Große Ferien – Schierke im Harz 1960
Zusammengestellt von Chris Janecke, Bearbeitung Juli 2019, E-Mail: christoph@janecke.name
Zu diesem Text findest du unten einige Bilder.
Im August halten wir uns in Schierke im Harz auf. Ach, wie ist unsere Heimat doch so schön!
Wir, das sind aber nur ein Teil unserer Familie, das sind Vati, meine Schwester und ich. Wir dürfen zwei Wochen im Handwerker-Erholungsheim in Schierke verbringen, weil der Familien-Kleinstbetrieb unserer Eltern als Handwerksbetrieb mitgezählt werden kann.
Vati hat die Hälfte seines 60. Lebensjahres überschritten. Meine Schwester ist 17½ Jahre jung.
Ich habe das 8. Schuljahr am Anfang des vorigen Monats vollendet und bin 14½ Jahre alt.
Somit haben Vati und meine Schwestern Urlaubszeit, ich aber bin in den Großen Schul-Ferien.
Nur Mutti kann leider nicht mitfahren. Sie muss zu Hause bleiben und führt inzwischen in Babelsberg das Geschäft und den Haushalt ganz alleine weiter – ohne Erholung. Ganz alleine? Sie hat unseren jüngsten Bruder, zur Unterhaltung und als tüchtige Hilfe. Er hat gerade die Kindergartenzeit zurückgelegt und freut sich schon sehr auf das erste Schuljahr.
Mutti war auch in Schierke zur Erholung – allerdings im Jahr 1928, als sie etwa so alt war wie ich jetzt, mit ihrer Mutter Margarete, ihrer Tante Johanna Seehafer, ihrem Vater Max Sommer aus Nowawes und ihrer jugendlich-gleichaltrigen Freundin Annemarie (genannt: Mausel) Muster, der Tochter ihres Tauf-Patenonkels, des Potsdamer Architekten Paul Muster. Gern hätte sie den Ort noch einmal gesehen und sich bestimmt an viele Einzelheiten des damaligen Aufenthaltes erinnert. Aber über ihr in-Babelsberg-bleiben-müssen klagt sie nicht. Wir aber sollen statt ihrer nachschauen, ob die damalige Pension „Waldesruh“ der Wirtsleute Massow heute noch steht und ob in der Bode noch der große „Sofastein“ liegt, auf dem die damaligen Mädels sich gerne aalten und auch ein Erinnerungsfoto knipsten. Vielleicht ist er ja auch inzwischen zerbröselt. Zumindest werden wir ihr schon mal per Post und dann nach unserer Rückkehr, über alles ganz genau berichten, vielleicht sogar bildlich vorführen können.
Der 1. Urlaubs- und Ferientag
Unsere Fahrt in den Urlaubsort ist „nicht so ganz ohne“, denn außer unseren zwei großen Koffern und der Ein-, Um- und Aussteigehilfe für den stärker gehbehinderten Vater, haben wir ja in Potsdam, Magdeburg, Halberstadt, Wernigerode und Schierke auch immer den „Selbstfahrer“, den schweren, langen Rollstuhl mit Stahlrohrrahmen (wird man später vielleicht sagen, wenn derartige Typen gar nicht mehr bekannt sind), fix in den Gepäckwagen des Zuges zu bugsieren, bzw. beim Aussteigen schnell wieder in Empfang zu nehmen, weil die Bahnen bei unserem Umsteigen auf den Bahnhöfen, nicht lange halten. Wir aber sind ja verhältnismäßig gut aufeinander eingespielt, so dass alles klappt.
Ein echtes Kunststück ist das wohl sowieso nicht. Zu den zurückliegenden Kuraufenthalten von Vati, hatte Mutti das mit Unterstützung der guten Leute von der Bahn alleine zu bewältigen. Und auch das schaffte sie.
Also, bei uns fing es damit an, dass wir den Selbstfahrer halb rollend, halb tragend die Treppe zur S-Bahn des Bahnhofs Babelsberg hochwuchteten. Das sind 36 Stufen, zwischendurch mit 2 Absätzen „zum Erholen“, um von Höhenniveau der Straße auf die Bahnsteighöhe von 5,40 m zu kommen.
Ich notiere euch mal unseren Fahrplan, damit ihr unseren Weg kennenlernt: Die Verbindung war ja aus dem Kursbuch schnell herauszulesen und ein freundlicher Bahnangestellter half mir dabei:
Bahnhof | Zugart | ab / an | Fahrzeit (min.) | Entfernung (km) |
---|---|---|---|---|
Bf Babelsberg | S-Bahn | 08.10 | ||
Bf Potsdam Hbf | 08.13 | 3 | 3 | |
Bf Potsdam Hbf | D-Zug | 08.38 | ||
Bf Magdeburg Hbf | 10.00 | 82 | 125 | |
Bf Magdeburg Hbf | Beschl.P-Z | 10.26 | ||
Bf Halberstadt | 10.56 | 30 | 60 | |
Bf Halberstadt | Eil-Zug | 11.03 | ||
Bf Wernigerode | 11.17 | 14 | 22 | |
Bf Wernigerode | Pers.-Zug | 11.40 | ||
Bf Schierke | 12.41 | 61 | 23 |
Reisezeit: 4 Stunden u. 31 Minuten
Reine Fahrzeiten: 3 Stunden u. 10 Min.
Reiseweglänge: 230 km
Am Fahrplan erkennt ihr schon, dass der 1. Ferientag, bezogen auf den Urlaubsort, eigentlich nur ein halber Ferien-Tag ist.
Zur Erläuterung: Diesen Fahrplan schätzte ich im Jahre 2011 nach üblichen Fahrzeiten. Die Entfernungen sind etwa gleich geblieben. S-Bahn ist die elektrische Schnell- oder Stadtbahn. Der D-Zug ist eine schnelle Durchgangsbahn, die nur auf wenigen Hauptstationen hält. Für den D-Zug wird ein Fahrkarten-Preiszuschlag von 3,- DDR-Mark erhoben. Der beschleunigte Personenzug hält nicht auf allen Unterwegsbahnhöfen – ähnlich wie der noch schnellere Eilzug, für den ein Kostenzuschlag von 1,50 DDR-Mark erhoben wird (bei uns ist er aber im D-Zug-Preis bereits enthalten). Der Personenzug ist der langsamste. Er hält auf jedem Bahnhof. Der Reisekilometer kostet 8 Pfennige in unserer 2. Klasse. Für die Fahrt in der 1. Klasse wären 11 Pfennige zu entrichten. Wir bezahlen also etwa 21,40 je Person (230 km x 0,8 Mark/km = 18,40 M zuzüglich 3,-- D-Zug-Zuschlag).
Die Fahrzeit verging schnell – wir spielten „Stadt-Land-Fluss- ...“ und „Käsekästchen“ sowie „Onkel Otto plätschert lustig in der Badewanne“, betrachteten die besonnte, erntereife Sommerlandschaft und achteten natürlich darauf, das wir uns jeweils rechtzeitig auf das Umsteigen vorbereiteten. Ich hatte ja zur Konfirmation von den Eltern eine Armbanduhr bekommen, in Glashütte hergestellt, damit war alles kein Problem.
Am Zielbahnhof angekommen. Auf dem Weg vom Bahnhof Schierke zum Ort, auf dem es stets abwärts geht, werden dann die Bremsen des Selbstfahrers glühend heiß und irgendetwas verzieht sich am Fahrzeug und schleift – eine Begleitmusik, dem Zirpen einer Grille ähnlich. Vom Bahnhof bis zum Ortsbeginn sind es etwa 1,25 km und von dort aus bis zum Heim in der Dorfstraße nochmals etwa 1,14 km. Könnten wir vom Bahnhof aus wie die Vögel oder die Brocken-Hexen, die Luftlinie zum Erholungsheim wählen oder zumindest den steilen, für uns aber zu schmalen Waldpfad, dann wären wir bereits nach 670 m am Ziel. So aber, wie es ist, ist unser Weg 3,6 x so weit. Insgesamt legen wir, den größeren Koffer quer auf dem Selbstfahrer-Rahmen liegend, den stets abwärts führenden Weg recht zügig zurück. Einmal fragen wir sicherheitshalber zwischendurch nach dem Weg, um mit dem Gepäck nicht etwa einen Umweg zu riskieren, hören dabei eine Bestätigung unserer Wegeabsicht.
Das Erholungsheim für die Handwerker steht in Unterschierke, im tiefer liegenden Süden, in der Dorfstraße 9. Unterschierke ist nur ein Teil des Ortes, aber wohl schon seit Ausgang des Mittelalters die Dorfmitte, denn hier standen schon immer die Kirchen. Zurzeit die dritte der nachweisbaren Bauten solcher Art.
Das Handwerker-Erholungsheim war früher das private Hotel der Familie Hoppe. Heute gehört es der Handwerkskammer Potsdam und scheint uns schon deshalb von weitem ein bisschen vertraut. Viele der Erholungssuchenden kommen deshalb auch aus dem Bezirk Potsdam. Es war wohl nicht leicht, diesen Urlaubsplatz zu erhalten, denn die Urlauber müssen „zuverlässige und ehrliche Menschen“ sein, da der Ort Schierke im Grenzgebiet liegt. Bis an die Grenze zur BRD ist es nicht weit. Braunlage ist der naheste West-Ort und sogar der Brocken ist ja „geteilt“, also „begrenzt“ kann man ebenso sagen und er wird so zur doppelten Freude – für die West- und die Ostdeutschen, gemeinsam getrennt. Der gesamte Gipfel gehört aber ausschließlich zur DDR. Wieso wir den Urlaubsplatz trotzdem bekommen haben, nach diesem politisch eher schwierigen Schuljahr – hat denn niemand Sorge, dass wir mit dem Versehrten-Rollstuhl eventuell die DDR-Staatsgrenze anschubsend verletzen könnten, um uns ins Elend zu begeben? Aber solche trüben Gedanken quälen uns nicht so sehr. Vielleicht wechselten die Informationen nicht zu schnell und nicht so sehr hin und her. Wer weiß dazu mehr?
Bei der Ankunft mahnt oder ermuntert ein großes Transplakat an der Fassade des Heims alle Erholungssuchenden mit der Losung: „Vorwärts zu neuen Erfolgen im 2. Fünfjahrplan“. Ja, nun, gewiss, was denn sonst? Sind wir nicht deshalb extra hierher gekommen?
Im Hause bekommen wir in der Etage über dem Hochparterre, also über der Club-Veranda und dem Kultur-Speisesaal, links am Ende des langen, breiten Ganges und somit ganz außen, ein hinreichend großes, zweckmäßig eingerichtetes Zimmer mit drei Betten, Nachttischen, Schrank und dem Tisch mit Stühlen. Alles Wesentliche ist vorhanden. Es ist freundlich, sauber und das Schönste: Ein großer Eck-Balkon. Vom Balkon aus blicken wir in das Elendstal auf Bäume (das ist aber heutzutage gar nicht so schlimm, wie es sich anhört – ich schreibe später noch etwas Beruhigendes dazu) ... auf Bäume also, zwischen denen sich die schmale Bode (dieses Flüsschen) schlängelt – vielleicht 70 bis 80 m vor uns, aber von den Baumwipfeln überkront, so dass das rauschendes Gewässer unseren Blicken entzogen ist..
Die Feriengäste treffen nach und nach im Heim ein. Die meisten mit der Bahn. Wir gegen 13.20 Uhr. Deshalb gibt es heute noch kein gemeinsames Essen und jeder kann dort Platz nehmen, wo er möchte und nach längerer Reise gleich mit dem Essen beginnen. Erst morgen werden wir platziert, wie es sich gehört. Weil sich eine andere aufwändigere Mahlzeit ungünstig zu allen möglichen Zeiten der Ankunft servieren ließe, gibt es zur Begrüßung eine kräftigende Brühnudelsuppe mit Weißbrotscheiben, so viel wie jeder essen möchte und ein Schälchen Obstkompott. Diese Verfahrensweise ist mir aus den Kindererholungsheimen, in denen ich sein durfte, vertraut.
Ein Radio gibt es nicht im Zimmer aber wir (also Vati nicht) summen oder trällern auch mal die gängigen Melodien, die zu Hause mittwochs die „Schlager der Woche“ von und mit Fred Ignor bringen. Dazu gehören beispielsweise: – Ach nein, ich merke schon beim Zusammenkritzeln – das wird jetzt zu lang. Ich weiß es aber schon – wir brauchen nicht dringend ein fremdes Radio für unsere eigene Musik und unser Vater bevorzugt sowieso eher Weisen aus Opern, Operetten oder dem Volksliedgut. Na gut.
Nun ist das Auspacken der Koffer angesagt und bei den folgenden Mahlzeiten heißt es, die anderen Handwerksleute in der Umgebung unseres künftigen Stammplatzes kennenzulernen. Ob denn viele vom Alltag mit Sägemehl bestaubte Tischler, wettergegerbte Zimmerer in schwarzen, perlmuttknopfbesetzten Cordanzügen und Hut, Maurer mit ausgearbeiteten, schwieligen Händen und Schmiede (so stark wie Bären aussehend) unter den Erholungssuchenden sind?
Der 2. Tag
Schierke liegt auf etwa 580 bis 640 m Höhe über dem Meeresspiegel (N. N. = Normal Null). Das ist keine ungefähre Angabe, sondern will uns zeigen, dass es im Ort stärker bergauf und bergab geht. Die Gesamtlänge des Dorfes mag reichlich 3 km betragen. Im Ort leben ungefähr 600 Einwohner. Viel mehr Platz und oft in größeren Häusern ist aber für Urlaubsgäste vorgesehen, welche in ihrer Anzahl die der Einwohner um ein Mehrfaches übertreffen.
Im Jahre 1590 wurde der Name des Ortes erstmals in den alten, also damals völlig neuen, Urkunden erwähnt – allerdings noch nicht als Urlaubsort.
Recht schnell merken wir, dass nur die Gäste „Schierke“ sagen, so, wie der Laie es eben liest. In der Harzer Mundart wird der Ortsname „Schirrke“, also ordentlich, ausgesprochen. Das hat aber nichts mit Geschirr, nichts mit Ski (Schi / Schier) und Rodel zu tun, denn der Ortsname bedeutet „Blankes Holz“. Warum – fragen wir uns, denn die gesunden Bäume sind nicht blank, sondern besitzen eine Rinde, die auch meist rau ist. Häufig sind das wohl Fichten. Zumindest jetzt, in unserer Zeit. Es ist ein Harzer Urwald heut' nicht mehr. Aber vielleicht haben sich auch nur die sprachforschenden Wissenschaftler ein bisschen geirrt und ein sehr ähnliches Wort bedeutet etwas ganz anderes? Ich werde mal unseren viel wissenden Großonkel, den Philologen, Sprachforscher und Volksbuchwart, Dr. Wernher Bauer, um seine Meinung bitten.
Wir wollen den Ort und die Umgebung möglichst gut erkunden, zumindest soweit, wie wir mit Vatis Rollstuhl kommen, denn wir wollen und können ihn ja nicht im Erholungsheim allein sitzen und sich dort erholen lassen - dieweil wir dann alleine wie die Gemsen oder Steinböcke .... das wäre nicht d i e gemeinsame Erholung.
Erkunden, ja, mit den Augen - aber dazu gut vorbereiten ist schwierig. Eine günstige und wirklichkeitsgetreue Karte der Umgebung gibt es im sozialistischen Einzelhandel nicht – nicht für die Wege hier im Grenzgebiet. Eine genaue Wanderkarte könnte ja zum stillen Fluchthelfer in Richtung BRD werden. Zugelassen ist unsere übliche Harz-Karte im Maßstab 1:100.000 – doch diese ist mehr für schnelle Autos geeignet, als dass sie uns den Ort abbilden würde und die Fußwanderziele der näheren Umgebung zeigte. Macht nichts – so haben wir mehr echt zu erforschen.
Der 3. Tag
Es dauert nicht lange, bis wir uns mit anderen Gast-Familien anfreunden – aber in solch einer eher seltenen „Handwerksbranche“ wie unser Vater, ist keiner dieser anderen guten Leutchen tätig. Somit findet er keine direkten Anknüpfungspunkte für eine Fachsimpelei – muss ja im Urlaub auch nicht unbedingt sein.
Oft sind wir mit der Familie des Bäckermeisters H. aus Jüterbog, mit ihrer hübschen, frischen, kräftigen Tochter zusammen. Dann ist da noch das Bäcker- und Konditormeister-Ehepaar St. aus Potsdam, mit ihrer schwarzhaarigen, ebenfalls schönen, lebhaften Tochter. Aber auch für diese bin ich, weil noch zu jung sowieso, nicht weiter interessant. „Leider“ könnte ich anfügen ... aber, Kopf hoch, es gibt ja noch mehr Menschen, die sich hier versammelt haben.
So gehe ich durchaus nicht leer aus, sondern freunde mich, mit Herzklopfen, mit der süßen, blonden, zarten Ursula N. aus Nordhausen an. Ursel ist ein knappes Jahr jünger als ich, und somit bin ich diesmal der Große. Schon jetzt bin ich also dafür gewappnet, falls im September das Aufsatzthema „Mein schönstes Ferienerlebnis“, als Hausaufgabe kommen sollte. Na ja, Spaß beiseite – im Ernstfall würde ich darüber natürlich trotzdem nichts aufschreiben. Ursels Vater muss wohl irgendeinem Büro-Handwerk nachgehen, zumindest ein Chef sein, denn er trägt selbst im Urlaub stets einen Anzug und ist Schlips oder Krawatte eingeschnürt. Er ist kein Waldwanderer. Auch Ursels Mutter sieht recht vornehm aus.
Der 4. Tag
Heute ist es regnerisch und daher wird kurzerhand ein Briefschreibe- und Lese-Tag vorgesehen. Fix beschaffen wir uns vom Kiosk gegenüber einige Ansichtskarten. Die Tochter unseres Vaters schreibt zuerst an Mutti und Bruderkind in Potsdam-Babelsberg, wir setzen unsere Grüße dazu. Ich schreibe an diesen und an jenen, an die Klassenkameraden nicht – es sind ja Ferien und die Post würde in der Kellerwohnung der Babelsberger Schule 17 beim Hausmeister, Herrn Roelofsen, liegen bleiben (er betont gerne, dass er im „Souterrain des Schulgebäudes“ lebe). Bei ihm muss jeder vorbei. Aber unserem Biologielehrer Fritz-Peter Gnerlich sende ich eine Karte. Er wohnt in der Potsdamer Lennéstraße 12 a, im Hinterhaus oder besser beschrieben: im Gartenpalast. Mit einem Sprung über den Zaun könnte er schon im Park Sanssouci sein. Wegen seines Rheumas springt er jedoch wenig. In den schönen Park kann er ja zumindest immer dann blicken oder gehen, wann er es möchte und wenn er seine Schulvorbereitung erledigt hat. Im kommenden Schuljahr wird er dann den grundguten Herrn Willy Donath als unseren Klassenlehrer ablösen. Das wissen wir schon.– Es wird so ein Tausch: von prima – zu prima.
Wir spielen heute gemeinsam „Stadt – Land“ und „Mensch ärgere dich nicht“. Die Bibliothek des Erholungsheimes haben wir natürlich bereits besucht und uns manches ausgeliehen, uns „reich eingedeckt“, falls eine Serie von Regentagen folgen sollte.
Doch schon kommt die Sonne aus dem Wolkengetürm wieder heraus und wir erledigen einige Erinnerungsfotos, damit Mutti später sehen kann, wie gut es uns hier ging. Meine kleine Pouva-Start ist nicht dabei. Vor einiger Zeit hat sich Hartwig einen noch besseren Fotoapparat, die „Exacta“, zusammengespart und ich habe seine „Exa 1“ geerbt. Dieses schwarze Bakelit-Gerät probieren wir jetzt aus. Wir benutzen einen gleichen Rollfilm wie für Muttis Agfa-Box von 1927, aber es passen auf den Film nicht nur 8 Bilder des Formates 6 x 9 cm, sondern 12 Stück schwarz-weiß-Fotonegative im Format 6 x 6 cm. Es ist eben eine moderne Kamera.
Zuerst fotografiert meine Schwester uns, Vati und mich, im Zimmer vor dem hellen Fenster sitzend. Also von mir ist so eine Art schwarzer „Scherenschnitt“ erkennbar und vom Vater der durchsonnte, bereits etwas schüttere Haarschopf. Sehr schön. Dann das große Hin- und Herrücken meiner Schwester auf dem Balkon, bis das gnädige Fräulein die richtige Positur eingenommen hat, um ebenfalls abgebildet werden zu können. Wie auf einem Zeitschriftentitelbild und ganz doll gefährlich über dem Abgrund schwebend, so mit halber Po-Backe auf der Balkonbrüstung „au – Backe, – recht fotogen, damit kann sie sich brüsten.
Anschließend unternehmen wir einen Spaziergang, um den Ortsteil Oberschierke näher zu erkunden.
Am Abend des 5. Tages
Es strömen ungewohnt viele Leute zum Kino und wir strömen den für uns nur kurzen Weg mit, leisten uns das Vergnügen. Es wird ein westdeutscher Farbfilm gezeigt: „Ich schwöre und gelobe“, Geheimnisse in einer Frauenklinik, ist sein Titel. P 18. Zwar bin ich, wie schon angemerkt, 14 ½, sehe aber doch recht verständig und vernünftig und vor allem groß aus, grad so wie etwa 18-jährig. Außerdem komme ich ja nicht als neugieriger Halbstarker, sondern als unerlässliche Begleitperson und Stütze meines Vaters. Die Kontrolle am Einlass führt zu einem ähnlich schönen Ergebnis, wie meine ein Jahr vorzeitige Mopedprüfung. Es ist alles okay oder auch otlitschno. Der Film handelt von werdenden Müttern, einer Geburtskomplikation, chirurgischen und menschlichen Schwierigkeiten mit Todesfolge und einer Gerichtsverhandlung. Mit dem Chefarzt Dr. Feldhusen, dem Dr. Neugebauer und der Patientin Frau Roth, die mit der roten Baskenmütze – es ist also wahrlich kein Lustspiel. – Puh!
Tags darauf muss ich der wissensdurstigen Ursel, die ja nicht mitdurfte, alles genauestens berichten, habe aber dann doch einiges weggelassen, was die allerinnersten Frauensachen betraf. Wahrscheinlich wäre ihr das Fortgelassene am Wichtigsten gewesen – aber das so richtig zu erkennen und zu benennen, war für mich schwierig und ein wenig schüchtern-gehemmt war ich ihr gegenüber dabei auch, um über das Innenleben der Schwangeren nun große Reden zu führen, alles noch besser darzustellen, als die Ärzte es vor Gericht taten.
Vom Heim zum Kino haben wir es nur etwa 200 m weit. Das Lichtspieltheater liegt an der Verlängerung der Dorfstraße (Sackgasse) in Richtung Bode, es ist ein Anbau an der „Alten Burg“. Das Kino trägt keinen eigenen Namen. Die Leute kommen auch so. Es sieht schlicht und einfach aus, ist eine große, fensterlose Holz-Baracke. Ganz links befindet sich der doppeltürige Eingang mit Kartenverkauf und strenger Alters-Gesichtskontrolle.
Die „Alte Burg“ ist noch ziemlich jung. Sie wurde „recht verspielt“, eben wie eine uralte Burganlage mit Türmchen und Söller (mit Schießscharten) aber erst 1888 als Wohnanlage errichtet. Der Bauherr war der Oberstleutnant Schumann aus Magdeburg. Nicht lange hat er hierin gewohnt, denn bereits 1892 verkaufte er das Anwesen mit den Gebäuden an einen Herrn Emil Nickel. Unter diesem wurde dann die „Burg“ wohl zum ersten Hotel in Schierke. Heutzutage wohnen darin aber ganz normale Menschen wie du und ich und wenn die Bewohner einen Stein (oder etwas mehr) aus der Wand ihres Wohnzimmers lösen würden, könnten sie jeden Abend vom Sofa aus kostengünstig einen Film sehen. Fernsehen, sozusagen. Aber das tun sie nicht. Wir wollen sie auch nicht dazu an- oder verleiten. Sie sind hoffentlich alles gute Sozialisten und auch Aktivisten – was ja ziemlich garantiert sein wird, wegen ihrer Dauer-Wohnberechtigung im Grenzgebiet ... und wer möchte denn aus dieser herrlichen Gegend schon fortziehen wollen? oder – müssen. Doch wohl gar niemand.
Am 6. Tag
Nach dem Frühstück gehen und rollen wir in Richtung Kirche.
Betrachten wir erst einmal die „Nicht-mehr-Kirche“: Am 21. August 1691 wurde die vorige Kirche geweiht. Diese, für die geistlich-geistige Erbauung und gleich daneben auch eine Wirtschaft für das eher deftige leibliche Wohl, ließ Graf Heinrich-Ernst zu Stolberg-Wernigerode errichten. Die Kirche stand näher am Wasser, als die Heutige. Sie war also fast schon deshalb ein Kirchenschiff. Eine Art von Arche. Ohne Turm. Ein gesondertes Gebäude, der „Glockenstuhl“ genannt, setzte man rund 40 Jahre später, als wieder etwas Geld angespart war, ein Stück weiter neben die Kirche. Dem Schulmeister, der die Kinder ja ohnehin auch in der Religion unterwies, wurde nun zusätzlich die Aufgabe übertragen, auch den Erwachsenen „aus der Schrift“ zu lesen.
Ab 1716 gab es dann einen höhergeschulten Prediger. 190 Jahre lang tat dieses Kirchengebäude seinen Dienst. Heute aber (1960) beherbergt die ehemalige Kirche schmucke Sommerferienwohnungen und selbst der Glockenstuhl ist als dringend benötigter Wohnraum umgebaut. Interessantes Wohnen – wenn auch vielleicht nicht ganz so romantisch wie meine Ideen-Wunschträume zum Wohnen in der Babelsberger Gerichtslaube oder im Flatowturm als geeigneter Lebensmittelpunkt im ehemaligen Kaiser-Schloss-Park, also im heutigen Volkspark Babelsberg.
Die neue Kirche errichtete man in der Zeit von 1876 bis 1881 im Auftrage des Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode. Dieses Gebäude steht auf einem Berg, der seit jener Zeit „Kirchberg“ heißt. Evangelische „Bergkirche“ ist daher ihr einprägsamer Name. Sonntags kann man hier (manchmal) der Bergpredigt lauschen. Das sakrale Bauwerk wurde am 17. Juli 1881 geweiht. Es ist völlig aus Granitblöcken errichtet. Wie von außen, so sieht man die Steine auch von innen. Das Gebäude ist also roh, unverputzt und schmucklos. Die Vorteile – es kann kein Putz abbröckeln, kein Farbanstrich abplatzen und den Anblick mindern. Die Worte, die uns vermittelt werden, sollen dagegen inhaltlich wie Diamanten sein.
Angenehm „warm“ wirken als Kontrast zum Bau die Holzbänke, das Kreuz, die hölzerne Kanzel mit den figürlichen Darstellungen von vier Aposteln und der Holz-Ständer für die Taufschale. Diese Arbeiten kamen aus der begnadeten Hand und der soliden Werkstatt eines Wernigeroder Holzbildhauer-Meisters. Diese Figuren wurden aber nicht grob gehauen, sondern alles ist hochkunstvolles Schnitzwerk. Der Begriff des Hauens wurde in alter Zeit für „das Bearbeiten“, „das Herstellen“ genutzt.
Den recht massiven Altar fertigte der Schierker Steinhauermeister Wilhelm Wenzel aus rotem Granit. Darauf darf man also getrost und ohne all' Gefahr, auch mehr als eine schwere schwarze Bibel ablegen.
Die heute noch genutzten Taufgerätschaften stammen aus dem Jahre 1691 und das Abendmahl-Geschirr ist mit 1730 datiert. Die Orgel wurde mehrmals umgebaut und dabei modernisiert.
Im Kirchturm befinden sich zwei Glocken. Die kleinere aus Bronze wurde 1742 gegossen. Aus dem 13. Jahrhundert stammt die größere der Glocken. Beide blieben von den mehrfachen kriegsbedingten „dringenden Metallsammlungen“ verschont.
Verschiedene Stifter sorgten für die schönen farbigen Fenster des Kirchenschiffes.
Beheizt wird das Gebäude mit einem Ofen aus der Zeit um 1600, der aus der Eisenhütte zu Ilsenburg kam. Die gusseisernen Platten tragen bildhaften Reliefschmuck mit biblischen Motiven. Und er funktioniert auch heute noch.
Weil wir anschließend bis zum Mittagessen etwas noch Zeit haben, besuchen wir wieder den kleinen Stein-Kur-Park und den Heiligen See. Das passt doch so recht zum vorherigen Thema.
Das Essen mundet uns wie stets recht gut. Ein großes Lob den fleißigen Köchinnen, Kellfrauen und Köchen!
Der 7. Tag
An diesem sonnigen Tage brechen wir nach dem Frühstück zum Brocken auf, zum höchsten Berg des Harzes. Würden wir zum Brocken zu Fuß wandern, dann würden wir durch Oberschierke gehen. Doch wir fahren mit dem Zug. Es ist eine gute Kräftigungsübung, Vati im „Muskel-Selbstfahrer“ die knapp zweieinhalb Kilometer zum Bahnhof hochzuschieben. Unter-Schierke liegt etwa 580 m hoch aber der außerhalb des Kurdorfes angeordnete Bahnhof in rund 685 Metern Höhe. Vatis Selbstfahrer hatte ja seit unserer Ankunft genug Zeit, um sich wieder „zu erholen“, nur ich war bereits zu Beginn dieser „Reise“ nach dem Bergauf-Schieben auch äußerlich nass.
Am Bahnhof bleibt dieses Muskelfahrzeug dann stehen, wird abgestellt. Der schöne Tag entschädigt uns für die Mühe.
Wir fahren mit der Brockenbahn nach Norden und nach oben. Nur eine Station – weiter geht es nicht. 14 km beträgt die Streckenlänge, Fahrzeit 31 Minuten. Diese Bahn-Strecke ist etwa doppelt so lang, als der kürzeste der verschiedenen Wander-Aufstiege zum Brocken, dafür weniger steil. Die Fahrzeit verging bei dem Schneckentempo von durchschnittlich 27 km/h aber trotzdem wie im Fluge.
Seit reichlich sechs Jahrzehnten rollt diese Schmalspurbahn auf 1.000 mm breiten Gleisen täglich durch das Gebirge. Diese geringere Spurweite ermöglicht engere Kurvenradien, als die Normalspurweite. Seit dem 20. Juni 1898 rollt die Harzquerbahn von Wernigerode nach Nordhausen, im Süden des Harzes liegend – aha, daher der Name – und dann ab 4. Oktober 1898 auch die Brockenbahn. Von Drei Annen Hohne (Anmerkung zum Ortsnamen am Tagesende) über Schierke bis zum Gipfel.
Vom Bahnhof Schierke bis zum Bahnhof Brocken haben die Züge mit den emsige Lokomotiven etwa 440 Höhenmeter zu überwinden. Die wandernden Leute aber auch. Die durchschnittliche Streckensteigung für die Bahn beträgt reichlich 3%, dass bedeutet, die Gleise steigen auf jedem Meter Länge ziemlich gleichmäßig um etwas mehr als 3 cm (zwischen 30,00 – 33,33 mm Höhendifferenz je 1.000 mm Länge des Gleises) an. So genau wurde das Bahn-Gelände in der wilden Harz-Landschaft nivelliert und das Schotterbett geschüttet und verfestigt.
Der Bahnhof Brocken liegt in 1.125 m Höhe. Bis zum Gipfelpunkt sind es dann nochmals rund 26 Höhenmeter – die Gelehrten streiten sich wohl ein bisschen darum, ob der höchste Berg des Harzes und damit auch der höchste von Norddeutschland, nun 1.141 oder 1.142 m hoch ist. Auf einigen Ansichtskarten wird sogar mit 1.143 m geprahlt. In jedem Fall aber ist er der höchste Berg Deutschlands, der von einer Bahn erklommen wird, die keine Zahnrad-Kletterhilfe nutzt. Ebenfalls zeichnet sich der Berg durch „höchste Dominanz“ aus, er steht „solitär“, da ihm an Höhe in weitem Umkreis kein anderer Berg gleichkommt oder seine Höhe sogar noch überbietet. Das tritt dann erst in einer Entfernung von rund 200 km auf. An meinen Ausführungen erkennt ihr wohl, dass der gesamte Berg „Brocken“ genannt wird und nicht nur der große Felsbrocken, der oben auf dem Gipfel liegt, gemeint ist. Vielleicht ist es möglich, dass man diesen extra herauf geschleppt hat, um auf die 1.143 m zu kommen. Eine praktische Korrektur scheint sowieso ab und zu angemessen, denn die Herbst- und Winterstürme schleifen ja auch immer etwas von der Kuppe ab, machen den Berg im Laufe der Zeit niedriger aber der Heimat-Stolz der Harzer lässt das wohl nicht zu – und so muss „nachgebessert“ werden..
Für die Schmalspur-Lokomotiven der 99-er Baureihe, hat sich Vati recht begeistert. Derartige bergfreudige Maschinchen stellte man ja auch in der Fabrik von Orenstein & Koppel in Drewitz / Neuendorf bei Potsdam her, in dem Betrieb, wo Vati und sein Vater August Janecke eine Reihe von Jahren gearbeitet hatten. Heute tragen diese Orte (Drewitz und Neuendorf, wozu auch noch das frühere Nowawes gehört) den gemeinsamen Namen: Potsdam-Babelsberg. Die neuesten Schmalspur-Loks dieser Art und Baureihe wurden 1956 im Folgebetrieb: VEB Lokomotivbauwerk „Karl Marx“ gebaut, also ebenfalls bei uns zu Hause. Auf dem gleichen Betriebsgelände, in denselben Hallen wie früher.
Fleißige Maurerhände errichteten das Gebäude des Brocken-Bahnhofs im Jahre 1924 aus Granitblöcken. Wir sehen es auf dem Bild, auf welchem Vati und meine Schwester so einsam zu sehen sind. Obwohl – wir sind durchaus nicht die Einzigen hier. Allein im Monat Juli, also neulich, beförderte die Brockenbahn etwa 90.000 Fahrgäste. Solch eine Anziehungskraft besitzt also der Brocken, obwohl man auf oder in ihm noch kein Magneteisenstein gefunden hat.
Der hohe Holzturm der Wetterwarte steht seit 1895 auf dem Brocken – dem Regen, der Sonne und den eisigen Schnee-Stürmen trotzend.
1938 erbaute man den ersten Fernsehturm der Welt (das ist ein Sendemast für die Bilder und natürlich auch den Ton dazu) auf dem Brocken. Das muss einmal richtig festgehalten werden!!! Zu jener Zeit hatten aber erst wenige Menschen einen Fernsehapparat, so dass es nicht weiter auffiel, wohl nicht sehr Aufsehen erregend war.
Das Klima hier oben soll etwa mit dem der Insel Island vergleichbar sein. Im Jahresmittel beträgt die Temperatur ungefähr +5°C. Am 1. Februar 1956 war es -28°C kalt. Im Durchschnitt liegt auf dem Berg an 120 Tagen des Jahres Schnee. Meist ist es viel Schnee, bis über 3 m hoch. Schwere Stürme fegen über den Gipfel hinweg und an etwa 300 Tagen im Jahr hat man viele Wolken, Nebel, dazu angebliche Brockengespenster, die die Augen der ängstlichen Besucher narren und für trübe Aussichten sorgen. Wir aber sind zu unserem Glück bei sehr guter Witterung hier oben.
1912 schien die Sonne auf den Brocken nur 972 Stunden lang, also eine kurze Zeit, aber 1921 gab es 2005 Stunden eitel Sonnenschein.
Im Sommer des Jahres 1890 legte man den Brockengarten an. Wegen des besonderen Klimas, von dem auch die Pflanzen- und Tierarten abhängen, wird er auch stolz „Alpengarten“ genannt. Der Brocken-Gipfel liegt knapp über der Waldgrenze, so dass hier oben zerzaustes Gesträuch und zahlreiche flachliegende Gräserarten wachsen und zu sehen sind aber keine Bäume.
Johann Wolfgang v. Goethe würdigte nach seinem Besuch des Brockens im Jahre 1771 diesen Ort in seinem umfänglichen Dichtwerk „Faust“. Und auch Heinrich Heine schrieb in seiner „Harzreise“ über den Brocken. Und ich schließe mich heute hier bescheiden an. Den Mathematiker Carl Friedrich Gauß sah weniger die Blumen, die Tiere, das Gestein. Ihn interessierte mehr die Landvermessung. Er legte über die markanten sichtbaren Punkte „Brocken“, „Hoher Hagen“ und „Großer Inselsberg“ ein in seinem Kopf gedachtes großes Dreieck und rechnete dazu allerhand aus. (Hierzu nichts Näheres – ich habe Ferien).
Zurückgekommen ins Handwerker-Erholungsheim, fallen wir bald nach dem schmackhaften Abendessen müde in die Betten. Auf dem Brocken gewesen zu sein war schön. Ein erlebnisreicher langer Ferientag. Doch uns ist auch bewusst, dass leider schon wieder Halbzeit des Urlaubs ist, so dass wir heute unser „Bergfest“ im doppelten Sinne begingen.
Ach so, bevor ich es vergesse: Ein Wort noch wollte ich ja zum Namen des Umsteige-Bahnhofs Drei Annen Hohne schreiben.
Nein, nein, keine Sorge. Hier wurde keine Anne dreimal verhöhnt. Also, das war damals in Wirklichkeit so: Um 1770 bekam die hochehrwürdige Gattin des Grafen Christian Friedrich zu Stolberg-Wernigerode eine Tochter. Etwa zeitgleich aber auch die Schwester des Grafen. Beide Töchter, also die Cousinenbabys erhielten nach elterlicher Übereinkunft den gleichen Taufnamen „Anna“ zu Ehren ihrer gräflichen Großmutter „Anna“. Somit gab es ziemlich plötzlich drei Annas oder Annen in der Familie. Zu deren Gedenken erhielt die spätere, am Waldesrand gelegene Schankwirtschaft, den Namen „Drei Annen“. Das angehängte „Hohne“ stammt dagegen nicht von den Grafen. Es wurde einfach nur so beigefügt, nach dem sich in der Nähe befindenden „Forsthaus Hohne“, an der sprudelnden Hohne gelegen – also ersehen wir daraus, dass auch der Förster nicht Hohne hieß.
Am 8. Tag
Mit der lieben Ursel an meiner rechten Hand, wandere ich mit gutem Gefühl und heißem Herzen an der Kalten Bode entlang. Ein vielleicht recht ähnliches Stimmungsbild beschrieb uns damals Schiller, 1782 war's, mit folgenden Worten:
> Noch ganz wie aus den Händen des Schöpfers, unschuldig, die schönste, weichste, empfindsamste Seele, und noch kein Hauch des allgemeinen Verderbnisses im lauteren Spiegel ihres Gemüts ... und Wehe demjenigen, der eine Wolke über diese schuldlose Seele zieht!
– so floss es damals unserem Freund, dem Arzt und Dichterfürst Friedrich von Schiller aus dem Gänsekiel.
Und genauso war das Ursel auch noch am Ende des Urlaubs, erwidere ich. Ich schwöre und gelobe! Das Gesagte mag auf viele Holde zutreffen, doch nicht immer ist ein Schutzengel in der Nähe, lieber Herr Dr. v. Schiller.
Seit Menschengedenken nutzen Pilger, Kräuterweiblein und Jagdleute, Pilzsucher wie auch Holzsammler diesen Weg an der Kalten Bode, gerade so, wie jetzt wir. Der Weg an der Bode führte zur Kaiserstraße. Jene wurde damals so genannt, weil sie die Kaiserpfalzen Nordhausen und Goslar miteinander verband. Der Kaiser hatte nämlich keinen festen Regierungssitz, sondern wurde mal hier, mal dort im Lande tätig, thronte eben auf verschiedenen Pfalzen. So wie die Situationen es erforderten. Reisekaiser also. So war es üblich.
Im Mittelalter wurde bei Elbingerode bergmännisch der Roteisenstein gebrochen. Die Schmelzhütte, in der das Roheisen aus dem Erz erschmolzen werden sollte, stand aber 12 km weiter in Schierke. In schweißtreibender Arbeit für Mensch und Zugtier, brachten die Karrenmänner, die Fuhrleute, das Erz vom Bergwerk zu den Schmelzöfen – also genau diesen Weg entlang, auf dem wir heute unbeschwert spazieren dürfen. Wegen der herab rieselnden Wässer und wegen kleiner Bächle, führte der teilweise arg aufgeweichte Weg über Holzknüppeldämme. Kaiserliche Verhältnisse.
An dieser Stelle scheint es mir höchste Zeit zu sein, zwei Versprechen einzulösen – also nicht bei Ursel, denn sie hat überhaupt keines von mir verlangt. Nein, der Mineralogie, der „Steinforschung“ muss ich mich zuwenden. Irgendwo in der Bode lag nämlich schon damals ein besonderer Stein, als unsere Mutti mit ihren Eltern (Max und Margarethe Sommer), ihrer Tante Johanna Seehafer und der Freundin Annemarie Muster, im September des Jahres 1928 hier in Schierke in der Pension „Waldesruh“, bei Familie Massow weilten (ich erwähnte das schon am Anfang). – „Manometer“, ist das eine kaum vorstellbar lange Zeit her. Damals war Mutti 15 Jahre jung, so alt wie ich bald sein werde. Sie war also damals natürlich noch keine Mutti. Also, dieser Stein war kein gewöhnlich aussehender. Es handelte sich um einen größeren Felsen, der die Form eines überdimensionierten Sofas hatte und der die Wandersfrau und ihren Mann zur Ruhepause einladend, mitten in der Bode lag. Und wir wollen nun nachsehen, ob ich wirklich in der Vergangenheitsform sprechen muss (er lag in der Bode), weil er vielleicht heute in irgendeinem warmen Wohnzimmer liegt – oder aber doch noch in der Kalten Bode?
– Einige Zeit vergeht. Das ist jetzt das Zwischenspiel der Sofa-Suche –.
Aah, ja, tatsächlich. Wir werden fündig. Das zu suchende Objekt hat sich uns förmlich aufgedrängt. Das „Sofa“ liegt auch nach 32 Jahren noch an der gleichen Stelle und wir fertigen ein Vergleichsfoto von seiner momentanen Beschaffenheit. Der Spaziergang ist somit ein voller Erfolg – sonst aber passiert weiter nichts Aufregendes. Na ja, zwischen der Bode und dem Weg sehen wir eine schwärzliche Senke (so etwa wie eine Heilschlamm- Badeanstalt) mit vielen frischen Wildschweinspuren. Trittsiegel der Hufe, spricht der Waidmann. Hier wollen wir dann doch nicht länger verweilen – man stört ja nicht gerne und wie sollte ich Ursel vor Bachenzahn oder Keilerhauer retten? All' überall glitschige oder bemooste Felsen, senkrecht bergauf. Kein guter Ausweg in Sicht. Aber ansonsten, – an günstigerer Stelle – das Ursel retten dürfen – keine schlechte Idee. Dann aber vielleicht besser vor einem der Nebelgespenster, als vor Wildschweinen. Denn wir wissen ja: Durch ein Nebelgespenst kann man ungestraft hindurch gehen aber bei Wildschweinen sind mindestens! 20 m (besser mehr) Abstand erforderlich, weil das Tier sich sonst nicht zur Flucht wendet (selbst wenn man grimmigst schaut), sondern sich eher zum schnellen Angriff entscheidet. Oh, nein! Die Natur will es so!
Ach so, ja. Der zweite heimatliche Wunsch: Die Pension „Waldesruh“ können wir für die daheim gebliebene Mutti nicht finden. Hat der Zahn der Zeit vielleicht die Villa zernagt? Dafür wären dann weniger Wildschweine anzuklagen, sondern als Helfer eher Klopfkäfer, Holzgewürm, diese Anobien zuständig. Oder hat man dem Gehäuse zu einem neuen Namen verholfen, getarnt? Wir sehen nur eine Villa, die eine Ähnlichkeit mit dem Haus „Waldesruh“ hat, gleich hinter dem Knick der Dorfstraße, gegenüber dem FDGB-Heim „Heinrich Heine“. Das Haus hat nur den Nachteil, dass es auf den Namen „Charlotte“ hört und ein wenig anders dreinschaut. Vielleicht war es zumindest der gleiche Architekt, der dieses Haus schuf? Vielleicht waren es auch Schwestern? Doch, doch, Ähnlichkeit hat „Charlotte“ schon mit „Waldesruh“.
Am 9. Tag
Nachdem wir am Nachmittag vom Regen etwas eingeweicht wurden, erlaubt der Vater uns, (also nicht Ursel, sondern meine große Schwester, gilt hier als einbezogen), etwas von dem köstlichen „Schierker Feuerstein“ zu probieren, um einer drohenden Erkältung vorzubeugen. Dieser ist hier sehr berühmt und gefragt. Leise gebraut nach einem uralten Familien-Geheimrezept aus lauter heilsamen Harzer Kräutern, die wohl fast jeder Einheimische kennt. Bestimmt haben früher die Brockenhexen schon solchen Sud für ein verwandtes Gebräu zusammengerührt. Heute aber befindet sich die neue Magenbitterfabrik an der Hauptstraße und darf besichtigt werden. Verkostung inclusive. ... aber Ursel muss dagegen vielleicht vom Kamillentee kosten – wer weiß – aber natürlich leicht gerötete Wangen würden gewiß die Lieblichkeit ihres Aussehens noch steigern.
Am 11. Tag
Nachdem wir vorgestern in der Familie vorsichtig dem Schierker Feuerstein-Kräuter huldigten, besuchen wir, Ursel und ich, heute, für sie nun eher ersatzweise, die Feuersteinklippen. Sie befinden sich nur wenige Schritte nördlich des Bahnhofs, ihr „Fuß“ auf etwa 690 m über dem Meeresspiegel. Sie bestehen aber in Wirklichkeit gar nicht aus Feuerstein, sondern aus mächtigen, von der Hand der Natur übereinander geschichteten Granithärtlingen. Die ortsübliche Feuerstein'sche Bezeichnung kommt eher daher, meinen die Kundigen, dass dort oben am Berge früher gern Feuer zu kultischen Zwecken entfacht wurden, wie beispielsweise ein Osterfeuer oder ein Sonnenwendfeuer oder ein kleines Lagerfeuer gegen die grimmige Winternachtkälte. Auch hätte man, so sagen andere Wissende, sehr vielleicht von diesem Orte aus mittels eines Signalfeuers Nachrichten übermitteln können, so ähnlich wie ein Heliogramm nach dem Morsealphabet. Herr Morse wurde aber erst viel später geboren – es ist daher also ein nur unverbindliches Beispiel.
Somit ist die Namensherkunft der Feuersteinklippen ziemlich wissenschaftlich geklärt. Man braucht also gar nichts mehr fragen, sondern nur noch beides glauben oder sich für eine weitere Eingebung entscheiden. Hauptsache, man weiß es. Diese Granithärtlingsklippen an den Feuerstellen wurden von den Einwohnern des Ortes als das markante Wahrzeichen für den Ort gewählt und ebenso hielt es auch der Eigentümer der Magenbitterkräuterfabrikation. So werbewirksam ist es, dass man solche Flaschen bei uns fast nur unter dem Ladentisch nicht sieht.
Aber nicht nur Ursel und ich waren hier bei den Klippen, sondern zum Beispiel auch Johann Wolfgang von Goethe. Allerdings hatte er keine Zeit, so wie ich, hier mit einer schönen Ursel herrliche Urlaubstage zu verbringen, weil er viel zu tun hatte. Vielmehr betrieb er, gemeinsam mit dem Maler Melchior Kraus, am 04. September 1784 schnell 'mal geologische Studien an den hohen Klippen. Ernsthafte Forschungsarbeit. Er hatte dabei wohl nicht solche tiefen Empfindungen im Geist und in seiner Seele wie Schiller. In Herrn Goethes Lebenslauf steht, dass er sogar zweimal den Harz besucht hatte. Ach. Auch Heinrich Heine war hier und hat darüber eine viel schönere Abhandlung geschrieben, als ich es jetzt tue. Wir sollten sie wieder einmal lesen.
Auf dem Rückweg gehen wir die lange Straße nach Elend. Das ist kein Grund traurig zu sein, denn es ist ein hübscher kleiner Ort, der überhaupt nicht so „elend“ aussieht. Die Ortsbezeichnung kommt als „eli-lenti“ aus dem Althochdeutschen, und bezeichnet nur „ein anderes, uns (Unwissenden) noch fremdes Land“. Später wurde es im Mittelhochdeutschen in „Ellende“ gewandelt (so heißen auch heute einige noch nicht eroberte Mädels) und im Neuhochdeutschen entschied man sich eben für „Elend“. Noch zu Goethes Lebenszeit benannte man mit dem „elenden Lande“ deshalb einen fremden Landstrich, mochte er auch noch so lieblich aussehen, noch so fruchtbar sein. Das sollte man wissen, noch ehe man des Namens wegen ausreißt, bevor man es überhaupt gesehen hat. Niemand soll sich wegen krauser Gedanken selber täuschen.
Wir besichtigen dort die kleine, helle Holzkirche. Nur von außen, denn leider ist sie verschlossen. Es soll das kleinste Holzkirchlein der DDR oder vielleicht sogar ganz Deutschlands sein. Große Eichen stehen am Haus. Man darf die Jahresringe ja nicht zählen aber kundige Botaniker schätzen ihr Alter auf mehr als 700 Jahre. Die Bäume standen also lange Zeit vor der Ortsgründung, die die Urkunden auf 1782 beziffern, schon dort und wurden nicht etwa erst nach dem Bau der Kirche dort gepflanzt, wie es oft üblich ist. Die Kirche errichtete man als Fachwerkbau im neogotischen Stil und beplankte dann das Balkengestell mit Holzbrettern. Das 1897 gebaute Kirchenschiff misst 11 x 5 m und ist auf den rund 55 m² mit 80 Sitzplätzen ausgestattet.
Am 27. Juni 1897 fand der Weihe-Gottesdienst statt. Als 1904 das Spendenaufkommen ausreichte, wurde die Kirche wegen des nun angebauten Turmes um ganze 2 m länger. Die schlichte, ebenerdige Kanzel ist aus schönem Schnitzwerk gearbeitet, ebenso der Altar. Dieser ist mit Rädern versehen. So kann der Altar verfahren werden und die Kirche kann „stets gut gefüllt“ wirken – der Pastor steht nie allein, nie zu weit entfernt. Wenn der Herr es will. Beachtung verdienen auch die farbigen Bleiglasfenster. Die Firma Friedrich Ladegast, aus Weißenfels an der Saale, baute auf einer schmalen Empore die Orgel mit 400 Pfeifen, in den Abmessungen von 15 mm Kürze bis 2.400 mm Länge. Die Bronzeglocke im Holzturm hat eine Masse von knapp 200 kg. Erstaunlich. Schwerer dürfte sie für den Turm auch gar nicht sein. Ich hätte ihm vorsichtshalber eine wesentlich geringere Masse zugemutet. Die Harzer aber sind halt mutige Leute und können wohl auch rechnen – oder schätzen. Dann soll es so sein.
Bevor diese Kirche gebaut wurde, wanderten die Gläubigen zum Gottesdienste tapfer die 12 km nach Elbingerode und zurück, – eine wahre sonntägliche Pilgerstrecke für den Ruhetag. Oder soll man besser sagen: eine harte Prüfung für den Dienst am Herrn? Ihr wisst ja, jener Weg ist die moddrige, ausgefahrene Erztransportstrecke –. Die Elender Menschen gingen nicht etwa in die Kirche des nur reichlich 2 km entfernten Ortes Schierke. Das verhinderten damals schon Grenzen, „Kirchengrenzen“. Nur gehunfähige Alte und Kranke erhielten den Segen, aber sehr selten, ersatzweise in der Schulstube von Elend.
Dann wählen wir den Rückweg durch das Elendstal und tauchen in Schierke am Mühlweg wieder zur Straße am Kirchberg auf.
Der 12. Tag
In dieser Gegend ist der Rothirsch zu Hause. Auch Rehe sind vertreten. Sie müssen vor den bestehenden Unfallgefahren sehr aufpassen, denn die großen nebeneinander liegenden Felsen bilden oftmals Spalten. Schlimmer noch als am Knochenbrecherstieg. Unter dem Gestein entstehen Löcher, sogar Höhlen. Wie schnell kann man sich da die Beine verstauchen oder gar brechen. Mufflons und Hasen sind da weniger gefährdet. Allerdings bieten diese Hohlräume auch unzählbare Wohnunterschlupfkammern und für die Bäume willkommende Wasserspeicher. Der schwarz-weiß-graue Frech-Dachs streift durch das Gelände. Über die Wildschweine sprachen wir schon hinreichend und wie wo überall, darf auch der rotpelzige Fuchs oder Fox (einigen wir uns auf das unverfängliche Vulpes vulpes) nicht fehlen. Vor kurzer Zeit wurden Waschbären gesichtet. Sie kommen eigentlich aus dem Norden des Doppelkontinents Amerika. Also nicht, dass sie bis hierher geschwommen wären – nein, weit gefehlt, sie wurden in westdeutschen Pelztierfarmen, also im Westharz gehalten, sind von dort ausgebüxt und haben sich hier, diesseits unserer Grenzbefestigung angesiedelt, weil es auch ihnen hier in der DDR offenbar sehr gut gefällt. Leider rauben die Waschbären nachts Vogelnester aus und schlagen sogar Niederwild nieder. Putzig sehen sie zwar aus aber die Förster und andere Jäger wollen solche Komplimente über diese Räuber nicht hören. Nur vereinzelt sehen wir den Auerhahn und auch die Auerhennen. Weniger Auerhühner also. Der Rote Milan und der Habicht gelten als die Polizisten der Lüfte mit ihren scharfen Augen und hackend ordnenden Schnäbeln. Selten, aber im Prinzip hier heimisch, sind der Sperlingskauz, der Gartenschläfer und die Ringdrossel.
Doch Tiere leben ja nicht allein auf dem Erdboden oder in der Luft. In der Bode fand und fing man von alters her Forellen, Schmerlen und Ellritzen. Als um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Hotelgewerbe erblühte, legte man im Elendstal neben der Bode, am Weg zwischen Schierke und Elend, Forellenteiche an. So waren die Gastwirte in der Lage, die „reicheren Luftschnapper“ stets mit Frischfischfleisch versorgen zu können. Das liest sich fast so schwer wie „Fischers Fritze fischt frische Fische, nicht wahr? So war es aber eben wirklich! Im Winter wurde dann dort Eis gehackt und gesägt, um es in den Eiskellern einzulagern. So konnte es zur Kühlung der Speisen bis durch den Sommer verwendet werden. Soweit also mein neues Wissen zur Fauna – der Tierwelt.
Jetzt aber noch einige Worte zu den pflanzlichen Gewächsen oder zur Flora. An die Begriffe muss ich mich erst gewöhnen, denn auch in der sozialistischen Werbung spielen „Flora und Jolante“ eine Rolle, wobei erstere aber eine Kuh ist, die Pflanzen isst aber keine Pflanze ist und Jolante stellt das gemeine Hausschwein dar, das wir hier aber nur in der ursprünglichen Wildform finden oder auch mal vorliegen haben. Andererseits gibt es auch Leute, die (leider) in einer Botanisiertrommel Raupen, Schmetterlinge und anderes Getier sammeln, das ja nun wirklich als völlig unbotanisch erscheint.
Also gut. Flora: Die Gelehrten sprechen davon, dass in den Hochlagen des kleinen Harzer Mittelgebirges „Hochmontane beziehungsweise subalpine Bedingungen“ herrschen, was sich wesentlich auf die vorkommenden Pflanzenarten auswirke. Schon seit der mittleren Steinzeit, so ermittelten es die Forscher, herrscht in den oberen rauen Lagen die Fichte vor, deren Nadeln ringförmig um die Zweige angeordnet sind, sie deshalb gern als quirlständig bezeichnet werden und deren Zapfen hängen. Nach unten. An geschützteren Hängen, wie im Elendstal, herrscht dagegen ein Buchenmischwald vor, in dem außer den Rotbuchen ebenfalls Fichten, aber auch der Bergahorn und die Eberesche (Vogelbeerbaum) sowie weitere Gehölze gedeihen. An den wassernahen Standorten wachsen besonders die Erle und der Bergholunder ganz prächtig.
Andere Forscher haben herausgefunden, dass es hier, in diesem schmalen, tief eingeschnittenen Tal auch oft Klima-Umkehrverhältnisse gibt (Inversionen). Dann ist es auf den besonnten oberen Hängen viel milder und die kalte Luft liegt unten, schwer, in dem fast 200 m tief eingeschnittenen dunklen Kerbsohltal der Bode.
Zahlreiche Kräuter und Gräserarten bieten ein abwechslungsreiches Bild und eine gesunde Wildtiernahrung. Es gehören dazu: Das Hainkreuzkraut, weit gefächerte Farne, die Heidel-, Blau- oder Schwarzbeere, der Alpen-Milchlattich, der Waldsauerklee, das Milzkraut, das lustige Springkraut (wenn's erst mal reif ist), der Storchenschnabel, der Baldrian, den auch die Katzen so sehr gern mögen, der weiße Pestwurz, der platanenblättrige Hahnenfuß, die Buschwindröschen. Den rauhaarigen Kälberkropf habe ich noch nicht gekannt. Es lohnt sich also, von den Pflanzen, sofern diese nicht streng unter Naturschutz stehen, ein kleines Herbarium anzulegen, beispielsweise für den Biologie-Unterricht (da könnte unser Bio-Lehrer Fritz-Peter Gnerlich staunen) oder für das Gestalten des Fotoalbums. Also für's Album nur Vertreter der Flora – bitte nichts von der großwüchsigen Fauna dort hinein. Unsere Kaninchen auf dem Schulhof würden eine Auswahl jener Pflanzen gewiss ebenfalls zu schätzen wissen.
Goethe hatte wohl seine Sammlungen mit der Postkutsche voraus nach Haus geschickt. Unser Freund Alexander von Humboldt vertraute sie auch mal dem Segelschiff für eine weite Reise an. Wir aber übernehmen gern eine tragende Rolle und schleppen im Koffer alles eigenhändig gen Heimat. Na gut, die Bahn hilft uns auch dabei.
Der 13. Tag
Nun aber neigen sich die schönen Ferientage ihrem Ende zu. Heute werden, bis auf das Nötigste, die Koffer gepackt, denn morgen, nach dem Frühstück, geht es schon wieder fort von hier.
Nicht ohne Abschiedsschmerz.
Wir werden lange an diese schöne Zeit denken. Ursel und ich verabreden ganz unnötiger Weise, dass wir uns bald schreiben werden. Kurze Zeit später hat uns der Alltag wieder.
Einige Nachträge
Nach der Rückkehr: Als wir Ende August 1960 wieder in Babelsberg eintreffen, empfängt uns Mutti mit einem herzhaften Festessen. Trotz all ihrer Arbeit mit dem Geschäft, ist die Wohnung auf Hochglanz geputzt und für die Glasscheiben der Wohnungstür hat sie neue Scheibengardinen angefertigt. Nun wird es Zeit, dass sie sich ein wenig erholen müsste, was aber kaum denkbar ist.
Zu Hause wartet schon Post auf mich. Eine Karte von meiner Großcousine Grit, „schöne Grüße aus West-Berlin“. Niemand von uns ahnt, dass jener Berlin-Besuch der Letzte für die nächsten drei Jahrzehnte war, denn ein Jahr später, am 13. August 1961 und in den darauffolgenden Zeiten, wird ja die innerdeutsche Grenze enorm befestigt, mit den nach innen, auf die eigene Bevölkerung gerichteten Selbst-Schussanlagen, von den Erbauern offiziell vorerst als „die Mauer“, bald aber lieber als „der Antifaschistische Schutzwall“ (also gegen nachbarschaftliche, negativ-feindliche Einflüsse) benannt, obwohl es ja in Wirklichkeit viel mehr und ganz anders war.
So gibt es dann auch für Schierke weitere drastische Besuchereinschränkungen und auch der Brocken kann überhaupt nicht mehr besucht werden, ist durch Stacheldraht in Ost und West fast unüberwindbar geteilt. Aus politischen Überlegungen wird der Brocken nun wohl der einzige nicht besteigbare Berg dieser Erde. So wird auch der Personen-Zugverkehr zum Brocken am 13. August 1961 eingestellt. Während des Zerfallsprozesses der DDR (Deutsche Demokratische Republik) erreichen die Bürger am 13. Dezember 1989 die Öffnung der Grenzanlagen am Berg. Damit wird auch der Abbau dieser Anlagen zwischen Ost und West „eingeläutet“. In der Folge wurde die Sanierung der teilweise marode gewordenen, ebenfalls zerfallenen Bahnstrecke vorgenommen. Am 15. September 1991 fährt dann nach drei Jahrzehnten wieder der erste Personenzug der Brockenbahn.
Empfindungen am Rande von Zeitabläufen
1928 war unsere Mutti mit ihren Angehörigen hier in Schierke. Damals war sie 15. Jahre jung.
32 Jahre später, also 1960, verleben wir hier unseren Urlaub. Eine schier unermesslich lange Zeitspanne, liegt dazwischen – mehr als das Doppelte meines eigenen Lebens, – denn 14 ½ Jahre alt bin ich zu dieser Zeit.
Die erneuerte Brockenbahn werde ich am 16. September 2011 nochmals nutzen – mehr als 50 Jahre nach dem hier beschriebenen Urlaub, 50 Jahre nach der Stilllegung der Bahn aus politischen Gründen und 20 Jahre nach der Wiederinbetriebnahme der Strecke.
Aktuelle Eindrücke aus dem Jahr 2011
Am 16. und 17. September 2011, also nach einem halben Jahrhundert, huch – schwupps, war das aber eine kurze Zeit, zieht es mich wieder nach Schierke zurück, um dort „nochmals nach dem Rechten“ zu sehen, zu schauen, zu erkunden, was sich so seit neulich, seit 1960, verändert hat. Einfach – um die Erinnerungen „aufzuwärmen“. (Am Morgen um 9.00 Uhr haben wir 6° C).
Bunter ist der Ort geworden, wie die Hausfassaden zeigen. Nett ist Schierke anzusehen, ist gut gepflegt.
Das nach der deutschen Wiedervereinigung leerstehende Handwerker-Erholungsheim wurde im Jahre 2005 von „zündelnden älteren Kindern oder jungen Jugendlichen“ abgebrannt. Die Ruine riss man im Frühjahr 2009 ab. Ich habe es nicht nochmals besuchen können. Nichts blieb davon übrig, als die Erinnerung und ältere Fotos. Ähnlich ging es anderen großen Heimen, wie dem benachbarten Erholungsheim „Heinrich Heine“.
Der Barackenanbau an der „Alten Burg“, das Kino, steht zwar noch, ist aber ungenutzt.
In der alten früheren Kirche, dem baulich vernachlässigten Kirchenschiff von 1691, befindet sich jetzt der Schierker Kindergarten. Der daneben stehende ursprüngliche Glockenturm, Am Kirchberg 8, dient als Ferienwohnung, wird von Frau Helga Thorndike aus Babelsberg vermietet.
Das große Rathaus steht leer, denn Schierke ist inzwischen zur Stadt Wernigerode eingemeindet worden.
Für den Hin-Weg, für eine Strecke, von Schierke zum Brocken wähle ich aus Zeitgründen die Bahn. Fahrpreis 18,00 EURO. 1960 bezahlte ich wohl etwa 1,12 DDR-Mark, für diese Wegstrecke. (14 km x 8 Pfennige je km in der 2. Wagen-Klasse).
Auf den Brocken, für den die Höhe von 1.141 m ermittelt wurde, schleppte man einen Granitfelsen, der nun die Höhenmarke 1.142 m ausweisen kann, die eher „als volkstümlich“ bekannt ist. Auf dem Brocken verspricht man eine momentane Sichtweite von 50 km – doch bald ziehen dunkle Wolken auf.
Zurück laufe ich auf dem felsenübersäten Waldweg, dem Eckerlochstieg. (Knochenbrecherweg).
Auch eine Waldwanderung vom Brocken und über den „Erdbeerkopf“ ist Balsam für die Seele.
Am Naturlehrpfad erfahre ich lesend die erfreuliche Nachricht, dass sich die menschenscheuen Wildkatzen wieder angesiedelt haben und auch ein größerer Katzenvertreter, der Luchs, hier inzwischen seine Reviere betreut.
Die Kirche in Elend sieht noch genauso aus, wie vor 50 Jahren.
Die Melodien der damals gängigen Unterhaltungsmusik kann ich natürlich auch heute noch aus dem Kopf und teilweise „wesentliche“ Textpassagen.
Einige Tage später skizziere ich die bildhaften Erlebnisse dieser „Exkursion“, also einiges von dem, was ich sah und träumte, für unsere Enkeltochter.
Das Gästebuch
Beiträge können gern gesandt werden an E-mail: christoph@janecke.name ... mit dem Bemerken, ob diese hier veröffentlicht werden sollen und mit welcher Unterschriftswahl.
Beitrag 1:
Frage: Gab es denn inzwischen den Anlass der Feier einer Goldenen Hochzeit mit Ursel und wieviele der Kinder, Enkel und Urenkel kamen?
Antwort: Das Leben in der Welt schiebt die Menschen häufig auf verschiedene Wege. Nein, wir wurden kein Paar, bildeten nicht den Ursprung einer neuen Familie. Ich hatte bisher keine vergoldete Hochzeit – deshalb erschien auch kein Urenkel zu einem derartigen Anlass, um Blumen zu streuen.
Beitrag 2:
Eine gescheite Frage: 07. August 2020
Hallo Chris,
wir lasen den obigen Bericht über deinen 1960-er Ferienaufenthalt in Schierke. Seit fast sechs Jahrzehnten unternehmen wir Wanderungen durch die herrliche Umgebung, auch an der Bode entlang, haben aber den interessanten „Sofastein“ noch nie gesehen. Wo etwa ist denn dessen Lage?
Mit freundlichen Grüßen, N.N.
Versuch einer Anwort:
Hallo, liebe N.N.
Ach, der Sofafels'. Jung ist er nicht mehr. Goethe mag bereits auf ihm gelegen haben (damals, vor jener Rechtschreibreform war es noch der Sopha-Stein), meine Großmutter nahm darauf Platz, meine Mutter setzte sich 1928 darauf und dann, 1960, lümmelte ich mich fröhlich darauf herum. Dieser markante, von Wasser, Wind und Wetter schon freundlich gerundete Sofafelsen ist auf den Fotos ziemlich deutlich zu sehen. Groß und schwer – und dann ... bereits kurze Zeit nach meinem Besuch in der Natur nicht mehr auffindbar? Sollte ich einer der letzten Zeitzeugen des Sofasteins sein?
Ich schwöre und gelobe: Der Sofastein ist keine Foto morgana – alle Bilder entstanden jeweils an Nachmittagen. Die Bilder wurden nicht etwa sorgsam von Fälscherhand bearbeitet!
Klar ist ebenso: Das Gebilde ist kein Ufo, das sich aus dem Fluss zu erheben vermag und fortfliegt.
Was also bleibt an Erklärungsmöglichkeiten? Wurde er nur übersehen? Ich meine, sein Lage-Ort ist oder war wohl nahe beim Kurpark, auf jeden Fall innerhalb der Ortslage, im engeren Sinne, von Schierke. Damals bin ich im Sommer längs durch die Bode gelaufen. Das kann man gewiss noch heute – bei dieser Hitze ein wunderbarer Genuss. – Man kann nicht versehentlich über diesen Stein stolpern. Zu übersehen ist er nicht.
Was geschah aber, wenn der Stein tatsächlich nicht auffindbar ist, weil abwesend?
Vielleicht wurde der Felsen in der Zeit nach meinem 1960-er Urlaub von Unholden gestohlen und schmückt seither ein sehr großes Wohnzimmer oder er wurde zeitgemäß als Materialreserve in die Berliner Mauer eingefügt? Auch das wäre ein herber Verlust. Fest steht zumindest, dass er nicht aus Angeberei zur Brockenerhöhung gen Gipfel geschleppt wurde. Das habe ich bereits geprüft. Gewissheit zu einem eventuellen Ortswechsel des Steins, denn fast jeder Stein ist bewegbar, wird man besser mit vereinten Kräften erlangen. Dazu könnte eine Fahndung nutzbringend sein:
Fahndungsaufruf :
Sucht den Schierker Sofa-Stein in der Bode! An Alle, an Alle – insbesondere aber an recht betagte, kenntnisreiche Schierker Einwohner, Ortschronisten (oder falls verstorben, an die schriftliche Ortschronik), an das Stadtarchivariat (Wernigerode), ferner an interessierte Geologen, wissende Förster oder Naturschutzleute, Kriminalisten / Dedektive, an damalige Sensations-Presseleute sowie Sammler alter aber datierter Ansichtskarten mit Stein.
Das Fahndungsziel:
Auffinden des Schierker Sofa-Steins in der Bode oder notfalls auch Informationen zum Verbleib des Steins. Sachdienliche Hinweise bitte an E-Mail christoph@janecke.name Zielführende Ergebnisse können hier veröffentlicht werden. Diskretion zugesichert.