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Januar 1961 – vier Wochen Erholung im
Kindergenesungsheim – Kinderkurheim
Rottleben, im Kreis Artern, am Kyffhäuser

Bearbeitung: Februar 2021.  Kontakt per E-Mail: christoph@janecke.name
Zur Einstimmung vor dem Lesen des Berichts gibt es einige Bilder – bitte hier klicken.

Der Bericht bezieht sich im Wesentlichen auf jene Zeit des Aufenthaltes in Rottleben, erwähnt aber auch einige frühere sowie spätere Begebenheiten, die ihm wichtig erscheinen. Es werden nicht nur die Tagesabläufe kurz wiedergegeben. Es kommen hier, der Entwicklung des Schreibenden entsprechend, auch weitere Überlegungen zu Wort, die in diesen Zeitrahmen passen. So wie mit dem Text, ist es auch mit der Bilderserie. Der Jugendliche war im Winter dort zur Erholung und könnte eigentlich nur einige weiße Schneeseiten zum Betrachten anbieten. Deshalb verwendete der Autor Bilder aus verschiedenen Jahren und von unterschiedlichen Jahreszeiten. Als hilfreich erwies sich dabei der freundliche Gedankenaustausch mit Familie Arndt und der fruchtbare Kontakt mit der damaligen Gruppenerzieherin des Berichtsverfassers, wofür er sehr dankbar ist. Die Hinweise und Bilder aus jenen Quellen gingen in den vorliegenden Bericht ein.



Wir sind jung, die Welt ist offen (Lied der Kinderfreunde aus der Arbeiterbewegung)


Wir sind jung, die Welt ist offen. Oh' du schöne weite Welt.

Unser Sehnen, unser Hoffen, zieht hinaus in Wald und Feld.

Bruder lass' den Kopf nicht hängen, kannst ja nicht die Sterne seh'n.

Aufwärts blicken, vorwärts drängen! Wir sind jung und das ist schön.

Aufwärts blicken, vorwärts drängen! Wir sind jung – die Welt ist schön.


Liegt dort hinter jenem Walde nicht ein fernes fremdes Land?

Blüht auf grüner Bergeshalde nicht ein Blümlein – unbekannt?

Lasst uns schweifen ins Gelände, durch die Täler, über Höh'n,

wohin auch der Weg sich wende, wir sind jung und das ist schön.

Wohin auch der Weg sich wende, wir sind jung – die Welt ist schön.


Auf, denn auf, die Sonne zeiget uns den Weg durch Feld und Hain,

geht dabei der Tag zur Neige, leuchtet uns der Sternenschein.

Bruder, schnall den Rucksack über, heute soll's ins Weite gehn.

Regen, Wind, wir lachen drüber. Wir sind jung und das ist schön.

Regen, Wind, wir lachen drüber, wir sind jung – die Welt ist schön.


Text: Jürgen Brand = Lehrer Emil Sonnemann (1869–1959), Bremen 1914.

Musik: Michael Englert / Heinrich Schoof / Hermann Böse



Liebe Leser und Bildbetrachter! 

Unser Kalender zeigt uns: Wir leben momentan im Monat Januar des Jahres 1961.

In diesem Winter erhalte ich, der Chris Janecke aus Potsdam-Babelsberg, nach jugendärztlicher Verordnung altershalber (weil ich 15 Jahre jung bin) zum letzten Mal als Zeichen medizinischer Zweckmäßigkeit den Aufenthalt in einem Kindererholungsheim. Ich empfinde das als eine große Auszeichnung! Es ist also nicht das erste Mal, dass ich zur Erholung fahren darf, weil ich etwas lang und dünn bin, vielleicht eine Nuance als zu blass um die Nase erscheine ...

Die Reise

In diesem Jahr ist es das Kindergenesungs-Heim in Rottleben am Kyffhäusergebirge, wohin ich fahren darf. Dort in der Nähe, im Kindersanatorium „Helmut Just“ in Bad Frankenhausen, in jenem Heim, das der Herr Hedrich bauen ließ, durfte ich bereits vor vier Jahren sein. Und so fährt unser sehr bequemer Ikarus-Bus kurz vor seinem Ziel auch durch diesen mir bereits bekannten Heil-Ort.

Es geht heute allerdings nicht direkt vorbei am „Helmut Just“-Heim durch die Thomas-Müntzer-Straße, die am Flieder- oder Weinberg kurz vor dem Schlachtberg endet.

Nein, unser Bus biegt am Ortsausgang, am Stadtpark, nach links in Richtung Rottleben ab. Das geht alles sehr schnell – vertiefen kann ich mich in meine Erinnerungen nicht – bloß mal gedanklich meiner damaligen Erzieherin, Fräulein Regina Jödicke und auch der Heimleiterin Frau Ruth Liesegang zuwinken und ihnen einen schönen Tag wünschen. –

Nur ein Stündchen lebhaften Spaziergangs liegen die beiden Kurorte Bad Frankenhausen und (eigentlich Bad-) Rottleben voneinander entfernt. Der Bus schafft das in wenigen Minuten. Damals war ich allerdings im Sommer in dieser Gegend. Beim jetzigen Aufenthalt ist die Landschaft zugeschneit. Gewiss wird es wieder eine schöne, erholsame Zeit am Rande des kleinen Gebirges.

Bei „Kyffhäusergebirge“ denkt man als Mensch und Laie natürlich zuerst an gewaltige Berge – aber das Kurdorf Rottleben befindet sich nur etwa 145 m über dem Meeresspiegel und liegt verhältnismäßig flach und ziemlich trocken im Regen- und Schnee-Schatten des Gebirges, nahe den Tälern der Diamantenen Aue und der Goldenen Aue. Eine fruchtbare Gegend, wovon im Sommer die „goldenen“ Getreidefelder zeugen. Viele Diamanten fand man bisher dort wohl nicht.

Ein Blick in die jüngere Geschichte und auch in unsere momentane Zeit

Das heutige Kindergenesungsheim steht auf den Grundmauern, dem alten Fundament, des früheren Schlosses Rottleben. Ein noch viel älteres Schloss gab es bereits, als der Ort Rottleben erstmals im Jahre 1125 erwähnt wurde (zumindest in den erhalten gebliebenen Urkunden). Ohne eine Ansiedlung in der Nähe wir es dort nicht allein gestanden haben.

Der Park des Schlosses, so wie wir diesen heute sehen, wurde bereits im 17. Jahrhundert als „Lustgarten“ angelegt. Das Park-Grundstück ist etwa 11.300 m² groß. Von der Schönheit eines Gartens oder Parks sehen wir jetzt im Winter nichts und alle gewiss vorhandenen Blumenbeete sind mit Schnee überdeckt und die Bäume kahl.
Bis nach dem Ende des schrecklichen Zweiten Weltkrieges soll es noch einen idyllischen Teich, mit Schwänen, Wildenten und Fischen sowie einer kleinen Insel gegeben haben. Wohl aus Mangel an Nutzungsbedarf und Pflege-Interesse wurde der Teich dann in der Zeit des neuen Aufbaus nach Beschluss der Rottlebener Ratsmänner, also der neuen Entscheidungsträger, mit Bauabfällen zugeschüttet – wird gesagt. Ich selber war ja nicht dabei. Man hatte in der Nachkriegszeit ganz andere Sorgen und eine andere Interessenlage als vorher, als das Pflegen von „Lust-Teichen“.

In diesem Schloss am Park lebte als letzte Besitzer die Familie v. Rüxleben. Eine zu kleine Familie in dem großen Gebäude auf dem gräflichen Besitz sagen die Einen, andere meinen, der Herr v. Rüxleben sei ein Freiherr gewesen, ein Baron, zum niederen Landadel gehörend.

Die ausbeutenden, blutsaugenden Junker, denen ja eine Mitschuld am Krieg obliegt, wurden 1945 enteignet“, heißt es. Ein leicht dahin gesprochener Satz. Diese Aussage galt für das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und betraf allein in der Landwirtschaft etwa 40% der nutzbaren Flächen. Was aber mag wohl alles dahinter stecken?
Im Allgemeinen sah es so aus, dass den betroffenen Gutsbesitzern der Besitz (Land, Haus, Produktionsstätten, Wertsachen) ... entschädigungslos fortgenommen und dieser zum Staatseigentum (zum Eigentum der Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone, zum Eigentum des Volkes) erklärt wurde. Die Betroffenen selbst hatten dabei keinerlei Mitspracherecht und binnen kürzester Zeit (oft in Stunden) mussten sie ihre Heimstatt verlassen. Sie bekamen weitab eine Unterkunft zugewiesen, für die es nicht auszusuchen gab, verbunden mit dem Verbot, ihr bisheriges Eigentum jemals wieder zu betreten, zu besuchen. Eine Anzahl derer, denen eine Enteignung bevorstand, erlebten diese dann schon nicht mehr. Andere, Überlebende, gingen mitunter als neue besitzlose Flüchtlinge möglichst schnell in eine der drei Westzonen Deutschlands.

Wie es dieser Familie v. Rüxleben weiter erging weiß ich nicht. Es galt auch nicht als aktuelles neugeschichtliches Thema von allgemeinem und öffentlichem Interesse, über das informiert werden müsste – wichtig genug allerdings wäre es.

Jeder von uns wurde in eine bestimmte soziale Schicht, in ein bestimmtes Milieu hineingeboren. Ohne eigenes Dazutun wurde man in die soziale Herkunft: Arbeiter, Bauer, Angestellter, Handwerker, selbständig Tätiger / Freiberufler oder „Intelligenzler“, ... eingegliedert und davon hing für die jeweils Betreffenden, in der Folge auch manches oder mehr ab.


Wer hierher als Kind der DDR zur Erholung kommt, ahnt kaum etwas von der noch recht frischen Geschichte.

Der Staat bildete von dem eingezogenen Land volkseigene Güter oder teilte diese Flächen bei der Bodenreform auf, gab etwas den Kleinbauern, den mittellosen Landarbeitern, den Flüchtlingen (Umsiedlern) aus dem Osten – eine großzügige Geste? – Eine dringend notwendige Maßnahme, denn wer sonst sollte die Ernährungsgrundlage für die Bevölkerung schaffen? Doch nicht jeder der nun neu mit Landeigentum Begünstigten hatte die hinreichende Kenntnis des Wirtschaftens auf bäuerlichem Gebiet, viele nicht die eigene Kraft und es mangelte ohnehin an technischer Ausstattung, so dass die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln aus der Landwirtschaft schwieriger wurde, statt, wie geplant und erwartet, besser.

Nur wenige Jahre später hieß es deshalb: „Gebt euer Stück privates Land auf, tut es zusammen, bringt es in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) ein. Gebt das individuell betriebene Arbeiten auf – ihr werdet es leichter und besser haben und die Produktivität wird außerdem spürbar steigen“. Bisherigen privaten Besitz an Land fortzugeben, zusammenzulegen, möglichst auch das Vieh und die Maschinen – das war die neue Devise. Das betraf nun aber nicht nur die Menschen, die erst vor wenigen Jahren Land erhalten hatten, sondern genauso jene, die seit langer Zeit, seit Generationen, die eigene Scholle, ihr Eigentum, bewirtschaftet hatten. Das ging so ab etwa 1952 bis nach 1961, mitunter freiwillig, oft in der Gruppen-Mitläuferschaft um des lieben Friedens Willen, selten gleichgültig-bequem, oft mit starkem politischen Druck, dessen Methoden sehr viele Menschen aus dem Land trieben, verschiedene auch in den Tod.


Für mich selber ist es kaum verständlich, dass man immer wieder über ein Stückchen von dieser Erdkugel sagt: Das ist mein Land / das habe ich geerbt / das habe ich gekauft / das verschenke ich jetzt / das nehme ich jetzt anderen weg / das kann ich dir verkaufen mit großem Gewinn für mich ... usw. Ist es nicht eher so, dass wir (Tiere und Menschen ... und ...) das natürlich Vorhandene für die Dauer unseres Lebens leihweise nutzen dürfen, pfleglich behandeln sollen, um es der nächsten Generation in möglichst gutem, vielleicht besserem Zustand weiter zu geben, ohne zu schachern, ohne es verkaufen zu wollen – von einem „Erlös“ würden wir selber am Ende unserer Tage nichts mitnehmen können.


Eine Bekannte meiner großen Schwester wollte Lehrerin werden. Sie war ein knapp 17-jähriges junges Stadtkind und diese Lehrerinnen-Studentinnen sollten in ihrem Studienfach „Agitation und Propaganda“ die erfahrenen Landwirte darüber aufklären, dass nach der Abgabe von Land und Tieren, durch eine Gemeinschaftsarbeit und natürlich mit dem Einsatz von Maschinen, die Produktivität enorm steigen werde. So sei es auch erforderlich, weil die DDR gerade jetzt in dieser Zeit, die Wirtschaftsergebnisse der Bundesrepublik hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern überholen wird – ohne sie etwa vorher einzuholen. Verschiedene Bauern zeigten den unerfahrenen Mädchen bei deren Vorträgen ihre Hunde oder wiesen ihnen die Eingangstür als nunmehrigen Ausgang. Andere schlugen die Hände über dem (eigenen) Kopf zusammen und meinten zu den Pädagogik-Studentinnen etwa: „Ach, ihr arglosen, unwissenden, verblendeten Kinder“. Solcher Methoden gab es eine Anzahl in Formen, die durchaus drastischer waren. So etwas stand aber nicht in den Zeitungen doch es gehörte als Tatsachen in genau den Zeitrahmen, da auch ich mich hier Anfang des 1961-er Jahres als Jugendlicher vom Alltag erholen darf. Ich meine, es soll nicht vergebens sein, etwas von der nahen Zeitgeschichte gehört oder gelesen zu haben, etwas, das in der Schule, beispielsweise in den Fächern Geschichte oder Staatsbürgerkunde, nicht erwähnt, nirgendwo lebensnah vermittelt wird. In den archivierten Zeitungen können wir die aktuelle Darstellungsweise, oft eine Verhöhnung der Betroffenen, auch noch nach 100 Jahren lesen, versuchsweise nachempfinden und bewerten. Wenn wir es wollen.


Die neue Bestimmung für das Anwesen

Das Schloss Rottleben wies 1945 Kriegsschäden auf. Zuerst konnten hierin Flüchtlinge für eine Übergangszeit untergebracht werden, die aus ehemaligen deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße kamen und oftmals keinerlei Habe besaßen, als dass, was sie an Kleidung auf dem Körper trugen.

Dieses Gebäude wurde dann am 12. April 1949 feierlich als Kindergenesungsheim eröffnet, von der Sozialversicherung wirtschaftlich unterhalten. Doch für einen dauerhaften Bestand war ein großer Umbau erforderlich, der wohl fast einem Neubau gleichkam und von 1949 bis 1951 währte.

Nach dem Umbau hatte das Haus dann keine Ähnlichkeit mehr mit dem vormaliges Schloss – mit dem, was man sich vielleicht darunter vorstellt, – eher kann man sagen, es sieht nun aus wie ein Erholungsheim. Äußerlich schlicht und einfach, ansonsten innen adrett, einladend, gepflegt. Eine große Errungenschaft. Das Haus hat ungefähr 25 Räume in unterschiedlichen Größen. Insgesamt sind es fast 1.000 m² Fußbodenfläche, auf drei Etagen verteilt.

Das alles ermöglicht es, dass in den Durchgängen, die jeweils vier schöne Wochen dauern, jedesmal 80 Kinder und Jugendliche in der Altersspanne von 7 bis 16 Jahren hier sein dürfen. Diese Altersauswahl entspricht auch ungefähr dem Altersspektrum der Schüler in unseren „Zehnklassigen Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschulen“ (kurz: ZAPO). Jede der Gruppen ist im Durchschnitt 20 Kinder stark. Vier Wochen sind es zu dieser Zeit – später dürfen die Kinder und Jugendlichen sechs interessante Wochen bleiben und erleben dadurch natürlich noch viel mehr an Erholung und Wissenszuwachs.


Menschen, die uns freundlich betreuen und umsorgen

Das Pädagogik-Personal besteht aus zehn prächtigen, zumeist weiblichen Menschen.

Der Heimleiter ist Herr Arndt, also mit Familiennamen. Mit Vornamen heißt er Friedrich, in seiner Familie und wohl auch im Freundeskreis, abgekürzt Fritz genannt.

Bei den Damen wird so etwas mehr wie ein größeres Geheimnis bewahrt – so auch bei den Erzieherinnen und der Heimleiter-Ehefrau, Hertha Arndt. Manchmal gibt es offene Geheimnisse.

Herr Arndt stammt aus Gernrode und Frau Arndt aus Neusalz an der Oder. Seit 1945 heißt diese Stadt aber Nowa Sól und liegt auf der seit jener Zeit polnischen Seite des Flusses. Die Einwohner des Ortes durften damals entweder manchmal polnische Bürger werden oder sich als Flüchtlinge, als „Umsiedler“ in Gebiete begeben, die deutsch blieben, also westlich von Oder und Neiße lagen.

Wahrscheinlich trafen sich diese beiden jungen Menschen nur wegen dieser Nachkriegs-Verhältnisse und wurden dann im Sommer 1954 das Ehepaar Arndt.

Bereits vor dieser Zeit, seit 1953, oblag Herrn Arndt die Leitung des Kindergenesungsheimes. Aber mit dieser Aufgabe ist es für ihn keinesfalls genug. Unter anderen Instrumenten bläst er auch die Fanfare und leitet darüber hinaus sogar den Rottlebener Fanfarenzug. Außerdem ist er Abgeordneter, ein Volksvertreter, ein Ratsmitglied der Gemeindeverwaltung in Rottleben. In dieser Funktion ist sein nebenberuflicher Arbeits-Schwerpunkt das Bau- und Wohnungswesen im Ort und sein Wort hat großes Gewicht. Sehr viel gibt es für ihn und seine Kollegen zu tun.


Äußerst wichtig sind für uns natürlich die Gruppen-Erzieherinnen.

Die Erzieherin unserer Gruppe, der ältesten Jungen, ist Fräulein Rauschenbach. Dieser schöne Name erinnert uns doch gleich an die Wipper, die am Ort so munter vorbeifließt oder einfach an einen der vielen flinken Bächle. Fräulein Rauschenbach hat ein freundliches Wesen und ist bestimmt nur wenige kurze Jährchen älter als wir – aber eben eine erziehende Respektsperson und zumindest gleichfalls Lehrerin der Unterstufe, die man nur mit „Fräulein“ und mit „Sie“ ansprechen darf. Aus ihrem Wissen kann sie uns eine Menge Lehrreiches erzählen. Es ist eben Lebensschule – viel freizügiger, lockerer und lustiger, als im normalen Schulunterricht und auf unseren Wanderungen wird gemeinsam mit viel Spaß herumgealbert.

Die Erzieherinnen hospitieren aber auch des Öfteren im Unterricht an der Schule, um nicht etwa aus der Übung zu kommen. Ja, sie sollen bei aller täglichen Erholung und Genesung nicht vergessen, wie ein richtiger ernsthafter Schulbetrieb aussehen soll. Die Erzieherinnen aber wissen sowieso wie die Schüler so sind, oftmals, meine ich, wissen sie es besser als die „nur–Lehrer“, weil sie ja die Kinder von morgens bis abends um sich haben und diese, also uns, in den verschiedensten Lebenslagen vor sich sehen. –

Dieses Thema gefällt mir sehr. Ich bin jetzt im 9. Schuljahr und wir haben ab und zu Lehrermangel. Deshalb durfte ich, als Lehrer-Ersatz, auch wieder vor kurzem in der 7a eine Biologiestunde geben. Mit so richtig „wissenschaftlicher“ Vorbereitung: Bildungs- und Erziehungsziel, Zeitplan für die einzelnen Themenabschnitte, Markierung von 2 ... 3 Höhepunkten, vorbereitete knifflige Fragen zum Mitdenken ... für den Aha-Effekt – also mit allem, was wohl kaum ein richtiger Lehrer in seiner Routine macht. So gründlich vorbereitet lief es wieder ohne Stocken, wie geschmiert. Geübt bin ich es ja sowieso – schon wegen der Tätigkeit im Zirkel der „Verkehrserziehung“, die ich für die Kinder jüngerer Klassen halte, mit dem Lehrstoff der Straßenverkehrsordnung, mit dem Geschicklichkeitsfahren und den gemeinsamen Fahrradkontrollen und -reparaturen. So etwa ebenso in der Arbeitsgemeinschaft „Junger Sanitäter“, die ich anleite. Also: selber lernen – den Stoff bearbeiten – das erworbene Wissen weiter anreichern, praxisverbunden ausweiten – dann an andere weitergeben. Das bringt Freude für alle.

Ach so, warum es Lehrermangel gibt, wollt ihr wissen? Eine berechtigte Frage. Na ja, das ist nämlich so: Meine Heimatstadt Potsdam-Babelsberg grenzt an den Südwesten von Berlin. Und da haben wir schon die wesentlichen Begriffe: Grenze und Westen. Von uns aus ist man in einer Spaziergangslänge in (West-) Berlin-Wannsee oder man steigt für das kurze Stück in die Bahn. Geht auch. Und das tun wohl täglich nicht nur zahlreiche Arbeiter und Bauern, sondern auch Lehrer, ach, eigentlich strömen sie aus allen Bevölkerungsschichten und Parteien und aus verschiedenen Gründen aus der DDR fort. Und die Informationen darüber für uns Schüler? In den ersten Tagen war für uns auch dieser bisher gute Lehrer krank, etwas später dann: „Er hat seinem Vaterland, das ihn genährt, den Rücken gekehrt, ist republikflüchtig geworden, hat somit die Arbeiter- und Bauernmacht an die Bonner Militaristen und Revanchisten verraten. Wir werden ihn nicht vermissen.“ So etwa. Für mancherlei Alltägliches brauche ich nicht in die Zeitung sehen – ich habe vieles deutlicher direkt vor Augen – wir leben zu Hause ja nicht „im Tal der Ahnungslosen“ – und das ist für mich als schulischer Wandzeitungsredakteur oft ein Spagat. Ich hatte gerade eine neue Wandtafel unter der Überschrift vorbereitet: „Wir steh'n im Kampfe Tag und Nacht – der Grenzschutz unser Land bewacht“ aber dazu dann die Artikel schreiben und dafür die als geeignet erscheinenden Abschnitte aus den Zeitungen wählen – das grenzt schon an richtige Arbeit. Einfach ist es nicht immer ein Volkskorrespondent zu sein. Aber nur wegen dieser wiederkehrenden Situationen darf ich auch mal dem Vaterland als Hilfslehrerlehrling dienen. Das ist dann schön.

Viel hinterließen uns jene Lehrer nicht aber an einen der Fortgegangenen erinnere ich mich sehr gerne. Er war ein junges Thüringer Volksliedsängerblut, das uns mit fröhlichen Liedchen erfreute und sich mit der Gitarre begleitete. Er komponierte und textete auch selber. Er war leider nur kurze Zeit bei uns aber seine Lieder haben sich leicht eingeprägt, ich kann sie noch heute. Auch ihm sollten wir keine Träne nachweinen – nun gut – doch für längere Zeit hatten wir dann gar keinen.


Zum Personal des Genesungsheims gehören des Weiteren zwölf „Technische Kräfte“.

Das sind diejenigen, die mit neuzeitlicher Küchentechnik umgehen können und die die Nahrungsmittel heranschaffen sowie alle Speisen schmackhaft zubereiten. Das ist durchaus nicht leicht zu bewerkstelligen – denken wir allein an Frischgemüse, Obst und Butter. Nicht die gute Sahna- oder Vita-Margarine, sondern Butter von richtigen schwarz-weißen Milchkühen kommt auf den Tisch. Butter, die wir zu Hause, seit die Lebensmittelbezugsmarken abgeschafft sind, in unserer personengebundenen Stammverkaufsstelle nun frei unter Vorlage des Personalausweises in kleiner zugeteilter Menge kaufen können, – solange der Vorrat reicht.

Hier bekommen wir morgens und abends zwei Stückchen Butter (20 Gramm). Jeder von uns!

Außerdem benötigt eine Anzahl von Kindern „Calcipot“ gegen rachitische Erscheinungen (das sind keine Entzündungen im Rachenraum, wie der Laie vermuten könnte, sondern Kalk-Mangel-Erscheinungen in der zu weichen Knochenstruktur, die dann den Belastungen des Alltags nicht gewachsen ist). Auch Biomalz und Ho-Mi-Pulver gilt es zu beschaffen. Das Honig-Milch-Erzeugnis vom VEB Diäta in Halle besteht aus 65% bläulicher Magermilch* (auf der heißen Walze getrocknet), 25% Honig und 10 % Dextropur, also Traubenzucker. Man braucht nur noch warmes Wasser darüber gießen und umrühren – fertig – für jeden ein Genuss. Als Pulver auch gut genießbar – staubt dann nur ein bisschen und klebt am Gaumen. Ebenso müssen Fleisch- und Wurstwaren beschafft werden. Ein tägliches Ringen. Es sind diese Mütter und Fräulein also sehr wichtige Kräfte.

* Die derzeit übliche „Magermilch“ wurde dann später in „entrahmte Frischmilch“ hochgewertet.


Dann gibt es jene Damen, die es gut verstehen mit der bekannten Raumpflegetechnik umzugehen. Auch diese haben, jahrein, jahraus, ihr tägliches emsiges Tun. Und wir sorgen trotz aller Vorsicht ganz nebenbei dafür, dass deren Arbeit sehr benötigt und auch geachtet wird.

Als weiteren Spezialtechniker könnte man den Haus-, Hof- und Park-Meister ansehen.

Alle diese Kolleginnen und Kollegen gaben, zur Einschätzung ihrer Arbeit befragt, dem Vertreter der sozialistischen Tagespresse einmütig zu Gehör, dass sie ihre schöne Tätigkeit im Kindergenesungsheim als wichtig, verantwortungsvoll, auch anstrengend und problembeladen aber letztendlich als erfolgreich betrachten. Das stimmt uns froh.Wir können es noch heute nachlesen.


All diese guten Menschen dürfen zwischen den Durchgängen, wenn keine Kinder da sind, im Anschluss an die Arbeiten der Nach- und Vorbereitung, auch 'mal richtig durchatmen.

Üblich ist es wohl auch, dass sich das Personal einmal im Jahr einen gemeinsamen kleinen Betriebsausflug gönnt. Das fördert den freundlichen Zusammenhalt.


Zum Personal zähle ich natürlich auch das gute Tier, das für uns wacht – „Wotan“ ist sein Name.

Das Grundstück ist mit seinen Zugängen so gestaltet, dass es einen stattlichen Vordereingang an der Heimstraße hat aber auch einen Hintereingang, den man benutzt, wenn man aus der Richtung der Barbarossa-Straße kommt, vom Rodeln zum Beispiel oder von der Höhle. Wir nehmen hauptsächlich den Weg durch den hinteren, den Nebeneingang.

An der offenen Grundstücksgrenze begrüßt uns im Schneegestöber schwanzwedelnd der freundliche Schäferhund Wotan, der treue Wächter des Anwesens. Leider wacht der Arme immer, Tag und Nacht, behindert von der kurzen Eisen-Kette, vor oder in seiner feuchten, kalten, schneebedeckten Hütte. Wegen dieser Kette kann er auch keinen Einbrecher fassen, darf nur versuchen, einen solchen durch sein Erscheinungsbild und die kräftig-sonore Stimme einzuschüchtern. Offensichtlich hat Wotan nicht ein so gutes Leben wie unsere Schulkaninchen** oder wie wir zu Hause und auch hier im Heim. Hoffentlich wird er nicht krank. Ob er dann auch einen Platz im Genesungsheim erhalten würde? Ich wüsste da schon ein geeignetes Plätzchen.

Wenn ich mich abends im warmen Bett ausstrecke und rekele, gehen meine Gedanken oft hinaus zum Wotan, der dort draußen in der Kälte, Tag und Nacht uns treu bewacht.

Oft kratzt er sich. Ich denke, in seiner lausigen Hütte und natürlich in seinem dichten Winterpelz werden viele Flöhe wohnen, die ihn tagein, nachtaus beißen, stechen, aussaugen, Krankheitserreger einbringen und ihn mit Juckreiz peinigen. Das hat er nicht verdient!

Ich werde zu Hause mal eine Zeichnung und Beschreibung für eine zweckmäßige und schöne Hütte fertigen. Dann kann jeder echte Hundeliebhaber danach eine gute Behausung bauen – auch für sibirische Verhältnisse – doch das hilft hier leider dem guten Wotan nichts.


** Zu dem oben genannten Stichwort: „Schulkaninchen“. Es war so: Vor längerer Zeit hatte der Genosse Walter Ulbricht*** in einer Rede den in einen der üblichen Halbfragesätze gekleideten Befehl erteilt: „Mehr Fleisch für die Volkswirtschaft, Genossen, Ja?“ ... und schon sprangen gar manche ... viele ... und so auch die gesamte Volksbildung. Die Schulleitungen gaben freiwillige Selbstverpflichtungen ab ... etwa mit dem Grundgedanken: „wenn in tausenden Schulen der DDR von den Schülern kostenlos nebenbei Kleintiere gemästet werden, ersetzt das vielleicht im volkswirtschaftlichen Gesamtergebnis sogar die Kapazität eines kleineren Schweinestalls“. Die Pioniere und FDJ-ler und die anderen Schüler werden's wohl schon richten. Und so befassen wir uns neben den Schulaufgaben täglich in der Freizeit auch langzeitig mit Kaninchen, mit der Futterbeschaffung von volkseigenen Wiesen, dem Sammeln von Kartoffelschalen, bauen Gemüse an usw. Natürlich fertigten wir auch die erforderlichen Ställe selber an. In der „Station Junger Techniker“ standen uns dazu das Material kostenlos und auch die Werkzeuge zur Verfügung, die man als junger laienhafter Tischler oder Zimmermann eben so braucht. Einiges an Kleineisenwaren, das wir aus den Ergebnissen von Altmaterialsammlungen finanzieren konnten, entzogen wir allerdings dem genau geplanten Bevölkerungskontingent. – Insgesamt kann man sagen: selbst erteilter polytechnischer Unterricht. Deshalb sind auch passable Hundehütten auf dem Papier und in der Natur kein Problem. Wenn ihr da mal einen Bedarf haben solltet ...

Nur meine Mutti hat Sorgen: „Junge, wann willst du endlich mehr für die Schule tun?" fragt sie etwas bekümmert. Da konnte ich nur beruhigend antworten: „Du weißt doch, dass ich schon den ganzen Tag (in verschiedenen Funktionen) in der Schule bin“. Zu dieser Antwort konnte sie kein ganz frohes Gesicht machen. Es gibt aber niemand, der ihr einen Erholungsaufenthalt verordnet.


*** Oben: Stichwort >Genosse Walter Ulbricht<. Es soll hier bitte der vollständige Titel genannt werden, wie es in jeder der täglichen Nachrichtensendungen und in den Zeitungsartikeln üblich ist. Also: „Genosse Walter Ulbricht, Erster Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates ... betonte erneut ...“ .

Dieser alltäglich oftmalige Funktionsbenennungspersonenkult wird später auch gern von seinem Nachfolger Erich Honecker fortgesetzt und gepflegt. Das gehört sich so und soviel Zeit muss sein.

Am ersten Tag

Von den Erholungs-Kindern unseres Durchgangs gefällt mir sogleich die 12-jährige Gisela. Bald erfahre ich, dass sie in Stendal, im Bezirk Magdeburg zu Hause ist, aus der Gegend, aus der mein Großvater stammt – das verbindet. Darüber plaudern wir, als wir uns in einer längeren Schlange anstellen – denn gleich am Anfang des Aufenthaltes möchte uns sehr gern der Arzt, Herr Dr. Laue, sehen und die leere rosa Karteikarte, die jeder von uns in der Hand hält, etwas füllen und darin von der Schwester unter anderem unser Gewicht eintragen lassen. Manches an Gesundungserfolg wird in der Zunahme an Kilogramm erfasst, falls es dazu kommen sollte. Das bedeutet, dass uns der Doktor erneut besuchen wird, um die Erfolge richtig bewerten zu können. Hoffentlich werde ich schnell dick, denn ich möchte den guten Mann nicht enttäuschen. Lang genug bin ich ja schon.

Wie sehr es uns aber gefällt, was wir alles erleben dürfen, hat keinen Platz auf der Karteikarte.

Einige wichtige Räume des Genesungsheims

Ein angenehm einladende Einrichtung des Hauses ist der Speisesaal. Geschmückt ist dessen eine Wand mit einem Großgemälde, das ein Zeltlager mit Pionieren im Sommer zeigt, für Kinder und Jugendliche wie wir es sind.

Nebenan, im Veranstaltungssaal mit der Bühne, gibt es ein großartiges wandfüllendes Gemälde, das junge Erntehelfer, wohl in der Goldenen Aue, bei der Arbeit mit dem geernteten, schon zu Garben gebundenen Getreide zeigt, die sie nun zu „Puppen“ aufstellen.

Im Erdgeschoss des Gebäudes wurde auf einem Gemälde der Bauernaufstand von 1524 / 25 nachgestaltet.

Schön wäre es, wenn der Kunstmaler uns selber die Geschichten dazu erzählen würde. Wir lernen ihn aber nicht kennen, obwohl er in der Nähe wohnen soll – aber er kann ja auch nicht in jedem Durchgang ... dann würden aus Zeitmangel keine neuen Bilder entstehen, das ist einzusehen.

Sehr viel später wird der berühmte Herr Professor Werner Tübke mit vielen kunstbegabten Helfern dem gleichen Thema in Bad Frankenhausen ebenfalls Ausdruck verleihen. Ein wichtiges Anliegen.


Noch wichtiger als der Speisesaal ist natürlich die Küche mit den fleißigen Küchenfrauen, die für uns die guten Mahlzeiten vorbereiten. Und zwischen diesen beiden Sälen fährt senkrecht ein Aufzug durch das Gebäude. Also, es ist kein Fahrstuhl, man kann sich nicht hineinsetzen, sondern ein Speisenaufzug mit einem dicken Hanfseil für den Handbetrieb. So muss man nicht das Geschirr und alle Speisen die Treppe hinaufschleppen und womöglich öfter mal dabei mit heißer Suppe stolpern und stürzen – aber gut festhalten muss man diesen Speisekasten am Seil natürlich, damit es nicht scheppert. Das tun die Kinder, die gerade zum Tischdienst eingeteilt sind. Eine Tätigkeit, bei der einem schon mal das Wasser ...

Neben dem Speisesaal befindet sich der beliebte Gymnastikraum, auch nutzbar für Frühsport, wenn das Außenthermometer mal unter -30°C fallen sollte. Es fiel aber nicht. Doch halt: Temperatur! Die Heizanlage wollen wir nicht vergessen! – Es gibt also viele wichtige Räume.


Und weil ihr fragt: „womit beschäftigtet ihr euch denn dort den lieben langen Tag?“ 

Dazu kann ich beispielsweise antworten: Draußen gibt es einen Spielplatz. Ist man selber hinreichend mit kreativen Gedanken ausgestattet, dann soll es ein echter Abenteuerspielplatz sein. Jetzt aber ist tiefer Winter mit hohem Schnee und es ist kein Spielplatz zu sehen.


Wenn die Witterung es zulässt, und das ist eigentlich immer möglich, sind wir alle täglich draußen auf kurzen Wanderungen (soweit der Schneepflug sie vorbereitet hatte) und beim Rodelvergnügen. Diese für uns wichtigen Tätigkeiten bereiten natürlich einen gesunden Appetit vor und mit geröteten Wangen und angeregtem Kreislauf kehren wir zurück ins Heim. So soll es sein.


Einige der Kinder besuchen das nahe gelegene Hügelmassiv auch von innen, um in Regencapes versteckt, die dort vorhandene gute Soleluft tief einzuatmen, was besonders für die Kinder wichtig ist, die an Asthma oder anderweitig belasteten Bronchien leiden. Zu meinem Glück geht es mir ja aber recht gut, ich habe damit nichts zu tun.

Neben unseren Wintersport-Aktivitäten gibt es auch zielgerichtete Wanderungen.

Neulich liefen wir in Richtung Steinthaleben zur Barbarossahöhle, die im Dezember 1865 auf der Suche nach Kupferschiefer so nebenbei, fast versehentlich, entdeckt wurde. Eine richtige und riesige Weihnachtsüberraschung, die größer kaum hätte sein können, denn nur eine Höhle ist noch größer. Einen kleinen Makel hat die Höhle doch. Was ihr fehlt ist der dringend gesuchte Kupferschiefer. Besichtigt werden konnte diese Höhle vom stets staunenden Publikum bereits im Jahr nach ihrer Entdeckung. Diese Höhle hat Räume, die bis zu 30 m hoch sind. Die Höhlenausdehnung beträgt ungefähr 25.000 Quadratmeter. Nicht alle Gebiete der Höhle dürfen aber von so einfachen Luftschnappern oder Touristen, wie wir es sind, begangen werden.

Etwa 800 Meter der Höhle werden von den Besuchern binnen der Besichtigungs-Stunde sehr langsam durchlaufen, mit häufigem Halt für die Erklärungen. In dieser Höhle ist es jetzt wesentlich wärmer als draußen – im Sommer jedoch angenehm kühl, obwohl das Barbarossahöhleninnen-

Thermometer etwa gleichbleibende Werte anzeigt. Wie ist das möglich? – fragt sich der Laie.

Ich hatte diese Höhle ja schon vor vier Jahren kennengelernt, habe also noch manches von den Erklärungen im Kopf. Unsere Erzieherinnen, die diese Besichtigungen ja sehr häufig und immer wieder staunend mitlaufen, können gewiss auch schon im Schlaf all' die Geschichten erzählen. Aber die offizielle Führerin, die alles erläutert ist wichtig, schon, weil für den Besuch ja Eintrittsgeld genommen wird und auch, damit niemand aus Spaß in der Höhle zurückbleibt, dort gemütlich übernachtet oder herumspu(c)kt und später vor anderen Leuten mit seinen Taten oder zumindest mit seinem Heldenmut prahlen könnte. Solche Späße gibt es höchstens in alten Schlössern und im Film. Hier, in den DDR-Höhlen, gelten solche eher rüpelhaften Verhaltensweisen als unzulässig.

Wir durchliefen also den Eingangsstollen und sammelten uns in der „Empfangshalle“ – diese natürlich ohne eigene Empfangsdame, denn unsere Führerin wandert ja mit uns. Der Raum ist kein gemauertes Zimmer, sondern besteht aus „gewachsenem“ Gestein. 10 m hoch ist dieser Raum, mit einer Deckenspannweite von 38 m. Noch mehr sahen wir am „Felsenmeer mit seiner Kristalldecke“. Danach wird es ganz sagenhaft – beim Passieren der „Neptungrotte“. In dem Abschnitt, dem man den Namen „Gerberei“ gab, hängen von der Decke „Anhydrit-Lappen“ („Felle, Häute“) aus hartem Gips herab. Sehenswert. Weiter führt uns der Weg durch den „Wolkenhimmel“ und dann geradewegs in den „Tanzsaal“ hinein. 42 Meter Flächenausdehnung und eine Höhe bis zu 7 m zeichnen diesen Saal aus. Viel Platz zum Tanzen – aber das ist nicht so meine Welt.

Selbst einen Tisch und davor einen Sessel (ab Baron aufwärts Thron?) hat man aus dem Höhlengestein für den alten Rotbärtigen errichtet, auf dass er es so recht gemütlich haben möge. Dann besuchen wir die „Speckkammer“. Mäuse konnten wir nicht sehen, auch keine aus Stein. – Solch ein passendes Naturwunder vergaß man anzubieten. Es gibt ja hier in der Gegend versteinertes Holz, warum nicht auch verkieselte, vormals warmblütige Höhlenbewohner jener Art? Ach, betrachtet das bitte einfach als einen Mäuselwitz. Doch dazu kommt später noch ein Wort.

In der „Grottenhöhle“ sehen wir erneut einen kristallklaren See. Drängeln und schubsen sind nicht erlaubt – das Gewässer ist etwa 3 m tief und am Eingang wurden weder Badetücher noch die erforderlichen Badekappen ausgegeben. Zwischendurch schauen uns auch mal Alabastergipsaugen aus der Wand an – etwas traurig vielleicht, weil sie hier bleiben müssen. Wir betrachten mit Kennermienen den typischen aber sehr seltenen Schlangengips. Die Stationen „Dom“ und „de Hexenküch'“ durchlaufend, erreichen wir den langen Ausgangsstollen und werden von der tiefstehenden blendenden Wintersonne empfangen, sind nun wieder völlig „im Heute“.


Die Barbarossa-Höhle erinnert an die Legende um den Stauferkaiser Friedrich I.. In dieser Höhle, „seinem Schloss“, soll der alte Rotbärtige angeblich wohnen und ruhen, solange die schwarzen Raben noch um den Kyffhäuser-Berg fliegen, wird uns erzählt. Wir aber haben draußen vor allem Spervögel, diese Singspatzen, beobachtet, die gierig auf Kekskrümel lauern. Sie sind heller.

In Wirklichkeit, also eher richtig wissenschaftlich, so sagen andere, sei der alte Kaiser gar nicht hier gestorben, sondern auf einem Kreuzzug nach Palästina, nach „Kleinasien“, und zwar sei er am 10. Juni 1190 beim fröhlichen Reinigungsbad in dem Fluss Saleph ertrunken, denn stille Wasser sind bekanntlich manchmal tief.

(Das war also zu einer Zeit, als hier in Rottleben bereits ein Schlossgebäude stand!)

Seinen 69. Geburtstag hatte der Kaiser vorher auf jener Reise gefeiert. Der 70. wäre bestimmt noch prächtiger begangen geworden, wenn da nicht das Bad ... ja, und so wurde nichts mehr daraus. Sein erkaltender Körper aber wurde immerhin gerettet. Sein Gedärm bestattete man im Ort Tarsos, das Muskelfleisch bekamen die Leute in Antiochia und seine Knochen sandte man als Reliquien nach Tyrus. So hatte viele fremde Leute ein gehöriges Andenken an ihn. Für uns in seiner Heimat, woher sein Fleisch und Blut doch eigentlich kam, blieb nichts übrig. Kein materieller Gruß vorgenannter Art, kein Überbleibsel, kein Souvenir, kein Erbe!

So „lebt“ er also wirklich nur in den Gedanken hier – wenn wir das so wollen. Obwohl – wir brauchen ohnehin kein Gedenken an Kaiser und Könige oder Barone. Wir haben ja Walter U.

Wie es damals nun tatsächlich gewesen sein mag – wir alle haben schwimmen gelernt und unser Leben ist ja nicht so sehr gefährdet wie das eines haudegenhaft-ritterlich alten Kaisers. Und unser Leben, unsere Gesundheit wird wohl auch immer besser, weil wir hier im Kindergenesungsheim sein dürfen. Dafür sind wir dankbar! –


Bei der Schnee-Wanderung nach Bad Frankenhausen besuchen wir ein bisschen den Ort, das Stadtmuseum, den Hausmannsturm und den Turm der Kirchenruine „Unserer lieben Frauen am Berge“. Ich habe den Eindruck, er steht schon wieder stärker geneigt, als vor vier Jahren, als wir uns das vorige Mal sahen. Der „Schiefe Turm zu Pisa ist ein Waisenkind dagegen“. Man sollte dessen Besucher hierher umlenken – da könnten sie mal 'was erleben. Auf den Sandstreifen an vielen Straßen sehen wir Perlmutt in der Sonne glänzen – Stanzabfälle von der Knopfherstellung aus Muschelschalen. In vielen kleinen Betrieben werden hier Knöpfe für die Kleidung auch aus Naturmaterialien hergestellt.

Aber ich wiederhole hier nicht alle meine damaligen Eindrücke. Wenn ihr diese kennenlernen wollt, gebt in Eure Computersuchmaschine einfach „Bad Frankenhausen Janecke“ ein, und schon habt ihr auch jenes Leseheftchen in Eurem Wohn-, Schlaf- oder Arbeitszimmer, auf dem Bildschirm oder bei Bedarf im Drucker.


Natürlich toben wir nicht nur draußen herum. Wir haben auch Gemeinschaftsspiele für die gesamte Gruppe und Kartenspiele zu zweit. Die Tischtennisplatten sind häufig umlagert, sie erfreuen sich großer Beliebtheit, auch wenn es nur ein klitzekleines Spielfeld ist. Weicht der Winter dann dem Frühling, steht auch wieder draußen das große Ballspielfeld zur Verfügung, da ist dann häufiges Fußballspielen möglich, auf jenem Platz, der schon zu Barons Zeiten als Tennissportanlage diente.


Auch Schreibzeiten richten wir uns ein. Herr Arndt erinnert uns daran, die Lieben Daheim nicht zu vergessen, gut mit Post zu versorgen. Er meint, sein Vorrat an Sommer- Ansichtskarten sei noch groß genug. Der Bautzener Betrieb für Bild und Heimat gäbe sie als Mindestabnahmemenge immer zu 200-Stück ab, da könnt ihr schon fleißig ... „aber bitte in Schönschrift – die Empfänger haben es verdient!“

Lesestunden haben wir natürlich auch, in denen jeder für sich schmökern kann.

Fräulein Rauschenbach liest uns aus dem Buch „Jakob Baumharts Rache“ vor. Es ist eine äußerst spannende Erzählung aus der Goldenen Aue. Die Handlung begab sich also hier in der Gegend des Kyffhäusergebirges – handelt von biederen arbeitssamen Menschen, gräflichen Ungerechtigkeiten und deren Ausgleich, dieser bewirkt durch Klugheit und harten Kampf, der tatsächlich von Erfolg gekrönt wird.

Bei uns zu Hause war es der Michael Kohlhase, der ähnliche Erlebnisse durchstand und auch Robin Hood konnte manch' Vergleichbares aus seinem Leben berichten. Natürlich wollen wir nicht die „Drei Musketiere“ vergessen, die mit Federhut, Mantel und Degen gar allerlei waghalsige Bubenstückchen zelebrierten und letztlich nur Gutes, besonders für Arme, Witwen und Waisen, im Sinn hatten.

Aber Jakob, der Jakob hier, hat auch seine ganz eigene Klasse. Zum Glück wissen wir, dass es nach der Zeit der Unterbrechung für unsere schmackhafte Mahlzeit bald weitergehen kann mit dem Mitzittern und Durchleben der gefährlichen Situationen. Warum aber Fräulein Rauschenbach aus dem Buch überhaupt vorliest ist mir nicht klar. Vor uns waren andere Kinder und Jugendliche hier, wenn wir abgereist sein werden kommen neue – und immer ist der Baumhart dabei. Ich denke, sie wird dieses Buch, wie auch andere Literaturwerke, mit verteilten Rollen und entsprechenden Sprechweisen leicht auswendig erzählen können – und dann könnte sie selber, mit freien Augen und Händen, etwa genauso wie Jakob damals, heute mit seiner Mimik, seiner Gestik agieren – so, dass allen Kindern „Mund und Nase“ offenstehen bleiben. Das wär' doch der Gipfel für die Spannungserhöhung auf 100.000 Volt. Wenn ihr, die ihr nicht hiersein könnt, es auch lesen wollt – so schaut auf meinen Tipp: Die ziemlich wahre Geschichte schrieb Hans Robert Schröter auf. Das ist der studierte Pädagoge und Psychologe aus Meuselwitz. Er hat eine enge thüringisch-örtliche und auch beruflich-geistige Verbindung zu Fräulein Rauschenbach. Seine Heimatstadt liegt südlich von Leipzig, zwischen Altenburg und Zeitz. Vor Jahren schon habe ich ihn etwas kennengelernt, denn er schrieb vorher das Buch: „Kurfürst, Ritter und Küchenknecht“, eine historische Erzählung um Kunz von Kauffungen, die bei mir zu Hause im Regal steht. Der Jakob ist allerdings erheblich dicker als der Küchenknecht und in Halbleinen gekleidet. Wenn euch in der Literatur oder in der Natur auch mal solche Adligen begegnen, solltet ihr den Baron der Einfachheit halber mit >Euer Hochwohlgeboren< anreden, beim Kurfürsten müsstet ihr euch schon zu >Eure Durchlaucht< aufschwingen, sofern nichts anderes vereinbart ist oder die Herren euch vielleicht sogar das „Du“ anbieten. Das ist schnell gelernt. Heutzutage ist die vorgegebene Titulierung ja weitaus komplizierter – siehe in der Notiz über Schule und Karnickel. (Diese nicht etwa mit Hasen verwechseln, das kommt in Thüringen und Sachsen öfter vor – es sind aber völlig andere Tiere.)

Die Zeichnungen für beide Bücher erarbeitete Hans Wiegandt. Aus dem Verlag der Brüder Knabe (Knabes Jugendbücherei) in Weimar kamen die Bücher seit 1956 in den Buchhandel. Die Geschichte ist also durchaus noch nicht abgenutzt. Und wenn der Baumhart ausgelesen und nachgelebt ist – es gibt weitere spannende Erzählungen vom Lehrer Schröter, die zu neuen Taten anregen.

Ich erzähle jetzt nur 'was aus der Theorie, das nicht ich erlebte, sondern die Kinder, die im Sommerhalbjahr hier sind: Auf dem Gebirgsmassiv über der Höhle finden wir die Ruinenreste der Falkenburg, die aber vermutlich bereits um das Jahr 1458 mutwillig zerstört wurde – wie so vieles und so häufig. Menschenabsicht – Menschenunverstand – Menschenunwerk. Immer wieder!


Die Wanderungen führen die Kinder und Jugendlichen dann auch zu manch einer dieser Höhlen und spaltenartigen Felsöffnungen, derer es im Kyffhäusergebirge und im benachbarten Höhenzug, der Hainleite, etwa 60 gibt. In der Wanderentfernung des Heimes sind es bis zu 20 Stück. Ein Teil von diesen soll aber wegen einer möglichen Einsturzgefahr nicht besucht werden. So gelten als Wanderziele zum Beispiel die Diebeshöhlen oberhalb der Barbarossahöhle in Richtung Steinthaleben sowie die Bären- oder Prinzenhöhle in Richtung Bad Frankenhausen. Diese hat glitzernde, funkelnde Wände aus Marienglas – natürlich muss man eine Lampe selber mitbringen, sonst sieht man gar nichts. Marienglas (Selenit) ist auch eine Variante von Gips und wurde dort abgebaut. Man setzte dieses Material, neben weiteren Verwendungszwecken, als glasähnlich durchsichtige Schutz-Scheiben vor kleinere Marienstatuen, als es noch kein künstlich hergestelltes gutes Tafelglas gab und seit dieser frühen Zeit gibt es deshalb diese alte Bezeichnung „Marienglas“. Auf den Wegen zu diesen Höhlen hören wir spannend-anregende Geschichten, die genau zum Leben des Jakob Baumhart passen. Das sind nicht immer nur Geschichten, sondern es ist lebendiger Geschichtsunterricht! Es ist nicht ausgeschlossen, dass an verschiedenen Stellen noch unentdeckte Schätze warten, die die Zeiten überdauert haben. Zu weiteren Zielen gehören die Stopfnadelhöhle, die Panzerhöhle und die Kannibalenhöhle im Kosackenberg bei Bad Frankenhausen. Zur Letztgenannten dürfen nur ordentliche, vernünftige ältere Jungen mitgehen, denn schon der steile Anstieg ist nicht allein beschwerlich und die Höhle selbst auch sehr gefährlich. Der Kannibalen-Name ist nur volkstümlich, weil man dort vor einigen Jahren bei der erstmaligen wissenschaftlichen Erkundung auch menschliche Skelett-Teile fand, zusätzlich viel Schmuck und Hausrat. Diese Höhlen wurden offenbar nicht als ständiger Wohnraum genutzt, sondern zu Kultzwecken aufgesucht, dort bestimmte kulturelle Riten gepflegt. Hier fanden gewiss auch Opferungen von Menschen statt – wohl aber ohne diese anschließend zu verspeisen – ich war ja nicht dabei. Und das bereits vor 6 - 7 Jahrtausenden – und dann immer wieder in größeren Zeitabständen! Da kann es einem schon mal kalt den Rücken herunterrieseln. Das hätte man den hier Wohnenden wirklich nicht zugetraut – die meisten sehen ziemlich harmlos aus.

Stinkschiefer gibt es hier natürlich ebenfalls zu bewundern. Es ist tatsächlich fast wie ein Wunder – aber erklärbar. Nimmt man zwei dieser kleinen Tafeln oder Platten von der Erde auf und reibt sie aneinander, entströmt diesen ein schwefliger, nicht gerade den Appetit anregender Geruch – grad so wie aus des Teufels Küche – und das kommt daher: Vor etwa 200 Millionen Jahren befand sich hier ein warmes flaches Meer. Meerespflanzen und -tiere starben selbstverständlich am Ende ihrer Lebenszeit und bei diesem biologischen Abbauprozess entstand Schwefelwasserstoff (Geruch nach faulen Eiern), der als Schwefel chemisch fest an die entstehende Schiefersubstanz gebunden wurde.

Reiben wir nun die Schieferoberflächen aneinander und öffnen somit schleifend feinste Poren des Gesteins, so kann der schweflige Geruch aus diesem Schiefer austreten, entweichen – wir haben ihn also nach 200 Millionen Jahren aus seinem Gefängnis befreit – ist das nicht schön? Eine kleine mechanobiochemische Heldentat ist uns damit sehr gut gelungen. So etwas wird hoffentlich zu Hause unsere Lehrer begeistern, falls sie uns fragen, was wir erlebten – und Nützliches taten.

Geradezu unheimlich und lehrreich können die Inhalte solche Wanderungen sein, wenn die Kinder den Erzieherinnen recht gut zuhören. Und so lauschen viele auch Fräulein Rauschenbachs Worten. Eine Wissensvermittlung fürs Leben.

Neben dem vielen Spaß findet im Heim regelmäßig der Zimmerdurchgang statt, bei dem die Ordnung bewertet wird. Ordnung und Sauberkeit gehören zum vorbildlichen Leben. Keine der Kindergruppen möchte das Schlusslicht bilden – obwohl es gar nicht anders geht, auch wenn man sich müht – es kann eben nicht mehrere erste Plätze geben und eine Gruppe muss die letzte sein – selbst wenn deren Kinder nicht besonders unordentlich sind. Die Ergebnisse werden an der Wandzeitung veröffentlicht. Ordnung und Sauberkeit gelten nicht als persönliche Geheimnisse!


Herr Arndt, prüft häufig, ob wir unsere Stiefel im Heizkeller sorgsam trocknen ließen und danach mit Schuhcreme gepflegt haben, weil sie bei dieser Winterwitterung arg strapaziert werden. Diese Besichtigungen kann er ohne große Mühe so nebenbei erledigen, denn vom Heim zum benachbarten Haus, in dem seine Wohnung liegt, wandert er eben am besten durch diesen warmen trocknen Keller hindurch, statt draußen durchs Schneegestöber in klarer Winterluft.

Das mit dem Kellergang ist etwa so eingerichtet worden, wie schon früher in vielen Schlössern üblich – damals jedoch als räumliche Trennung von Küche und Speisesaal, „als ein Geruchsschleusen-Gang“ sozusagen oder, denken wir an die Bauernaufstände, um aus dem Schloss schnell in eine andere vermeintliche Sicherheit ausweichen zu können.


An anderen Tagen durften wir interessante Lichtbildervorträge über unsere schöne Heimat hören und sehen – und am Sonntag besuchen wir das Kino. Jeder Tag hat so sein volles Programm.


Wir lernen gern und üben auch ein bisschen mehrere Volkslieder. Die Melodie gibt uns Fräulein Rauschenbach recht harmonisch-geschmeidig am Klavier vor. Auch das kann sie.

Fräulein Rauschenbach singt für uns mit klarer Stimme das recht traurige Lied: „Unter'n Erlen steht 'ne Mühle“. Also dort am Bach bei den Erlen steht die Mühle und ist demzufolge keine Mühle, deren Flügel den Wind mahlen, sondern solch eine, die von des fließenden Wassers gewaltiger Kraft angetrieben wird. Schier zerrupfend vor Herzeleid tönt es. Ich habe später den wertvollen Text zu Hause nirgendwo erreichen können, um diesen in meine Liedersammlung einzuordnen. Niemand sonst, außerhalb von Rottleben, scheint es zu kennen. Ich mache es mir jetzt einfach und nehme für euch ersatzweise das traurige Lied- und Dicht-Werk „In einem kühlen Grunde“ hier als ein Ersatz-Beispiel auf. Irgendwie scheinen mir beide Lieder miteinander verwandt zu sein, obwohl die Themenbereiche verschieden sind – doch die ähnliche, die gedrückte Stimmung ist es wohl. Beim Schreiben merke ich, dass es trotz seiner berühmten Schöpfer, die Optimismus verbreiten sollten, nicht fröhlicher werden will. Ob die Herren v. Eichendorff und Gluck zur rechten Einstimmung ihrer Sinne auf das Trauerthema, einen Trunk des „Feuchtwanger Tränenacker“, dieses vorzüglichen Tropfens, zu sich genommen hatten? Oder ob sie im Gegenteil bei dieser Art von Arbeit vielleicht gar fröhlich beisammensaßen? Etwa sogar mal ein bisschen herumgealbert, mit dem Geigenbogen lustig den Takt dazu geklopft hatten? – Wer weiß das schon – .

Hier ist es – ihr werdet euch selber eine Meinung ausdenken.



In einem kühlen Grunde

Text: Joseph Freiherr v. Eichendorff 1788–1857
Melodei: Johann Friedrich Gluck 1797–1840


In einem kühlen Grunde
da geht ein Mühlenrad.
Mein Liebchen ist verschwunden, 
das dort gewohnet hat.

Sie hat mir Treu' versprochen,
gab mir ein' Ring dabei.
Sie hat die Treu' gebrochen,
das Ringlein sprang entzwei.


Ich möcht' als Spielmann reisen
wohl in die Welt hinaus
und singen meine Weisen
und geh'n von Haus zu Haus.

Ich möcht' als Reiter fliegen
wohl in die blut'ge Schlacht 
um stille Feuer liegen
im Feld bei dunkler Nacht.

Hör' ich das Mühlrad gehen,
ich weiß nicht, was ich will; 
ich möcht' am liebsten sterben,
da wär's auf einmal still.

Schluchz ... und ich lag bisher nur an Lagerfeuern. Herr v. Eichendorff wollte damals aber sogar um stille Feuer herumliegen .... Er war eben einer der Großen seiner Zeit.


Und noch 'was als Ergänzung zu meinen obigen junggeschichtlichen Anmerkungen: Es ist zu unser aller Glück nachgewiesen, dass auch der Freiherr von Eichendorff keine Bauern oder Arbeiter ausgesaugt oder anderweitig drangsaliert hat. Deshalb dürfen wir das Lied noch heute singen und seine Gedichte auswendig lernen. Allerdings durfte er Bildung genießen und galt als ein Still-Romantischer und Bescheidener, der sich stets für Ausgleich und Friedfertigkeit einsetzte. Auch war er mit vielen anderen als Freiwilliger, oft als Erster unter Gleichen – Soldaten und Landwehrmännern im Befreiungskrieg, zuerst bei den schwarzen Lützower Jägern, später in einem Landwehr-Regiment, in Waffenbrüderschaft mit befreundeten russischen Gefährten, gegen die französische Grande Armee des Napoleon Bonaparte I.

Oder, da fällt mir des Weiteren der Freiherr Adolph v. Knigge (1752–1796) ein. Dieser war Jurist, Lehrer und Schriftsteller, war ein Aufklärer über Sitte und Anstand, über den freundlichen und rücksichtsvollen Umgang der Menschen miteinander. Er trat ein für die politischen, sozialen und geistigen Rechte der Menschen und für die Würde jedes Einzelnen – gegen jegliche Unterdrückung. Sein Ziel war das Anstreben sozialer Verhältnisse ähnlich der Urgemeinschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt, frei und glücklich sein dürfen. Ein Gedankenziel, von dessen praktischer Gestaltung die Menschheit wohl auch heute noch weit entfernt ist. –

Ob ich einen dieser Freiherrn aber beim nächsten Schulaufsatz zum Thema „Ein guter Deutscher“ ungestraft wählen könnte, ist damit noch nicht gesagt. Das hängt von mehreren äußeren Faktoren ab, die ich als Schreiber nicht so recht voraussehen kann.


Ein später Nachtrag – Jahrzehnte später: Nun habe ich das Lied „Unter'n Erlen steht 'ne Mühle“ doch noch gefunden, denn erfunden ist inzwischen nicht nur der Computer, sondern auch das Internet. Diese ermöglichten gemeinsam das Finden leichter. So trage ich das gesuchte, verloren geglaubte Lied hier endlich nach und auch Fräulein Rauschenbachs Mühen, es uns dauerhaft zu vermitteln, bleiben uns damit ganz prima erhalten. Allerdings gibt es sogar mehrere Textvarianten, denn solche traurige Kunde taucht tragischer Weise in zu vielen Lebensläufen auf. Aus diesem kühlen Grunde wage auch ich es, hier das ja unpatentierte Volksliedgut, dieses Volkseigentum, völlig unautorisiert ein wenig zu mischen, damit alle Ideengeber, alle die unbekannten Teilautoren gewürdigt werden und vor allem das vollständige Anliegen dieses Liedes zu seinem Recht kommt.

Also bitte, Ruhe jetzt und lauschen wir Fräulein Rauschenbachs glockenheller Stimme:



Unter'n Erlen steht 'ne Mühle

Unter'n Erlen steht 'ne Mühle
wo das wilde Wasser rauscht.
D'runten in der Mondnacht Stille
steht der Müllerbursch und lauscht.
Und in stiller Mondnachts Kühle 
steht der junge Bursch' und horcht.

Leise öffnet sie ihr Fenster,
greift ein zarter Händedruck.
Schüchtern schenkt des Müllers Liesel
ihrem Liebsten einen Kuss.
Heimlich reicht der Müllerbursche
seiner Liebsten einen Kuss.

Und der alte Müller-Meister
stellt die Räder bald zur Ruh'.
Durch des Fensters schmale Spalte
schaut er seiner Tochter zu,
doch die beiden Fensterflügel 
schließt sie leise wieder zu.


Höre Tochter, lass dir sagen, 
heut zum allerletzten Mal, 
dass du diesen Müllerburschen
nie und nimmer lieben darfst, 
dass du jenen armen Burschen
nie und nimmer freien kannst.

Morgen muss ich dich verlassen,
ob's uns recht ist oder nicht,
denn ich darf dich nicht mehr lieben,
meine Eltern, leiden's nicht. 
Denn ich darf nun nimmer lieben, 
lebe wohl, vergiss mein nicht.

Weise Worte: in mehreren Variationen unbekannter Verfasser.


Melodische Weisen: Unbekannter Komponist und damit nicht geschützt.


Es passen zum Text aber auch die Melodien: „Wahre Freundschaft soll nicht wanken“ und manch‘ andere der Volks-, Küchenlieder- und Bänkelmelodien.


		

Eine andere Variante:


...


Meine Mutter will's nicht haben
und mein Vater nicht viel mehr.
Darum müssen wir jetzt scheiden,
fällt der Abschied uns auch schwer.
Sollten wir uns deshalb jetzo trennen,
sehnen wir uns doch so sehr. –

Durch den Garten huscht ein Schatten
hinterher der Müllerbursch.
Und so stürzen sich die Beiden
in des Erlbachs dunkle Flut.
Auf des Mühlbachs tiefstem Grunde 
finden beide traurige Ruh. 

Nun, da unten in der Mühle 
weint man um zerstörtes Glück.
Hilft kein Jammern, nutzt kein Klagen. – 
Keines kehret je zurück.
Frommt kein' Zähren, hilft kein Zagen. –
Niemand kommt ins Haus zurück.


An dem kalten Sonnentage 
senkt man sie zur Grabesruh.
Und man deckt mit kühler Erde
zwei verliebte Herzen zu.
Nun, mit kühler Muttererde,
deckt man treue Liebe zu.

D'rum ihr Eltern, lasst euch sagen: 
störet nie der Kinder Glück,
denn es kommen bittere Stunden,
wenn ihr denkt an sie zurück,
denn ihr habt nun selbst erfahren, 
was es heißt, wenn Liebe bricht.


Nun aber eine etwas leichtere Kost. Seit 1951 gibt es „Das Rennsteiglied“, das der singende und klingende Suhler Friseur-Meister und Komponist Herbert Roth (1926–1983) für uns schuf, auf das wir das Heimatliche, das Haamitliche so recht verinnerlichen mögen:


Das Rennsteiglied Musik: Herbert Roth, Text: Karl Müller

(Das ist aber nicht jener Müller, der das Lied

Das Wandern ist des Müllers Lust“

geschrieben hatte. Jener hieß Wilhelm.)

1. Ich wand're ja so gerne am Rennsteig durch das Land,

den Beutel auf dem Rücken, die Klampfe* in der Hand.

Ich bin ein lust'ger Wandersmann – so fröhlich, unbeschwert.

Mein Lied erklingt durch Busch und Tann', das jeder gerne hört:


Refrain oder auch Kehrreim:

Diesen Weg auf den Höhen bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder.

Bin ich weit in der Welt habe ich Verlangen, Thüringer Wald, nur nach dir.


2. Durch Buchen, Fichten, Tannen, so schreit' ich durch den Tag,

begegne vielen Freunden, sie sind von meinem Schlag.

Ich jodle lustig in das Tal, das Echo bringt's zurück,

den Rennsteig gibt's ja nur einmal, und nur ein Wanderglück.


R.: Diesen Weg ...


3. An silberklaren Bächen sich manches Mühlrad dreht.

Da rast' ich, wenn die Sonne so blutrot untergeht.

Ich bleib solang es mir gefällt und ruf' es allen zu:

Am schönsten Plätzchen dieser Welt, da find' ich meine Ruh'.


R.: Diesen Weg ...


* Seiner Gitarre konnte er genau das gleiche Tonmuster entlocken. Auch die folgende Weise gehört zu dem bekannten Roth-Liedgut, das der Herbert gern in einem Zweiklang gemeinsam mit der Waltraut Schulz singt. Wir lernten es gerne und das wohl ohne große Mühe.



Am schönen Saalestrand


Am schönen Saalestrand, da hab' ich ein Mädel gefunden.

Jodelt frohgemut (Johodliehö), ist mir lieb und gut. (Johodliehö)*


Ein kleines Paddelboot beschert uns die glücklichsten Stunden,

schwimmt durch das herrliche Thüringer Land, am Saalestrand.


Wälder, Wasser, Wein, laden heute ein.

Komm' mein kleines Paddelboot, wir bleiben nicht daheim.


Wenn die Winde weh'n, ist es wunderschön.

Jena, Saalfeld, Rudolstadt, gebt uns ein Wiedersehn.


Am schönen Saalestrand, da hab' ich ein Mädel gefunden.

Jodelt frohgemut, ist mir lieb und gut.


I: Ein kleines Paddelboot beschert uns die glücklichsten Stunden,

fährt durch das herrliche Thüringer Land, am Saalestrand.:I


* An dieser phonetisch umstrittenen Stelle hätten gewiss Bernhard-Viktor Christoph-Carl v. Bülow (schon wieder so ein baronisierter Freiherr, von Berufen: Kunstmaler, Schauspieler, Moderator, Regisseur, Bühnenbildner – Humorist) und auch der Herr Vicco Loriot als Stifter des Jodeldiploms, gern einen korrigierenden Hinweis eingebracht. – Ist aber im Moment nicht möglich, weil Redaktionsschluss! Gern und oft war jener bei mir ganz in der Nähe zu Besuch, bei und mit seinen Großeltern, die auch Haus mit Garten nahe dem Park Sanssouci ihr Eigen nannten. Damals. –


So ähnlich wie das Paddelboot auf und in der Saale ist auch meine Traumwelt: Ein kleines Holzhaus zwischen Wald und See. Am Ufer, am Steg, ein Nachen oder oder ein gemütlich überdachtes Wohnfloß mit Schlaf-, Koch- und Leseort. Auf dem Steg neben mir links Hund, rechts Katze. Kluger Gedankenaustausch mit diesen Beiden. Ich, in der Hand eine Angel. Dessen Sehne ohne Haken, ohne Wurm – nur so tun, als ob, nur mal so zur Entspannung von Schule und Umfeld. Viele kleine Abenteuer ohne Waffengeklirr, lautes Gepolter und Gebrüll. Gefühle, die mich an die positiven Aspekte im Leben von Tom Sawyer und Huckleberry Finn erinnern. Alles unglaublich friedlich und harmonisch. So soll es für alle sein dürfen. –


Dann gab es noch etwas liedhaftes zu dem Arbeitsvorgang: „Ich habe meinen Wagen vollgeladen“ – ursprünglich, wohl damals im 17. Jahrhundert, bei den Kutschern aber auch Fuhrleuten oder Karrenmännern recht beliebt und vorerst gern in Schwäb'scher Mundart gesunge. Die Schwaben sagt man, sind ja so 'was ordentlich und besonders sparsam – die lassen sogar Buchstaben des Alphabets fort, um diese nicht zu stark abzunutzen und sie singen deshalb: Hab' mei Wage vollgelade usw. usf. – Wir aber leben in der DDR, haben die Schwaben aus dem Westen doch überhaupt nicht nötig und schöpfen aus dem Vollen ... des ABC. Früher aber las es sich dann so:


Hab mei Wagen vollgelade


1. Hab mein Wagen vollgelade, voll mit alten Weibsen.

Als wir in die Stadt 'neikame, fing'n sie an zu keife.

Drum lad i all mein Lebetage nie alte Weibsen auf mei Wage.

Hüh, Schimmel hüjaho, Hüh, Schimmel Hüh!


2. Hab mei Wage vollgelade, voll mit Männern, alten.

Als wir in die Stadt 'neikame, murrten sie und schalten.

Drum lad i all mein Lebetage nie alte Männer auf mei Wage.

Hüh, Schimmel ...


3. Hab mei Wage vollgelade, voll mit jungen Mädchen.

Als wir zu dem Tor 'neikame, sangen sie durchs Städtchen.

Drum lad i all mei Lebetage nur junge Mädche auf mei Wage.

Hüh, Schimmel ...


Allerdings sehen wir hier in unserer Erholungszeit überhaupt keinen Wagen. Nur mal den Pferde-Schneepflug. Die Pferde sollen jetzt bei Schnee- und Eisglätte möglichst überhaupt nicht ...

Sind die Hufeisen aber ordentlich mit Stollen oder noch besser mit Spikes versehen, mag es ja noch angehen – so in der Art: „Auf mei Schlitte, in der Mitte, hocke alte Weibsen ...“. Na ja.

Es wäre noch besser jetzt das Lied zu singen, welches so tut, als begänne es mitten im Satz:

„Und in dem Schneegebirge, da fließt ein Brünnlein fein. ...“ Nun, da muss es sich mit dem Fließen beeilen, damit es unterwegs nicht einfriert – bei den hier herrschenden nächtlichen Temperaturen.


Doch ebenso sommerlich, wie ursprünglich im obigen Lied, geht es jetzt auch bei dem Kunstwerk „Hoch auf dem gelben Wagen“ zu. Dieses Lied, zu anderer Jahreszeit geträllert, ist so ganz nach meinem Geschmack. Mein Ur-Ur-Großvater nämlich, ich habe ihn selbst nicht mehr kennenlernen können, war auch solch ein Postillon. Seine Hauptfahrstrecke lag im Wesentlichen im nördlichen Teil des Bezirk Magdeburg, so zwischen der altmärkischen Stadt Stendal und Wittenberge, die aber schon in der Prignitz, im Bezirk Schwerin liegt. Wenn mal Zeit dazu ist, kann ich Euch gern mehr darüber erzählen. Auch die erwähnten Linden mag ich sehr. Es stehen welche vor dem Miethaus in dem wir wohnen. Ach, dieses zarte Lindenblattfrühlingsgrün – in drei Monaten ist', wieder soweit. „Frühling lässt sein blaues Band ...“ wieder flattern um die Linde. E. F. Mörike ist's.


Hoch auf dem gelben Wagen


1. Hoch auf dem gelben Wagen, sitz' ich beim Schwager vorn.

Vorwärts die Rosse traben, lustig schmettert das Horn.

Felder, Wiesen und Auen, leuchtendes Ährengold.

I: Ich möchte ja so gerne noch schauen, aber der Wagen, er rollt. :I


2. Postillon in der Schänke füttert die Rosse im Flug.

Schäumendes Gerstengetränke reicht mir der Wirt im Krug.

Hinter den Fensterscheiben lacht ein Gesicht so hold.

I: Ich möchte ja so gerne noch bleiben, aber der Wagen, er rollt.:I


3. Flöten hör ich und Geigen, lustiges Bassgebrumm.

Junges Volk im Reigen tanzt um die Linde herum,

wirbelt wie Blätter im Winde, jauchzet und lacht und tollt.

I: Ich bliebe ja so gern bei der Linde, aber der Wagen, der rollt. :I


4. Sitzt einmal ein Gerippe dort bei dem Schwager vorn,

schwenkt statt der Peitsche die Hippe, Stundenglas statt des Horns,

sag ich: Adé nun, ihr Lieben, die ihr nicht mitfahren wollt.

I: Ich wäre so gern noch geblieben, aber der Wagen, der rollt. :I


So etwa war es auch bei unserem Heimatdichter und Schriftsteller, dem Herrn Apotheker Theodor Fontane. Die Strecken seiner angeblichen „Wanderungen“, die er uns beschrieb, legte er meist mit der Kutsche zurück, die allerdings nicht bei jeder Fahrt gelb aussah. Er schrieb Geschichten über Landschaften, Ortschaften und Personen und andere Zeitgenossen ersannen Lieder dazu und wiederum andere gaben ihren Gefühlen in Bildern beredten Ausdruck.


Fräulein Rauschenbach kennt natürlich noch viel mehr Lieder (ich auch so einige) – aber vier Wochen sind eine kurze Zeit, wenn die Tage so interessant vollgepackt sind, wie die unsrigen.


Außer den Gruppen-Singestunden für das Erlernen eines neuen Liedes gibt es auch gemeinsame Liederabende für alle Heimbewohner. Frau Arndt musiziert dabei tonangebend an den Tasten und den Fußpedalen des Klaviers. Herr Arndt untermalt und verstärkt mit dem Akkordeon unsere Gesangsleistungen oder was man darunter so verstehen möchte. (Mir fehlen dafür die Worte.)


So abwechselungsreich eilten die Tage dahin. Die Zeit dieses Erholungsaufenthaltes schmolz viel schneller, als der Kyffhäuserschnee und schon bald werden wir wieder zu Hause sein, ein Jeder in seinem Ort und der Alltag nimmt uns mit sich fort.

Ausblicke – eine Vorschau

Für viel später ist für das Heim auch noch der Bau eines Planschbeckens, ein Schwimmbades, innerhalb des herrlichen Parks vorgesehen, das den Heimaufenthalt noch attraktiver werden lässt. Dieses wird dann mit der Sole, dem salzhaltigem Wasser gespeist, das sich günstig bei Hautirritationen auswirken kann und salzhaltiger Wassersprühnebel, das wissen wir schon längst, tut auch den Bronchien gut. So stark salzig wie im Toten Meer ist es aber nicht, wo dort selbst jeder Nichtschwimmer an der Oberfläche bleibt. Das Errichten einer Kaltwasser-Tretrinne steht ebenfalls im Perspektivplan. Es wird eine ähnliche Anlage werden, wie sie damals der Herr Pastor Sebastian Kneipp warm gepredigt hatte. Nur moderner. Man hörte auf ihn.

Darüber hinaus ist ein Tiergehege vorgesehen, in dem Rehe leben werden. Die Zukunft wird es wissen, dass sich zu ihnen, damit sie gemeinsam nicht mehr so alleine sind, eine wilde Bache gesellen darf. Jene wird sich hier in dieser Kultur-Gesellschaft dann bereits wie ein Zahmschwein aufführen. (Darauf kann man aber bitte nicht felsenfest vertrauen, es kann auch mal schief laufen – ihr wisst schon – die Gene.) Sie, die Schweinin, wird dann „Moritz" genannt, obwohl ihr „Moritza“ noch besser zu Gesicht stände. Ruft man sie, hört sie auf's Wort und kommt dann oft gern herbei geeilt. Wenn sie es will. Kinder werden es ihr schnell beibringen, dass übriggebliebene Nudeln mit Tomatensoße noch viel schmackhafter und leichter verdaulich sind, als die Rohkost von Eicheln, Kastanien, Bucheckern und Mais.


Alle diese eben genannten Bauaktivitäten stehen nicht im großen Verzeichnis der Bezirksplankommission, nein es waren schon findige Gedanken zur Materialbeschaffung vonnöten und viele freiwillige Helfer, die in ihrer Freizeit mit der Hände Kraft und des Herzens Freude daran arbeiteten, dass es die Kinder hier immer noch schöner haben.


Die Erholungszeit neigt sich ihrem Ende entgegen

Während meiner Abwesenheit von der Schule, haben aber meine Mitschüler nicht die gesamte Zeit hart am Unterrichtsstoff gearbeitet. Der Beweis: Sie schreiben mir Ende Januar eine große Ansichtskarte von der Klassenfahrt. Das ist von ihnen sehr aufmerksam und freundlich.

Diese Fahrt habe ich nun versäumt. Ihre Fahrt ging in die fast sibirisch zugeschneite

„Stalinstadt – erste sozialistische Stadt Deutschlands“.

So steht es als Gefühlsauslöser stolz auf der Bildpostkarte. Ein schönes Bild – auch ein Sommerbild aus dem tiefsten Winter im Bezirk Frankfurt (Oder).


Aber ist diese sozialistische Werbung nicht auch etwas zwiespältig bald acht Jahre nach des Stalins Tod? Im vierten Jahr nachdem Nikita Sergejewitsch Chruschtschow mit dem vormals gefürchteten, nun jedoch friedlichen Stalin, mit dem Kult um ihn und mit seiner früheren Politik aufgeräumt und abgerechnet, ja total gebrochen hatte?

Wir hatten ja selber, wie die jüngere Geschichte erinnert, zu viele Grausame! – Hatten? Wo sind sie geblieben bis auf die wenigen des Nürnberger Prozesses, werde ich später fragen. Sie sind alle noch da, wenn auch nicht alle hier. Und die offiziellen Antworten werden zu schnelle, zu glatte oder ausweichende sein. Sie werden nicht zufriedenstellen, nicht beruhigen können.

Auch Walter Ulbricht hatte den Stalin damals gleich anschließend aus dem Bild der Reihe der Klassiker des Sozialismus / Kommunismus genommen: Marx, Engels, Lenin und nun – ups – eine Lücke – wird er sie füllen? Vor Jahren veröffentlichte die Sowjetunion bereits, dass der Stählerne als Diktator, als Despot mit seinen vielen gleichgesinnten Mannen Millionen Menschen, meist völlig unschuldige Menschen, hinrichten ließ oder in die Straflager an Verbannungsorte im Fernen Osten schickte, um sie dort vorzeitig sterben zu lassen. Und nun ganz frisch diese heimatliche DDR-Werbepostkarte zur Huldigung, zu Stalins hochehrendem Gedenken! Man schreitet zögerlich beim Geschichts-Aufräumen voran – weil sich ja beim Großen Bruder noch mal was ändern könnte?


Wie war das doch gleich mit Stalinstadt? Das ist kurz erzählt: Es wurde 1950 ein Mensch in der kleinen Stadt Fürstenberg an der Oder geboren. Als er sich anschickte in den Kindergarten zu gehen, besuchte er diesen in Stalinstadt. Als er in der Schule dann in der 6. Klasse war, lebten seine Eltern mit ihm in Eisenhüttenstadt – und brauchten während dieser kürzeren Zeitspanne die Wohnung nicht wechseln – es fand alles am gleichen Orte statt. Also, im Prinzip ist das richtig aber es war aber nicht nur ein Mensch, es waren Tausende, die solche oder ähnliche Grundlagen für Anekdötchen in ihren Lebensläufen, in ihren Personaldokumenten hatten.


Aber ich habe in Rottleben in dieser zurückliegenden Zeit viel mehr erlebt, als Stalinstadt mir hätte bieten können – und die Oderstadt geht mir nicht verloren, rennt mir nicht weg. Ich kann diese kleine Reise nachholen.

Einige Tage später schreibe ich von zu Hause etwa:


Lieber Herr Arndt,
Liebe Erzieherinnen,
Liebe Küchenfrauen,
Liebe Reinigungskräfte,
Lieber Wotan!

Recht vielen Dank für diesen schönen Aufenthalt im Winterland, für das Vermitteln ganz neuer Erlebnisse in einer angenehmen Gemeinschaft und für das schmackhafte Essen.

Lange werde ich froh an diese inhaltsreichen erholsamen Tage denken.

*****
Eine nochmalige Wiederkehr

Kurze, schnell „verflogene“ fünf Jahrzehnte später werde ich dem Ehepaar Arndt nochmals meine Dankesgrüße übermitteln dürfen. Ich meine, dass von den tausenden Kindern, die durch die Hände all dieser guten Menschen gingen, sich sehr viele, so wie ich, gern fröhlich und dankbar an diesen Aufenthalt im Genesungsheim / Kurheim Rottleben erinnern werden – und damit die aufopferungsvolle Arbeit des Personals ehren ... selbst wenn das nun nicht jedes der damaligen Erholungs-Kinder aufschreibt.


Auch dieses Genesungsheim der Sozialversicherung und der Volksbildung, später Kinder-Kurheim des Gesundheitswesens, wurde nach der „Politischen Wende“, am Jahresende 1990 geschlossen. Ersatzlos. Für immer. Kinderkuren tragen nicht zum wirtschaftlichen Erfolg bei – es rechnet sich nicht – meint „man“ als Entscheidungsträger.

Das Genesungs- / Kurheim hatte, genauso wie der Staat, die DDR, eine Bestandszeit von etwa
40 Jahren. Auch für ein Gebäude ist das wenig. So steht auch dieses Haus leer, verfällt seither. Eine sinnvolle Nutzbarkeit erkannte niemand mehr oder konnte solche aus Finanzierungsgründen nicht verwirklichen. Der einst gepflegte „Schloss-Park“ – baut sich zum natürlichen Urwald um.

Ich besuchte diese Stätte im Jahre 2009 noch einmal. Es war ein eher trauriges Wiedersehen. Die Fotos der Bildstrecke vermitteln den damaligen Eindruck.


Chris Janecke


Quellennachweise:


Gästebuch


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