
Anna Louise Ulrich, geborene Schütte,
der Persönlichkeit nach bekannt, evangelischer Religion geboren am 28. Mai des Jahres 1865 zu Stüdenitz in der Mark, wohnhaft in Neuendorf bei Potsdam, Schulstraße No.15,
Tochter des Landwirths August Schütte, verstorben und zuletzt wohnhaft in Stüdenitz und dessen Ehefrau Sophie, geborene Schmidt, wohnhaft in Stüdenitz in der Mark.
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Als Zeugen waren zugezogen und erschienen:
3. Der Landwirth Wilhelm Schütte (Vater der Braut)
der Persönlichkeit nach bekannt,
45 Jahre alt, wohnhaft in Stüdenitz in der Mark
4. Der Bureauassistent Emil Seehafer (einer der Schwiegersöhne des Bräutigams)
der Persönlichkeit nach bekannt,
36 Jahre alt, wohnhaft in Berlin, Spenerstraße No. 32
Der Standesbeamte richtete an die Verlobten einzeln und nacheinander die Frage: ob sie die Ehe miteinander eingehen wollen. Die Verlobten bejahten diese Frage und der Standesbeamte sprach hierauf aus, daß sie kraft des Bürgerlichen Gesetzbuches nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute seien.
Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben
gez. Franz Runge
gez. Anna Runge, geb. Schütte
gez. Wilhelm Schmidt
gez. Emil Seehafer
Der Standesbeamte
gez. Obst
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Das Kind der Eltern Carl Heinrich Franz Runge oo Anna Louise Schütte, verwitwete Ulrich
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Nr. |
Familienname: Runge |
Lebensdaten der Kinder |
3/7 |
Georg Franz
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Georg Franz wurde am 22. Oktober 1903 in Neuendorf, Luisenstraße 16 geboren. Getauft am 04. April (2. Osterfeiertag) in der Neuendorfer Bethlehemkirche durch Herrn Pfarrer Schlunk. Die Paten waren: 1. Frau Selma Quappe, 2. Fräulein Marie Ebert aus Velgast und 3. Herr Georg Brücker aus Minden. Quelle: Kirchenbuch, Bethlehem Nr. 26/1904. Franz starb unverheiratet und kinderlos in Ost-Berlin (DDR, Berlin-Weißensee) 1979 oder 1980 im Alter von rund 77 Jahren. |
Die Brüder Wright aus den USA, sie sind fleißige Fahrradmechaniker, bauen den ersten Motor-Aeroplan der Weltgeschichte (später Flugzeug genannt), während andere wohl noch im Geheimen basteln, um ebenfalls zu den ersten zu gehören.
Am Potsdamer Wilhelmplatz wird neben der Kaiserlichen Hauptpost eine Synagoge aus rotem Sandstein errichtet. Der Entwurf stammt vom Architekten Kerwin, der auch das Nowaweser Rathaus baute.
1904
Derzeitig ist noch übergangsweise Hermann Blau der Inhaber des „Deutsches Wirtshaus“ in der Potsdamer Straße 9, der späteren Wilhelmstraße 106.
Und schon wieder ist ein jüngster Säugling zu begrüßen. Diesmal ist die Kindsmutter meine Tochter Franziska (Eschert). Geboren hat sie ihre Tochter Gertrud am 06. Januar 1904. Wir hingegen lassen unser Söhnchen Georg Franz am 04. April 1904, am 2. Osterfeiertag, von Herrn Pfarrer Schlunk in der Bethlehemkirche taufen. Als Kindstaufpaten baten wir das Frollein Marie Ebert aus Velgast, Georg Brücker aus Minden und Selma Quappe hier aus Nowawes-Neuendorf. Frau Quappe aus der Wilhelmstraße 1, Fernsprecher No. 54, nennt eine Tuchfabrikations-Niederlage ihr Eigen – mit dem „Aushänge-Schild“: „Feine Damentuche, Kostümstoffe Jackett- und Mantelstoffe, Herrenanzugs- und Paletot-Stoffe.
Der gute Maler Otto Thomasczek hat unsere Gegend wieder verlassen und zieht in das Thüringer Eichsfeld, nach Mühlhausen. Einige persönliche Heimatblätter von seiner Hand haben wir als Erinnerung an ihn. Viele beliebte Post-Ansichtskarten, mit Motiven die er zeichnete und malte sind im Umlauf. Seit dem Jahre 1888 lebte er hier in Klein Glienicke und Nowawes. So wie Theodor Fontane durch die Lande reiste und Geschichten aufschrieb, so etwa zeichnete und malte er Motive aus unserer Heimat.
1905
Meine Tochter Margarethe (25 Jahre jung) und der in Potsdam und Nowawes ansässige Schlosser und Elektrotechniker Max Sommer (30 Jahre alt) heiraten am 29. Juli 1905. Natürlich findet die Trauung auch in der Neuendorfer Bethlehemkirche bei Herrn Pfarrer Schlunk statt. (Dieser Max war als junger Handwerker auch an der Einführung der drahtlosen Telegraphie nach dem verbesserten System Marconi beteiligt. Ich berichtete 1897 kurz davon. Mehr kann er euch natürlich selber erzählen). Wohnen werden sie in der Nowaweser Priesterstraße 68, ja, unmittelbar neben Carl Gruhl mit seinem „Restaurant zu Markthalle“, Priester- 69. So ist auch Margarethe hinreichend gut unter die Haube gekommen. Wieder eine Sorge weniger. Ihre große Schwester Johanna, die Frau vom Emil Seehafer, zeigt ihr dann, wie es so weitergeht im Leben, denn am 02. Oktober bringt jene ihr viertes Kind, die „Anneliese“ auf die Welt.
1906
Am Morgen des 08. April kam es in San Francisco zu einem gewaltigen Erdbeben, weil zwei Erdplatten ganz langsam aber heftig, mit brachialer Kraft aneinander stießen. Die Großstadt liegt in Trümmern darnieder und ein Feuersturm brachte die Einwohner um die Reste von Hab und Gut. –
Und Professor Albert Einstein stellt seine Relativitätstheorie vor.
Es gelingt erstmals ein die Erdkugel umlaufendes Telefongespräch ohne Draht. Das ist spannend. Ermöglicht wurde es von den riesigen Sende- und Empfangsantennen der neuen Großfunkstation in Nauen, im Havelland.
In der Spandauer Straße 32–33 zu Potsdam ist der neue Verwaltungskomplex für die Provinzialregierung Brandenburg fertig gestellt worden. (Genau 100 Jahre später wird dort in jenem Gebäudekomplex mein Urgroßneffe Chris Janecke den letzten Tag seiner Lebensarbeitszeit begehen und beenden).
Kinder, wie die Zeit vergeht! 60 Jahre zähle ich nun schon. Meine Tochter Grete (Margarethe Sommer, geb. Runge) hat am 05. Mai ihren ersten Sohn zur Welt gebracht. Wie er heißt? Die Familientradition gebietet es doch, dass auch er Franz heißt. Max Fritz Franz. Es gibt aber gewisse Leute, die meine Traditionsvorstellungen nicht so recht annehmen und umsetzen wollen – oder hat es noch andere Gründe? Denn es stellt sich später heraus, dass die Eltern dieses Kind immer nur „Hans“ rufen werden, obwohl diese Bezeichnung keineswegs sein „eingetragenes Warenzeichen“ ist. Soll er denn tatsächlich mehr nach Johannes, denn nach Franciskus geraten?
Kaum kommt man dazu, in Ruhe Atem zu schöpfen, bei all’ diesen Aufregungen, denn nun bringt auch meine Tochter Fränzi (Eschert) am 24. Juni ihr zweites Kind in der Moabiter Spener' 32 zur Welt. Wie im Wettlauf, diese Töchter. Ausgerechnet Günther soll er heißen – mein neuer Enkel (also ohne irgendeine Spur von Franz).
Der Teltow-Kanal, die südliche Berlin-Umfahrung ist fertig geworden. Ein Hoch auf den Landrat, auf den Chef Ernst v. Stubenrauch! (Lebenszeit: * Sagan 1853– Schierke im Harz1909).
1907
Unsere Sippe wird wohl nicht so schnell aussterben. Nach ihrem vierten Kind „Anneliese“ hat Tochter Johanna als fünftes Kind nun eine „Irmgard“ auf die Welt gebracht. Sippe hin, Sippe her – dieser Nachwuchs heißt ja, wenn auch zur Hälfte unser eigen Fleisch und Blut, nicht mehr so richtig Runge, sondern mehr Seehafer. Aber was tut’s? Hauptsache gesund und friedlich.
Das Leben wird noch sauberer und schmackhafter: Der Apotheker Meyenburg in Dresden hat eine Paste (beileibe keine Salbe!) erfunden, mit der man sich die Zähne blank bürsten soll. Also selbst gesunde Zähne! Er hat diese Paste „Chlorodont“ genannt.
Seit dem 02. September rollt nun auch durch Potsdam die „Elektrische.“ Eine großartige Umstellung von der Pferdestraßenbahn bei laufendem Betrieb, der nicht unterbrochen werden durfte. Ein lebhaftes Volksfest rund um die geschmückten Bahnen an diesem Tage. Kinder liefen hinterher, kühne Radfahrer suchten die Wagen zu überholen. Hunde schauten sehr verdutzt – allein die meisten Pferde standen nicht mehr im Mittelpunkt, sondern in ihrem Stall.
Am Ende der neuen Königsstraße wird am Jagdschoss Glienicke eine neue Brücke über die Havel geschlagen. Die bisherige gute, inzwischen aber zu schmale Schinkelsche hat damit ausgedient. Die neue ist eine wunderbar „leicht hoch über dem Wasser schwebende“ Stahlkonstruktion.
1908
Am 30. Juni gab es einen die Erde streifenden Zusammenstoß mit einem Außerirdischen, wohl einem Meteor von vielleicht 30 bis 60 Metern im Durchmesser – ich habe diesen nicht gesehen, denn er ging in einem ausgedehnten sibirischen Sumpfgebiet nahe der Faktorei Wanawara nieder oder in der Tunguska, wie auch gesagt wird. Ein ungeheurer Aufprall in diesem zum Glück wenig besiedelten Gebiet, mit der Verwüstung des Waldes in mindestens 30 Kilometer Umkreis. Die Druckwelle nach dem Aufschlag war auf allen Erdteilen zu spüren und auch über Europa war der Nachthimmel erhellt.
Messina wird von einem starken Erdbeben heimgesucht. Etwa 86.000 Menschen sterben.
Die weltweit erste Lokomotive mit einem Dieselmotor statt der Dampfmaschine geht in Betrieb.
Henry Ford und seine Mannen stellen in den USA am „Fließband“ ein Auto, „die Blechliesel“, her. Welch ein stolzer Name für ein Automobil.
Das neue Märkische Museum in Berlin, ein architektonisches Glanzlicht am Ufer der Spree, öffnet seine Pforten für die Besucher.
Das erste öffentliche Familienfreibad, also ohne Trennung von Frauen und Männern mittels einer Holzwand ohne Astlöcher, wird nahe Berlin am Wannsee eröffnet. Ein Schritt zum Verfall der Sitten? Der Pinselheinrich Zille wird wohl auch dort gern Studienobjekte finden, – falls der Schutzmann nicht einschreitet.
Zur Vorweihnachtszeit sehen wir erstmals so genannte Adventskalender für die Kinder, mit Fenstern und einer Tür, „um die Wartezeit bis zum Fest anzuzeigen und spannend abzukürzen“. Hinter jedem der Fenster, von denen täglich eines (mit Datum versehen) geöffnet werden darf, ist ein Bildchen betrachtbar. – Auch Himmelstreppen lassen sich erwerben. Ein Bild auf Karton, das den Weg von der Erde zum Himmel darstellt, mit eingeschlitzten Stufen, auf denen das liebe Kind oder wer auch immer, täglich eine Stufe bis zum Himmelstor vorrücken darf.
1909
Der Amerikaner Edwin Peary gelangt als erster an den Nordpol unseres Heimatplaneten. Pinguine konnte er dort nicht photographieren.
Ein Sechstage-Fahrradrenen findet zum ersten Mal statt. Es ist der Auftakt für eine lange Veranstaltungsreihe im neuen Sportpalast, der in der Potsdamer Straße in Berlin errichtet wurde. Im Palast finden 12.000! (Potztausend) Zuschauer bequem Platz. Wegen des großen Erfolges soll das Rennen nun alljährlich wiederholt werden. Eigens dazu wurde der Sportpalastwalzer komponiert. und dieser wird nun in allen Straßen und Gassen gesungen oder gebrummt und natürlich auch gepfiffen. wird ähnlich volkstümlich berühmt, wie der damalige Webersche „Jungfernkranz“, der im „Freischütz“ seinen Platz fand.
Im August wird das Jugendherbergswerk gegründet, das unter dem Motto steht: „Begegnung – Gemeinschaft – Toleranz“. Eine gute Sache für die Freizeit junger Menschen.
1910
Im August stelle ich einen Antrag an die Moabiter Bau-Polizei-Behörde, in meinem Hause Spenerstraße 32 nachträglich Badestuben einrichten zu dürfen. Das ist neuzeitlich, für feinere Leute modern und auch zweckmäßig, der Volksgesundheit dienend. Diesmal überholte vorsichtshalber die Bauausführung den Antrag nicht, sondern hielt die vorgegebene Reihenfolge peinlich genau ein. Alles nach den Buchstaben des Gesetzes, alles hübsch nach Vorschrift!
Der Halleysche Komet ist für uns am Nachthimmel gut erkennbar. Obwohl er in jedem Moment seines Fluges bedeutend an Masse verliert, soll er nach den Berechnungen im Jahre 1986 wieder Erdnähe erreichen und für uns immer noch scheinbar genauso groß zu sehen sein. Also, das gilt dann für mich nicht mehr. Da können „die Nächsten“ mal prüfen, ob er wirklich wiederkommen wird und ihn vielleicht sogar ebenfalls sehen.
Die zulässige Geschwindigkeit des Verkehrs mit motorisierten Fahrzeugen wurde jetzt unter dem Drucke des bestehenden Bedarfs heraufgesetzt. Die Automobile dürfen jetzt mit einer Geschwindigkeit bis zu 25 Kilometer pro Stunde durch die Straßen jagen. Eine hohe Verantwortung für die Automobillenker, denn bei solcher Geschwindigkeit kann dem Automobil nun wirklich kein Pferdegespann oder Handkarren schnell ausweichen.
1911
Am 31. Januar stirbt der beliebte Abgeordnete der SPD, Paul Singer, in Berlin. Fast eine Million Menschen, so die amtlichen Schätzungen, geben im das Geleit auf seinem letzten Weg. Schade, das er das nicht mehr miterleben konnte. Oder vielleicht doch? –
Im März wird, von den Linken angeregt, zum ersten Mal der internationale Frauentag begangen, ein Erinnerungstag, der stets neuen Aufschwung geben soll, hinsichtlich des ständigen Kampfes um die politische und soziale Gleichberechtigung der Frauen, besonders derer, die sich nicht ausschließlich mit Kirche, Küche und Kindern befassen wollen – aber auch.
August Bebel hat die Vision, dass Deutschland auf einen neuen Krieg zugeht. Er mahnt und warnt die Parlamentarier. Wollen wir hoffen, dass es eine übertriebene Vorsicht ist und er nicht recht hat. Aber wenn doch, dann möge der Kaiser es verhüten.
Am Templiner See, in der Potsdamer Pirschheide, entsteht ein Luftschiff-Lande- und Startplatz für die Zeppeline, werden Hallen und Werkstätten für die Luftschiffe errichtet.
Nun bauen auch die Herren Schütte und Lanz (beide 1873 geboren) Luftschiffe.
In Potsdam fanden die Archäologen bei hochsommerlichem Niedrigwasser an der Heiligengeistkirche die Reste eines Palisadenringwalls, der als Schutz das slawische Dorf Potztupimi umschlossen hatte, das es bereits lange vor dem „Potsdamer Gründungsjahr 993“ gab. Nimmt man an. Es war von uns ja niemand dabei. Dieses Potztupimi, die Wallanlage in der Havel, gilt nun neben der „Siedlung am Kiez“ als „die älteste Wiege“ der Stadt Potsdam.
Das neue, zweite Berliner Rathaus, das Stadthaus am Molkenmarkt, wird am 29. Oktober der Verwaltung zur Nutzung übergeben. Architekt ist Herr Hoffmann.
Am Berliner Bahnhof Friedrichstraße öffnet der neue Admiralspalast.
Am 14. November erreicht der Norweger Roald Amundsen mit seiner Expedition, wohl als die erste Menschengruppe überhaupt, den unwirtlichen Südpol der Erde. Dem Vernehmen nach sind ihnen dort keine Eisbären begegnet, die das Gebiet gegenüber den Neuen verteidigten.
1912
Meine Tochter Johanna Seehafer wohnt nun mit der Familie in Nieder-Schönhausen, Blankenburger Straße 2, zwei Treppen hoch.
Kürzlich habe ich den kleinen Neubau in der Neuendorfer Schulstraße 15 erworben; bisher n Baustelle. Auf diesem Grundstück wohnten Ulrichs, also Anna, früher vor einem Jahrzehnt.
Die Verbindung mit Anna läuft leider doch nicht so uneingeschränkt reibungslos. Viele andere sind mit ihrem Familien-Los zufrieden. Ich aber spüre nie, irgendwo endlich angekommen zu sein. Franz wächst weiter bei Anna auf; ich gehe fürderhin wieder nach Berlin. Das Neuendorfer Adressbuch weist mich in diesem Jahr aber noch aus: Franz Runge, Maurer- und Zimmermeister, Wilhelmstraße 15, also am Standort der Gaststätte. Ein kurzes Andenken – mit langen Nachwirkungen.
Die Gaststätte „Deutsches Wirtshaus“ in der Wilhelmstraße 15, Telephon: 357, führt der Schwager von Anna, der Bruder ihres verstorbenen ersten Mannes Walter Ulrich, weiter. Er war früher Koch im Centralhotel und auch im Wintergarten von Berlin.
Nationale „Draufgänger“ gründen den deutschen „Wehrverein“. Die großspurigen Äußerungen erwecken den Anschein, als seien sie aktiv um Krieg, denn um Abwehr bemüht.
Eine Katastrophe – der größte und „sicherste“ Passagierdampfer den es je gab – sinkt auf seiner Jungfernfahrt nach der Kollision mit einem Eisberg in der Nacht vom 14. zum 15. April im Nordatlantik. Das Eis (das so schnell weich wird und schmilzt wenn man es in der Hand hält) hatte „ganz einfach“ die zentimeterdicken Stahlplatten des Schiffes aufgeschlitzt. Die meisten der Reisenden ertranken jämmerlich im eiskalten Wasser. Gnade ihren armen Seelen.
In Berlin-Dahlem nehmen eine Anzahl wissenschaftlicher Institute („Kaiser-Wilhelm-Institute“) ihre Arbeiten auf. „Höhere Mädchenschulen“ werden jetzt offiziell eingerichtet.
Die Olympiade findet in diesem Jahr in und um Stockholm herum statt. Zu den sportlichen Wettbewerben gehören auch das Tauziehen und das Seilklettern. Unter den Athleten sind sogar schon Damen zugelassen und auch zu finden.
Der Archäologe Ludwig Borchardt gräbt in Ägypten die farbige Kalksteinbüste der Nofretete, der Gattin Echnatons aus und bringt sie mit nach Berlin. Sie ist inzwischen etwa 3.300 Jahre alt. Deren Sohn soll den Vermutungen nach der ebenfalls berühmte Tutanchamun sein.
1913
Am 06. Juli wurde meine Enkelin Anne-Marie Sommer in Nowawes geboren. Das zweite Kind meiner Tochter Margarethe Sommer, also Grete. Sie wohnt dort von der fischreichen Havel nicht weit entfernt.
Großes Begängnis des 200-sten Geburtstages des „Alten Fritzen“. Verschiedene Festredner erinnern an die Gefahr möglicher heutiger Anschläge der Nachbarn. Das erinnert indirekt daran, dass Friedrich der Große auch nicht nur technischen Fortschritt und Toleranz brachte, sondern eine Anzahl unnötiger Kriege mit viel Leid führte, er diese begann. So hatten die Festredner es aber nicht gemeint, kann ich euch versichern.
Der Arzt und Organist Dr. Albert Schweitzer aus Elsaß-Lothringen ist jetzt in dem Urwalddorf Lambarene am Ogowe in Französisch-Kongo tätig. Er will etwas davon gut machen, was die Kolonialpolitik den Afrikanern genommen hat. Heilen und nicht zu viel missionieren.
Die Flugmaschinen, die Aeroplane, werden immer größer und schneller. Herr Sikorski baute jetzt ein Riesenflugzeug mit 28 Metern Flügelspannweite und vier Motoren mit einer Leistung von je 100 Pferdestärken. Ob da die sehr langen, sehr schweren Flügel ausreichend fest mit der Fahrgastkabine verbunden werden können – und sich alles trägt? Bei meiner Maurerei und den Zimmerei-Ergebnissen hatte ich nie solche Bedenken zur Statik. Da war alles wie bei „Ein feste Burg ...“, würde Luther gesagt haben.
Der Berliner Untergrundbahnhof „Alexanderplatz“ wird dem Verkehr und damit auch dem Publikum übergeben – ein Gedenkort für den russischen Zaren..
Die Nowaweser Sternwarte erhielt ein Fernrohr mit 65 Zentimetern Linsendurchmesser. Nun kann man die fernen Sonnen noch viel schöner sehen, deren Wege wesentlich weiter zurück verfolgen.
Für das Kronprinzenpaar Wilhelm und Cecilie (welch ein schönes Monogramm sie doch haben) entsteht im Potsdamer „Neuen Garten“ am Jungfernsee ein Wohnschloss im englischen Fachwerk-Landhausstil. Der Architekt ist Meister Schultze-Naumburg.
1914
Am 28. Juni: Schüsse in Sarajewo. Zwei serbische Attentöter greifen bei einer Kutschfahrt den Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich an. Er erliegt diesem Anschlag. Begründet wird das Attentat damit, dass Österreich das Serbische Volk unterdrückt. Der österreichische Kaiser will einen Rache-Krieg gegen ganz Serbien und unser Kaiser Wilhelm II. sieht sich leider in einer Bündnispflicht zu Österreich stehend, glaubt, im Rahmen der Rache für dieses Attentat, Österreich mit vorerst Hunderten Soldaten beispringen zu müssen. Letztendlich werden die Verhältnisse später so dargestellt, als hätte nur Deutschland einen Krieg gegen die halbe Welt begonnen. Viele deutsche Freiwillige sind leider für ein schnelles siegreiches Scharmützel zu begeistern – doch wir werden später wissen, dass dieser Krieg sich zu einem jahrelangen Völkermorden auswächst, mit unglaublichen, noch nie dagewesenen und unsinnigen Verlusten für alle Beteiligten.
1915
Ein schrecklicher Stellungskrieg in Frankreich vor Verdun. Unsere Militärs, unsere Industrie, unsere Wissenschaftler setzen jetzt sogar Giftgas ein „um Bewegung in die Fronten“ zu bringen. Allein bei Verdun gibt es etwa eine Million getöteter Soldaten ohne irgendeinen Sinn oder Gewinn. Selbst die noch junge Aeroplan-Entwicklung setzt schon fliegende Kampfmaschinen ein. Ihr wisst ja: Aeroplane - das sind diese leichten Rohrgestelle mit lackiertem Segeltuch bespannt und vorn dem schweren Motor dran. Und dem Maschinengewehr.
Prof. Hugo Junkers entwickelt das erste Ganzmetall-Flugzeug, dessen Flügel sogar ohne Drahtseilverspannungen halten.
In den Schulen wird statt der bisherigen althergebrachten Deutschen Kurrent-Schrift, die einheitliche Schreibweise nach des Sütterlins Methode eingeführt („rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf)“. Einfacher und recht spitzig das Ganze, wenn es auch Ähnlichkeiten zum Bisherigen hat. Da müssen wir vielleicht auch noch mal umlernen, Na ja, die Jüngeren werden damit umgehen.
Oh, ha, hier in Berlin läuft mir doch das hübsche Ding, die Maria Zborowski, über den Weg. Eine ansehnliche Erscheinung, lebhaftes Auge sowieso. Sie ist eine Kathol’sche aber den schönen und auch deftigen Seiten des Lebens wohl nicht abgeneigt. Von ihrer Profession her, ist sie Zimmervermieterin, obwohl nicht Eigentümerin des Hauses. (Jene Position gebührt der Rentiere, Frau Lüssow). Maria Z. lebt im Hause Kirchbachstraße 19, in Berlin-W 57, Schöneberg, und daselbst nun auch ich. Das Grundstück liegt nahe der Potsdamer Straße, ein Eckgebäude zur Alvenslebenstraße.
Bei „Kirchbach“ denke ich eigentlich nicht an die Großstadt Berlin oder an den Namensgeber – es drängen sich eher romantische Gefühle in Richtung Waldeslust, Vögelgesängen und erquickendem Quell auf. Nicht wahr? Nichts da: Der Namensgeber für diese gerade reichlich einhundert Meter kurze Straße war Herr Hugo Ewald Graf v. Kirchbach, geboren am 23. Mai 1809, gestorben am 06. Oktober 1887. Er war General der Infanterie, im Kriege 1870 / 71 Kommandierender General des 5. Armeecorps. So ernüchternd also kann das Leben sein. Hoffentlich wohnte zumindest der erste Träger dieses Namens aus seiner Sippe an einem Bach nahe der Kirch'.
(Anmerkung Chris. J.: Auch in der Kirchbachstraße gab es im Zweiten Weltkrieg so große Kriegsschäden, dass die Straße neu bebaut wurde – sie zeigt also kein historisches familiär nutzbares Bild mehr, das für ein zeitgenössisches Foto geeignet wäre).
1916
Es ist kaum zu fassen. Ich stehe inzwischen schon mitten im 7. Jahrzehnt meines Lebens. So sehr viel Neues kann nun für mich wohl nicht mehr kommen.
Anna wohnt noch immer in Nowawes. Söhnchen Franz ist inzwischen 13 Jahre alt. Stiefsohn und Halbbruder Walter Ulrich geht mit unserem Fränzchen gern ins „Waldschlösschen“, Stahnsdorfer Straße 101, zum Kegeln. Das Waldschlösschen hatte der Thomasczek auch gemalt.
Der große Krieg geht unvermindert weiter. Auch in unserer kriegsverschonten Heimat wird gehungert. Der „Kohlrübenwinter“ 1916 / 17 wird schmerzlich Eingang in die Geschichte finden. Nach der Rationierung des Brotes, führt die Regierung nun auch die Fleischkarte ein. Es wird alles immer knapper. Schwiegersohn Max Sommer wird nun auch zu Preußens eingezogen, um mit der Waffe in der Hand die Elektroleitungen zu verlegen.
Architekten und Künstler von Werkbund- und Bauhausbewegung beginnen die Gestalt künftiger Gebäude und Gebrauchsgegenstände radikal zu reformieren.
Anmerkung: Die Adressbücher von Berlin weisen für den Zeitraum 1916 bis 1922 als Wohnort für Runge, Franz, Rentier, aus: SW 68 Markgrafenstraße 1, II. Eigentümer.
1917
Der Krieg soll wohl nach dem Willen von Regierung und Rüstungsindustrie immer weiter gehen – bis zum Erreichen eines schönen „Siegfriedens“. Dazu gibt es Gegenstimmen im Parlament – von weiter links – zumal ein solcher Frieden weder am Horizont noch in näherer Sichtweite scheint.
Innerhalb von Russland rumort es mächtig. Verschiedene Bewegungen sind für uns undurchsichtig. Erst sind viele Bürger gegen den Zaren. Danach Putschversuche gegen die junge bürgerliche Regierung. Im Spätherbst kommt es dort zur Großen Revolution, in der die Sozialisten / Kommunisten die Macht beanspruchen.
In all' diesem Trubel gründet man in Neubabelsberg die Universum-Film-Aktiengesellschaft, kurz „Ufa“ genannt.
1918
Anna verkauft das „Deutsche Wirtshaus“ in Nowawes. Der neue Inhaber oder zumindest zeitweilige Verwalter der schönen Gaststätte soll ein Herr namens „Blau“ sein. Wenn das kein gutes Aushängeschild für Leute mit übergroßem Durst ist –.
Der russische Zar Nikolaus II. und seine Familie werden von den Bolschewiki hingerichtet. Vorher hatte der Zar den Bruder des Arbeiterführers Uljanows / Lenins umbringen lassen. Man hätte sich das ausrechnen können.
Deutschland ist mit seiner Kampfkraft am Ende. Die Generäle Hindenburg und Ludendorff haben die Absicht des Siegfriedens aufgegeben und bitten um einen Waffenstillstand. Der Kaiser hält sich zurück, tritt aber nicht zurück. Das besorgt ohne des Kaisers Wissen, der Prinz Max von Baden hilfreich für ihn.
Die kaiserliche Familie flieht, recht gut ausgestattet, in die Niederlande. Gut ausgestattet bedeutet: Vom Kaiserbahnhof Potsdam-Wildpark begleitet ihre Flucht mehr als nur ein Güterzug, beladen mit den wichtigsten Sächelchen des Hausrats. Was man in der Fremde eben so benötigt. Max v. Baden legt die Regierungsgewalt in die Hände von Friedrich Ebert (SPD).
Am 09. November wird von Philipp Scheidemann in Berlin die bürgerliche Regierung ausgerufen. Zwei Stunden später lässt Dr. Karl Liebknecht einen ähnlichen Ruf über den Schlossplatz erschallen, der aber doch ein ganz anderer ist: Er ruft eine sozialistische Republik aus. Es ist nicht leicht, die verlorene Macht aufzunehmen, ohne in ein Gerangel zu geraten, denn so richtig war ja darauf niemand vorbereitet.
1919
Anna wohnt inzwischen in Charlottenburg, Grolmannstraße 22, mit unserem 16-jährigen Franz. Außerdem mit ihrem großen Sohn Walter Ulrich (aus ihrer ersten Ehe) und dessen Frau Frieda, geborene Hahn (aus Nowawes) zusammen. Die Wohnung in der Grolmannstraße liegt auf dem Straßenstück zwischen Pestalozzistraße und Savignyplatz; ein fünfgeschossiger Bau. Die Straße ist mit Linden bepflanzt. Es geht hier turbulent zu, denn es befinden sich viele Gaststätten in dieser Straße. Eine wahre Flaniermeile.
Am 02. September wird dort Ulrichs Tochter namens Senta Annemarie geboren.
Unser Franz kommt mehr nach Anna. Er ist immer so zurückhaltend, freundlich, aber schüchtern. Das hat er nicht von mir geerbt. Er wird wohl mit diesem eher zarten Gemüt nicht gleich mir ins raue Baufach einschlagen.
Anna verdient sich ihren Lebensunterhalt als Verkäuferin in der „Confiserie Eyssenhardt“ in der Neuen Kantstraße 26 in Charlottenburg, handelt also mit Zuckerwerk und Pralinen. Die Eyssenhardtsche Chefin und Besitzerin, eine große elegante Person mit modernen Ansichten und mit Ausstrahlung wohnt gleich über dem Geschäftsraum in der Belle-Etage.
Später hat Anna einen eigenen Laden mit dem gleichen Verkaufsangebot in der Augsburger Straße 30 eröffnet. Hier wohnt sie auch in den Räumen hinter dem Laden. Das Haus gehört Herrn Baldermann, der auf der anderen Seite des Hausflures, ebenfalls im Erdgeschoss, eine Porzellanwarenhandlung betreibt. Das erinnert sie bestimmt an ihre früheren Casseler Besuche. Im Hause leben zehn Mietparteien. Jetzt, nach dem großen Krieg, wird es nicht gern gelitten, französische Begriffe zu verwenden. Aus diesem Grunde erscheint auch der Begriff „Confiserie“ dieses Geschäftszweiges nicht im Berliner Adressbuch, sondern es wurde schlichtweg gottesfürchtig und irreführend mit „Konfitürenladen“ übersetzt und auch so eingetragen.
Tochter Margarethe Sommer war mit meiner Enkelin Anne-Marie zu Besuch bei Stiefmamá Anna in diesem besagten Konfitürengeschäfte. Anna hatte gerade das Mittagessen zubereitet, als ein Praliné-Handelsvertreter kam. So roch es ihm im Choco-Laden mehr nach Weißkohl, denn nach Cacao-Erzeugnissen. Damit soll man vorsichtig umgehen. Das sprach sich bis zu mir herum.
Walter Ulrich und sein Freund Alfred Kunze (der wie Erstgenannter ein renommierter Koch ist) bewirtschaften nun gemeinsam in Charlottenburg die Menzelklause „Zum Augustiner“, die ebenfalls in der Grolmannstraße liegt.
Das waren Notizen zu „der kleinen Welt“. Ansonsten zeigt die allgemeine politische Lage Gewalt, Revolten, Morde, Massendemonstrationen und Strikes. Zwei völlig verschiedene Bilder in einer Stadt. Am 15. Januar ermorden rechtsradikale Offiziere Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ohne einen diesbezüglichen Gerichtsbeschluss und werfen sie anschließend in den Landwehrkanal. Das Leben und Streben des Einzelnen, die Achtung vor dem Menschen, gilt nichts mehr. Eine abzulehnende Welt.
Am 18. Januar wird in Versailles der Friedensvertrag geschlossen. Deutschland wird in 440 Artikeln geknebelt, so niedergedrückt, dass es nie wieder als moderner Industriestaat für einen Angriffskrieg aufrüsten kann. Vieles wird uns verboten. Die Reparationsansprüche sind erdrückend und werden sich über viele Jahrzehnte dieses Jahrhunderts hinziehen. In Weimar, nicht etwa in Berlin, wird am 19. Januar die Nationalversammlung gewählt, eine neue Verfassung ausgearbeitet.
Erstmals erhalten auch die Frauen in Deutschland das politisch aktive Wahlrecht. Der Acht-Stunden-Arbeitstag wird gesetzlich eingeführt. Es gründet sich die Deutsche Arbeiterpartei.
Die Firma Krupp baut den ersten Motorroller. Hugo Junkers stellt das erste Serien-Passagierflugzeug her. Es ist die „F 13“ – nun erstmals ein Fluggerät mit geschlossener, windabweisender Kabine. In Berlin spricht man von den Versuchen, einen „Tonfilm“ herzustellen. An der Warschauer Straße wird das Glühlampenwerk „Osram“ gegründet. Der Bedarf an Glühlampen im Lande ist riesengroß.
In diesem Jahr herrscht eine weltweite Grippe-Epidemie. Eine Pandemie wird sie genannt. Allein in Deutschland fallen ihr rund 200.000 Menschen zum Opfer.
1920
„Groß-Berlin“ entsteht! Am 01. April, das ist kein Scherz, ist die Hauptstadt quasi über Nacht um 29 Orts-Gemeinden und deren Ländereien und damit um ein Vielfaches seiner Fläche gewachsen. Es entsteht damit ein riesiges Gebiet, das wir nicht mehr wie bisher in einem längeren Spaziergang von einem zum anderen Ende durchmessen können. Man kann sagen, dass die deutsche Reichs- Hauptstadt nun im wesentlichen aus Dörfern besteht. Damit wächst die Einwohnerzahl Berlins mit einem Schlag auf knapp 4 Millionen Menschen. Die meisten der Ortsnamen bleiben erhalten, nur dass jetzt immer „Berlin-“ davor steht.
Das Jahr ist wie im Fluge vergangen. Weihnachten. Erstmals werden von der Postsendestation Königswusterhausen Nachrichten nicht mehr durch den Draht oder als Morsezeichen weitergeleitet, sondern als richtige Sprache oder Musik übertragen. Man kann sie gut mit dem Kristalldetektor und dem Kopfhörer empfangen. Zum Auftakt wird ein kleines Weihnachtskonzert geboten. Weil wir nur einen Kopfhörer mit 2 Hörmuscheln für eine Person haben, liegt dieser in der großen Emailleschüssel, die uns als verstärkender Schalltrichter dient. In der Zukunft, in ein paar Jahren, soll es dann regelmäßig lange, sogar mehrstündige „Rundfunksendungen“ geben.
1922
Am 10. November verkaufe ich in (trotz) der Inflation mein Haus in Berlin-Moabit, Spenerstraße 32, an den Kaufmann Heinrich Heschel-Bregmann aus Zoppot und dessen Ehefrau Bella Bregmann. Sie kommt aber nicht aus Zoppot, sondern ist eine geborene Sackheim aus Charlottenburg. Wir benötigten somit für die Verkaufsverhandlungen keinen Dolmetscher. Ob das die günstigste Entscheidung ist –, sagen die neunmalklugen Kinder –, wird die Zukunft besser wissen. Sie sind nicht begeistert von dem Auflösen dieser doch so schönen poteziellen Erbmasse, das sieht man bereits von weitem an der Stellung ihrer Mundwinkel. Die Kinder erben ja sowieso den reichlichen Rest und sind noch jung genug, um für sich selbst zu sorgen. Ich aber bin jetzt immerhin 76 Jahre alt und denke an die „Greifbarkeit“ und „momentane Flüssigkeit“ der finanziellen Absicherung meines Lebensabends und damit auch an das Beibehalten der bisherigen Lebensweise.
Stiefsohn Walter Ulrich hat sich ein Motorrad, eine Harley-Davidson, gekauft. Er war wohl nicht der einzige Interessent an diesem fremdländischen Modell, denn er ist einem kürzlich gegründeten Liebhaberclub beigetreten, in dem natürlich viel gefachsimpelt wird, als wären es alles „alte Harley-Hasen“. Das neue Fahrzeug hat bis hierher schon eine weite Reise hinter sich. Es wird eine Weile dauern, bis es eine ebensolche Strecke nochmals „auf eigenen Achsen“ zurück gelegt hat.
In Italien findet ein Machtwechsel statt. Der Faschist Mussolini geht als Sieger hervor. Faschismus, abgeleitet von den gebündelten Rutenstücken (Faschinen) bedeutet zumindest vom Wort her wohl etwa soviel wie „Einigkeit macht stark“.
1923
Am 05. Januar sende ich Tochter Margarethe Sommer zum Geburtstag meine Grüße nach Nowawes. „Die Zinsen von den 3.000 Mark für die Enkel habe ich mit 5½ % für die Zeit vom 15. November bis 31. Dezember 1922 von dem jetzigen Eigentümer meines Hauses erhalten und werde dieselben bei Gelegenheit an Euch abführen“, schreibe ich zu diesem Sümmchen eines „Vorab-Erbes“. Ihr wisst ja, wenn die Hand noch warm ist, vererbt es sich schöner – man selbst hat dann auch noch eine kleine Freude daran.
Eine spätere Einsicht: Natürlich konnte ich nicht wissen, dass bereits im Herbst dieses stolze kleine Guthaben keinen Pfennig mehr Wert war, hoffentlich haben es die Kinder nicht gespart, sondern schnell ausgegeben.
Im April heiratet mein Enkel Franz Seehafer eine gewisse Gertrud Stoyke. Ist das denn möglich – wenn ich so zurück denke – er war doch vor einigen Jahren noch so klein.
Ebenso zweckoptimistisch wie ich, ist auch meine Enkelin Frieda Dankhoff, Johannas Große. Sie heiratet in diesem äußerst schwierigen Jahr am 22. Oktober Herrn Gustav Liebnow.
Frankreich und Belgien besetzen das deutsche Ruhrgebiet, weil unsere Regierung nicht in der Lage ist, die Reparationsforderungen zu zahlen.
Ständig werden wegen des Zwangs der Inflation neue Geldscheine und andere Wertpapiere gedruckt, denen jedoch die Waren als Gegenwert fehlen. So rutscht Deutschland rasend schnell immer tiefer in die Inflation. Die Geldscheine verlieren fast täglich an Wert. Fürs Geld bekommt man nicht mehr viel zu kaufen. Der Tauschhandel (wer was hat, der kann's) setzt ein, so z. B. entberbare Teppiche, Mobiliar und Kunstgegenstände gegen dringend benötigte Lebensmittel.
In der Superinflation, die im November ihren Gipfel und Endstand der Krise findet, die zum totalen Zusammenbruch des Finanzsystems und des Wirtschaftslebens führte, verloren viele Menschen ihr Hab und Gut. Sehr viele Menschen sind völlig verarmt.
Am 01. Dezember aber ist diese schwindelerregende „Karussell-Fahrt“ zu Ende. Die „Rentenmark“ oder auch die Goldmark, die Reichsmark wird eingeführt.
Das Schicksal hat auch um mich keinen Bogen gemacht. Meine Ersparnisse, der Erlös aus dem Verkauf des Hauses Spenerstraße 32, sind auf einen lächerlich kleinen, kaum noch bezifferbaren Wert abgesunken. Ich bin praktisch trotz lebenslanger Arbeit mittellos an Barem. Da helfen keine Vorwürfe, da hilft kein Schimpfen, es rettet kein Zagen. Man wird sich hoffentlich wieder erholen. Kopf hoch!
Der britische Archäologe Howard Carter legt in Luxor (Ägypten) das Grab des Kindkönigs Tutanchamun frei. Unermessliche Schätze kommen ans Tageslicht. Wie mag es da erst in den Gräbern der „gestandenen“ Herrscher ausgesehen haben? Diese bisher gefundenen anderen Grabstätten waren bereits alle vor Zeiten ausgeraubt. Wo mögen diese Schätze geblieben sein? In Nordafrika? – am 05. Mai haben wir hier bei uns rund 30°C im Schatten. Eine ungewöhnliche Wetterkapriole.Temperaturen wie in Afrika.
1924
Ein Mitglied der Arbeiterpartei, ein gewisser Hitler, wird verurteilt wegen eines blutigen Putsch-Versuches. Wollte sich anmaßen, das etwas wackelige Weimarer Reich umzukippen, der schneidige Gefreite, dat Männeken.
Ein Zeppelin Luftschiff, die LZ 126, mit Dr. Hugo Eckener als Kapitän an Bord, überquert zum ersten Mal den Atlantik nach Lakehurst. Reichlich 71 Stunden dauert die Passage. Das Luftschiff bleibt aber drüben. Es ist als Reparationsleistung gedacht, denn Deutschland darf nach dem Versailler Vertrag ja keine derartige Flottille mehr unterhalten. Wie schade!
Unsere Vorortbahnen nach Berlin werden in diesem Jahr auf Elektrobetrieb umgestellt.
1925
Elsaß und Lothringen fallen endgültig an Frankreich.
Es gibt Versuche nicht nur Sprache und Musik, sondern sogar Bilder über weite Strecken drahtlos durch die Luft zu schicken. Das steht aber erst in den Köpfen beziehungsweise im Versuchsstadium – aber schon nicht mehr nur in den Sternen.
Prof. Hugo Junkers regt den Zusammenschluss von vorerst 12 Staaten zu einer „Europa-Union“ an – etwa nach dem Vorbild der USA aber noch verbessert.
1926 – mein 80. Lebensjahr
Meinen 80. Geburtstag begehen wir im Garten des „Spandauer Bock“ mit meinen Kindern und deren Ehe-Spusis.
Anna hat inzwischen den Süßwarenladen aufgegeben und wohnt als Rentnerin in Berlin-NW 21, in der Wilsnacker Straße 60.
Unser jüngster Sohn Franz Runge hatte mit der Harley-Davidson seines Halbbruders Walter Ulrich einen Sturz. Der Junge ist schwer verletzt. Ein Milz- und ein Leberriss wurden im Krankenhaus am Theodor-Heuss-Platz (Nähe Funkturm) wieder geflickt. Nun soll er zur Nachsorgekur in den Schwarzwald. Dazu leiht er sich bei meiner Tochter Margarethe Sommer in Nowawes, seiner großen Halbschwester, eine finanzielle Unterstützung (das heißt: diese eigentlich von Max Sommer).
Meine Enkelin Anne-Marie Sommer, des Maxens Tochter, machte bei meinem Besuch kürzlich in Nowawes, dort im Hausgarten der Priesterstraße 68, einige photographische Aufnahmen von mir, ihrem alten Großvater Franz. Der Anlass meines Besuches war allerdings ein trauriger: Ihr großer Bruder Franz Sommer starb am 03. September an Krebs, der sich nach einer Knieverletzung beim Hockeyspiel ausbreitete. Da half selbst die Amputation des Beines nichts mehr. Traurig, gerade 20 Jahre alt ist er geworden und sollte doch später die Elektro-Firma des Vaters übernehmen.
Deutschland wird im September in den Völkerbund aufgenommen, nicht mehr als Kriegsaggressor geächtet. So kann man wieder etwas aufatmen und die Hanse der Lüfte darf auch als ziviles Flugunternehmen gegründet werden. Der ehemalige Exerzierplatz Tempelhofer Feld ist in den vergangenen Jahren zu einem Flugplatz umgebaut worden. So öffnet in diesem Jahr hier der weltweit erste zivile Flughafen für den Linienverkehr.
Die Zukunft will wissen: Für immer geschlossen werden soll er im November 2008, zugunsten des dann am Stadtrand liegenden „Großflughafens Berlin-Schönefeld // Berlin – Brandenburg – International“ – aber die Vorausschau traf nicht termingemäß ein. Mancherlei Verzögerungen mit Baukosten in ungeplanter schwindelnder Höhe führen dazu, dass der Neubau-Teil des Flugplatzes Ende Oktober 2020! dem Luftverkehr übergeben wird. Einige Tage später wird der Flugplatz Tegel für immer geschlossen).
1927
Schweren Herzens hatte ich mich entschieden, nun doch in das „Städtische Bürgerhaus“, das Altenheim, zu ziehen. Das gibt dem Leben Ruhe und einen Angelpunkt mit festen Regeln sowie bescheidener ordentlicher Versorgung. Die Adresse in Charlottenburg ist Sophie-Charlottenstraße 115 aber der Eingang durch den Torbogen und den kleinen Hauspark in der Mollwitzstraße ist wesentlich schöner.
Spaziergänge in der Stadt, allein und mit Maria sind trotz meines jetzigen Wohnens im „Stiftszimmer“ nicht ausgeschlossen. Maria bleibt hingegen in der Kirchbachstraße 19 wohnen.
Trotz meines damaligen Verkaufs des Hauses in der Spenerstraße ist Schwiegersohn Richard Eschert noch immer als Verwalter des Hauses bestellt. In diesem Jahr ist es Zeit, die Fugen der Schornsteinköpfe zu überarbeiten und die Verschlussbleche der Reinigungsöffnungen im Keller erneuern zu lassen. Als Hausbesitzer und Verhandlungspartner tritt inzwischen nicht mehr der Kaufmann Heschel-Bregmann, sondern ausschließlich seine Frau, inzwischen bitte Frau Dr. jur. Bella Bregmann, auf.
Der Brite Sir Alexander Fleming entdeckt aus Versehen einen Schimmelpilz mit bakterientötenden Eigenschaften in seinem Labor. Hieraus wird ein Antibiotikum, das Penicillin, entwickelt. Bisher hatte man zur Bekämpfung unerwünschter Bakterien Schwefelpräparate (Sulfonamide) zur Verfügung.
Die Firma Opel in Rüsselsheim testet ein Automobil mit Raketenantrieb.
Der amerikanische Postflieger Charles Lindbergh fliegt als erster Mensch völlig allein von New York nach Paris. Sein Flugzeug ist die „Spirit of St. Louis“ und stellt umgebaut quasi einen fliegenden Sprit-Tank dar. Doppelt so schnell wie das Luftschiff war er und benötigte ohne Schlaf, ohne Ablösung, 33,5 Stunden ununterbrochener Flugzeit. Eine schier übermenschliche Leistung. Viel Chocolade soll er verzehrt haben.
1928
Kinder, wie die Zeit wegrennt! Am 19. Januar: Feier der Silbernen Hochzeit meiner Tochter Fanziska und Richard Eschert in meinem „alten“ Hause in Moabit, Spenerstraße 32. 15 Mann hoch waren da: Liebnows, die Eschert-Kinder, deren Freundschaft, Anna, ihre Kinder und Enkel sind dabei. Ich aber nich.
Am 21. Oktober wird das Mariannchen als Kind meines Enkels Franz Seehafer geboren. Bei seiner Frau Gertrud haben bereits zu Hause die Wehen eingesetzt, aber sie soll ihr Kind in der schon vorbestimmten Klinik in Berlin-Mitte zur Welt bringen. Deshalb wird eine Droschke gerufen. Die Fahrt führt sie aber in eine eher unbekannte Gegend, weil der Fahrer den Weg zu einem gleichnamigen Krankenhaus in Steglitz einschlägt. Helle Aufregung. Ganz knapp, mit Müh, in höchster Not, erreichen sie grad' noch den richtigen Ort. Und der werdende Vater Franz ist bei der Geburt seiner Ersten und Einzigen mit dabei.
„Der Krieg als Mittel zur Lösung politischer Probleme wird geächtet.“ Dieser Übereinkunft tritt auch Deutschland bei. Man hofft wieder auf mehr Stabilität und Sicherheit.
Die Arbeitslosigkeit steigt aber leider bei einem neuen Höhepunkt der Wirtschaftskrise auf etwa
2 Millionen Menschen an.
In der Berliner Funkausstellung können wir heute zum ersten Mal "fern sehen". Ganz nah. Das „Fernsehen“ ist erfunden. Ein großer Holzkasten mit einem etwa 3 x 4 cm großen Bild in der Vorderfront, das uns schemenhaft irgendetwas nettes andeuten möchte. Gewiss ein hervorragender Fortschritt fürs Laboratorium – aber vom Mann auf der Straße nicht so recht zu nutzen und ein deutliches Bildchen, beispielsweise auf einer Streichholzschachtel, ist doch dagegen noch etwas größer und schöner.
Ende Mai stürzt der italienische General Umberto Nobile mit dem Luftschiff „Italia“ in der Nordpolar-Region ab. Ein Teil der Besatzung flog nach dem kurzen, harten Aufprall auf das Eis in dem zerrissenen nicht lenkbaren Luftschiff davon und wurde nie gefunden. Einige waren auf das Eis gestürzt, darunter auch der Kapitän und wurden, nach einem Monat des Wartens in grimmiger Kälte bei geringen Proviantresten, von Suchtrupps aufgespürt und gerettet.
Die elektrische S-Bahn (Schnellbahn, auch Stadtbahn aber noch ohne Speisewagen) nimmt zwischen Potsdam und Berlin-Friedrichstraße ihren durchgehenden Betrieb auf.
Nun wird der angekündigte Tonfilm Wirklichkeit. Klavierspieler und Filmerklärer sind jetzt nur noch Zuschauer – falls sie es wollen.
1929
Ärger mit den Leuten in der Spenerstraße 32 („3. Akt des Dramas in >meinem< Hause“). In der Nacht vom 2. zum 3. Februar herrschen hier - 23°C. Klirrende Kälte. Ein kalter Winter mit extrem niedrigen Temperaturen. Am 16. Februar bricht in der Wohnung des Schneidermeisters Karvet ein Schadensfeuer aus. Infolge der Unvorsichtigkeit beim versuchsweisen Auftauen von Wasserleitung und Abflussrohr, kohlen ihm die Fußbodendielen und daselbst Balken unter den Fußsohlen an. Was soll der Mensch dazu sagen? Schade drum. Aber mich geht das alles nichts mehr an, obwohl ich gerade eben wieder fühlte: „meine Dielen“ seien verkohlt. Das ist doch allein ein typischer Fall für den Schwiegersohn, Verwalter Eschert.
Seit dem 11. Februar besteht innerhalb der Stadt Rom, der Vatikanstaat mit 850 Einwohnern. –
Briand und Stresemann legen nun ebenfalls einen Plan für ein vereintes Europa vor.
Das Luftschiff „Graf Zeppelin“ LZ 127 umrundet den Erdball zuverlässig in 20 Tagen und legt dabei 24.000 Kilometer zurück.
Der „schwarze Freitag“ mit dem Börsenkrach in den USA hat Auswirkungen auch auf das Ausland. Auf unser Inland. Die Weltwirtschaftskrise beginnt, die bis nach 1933 andauern wird. Immer mehr Leute werden arbeitslos. Die Arbeitslosenunterstützung beträgt 10 Pfennige am Tag.
1930
Mein kleiner Enkel Hellmut, der 1903 geboren wurde so wie unser letzter Sohn Franz, (also der Sohn von Sohn Carl – nur erwähnt, damit ihr nicht durcheinander kommt), heiratet am
02. September die Telefonistin Lucie Höpfner. Mögen sie glücklich werden und sich Geborgenheit geben – die ich eigentlich immer suchte.
Die Weltwirtschaftskrise drückt auch Deutschland immer tiefer. 4,4 Millionen Arbeitslose sind es bereits. Die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) wird nach der SPD zweitstärkste Partei.
Mahatma Gandhi ruft das indische Volk zum gewaltfreien Widerstand gegen die ausbeutenden Kolonialherren auf. Das „Mutterland“ England reagiert mit militärischer Härte, mit Gewalt. Kein engelsgleiches Walten.
Ein kleiner, sonnenferner Planet wurde in unserer Milchstraße entdeckt und Pluto benannt.
Prof. Albert Einstein eröffnete die diesjährige Funkausstellung.
Der Berliner Max Schmeling wird Boxweltmeister.
Es kommen schnelle Schneuztücher aus weichem Papier auf den Markt; Tempo mit Namen.
1931
Neuerlicher Ärger mit den Menschen (4. Akt) in der Spenerstraße 32. Im Mai gibt es eine Ofenexplosion in der Wohnung des Kriminalassistenten A. Peter. Explosionen in >meinem< guten Hause! Schon allein der Umstand gemahnt an eine Kriminalgeschichte. Der Mensch (A. Peter) konnte aber nichts dafür. Schuld daran war der darunter wohnende Tischler Masch, weil er spiritusgetränkte Lappen im Ofen verbrannte. Man hört es so. Was sind das bloß für Mieter – aber es ist ja nicht mehr meine Sache. Doch die gar strenge Juristin Bella Bregmann wird es nicht gefreut haben.
Die Arbeitslosigkeit steigt in diesem Jahr auf fast 5,7 Millionen Menschen. Ist denn der Tiefpunkt, sind denn die mal wieder schwersten Zeiten, noch immer nicht erreicht?
Auf der diesjährigen Funkausstellung erneut Fernsehfreuden. Diesmal kann man schon mehr auf den Bildern erkennen. Hier ist nicht mehr die Nipkowscheibe, sondern ein elektronischer Strahl in einer Braunschen Röhre eingesetzt, um uns Bilder vorzugaukeln.
Siemens kann nicht nur große Maschinen bauen: Kürzlich hat er einen elektrischen Rasierapparat namens „Sirama“ vorgestellt. Der funktioniert ohne das Einseifen des Gesichts und schaben der Haut. Es gibt kein >sich schneiden< mehr.
1932
Es müssen in diesem Jahr knapp 7 Millionen Arbeitslose gezählt werden. Bei der Reichspräsidentenwahl erhält der 85jährige Hindenburg 53% der Stimmen (bei aller Achtung – was soll das – einen Knaben meines Alters und seiner Gebrechen an die Spitze des Staates zu schieben). Der vormals putschende kriminelle Hilfsbibliothekar und angehende Möchtegern-Kunstmaler Hitler bekommt 37% der Stimmen und der Kommunist Thälmann 10%. Gemeinsam verhindern getrennt die Deutsch-Nationalen, die nationalen Sozialisten und die Kommunisten eine neue ordentliche, demokratische Regierung.
Die Olympischen Spiele finden in diesem Jahr in Los Angeles statt.
1933
Am 27. Februar hat es im Reichstagsgebäude gebrannt. Nicht so von ganz alleine. Vermutlich Brandstiftung.
Bei der Reichstagswahl am 05. März erreichen die Nationalsozialistische Arbeiterpartei und die Deutsch-Nationalen vereint, die absolute Mehrheit. Wegen der Brandschäden und des Gestanks, so heißt es, findet die erste Sitzung des Reichstags der neuen Wahlperiode mit der Übergabe der Regierungsgeschäfte von Hindenburg an Hitler, vor und in der Potsdamer Garnisonkirche statt.
Am 30. April wird Hitler Reichskanzler. Bald werden alle Parteien außer der Hitler-Partei verboten. Die Gewerkschaften sowieso. Eine unerhörte Hetz-Propagandamaschinerie beginnt zu laufen. Kunst, Geistesschaffen und Zeitungen werden „gleichgeschaltet“ und streng zensiert. Abweichungen von der Linie geächtet, wohl bald verfolgt.
Ab Mai fegt der „Fliegende Hamburger“ ein dieselelektrischer Schnelltriebwagen durch das Land. Seine Reisegeschwindigkeit beträgt 125 Kilometer je Stunde. Die Höchstgeschwindigkeit wird mit 160 angegeben.
1934
Mein Enkel Günther Eschert hält Hochzeit. (Ich erinnere mich noch seiner Taufe, als ob es neulich gewesen wäre). Er ehelicht die um bereits 10 Jahre über ihm stehende Anni Wassermann. Versteh’s wer will. Irgendetwas muss schon an ihr sein. Bei mir zumindest wurden die Damen meines Interesses mit meinem steigenden Alter eher jünger.
Hitler, so sickert durch, habe Angst vor starken Nebenbuhlern. Wegen des „Röhmputsches“ lässt er viele Leute, besonders ähnlich ihm gesinnte Führungskräfte, sogar ermorden. Ebenso Intellektuelle, starke Charaktere, bei denen er eine mögliche Gegnerschaft wittert. Auch die erfolgreichen jüdischen Mitbürger scheinen besonders gefährdet.
Gegründet wurde, im krassen Gegensatz dazu und besonders sozial erscheinend, die gleichgeschaltete Volkserholungs-Organisation „Kraft durch Freude“.
1935
Nun bin ich schon häufiger recht müde. Mit 89 Jahren darf man es ja wohl auch sein. Jede kleinere Verrichtung, jeder längere Gang, strengt mich an. Die Zeit des Bäumeausreißens liegt hinter mir. Mit einigen wenigen der vielen Alten halte ich noch den Gedankenaustausch oder gehe spazieren, lasse die Bilder dieses merkwürdigen, „in gebogenen Linien“ durchlebten Erdendaseins an mir vorbeiziehen.
Neues interessiert mich nicht mehr so sehr – gut, technische Entwicklungen schon, das Bauwesen. Seltener mal zu hören, wie es bei den Kindern und Enkeln weitergeht. Aber ansonsten ... und vor der neuen Politik des 1.000-jährigen Reiches kann’s Einen bestenfalls grausen.
Am 16. März wird die Wehrpflicht eingeführt unter Verletzung der Auflagen des Versailler Vertrages. Ab 15. September ermöglichen es die „Nürnberger Gesetze“ anders denkende Mitmenschen, Menschen fremder Religion oder ausländischer Herkunft zu drangsalieren. „Konzentrationslager“ werden errichtet. Diese haben den Zweck erfasste missliebige Personen aufzunehmen (und derer scheint es mehr oder weniger plötzlich viele zu geben).
Trotz alledem laufen in den Kinos, wie ich höre, die ersten Farbfilme.
Die erste landwirtschaftliche Ausstellung, „Die Grüne Woche“, findet am Berliner Funkturm statt.
1936
Heute, am Sonntag, dem 19. Januar 1936, endet mein Leben im Charlottenburger Heim, im Städtischen Bürgerhaus, infolge meiner fortschreitenden Altersschwäche. Nun ja, zwar wollte ich hier mein Dasein gern mit einer „90“ (mit Eichenlaub) eher abrunden als krönen, es hat aber nicht sollen sein. Als einzigen verbliebenen Besitz habe ich einen schönen Ring mit einem Onyx-Halbedelstein. Eben, es war nicht alles edel. Viel mehr ist nicht zu vererben.
Meine inzwischen schon 22-jährige Enkelin Anne-Marie Sommer (in Nowawes) hat es übernommen, die Benachrichtigungen über mein Erden-Ende an Freunde und Bekannte zu schreiben. Viele sind es nicht mehr, denn die meisten sind schon lange vor mir gegangen. Deshalb kann es nicht mehr viele freuen. Manche werden zeitweilig ein Gedenken an mich bewahren.
Am 24. Januar trete ich, nun schon der Bürde des Alters ledig, in Ruhe und mit Leichtigkeit die letzte Fahrt an – zum Krematorium in der Gerichtsstraße 37 / 38 in der Nähe des Bahnhof Wedding. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass alles sauber, alles rein sein und sich auch kein Erdgetier an mir laben wird. Dort im Krematorium haben wir Kolumbarien (Urnen-Nischen) aber auch draußen begrünte Freiflächen. Ich werde mich in jedem Falle gut aufgehoben fühlen.
––––––––––––
Einige Nachbemerkungen:
1937
Im April wird das große Vierseiten-Runge-Haus in Berlin-Moabit,Spenerstraße 32, dessen Verkaufserlös während der Inflationszeit nichts mehr wert war, nun für 118.000 Reichsmark von Frau Dr. Bregmann weiterverkauft an ihren Berufskollegen Herrn Dr. Ludwig Ketteler, Rechtsanwalt und Notar aus Düsseldorf, der derzeitig in Berlin W 50, Prager Straße 22 wohnt. Immobilien sind oftmals Sicherheiten.
Wenige Jahre später
Im Zweiten Weltkrieg verlassen die Verwalter, Familie Eschert, das Haus und suchen für einige Zeit Unterkunft bei Schwester Margarethe (Sommer) in der Nowaweser Priesterstraße 68. Sie hatten es in der Spenerstraße 32, als der Krieg nach Berlin zurückkehrte, bei den Übergriffen und beim Sperrenbau, nicht mehr aushalten wollen. Und das war gut so, denn am Ende des Krieges wird auch dieses Haus bombardiert. Enkelin Friedel, die Älteste von Tochter Johanna Runge (erste Ehe Dankhoff / zweite Ehe Seehafer), hat aus den Schuttbergen nur noch eine Fußbodenfliese des Hausflures als Andenken an das Werk ihres Großvaters bergen können.
Immobilien erweisen sich mitunter als relative Sicherheiten – besonders in unsicheren Zeiten.
1941
Anna Runge und die Ulrichs (der Sohn Walter mit Familie) wohnen seit 1926 in Berlin-NW 21 in der Wilsnacker Straße 60, Ecke Birkenstraße. Wie der Name schon sagt, ist die Straße mit Birken bestanden, deren lichtes Grün sie erfreut. Von hier aus sind es nur wenige Schritte bis zu der Großen „Heilige-Geist-Kirche“ in der Birkenstraße, Ecke Perleberger Straße. Aber es muss nochmals ein Wohnungswechsel stattfinden, weil sie hier im Kriege ausgebombt werden. Das Notdomizil befindet sich in der Nähe der Deutschen Oper vor dem Neuen Tor. Aber nach dieser Notunterkunft gibt es später für die Familie nochmals eine eigne Wohnung: Brunnenstraße 42.
1946
Es stirbt am 29. März 1946 Anna Luise Runge, geborene Schütte, verwitwete Ulrich, in ihrem 81. Lebensjahr, in der Wohnung Berlin-Mtte, Brunnenstraße 42, in der sie mit Sohn und Schwiegertochter „Ulrich“ lebte.
(Sinngemäße Abschrift) C
Sterbe-Anzeige und -Eintrag Nr. 1830 / 1946
des Standesamtes in Berlin
|
Berlin, den 29. März 1946
Die Sozialrentnerin Anna Louise Runge geborene Schütte,
wohnhaft in Berlin, Brunnenstraße 42 *, ist am 29. März 1946 um 10 Uhr – Minuten in Berlin in der Wohnung verstorben.
Die Verstorbene war geboren am 28. Mai 1865 in Stüdenitz in der Mark.
Vater: –––, Mutter: –––– **
Die Verstorbene war verheiratet mit dem Rentenempfänger
Karl Heinrich Franz Runge, verstorben,
zuletzt wohnhaft in Berlin-Weißensee.***
Eingetragen auf mündliche Anzeige der Schwiegertochter, verehelichten Frieda Ulrich, wohnhaft in Berlin, Brunnenstraße 42. Die Anzeigende wies sich mit ihrer Kennkarte aus. Sie erklärte, von dem Sterbefall aus eigenem Wissen unterrichtet zu sein.
Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben
gez. Frieda Ulrich
Der Standesbeamte In Vertretung
gez. Brandt
|
Todesursache: Marasmus senilis (Altersschwäche mit Einschränkung von Organfunktionen) Eheschließung der Verstorbenen am 05. Juli 1902 in Neuendorf (bei Potsdam),
|
Schulze-Scan: C Ru Schuette 1946 - 035 Sinngemäße Abschrift: Chris Janecke
* Anna lebte vorher in der Wilsnacker Straße 60. Das Haus und all ihre Habe wurde bei einem Luftangriff zerbombt.
Daher zog sie mit Sohn und Schwiegertochter zuerst in eine Notunterkunft, dann nach Berlin-Mitte, Brunnenstraße 42.
** Die Eltern von Anna lebten in Stüdenitz bei Breddin (Prignitz): Landwirt August Schütte oo Sophie, geb. Schmidt.
*** Anna und Franz Runge lebten getrennt. Nachdem sein eigenes Wohnhaus in Moabit, Spener Straße 32 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, lebte er im Altenheim, „Bürgerstift“ in Berlin-Charlottenburg, Westend, Sophie-Charlotte-Straße 115 (nicht in Weißensee). Sein Leben endete im Altenheim am 19. Januar 1936.
Anhang:
Anschriftenliste der bekannten Runge-Anschriften
|
Jahre |
Lebens-alter |
Anschrift
|
1 |
1846 |
00 |
Berlin-Mitte, Linienstraße 48
|
2 |
1871 |
25 |
Weißensee bei Berlin, Goethestraße 25, (Eigentum) Kolonistenhaus und Zimmerei-Platz |
3 |
1876 |
30 |
Weißensee bei Berlin, Greifswalder Straße 9, Eigentum. Zimmerplatz in der Greifswalder Straße 25 (Eigentümer sind Carl Heinrich Franz Runge und Friedrich Wilhelm Julius Schmidt). |
- |
1877 |
31 |
Berlin, Stralauer Straße 49, Teil - Eigentum (Keine selbst genutzte Wohnung, sondern nur Kaufobjekt zur Vermietung) |
4.1 |
1886 |
41 (Marie) |
Weißensee bei Berlin, Marie R. weiterhin Goethestraße 25
|
4.2 5. 6.
|
um 1886 um 1898 |
40 (Franz) 54
|
Mit den Kindern:
Weißensee bei Berlin, Elbinger Straße 11, Parterre Neuendorf, Forststraße 12
|
7. |
1893 bis 1896 |
43 – 46 |
Spenerstraße 32 in Moabit. Eigentümer Franz Runge, Zimmermeister |
|
vor 1902 |
Anna Ulrich |
Neuendorf, Schulstraße 15 (altes Gebäude, abgerissen) |
7 |
1902 bis |
55 |
mit Anna Ulrich oo Runge: Neuendorf, Luisenstraße 16 |
|
1912 |
65 |
Neuendorf, Neubau Schulstraße 15, (Eigentum?) |
8 |
1915 |
69 |
mit Maria Zborowski: W 57 Schöneberg, Kirchbachstraße 19 |
9 |
1916 bis 1922 |
Franz R. |
(aufgeführt in den Adressbüchern: SW 68, Markgrafenstraße 1, II, Eigentümer). Die Richtigkeit der Personenidentität – oder nur Namensgleicheit – ist nicht gesichert). |
10 |
1926/ 1936 |
80 – 89 |
Berlin-Charlottenburg, Sophie-Charlotte-Straße 115 (Städtisches Bürgerhaus) |
11 |
bis zur Bomben-zerstörung |
Anna |
Wilsnacker Straße 60 - Ecke-Birkenstraße, nahe der Heilige-Geist-Kirche mit / bei Sohn und Schwiegertochter |
|
bis 1946 |
|
mit den „Kindern“ in Berlin-Mitte, Brunnenstraße 42. |
Die Wohnorttabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
In den Berliner Adressbüchern (Berliner Stadtbibliothek, Breite Straße bzw. online) gibt es weitere Runge-Anschriften, die sich aber nicht zuverlässig zuordnen lassen. Es gibt auch weitere Runge-Geschwister in Berlin (und deren Kinder). Auch der Vater unseres Carl Heinrich Franz Runge, Erdmann Daniel Franz Runge (1815 – 1883) war Zimmermann. Ich habe hier nur einmal die Runges notiert, die mit Vornamen Franz heißen und etwas mit dem Zimmerhandwerk zu tun haben:
1870 – 1873: F. Runge, Zimmermeister, Köpenicker Straße 59, IV.
1881 Fr. Runge, Architekt und Zimmermeister, NO, Landsberger Allee 141, I.
1892 Fr. Runge, Zimmermeister, NO, Landsberger Allee 136
1916 – 1922: Franz Runge, Rentier, SW 68, Markgrafenstraße 1, II, Eigentümer
1925 Franz Runge, Zimmerer, Schöneberg, Wartburgstraße 40, Erdgeschoss
1953
Seit dem Monat März wird an dem Abriss der Ruine dieses zerbombten vormals schönen, großen Hauskomplexes Spenerstraße 32 gearbeitet. Der Zimmereibetrieb Fritz Reichert ist damit beauftragt. Die Abbruch-Aufsicht obliegt dem Zimmerer Max Geissler aus der Essener Straße 10. Der gewaltige Häuserkomplex, dessen Errichtung ein knappes Jahr währte, bestand nur etwa ein halbes Jahrhundert. Er ist nicht mehr.
1955
Mit dem neuen Generalbebauungsplan von diesem Jahr, wird auch die Gesamt-Beräumung mehrerer Nachbargrundstücke beschlossen und 1958, am …
1958
….29. April begonnen. Ausgeführt werden die Abrissarbeiten von der Firma Karl Barthel, Lichterfelde-West, Malvenstraße 1. Die Arbeiten wurden am 22. Juli beendet. Seither erinnern an das Haus Spenerstraße 32 und Umgebung nur noch die hier ausgewerteten Bauakten, alte Fotos und eine Fußbodenfliese aus jenem Haus, in dem auch die Runge-Kinder mit ihren Familien lebten, unter der Kaffeekanne von Friedel Liebnow.
Auf dem gleichen Wohnplatz der Grundstücke entstanden in den 60-er Jahren Neubauten, an deren Rückfront sich ein kleiner Park anschließt.
Die Akte für dieses Haus auf Flur 52, Flurstück 114, Liegenschaftsbuch = Gebäudebuch-Nr.1540, 553 / 100, im Grundbuch Band 68 Nr. 3024 und Band 74 Blatt 3189 des Grundbuchamtes Tiergarten (bisher Moabit) wurde für immer geschlossen. (Die Bauakte wurde von Chris J. im Jahre 1994 im Landesarchiv Berlin, Kalckreuthstraße 1-2, 10777 Berlin, eingesehen und ausgewertet).
Ein späterer „Brief“ zu einer Erbschaft Potsdam-Golm, am 12. Juli 2016
Lieber Franz Runge und liebe Nachgeborene!
Dieser kleine Holzkasten gehörte ursprünglich Franz Runge, meinem Urgroßvater. Dieser lebte von 1846 bis 1936.
Der Behälter mit den Abmessungen ( 26 x 17 x 11 cm) besteht aus dunkelbraunem Holz und ist mit Maschinen-Schnitzereien versehen. Der Deckel besteht eigentlich nur aus einem rechteckigen Rahmen, in dem ein Bild Platz finden kann.
Diese Mini-Kiste diente dem Urgroßvater Runge wohl etwa ab 1866 zur Aufbewahrung seiner Tabakwaren und sie stand die längste Zeit in Berlin, in verschiedenen Häusern. Nach dem Ableben seines Erstbesitzers im Jahre 1936 erbte die Tochter des Franz: Margarethe diesen Kasten.
Im Jahre 1936 hieß sie, die Margarethe, allerdings schon drei Jahrzehnte nicht mehr Runge, sondern seit 1905: Margarethe Sommer, als Ehefrau von Max Sommer, dem Schlosser und Elektrotechniker. Seither stand der Kasten in Nowawes, Priesterstraße 68 (nach 1945: Potsdam-Babelsberg, Karl-Liebknecht-Straße 121).
Im Jahre 1949 endete das Leben der Margarethe Sommer. Ehemann Max war bereits Ende 1945 gestorben. Nun war der Kasten bereits über 80 Jahre alt und hatte unter anderem auch zwei Weltkriege überstanden. Leider waren am Holz deutliche Nutzungsspuren und Beschädigungen sichtbar. Irgend jemand hatte versucht den Holzkasten, der auseinander zu fallen drohte, mit Nagelungen provisorisch zu reparieren.
Aus dem Nachlass ihrer Mutter Margarethe übernahm deren Tochter Anne-Marie Sommer, verehelichte Janecke, diese kleine Truhe. Während dieser Zeit fügte sie in den Rahmendeckel ein Sonnenblumen-Bild ein. Der Kasten diente im Haushalt der Anne-Marie, der Aufbewahrung von Kämmen und Haarbürsten.
Als sich die Lebenszeit nun auch der Anne-Marie im Jahre 2003 neigte und ihr kleiner Haushalt nach ihrem Ableben aufgelöst wurde, übernahm nach geschwisterlicher Einigung, eines ihrer Kinder, der Sohn Chris Janecke den Kasten als Erbgut.
Nun, im Juli 2016 überarbeitete ich (Chris, der Erbe) dieses Behältnis: Er ergänzte nachformend ausgebrochene und abgesplitterte Holzteile, leimte Verbindungen nach, reparierte den gebrochenen Deckelboden und fügte auf der Deckel-Innenseite einen weiteren Halte-Rahmen ein, so dass in dem Kasten als Schmuck nun ein neues Außen- und (sichtbar im aufgeklapptem Zustand) erstmals auch ein Innen-Bild Platz fanden. Nach Abschluss dieser Arbeiten beizte ich den Kasten mit Lackbeize wieder auf einen einheitlichen Farbton – Eiche, dunkel. Obwohl der Holzbehälter in diesen Tagen etwa 150 Jahre alt ist, sieht er nun wieder neu aus, wahrscheinlich ähnlich wie an seinem ersten Tag.
Bei den letzten Handgriffen hatte ich das Gefühl des Absenders einer Flaschenpost – nur eben ohne Flasche. Ich legte eine handgeschriebene Notiz mit dieser Geschichte des Kastens zwischen die beiden Bilder der Blumen. Unsichtbar.
So aufgefrischt wird dieses Gehäuse in meinem Haushalt nun als Nähkasten genutzt. Vielleicht „erlebt“ es nochmals 150 Jahre? Eventuell wird das eingelegte Notizblatt „mit dieser Kastengeschichte“ nie entdeckt.
Freundlich grüßt Euch Euer Chris Janecke
Angaben zur Familie des 2. Kindes von Franz Runge und Marie Glaeser: Johanna Wilhelmine Marie Runge (verehelichte / verwitwete Dankhoff, verheiratete / verwitwete Seehafer).
Johanna, genannt Hannchen, wurde in Weißensee bei Berlin am 11. März 1873 als zweites Kind der Familie Runge geboren. Am 7. März 1889 wurde sie in der evangelischen Kirche St. Markus zu Berlin konfirmiert. Ihre erste Ehe schloss sie mit
18 Jahren in Berlin am 29. Dezember 1891 mit dem Fleischermeister Friedrich Wilhelm Dankhoff (auch Dankhof geschrieben), der in Zeitz am 09. Juni 1865 geboren war aber bereits knapp zwei Jahre nach Eheschließung mit 28 Jahren in Berlin, am 23. Oktober 1893 an der Lungenschwindsucht starb. Am 27. Oktober 1893 beerdigte man ihn auf dem Friedhof der Moabiter Johanniskirche.
Aus dieser kurzen Ehezeit stammte die Tochter Frieda Johanna Dankhoff (genannt Friedel), die in Berlin am 07. Oktober 1892 geboren war. Friedel heiratete den jungen Gustav Hermann Gottfried Liebnow (geboren am 30. Mai 1898) in Berlin, am 22. Oktober 1923. Das Ehepaar lebte in Berlin-Pankow, Miltenberger Weg 16, 2 Treppen hoch. Diese Ehe blieb kinderlos. Gustav war ein höherer Beamter, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat fiel. Witwe Friedel lebte nach dem Tod ihres Mannes bei ihrer Halbschwester Dörthe (aus der zweiten Ehe „Seehafer“ ihrer Mutter) in Berlin-Neukölln, Treseburger Ufer 44.
In den 1950-er Jahren hatte Friedel eine Brustoperation und seitdem einen ständig stark geschwollenen, schmerzenden, kaum bewegbaren Arm. Im höheren Alter wurde dieser Arm amputiert und von da an ging es ihr relativ besser. Zum Lebensabend wohnte Friedel in einer kleinen Wohnung im Britzer Damm 106, Tel. 6 06 74 52. Ihr kleines Vermögen wollte sie eigentlich der Tierpflege zugute kommen lassen. Friedel starb am 23. Februar 1982 unter seltsamen, nie aufgeklärten Umständen. Ihr Testament wurde kurz vor ihrem Ableben geändert, zugunsten einer Pflegeperson des Caritas-Pflegedienstes.
Nun zurück aber zu ihrer Mutter Johanna: Knapp drei Jahre nach dem Ableben ihres ersten Ehemannes Friedrich Wilhelm Dankhoff, heiratete Johanna am 08. August 1896 Emil Julius Seehafer, geb. 05. November 1865 zu Althof im Kreis Bromberg. Er ist ein Sohn des Ackerwirts Friedrich Seehafer und seiner Ehefrau Albertine Caroline geb. Diedrich. Johanna und Emil wohnten später gemeinsam mit Johannas Geschwistern (aber in getrennten Wohnungen) im Hause Spenerstraße 32, in Berlin-Moabit, in dem Haus, dass ihr Vater Carl Heinrich Franz Runge (Zimmer- und Maurermeister) gebaut hatte. Etwa in der Zeit zwischen 1907 und 1928 lebten sie in Pankow, Blankenburger Straße 2, II Treppen hoch.
Aus dieser Ehe stammen:
Franz Seehafer. Er wohnte zeitweilig in Berlin-Dahlem, Corrensplatz 1 (bei Steinke und Stoyke) Tel. 56 38 38 und heiratete dort die Tochter des Hauses: Gertrud Stoyke. Das junge Paar hatte eine Tochter: Marianne. Das Ehepaar Franz und Gertrud zog nach Berlin-Niederschönhausen, Lindenstraße 22 a, das ist die spätere Grabbeallee 22 a. Später zogen Franz und Gertrud nach Berlin-Charlottenburg, Akazienweg 15, I, Tel. 13 01 61. Tochter Marianne heiratete Hans Otto. 4 Kinder wurden in dieser guten Ehe geboren.
Dorothea Seehafer (genannt Dörthe), geboren am 01. Mai 1900, heiratete Bruno Kühnbaum (genannt Peter). Die Ehe blieb kinderlos. Angeblich wollte Bruno keine Kinder wegen einer früheren Lungenschussverletzung, wegen der er sich keine hohe Lebenserwartung ausrechnete. Sie wohnten unter anderem im Hause Treseburger Ufer 44. Peter = Bruno starb am 20. Juni 1981, Dörthe starb am 13. Februar 1985. Ihre letzte Wohnung war in Neukölln (Britz), Hannemannstraße 61. Dörthe und Peter hatten im Alter als Haushaltshilfe die Krankenschwester Frau Traute Sager aus Kleinmachnow.
Anneliese, verheiratet mit ? Lindner. Eine Tochter.
Elisabeth Irmgard (genannt Irmchen), geb. 21. Okt. 1907 in der Blankenburger Str. 2, II, verheiratete Wolter. 3 Kinder: 2 Jungen, ein Mädchen.
Wohnorte
Emil Seehafer: Bis zur Hochzeit mit Johanna Runge 1896: Berlin, Lehrter Straße 55a. Das Haus, ein wohl sechsstöckiges Miethaus, steht an der Ecke Perleberger Straße.
Johanna Runge: Bis zur Hochzeit mit Emil Seehafer 1896: Moabit, Spenerstraße 32.
Die anschließend gemeinsame Wohnung des Paares wird um 1907 bis nach 1928: Berlin-Niederschönhausen, Blankenburger Straße 2, II Treppen, dann
Berlin-Niederschönhausen Lindenstraße 22a = Grabbeallee 22a
Tätigkeiten des Emil Seehafer:
Um 1896 Wachtmeister
Um 1907 Büroassistent
Um 1935: Stadtoberinspektor
Emil Seehafer wurde seit Juni 1945 auf dem Treck „zurück nach Deutschland“ bei Grönau vermisst. Wahrscheinlich ist er umgekommen. Seine Ehefrau Johanna starb am 12. August 1946 in Berlin-Niederschönhausen, Grabbeallee 22 a. (In einem Dokument wurde auch Grabbeallee 23 e erwähnt, vermutlich fälschlicher Weise; es traf wohl nur eine der Anschriften zu).
Genauere Angaben waren uns wegen der Teilung Deutschlands und dem Ableben von Hellmut Runge nicht bekannt. Die hier notierten Angaben zur Linie der Seehafers übermittelte Dörthe Kühnbaum, geborene Seehafer aus Berlin in ihrem 84. Lebensjahr telefonisch aus dem Kopf an ihre Cousine Anne-Marie Janecke, geborene Sommer, am 12. Januar 1984.
Nun noch ein Blick weiter zurück in die Familie Seehafer!
Urgroßvater Friedrich Seehafer (Gen. 05) lebte als Landwirt in Althof im Kreis Bromberg (Westpreußen). Später verzog das Ehepaar in den Ort Krone an der Brahe nördlich von Bromberg. (Bezeichnung nach dem 2. Weltkrieg, in Polen liegend: Koronowo na Brda). Dieser Friedrich Seehafer hatte wohl mit seiner Frau 10 Kinder:
Die Söhne:
Albert Seehafer, Lehrer
Gustav Seehafer, Beamter in Metz
Emil Julius Seehafer Wachtmeister / Stadtoberinspektor in Berlin
Rudolf Seehafer, Zollbeamter
Otto Seehafer, Landwirt
Und die Töchter:
Alwine // Emilie // Lina // Martha // Paula.
– Ende –