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Frohe Tage im Kinderferienlager „Glück auf“, 7. bis 22. Juli 1969,

beim Ort Ferchesar am Hohennauener See in der DDR


(Bearbeitung: Juni 2017) – Zu diesem Text gibt es einige Bilder

In diesem Sommer fahre ich von unserem Betrieb mit ins Kinderferienlager. Als Betreuer. Das Ferienlager ist ein Gemeinschaftsobjekt mehrerer Betriebe. Es sind daran beteiligt:



Nach Ferchesar geht es! Noch nie gehört! Wo liegt denn das? Schon bei dem ersten Kontakt mit dieser interessanten Aufgabe, unseren Kindern einige frohe Ferientage zu gestalten, muss ich also vorerst selbst einmal dazu lernen, mich orientieren. – Aha, in der Nähe von Rathenow, am Hohennauener See. Wie schön. Nicht im Ort, einem früheren Fischerdörfchen, sondern „eingebettet in der Wildnis“, zwischen Wald und See gelegen. So richtig fernab jeglichen Berliner Trubels, des Verkehrsgetöses und aller Abgase. Erholung pur wird uns erwarten, leider begrenzt auf zwei Wochen.

Es ist der erste Durchgang dieses Jahres, gleich nach dem Beginn der „Großen Ferien“. Somit ist dort wohl für dieses Jahr noch alles „jungfräulich, unberührt“, alles gepflegt, Spielzeug repariert oder erneuert sein, das Gelände geharkt.

Die Eltern haben im Voraus für ihr Kind eine Mark pro Tag für Betreuung, Beköstigung „und die Kultur“ entrichtet, 14,- Mark eingezahlt. Dem fröhlichen Beginn steht also nichts mehr im Wege.


Das Eintreffen der Kinder am Sammelpunkt geschieht schön pünktlich, das Verstauen der Koffer problemlos und auch das Einsteigen in den Bus – ohne große sichtbare Abschiedsschmerzen, die etwa eines Trostzuspruchs bedürfen, wenn sich auch einige herzliche Abschiedszeremonien zeitlich etwas strecken. Schwer ist es gewiss, sein liebes kleines Kind einfach fremden Händen anzuvertrauen. Jene sind in der Altersspanne zwischen 6 und 14 Jahren anzutreffen.

Die Busfahrt von Berlin nach Ferchesar ist kurzweilig. Einige Kinder kennen sich schon vom Vorjahr oder weil verschiedene Eltern im gleichen Betrieb tätig sind. Doch auch andere haben sich nach dem „ersten Beschnuppern“ bald viel zu erzählen. Nur eines der Mädchen hat leider ein wenig Reisebeschwerden, so eine Art Seekrankheit. Das ist aber nicht sehr schlimm, denn wir haben Tüten und „Startbonbons“ dabei – doch als unser Bus bald an dem Wegweiser vorbeirollt, der auf die Straße nach dem Dörfchen „Kotzen“ weist, kann sich mancher ein Loswiehern mit den entsprechenden Faxen nicht verkneifen.


Der Bus biegt von der Landstraße auf einen Sandweg, durchquert ein Waldgebiet und – schwupps – schon sind wir am Ziel. Wie lange brauchten wir? Na, wohl kaum 2½ Stunden. Eine recht kurze Fernreise. Am frühen Nachmittag treffen auch die jungen altmärkischen Kinder aus Stendal ein. An diesem ersten Tag gibt es ein schlichtes Begrüßungsmahl, die traditionellen Brühnudeln, weil man ja nicht wusste, wann die Busse wirklich eintreffen werden und sich "mehrteilige Speisen" nicht so günstig über längere Zeit ansehnlich und warm halten lassen. Dieses Thema wird von einigen Älteren bald noch einmal aufgewärmt, als die Kinder hören, dass ein Stück weiter am See der Ort „Wassersuppe“ liegt. Nicht nur die Küchenkräfte sorgen für das leibliche Wohl, sogar einen Wirtschaftsleiter haben wir, der das Beschaffen von Obst, Gemüse, Fleischwaren und – Brühnudeln organisiert.


Anschließend werden die Kinder in Gruppen aufgeteilt. Das obliegt der Lagerleiterin Andrea H. vom ZGI. Der stellvertretende Lagerleiter ist Erich G. von Erdöl / Erdgas aus Stendal – und jeder Gruppenleiter erhält nun „seine eigenen Kinder“. Zu den Gruppenleitern gehören: - Eva D., - Lisa N., - Juliane S., - Bettina H., - Monika N., - Christoph J. - Es gibt noch weitere aus den anderen Betrieben, deren Namen mir aber nicht gegenwärtig sind, denn bis jetzt, da ich diese Notizen schreibe, ist nämlich schon die geraume Zeit von mehr als vier Jahrzehnten ins Land gegangen und damals sprachen wir uns sowieso nur mit dem Vornamen an.


Bei der Art der Inbesitznahme der Doppelstockbetten seitens Kinder, kann man schon gewisse Vorlieben, auch zögerndes Verhalten oder Ellenbogengehabe feststellen, – für den Gruppenleiter eine hilfreiche Einstimmung, um seine Schäfchen schnell kennenzulernen und zeitig manches zu nivellieren, damit es auch für eher Zurückhaltende schön wird, damit niemand zu kurz kommt.


Erst mal ist Zeit, nur das Nötigste aus den Koffern auszupacken, denn die Schrankkapazität ist recht knapp bemessen. Fast jedes Kind hat alles was es benötigt mitgebracht. Sollte aber etwas fehlen, so ist es schnell besorgt, denn wir haben ein treu dienendes Auto, einen IFA F 8 - Kombi, unseren Versorgungs- und notfalls auch Krankenwagen, mit dem wir auch mal nebenbei ein Stück Seife oder eine Tube Zahnpasta aus Rathenow „heranschleppen“ können.


Nach dem Auspacken und Einrichten besichtigen wir erst einmal das Gelände. Es ist zwar rund 17.000 qm groß aber gut überschaubar gestaltet. Die große Grasfläche ist mittels Holzlattenzaun eingefriedet und geht an drei Seiten der Grundstücksbegrenzung in ein Waldgebiet über. Nur an einer Längsseite befindet sich ein Sandstrand und davor blinkt der See. Sogar einen breiten Anlege- oder Angel-Steg mit Rettungsboot haben wir.

Auf der Grasfläche stehen die Bungalows, also Wohn- und Schlafbaracken. Es gibt auch einen Sanitäts- und Krankenbungalow. Jene beiden Häuschen sind das Reich von Liselotte Th., einer richtigen erfahrenen Krankenschwester, die von den Gruppenleitern, die ja zum Teil eine Sanitätsausbildung besitzen, im Bedarfsfall unterstützt werden kann. Es wird sich aber zeigen, dass Lilo nicht zu viel mit chirurgischen Handlungen oder gar schwierigen Infektionskrankheiten zu tun haben wird, so dass sie sich auch anderen äußerst wichtigen Themen zuwenden kann.

Dann gibt es den appetitlichen Küchentrakt mit Speise- und Kulturraum, ferner die Ausleihstelle für kleinere Spielsachen und größere Spielgerätschaften, sowie die Sportartikel und Bücher. Der lange Toiletten- und Waschwagen, ist in zwei Abteile getrennt.

Auf diesem Gelände, mal auf dem Gras, mal in einer Sandfläche gibt es ein Volley- und Völkerball-Areal, ein kleines Fußballfeld, Schaukeln, Wippen und Klettergerüste.


Am Lagertor hält sich, solange dieses offen steht, zeitweilig ein kleines Empfangskomitee, genannt „die Lagerwache“, auf, um eventuelle Gäste, wie auch Lieferanten und Postboten willkommen zu heißen und jene zu leiten, damit sie sich auf dem Gelände nicht verirren.

Am Tag nach der Ankunft schreiben wir den Lieben daheim und lassen sie wissen, wie es uns hier gefällt. Natürlich wurde bereits „offiziell“ mit der Rückkehr der Busse, in den Betrieben Bescheid gegeben, dass alle Kinder gut und gesund im Ferienlager angekommen seien.


Viel Post bekommen die Kinder in den nächsten Tagen. Die Postverteilung ist jedes Mal eine spannende, Freude auslösende Aktion. Selbst ein Bote der Post kommt per Moped mit einem Brieftelegramm hier heraus. Wohl nur für ein Kind hapert es mit dem Post. Da setzen wir Großen uns hin und schreiben einen hübschen, lustigen Brief – wenn es auch nur ein Ersatz ist.

Nach drei Tagen kommt der mobile Landfilm zu uns. Der Kollege Filmvorführer hat alles im Auto: Projektor, Lautsprecher, Leinwand, Leitungsgewirr. Das alles baut er draußen auf, denn das Wetter ist schön – und seine Leinwand ist höher als die Baracken es sind. Nach dem Abendessen stellen wir dann draußen die Stühle auf und warten noch, bis es ausreichend dämmert, denn die starke Projektorlampe soll ja der Sonne keine Konkurrenz sein. Bald schon läuft „das Filmwerk“ an.


Die Zeit solch eines Durchgangs, so zeigt es sich, ist eine viel zu kurze (damit möglichst zahlreiche Kinder in die Ferienlager fahren können). Die Stunden des Tages sind schnelllebig und kurzweilig. Nach Waschen und Frühsport um 8.00 Uhr das Frühstück, Mittagszeit um 12.00 Uhr, Ruhezeit, eventuell Lesen, ein kleines „Kafe“-Mahl. Freizeit bis zum Abendessen um 18.00 Uhr. Abendwäsche, Vorlesen einer Geschichte, Nachtruhe im Allgemeinen (bis auf festliche Anlässe mit Ausnahmen) um 20.00 Uhr.

Für die Großen dann Besprechung: Auswertung des Tages mit seinen Schönheiten und erkannten Problemchen, Vorstellen der Vorhaben für den nächsten Tag seitens der Gruppenleiter, dann die eigene kurze Urlaubsstunde. Bald schlafen, denn unsere Kinder sind zeitig munter und verlangen ihr Recht. – Die Tage rasen nur so dahin.


Stets gern genutzte Wassersportgeräte sind die prall aufgepumpten, großen Lkw-Schläuche. Auch das Floß (eine große hergerichtete Flachpalette) ist oft voll besetzt, mit dem gern zur schwimmenden Plattform übergesetzt wird. Nur das Rettungsboot ist als Spielzeug ein Tabu. Die Rettungsschwimmer sind bei allen Wasserspielen dabei aber haben zum Glück nichts zu tun, was dieser Bezeichnung Ehre machen würde. So aber ist es besser.


Nach einer Woche begehen wir das Neptunfest. Schwester Lilo zum Beispiel, gestaltet jetzt mit den Mädchen Röcke aus Krepp-Papier und Schilf und auch entsprechende Hüte. Gemeinsam basteln sie Muschelketten zum Unterstreichen ihrer natürlichen Schönheit und gar manch weiteres Zubehör – was man zum Neptunfest eben dringend benötigt, um als Nymphe zünftig auftreten zu können. Bei den Piraten zeigt sich die Ausstattung weitaus schlichter.

Neptunus hat bei der Festvorbereitung reichlich damit zu tun, den Dreizack zu fertigen, Tang für den Kopfputz zu ernten und ein widerliches Getränk, so eine Art Schluckimpfung für bestimmte der erwachsenen Täuflinge zu brauen, ohne es tunlichst vor der Verabreichung selber abzuschmecken. Größere Mengen Rasierschaums muss er schlagen, das hölzerne Rasiermesser schärfen – „alle Hände voll“ hat also auch er zu tun. Zum Beginn des Festes kommt Neptun mit seinen Begleitern (die dann später die Zwangs-Täuflinge einfangen) von weit her aus dem See an Land geschwommen, bis er dann triefend inmitten unserer Versammlung auf dem Thron Platz nimmt. Die Täuflinge, aber nur jene, die die Taufprozedur auch überstanden, erhalten über diesen Akt eine Urkunde, auf der natürlich der ihnen verliehene neue Name erscheint. Auch Orden werden vergeben, auf denen der wichtige Anlass oder nach dem „Denkzettelprinzip“ eine auffällige persönliche Eigenschaft oder anatomische Besonderheit des Empfängers erwähnt ist. Darin ist der Neptun nicht zu fein.


Unsere Ferienbuch-Bibliothek wird ihren Anforderungen gerecht. Gern wird sie genutzt aber vermutlich geringer, als hätten wir schlechtes Wetter. Wenig Regen, nur einmal ein kräftiges Gewitter, so dass die Kinder meist draußen umher tollen können und an den Abenden „hundemüde“ sind, kein Nörgeln, kein Streiten – eine harmonische Gemeinschaft.

Ein Sportfest ist angesagt, der Tradition folgend, mit Weit- und Hochsprung, auch Volleyball und Tauziehen, kleinen turnerischen Kunststücken, die manche Kinder eingeübt haben und nun vorstellen möchten. Darunter auch sehr beachtlich: Die „Große menschliche Pyramide“. Natürlich ist auch hier für jeden der Teilnehmer ein kleiner Preis vorgesehen und für die Besten eine Ehrenurkunde.


Unsere Exkursionen durch Wald und Feld bieten zahlreiche interessanten Aspekte ... und manchmal erkennt man an den klugen Erläuterungen der Kinder, in welchen Berufen die Eltern, in welchen Betrieben sie tätig sind. Doch wir wollen den Wald nicht unbedingt abgraben, um einen geologischen Schnitt oder „Horizont der Erdkruste“ anzulegen, verschiedenste Silikate unter Spezial-Mikroskopen betrachten und hier in diesen Ferientagen auch weder nach Erdöl bohren noch ein Kraftwerk errichten ... wie es eher den Eltern dieser Kinder eigen ist. Das muss nicht sein. Die Kinder brauchen nur einfach unbeschwerte Ferien. – Aber trotzdem sind derartige Gespräche schon spannend. Nun, ich selber halte mich im Wesentlichen an die Biologie, an Pflanzen, Tiere und den Menschen der mit jenen umgeht. Bleibe also damit auf hinreichend „sicherem Terrain“.


Und noch einmal zieht es den Landfilmmann mit seiner Lichtspielkunst zu uns. Es scheint ihm in unserer Mitte zu gefallen. Wenn's man gut geht. Schwere Wolken hängen über uns und es tröpfelt bereits. (Keine Sorge – verzieht sich wieder).


Leider viel zu früh folgt ein Abschiedsfest mit vielfältigen Kulturbeiträgen, späterem Festessen, Erzählen, dem Singen von Volksliedern mit Gitarrenbegleitung und Lagerfeuer (Förster und Feuerwehr wissen Bescheid, Wildschweinbraten über dem Feuer steht nicht auf dem Programmzettel).

Schleicht sich schon hie und da eine leise oder stärkere bittersüße Wehmut ein? Haben sich doch in diesen Tagen schon zarte Bande entwickelt, die das Schicksal der unerbittlich ablaufenden Zeit, schon wieder trennen will. Große Versprechen und Ehrenworte werden da und dort abgegeben, sich bald zu schreiben und sich demnächst vielleicht wiederzusehen – denn die Entfernungen sind ja nicht groß – ist unser Land doch eher klein.

Kaum jemand hat wohl in den zurückliegenden Tagen unseres gemeinsamen „einsamen“ Aufenthaltes die Großstadt, ihren Trubel und ihre Ablenkungen wirklich vermisst.

Zuerst verabschieden wir in Ferchesar alle Stendaler herzlich und winken deren Bus nach, der jedoch schnell hinter der ersten Biegung des Weges vor unseren Blicken im Wald entschwindet.


Ja, es scheint mir, die Stimmung auf unserer Rückfahrt ist anfangs etwas gedämpft – doch bald, im heimatlichen Berlin, begrüßen sich Kinder und Eltern mit großem Hallo, sinken sich nach soo langer Abwesenheit verschiedentlich in die Arme, und haben sich viel zu erzählen.


Der leere Bus fährt los. Alle Kinder sind mit ihren Eltern nun fort, eilen zur Straßenbahn, zur U- und S-Bahn, wohl wenige nur zum Auto, gehen vielleicht zu einem Begrüßungsfestschmaus.

Und uns fehlt etwas – wir bisherigen Gruppenleiter bleiben allein zurück, plötzlich bar jeglicher Verantwortung – ohne unsere Kinder – eine merkwürdige Stille inmitten der lauten Stadt – .

Erst morgen wird der Alltag mit seinen Anforderungen uns wieder in seinem Griff haben.


Die Kinder aber sind weiterhin in den „Großen Ferien“ – noch eine unendlich erscheinende Zeit. Mögen sie diese Wochen so recht genießen.


Chris Janecke


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Zu diesem Bericht gibt es hier zwei Übersichtsskizzen.

Es bestehen darüber hinaus beim Autor einige Fotos.