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Zur Ahnenliste "Sommer" gehörend:


Die Lebenszeit des

Rudolf Max Sommer

21. September 1875 bis 23. November 1945

Mechaniker und Elektrotechniker

in Potsdam und Nowawes-Neuendorf = Potsdam-Babelsberg

und seiner Ehefrau

Anna Margarethe Runge

05. Jan. 1880 in Berlin bis 03. Nov. 1949 in Potsdam-Babelsberg


Notizen aus dem Alltag und über manches Hoch-Ereignis

Ein Beitrag zur Familienforschung und Heimatgeschichte


Zusammengestellt von: Chris Janecke, Bearbeitungsstand: Juni 2019

E-Mail: christoph@janecke.name

Zum Text gibt es einige Bilder – bitte hier klicken.


Bei den oben Genannten handelt es sich um Großeltern des Autors.

Wenn du Interesse hast, mehr darüber zu lesen, was sich in dieser Zeit im Leben der Menschen abspielte, so sieh’ bitte auch in die Dokumentationen „Zeitgeschichte“ und „Zeitgenossen“.




Zur Freundschaft gehört, dass wir einander gleichen,

einander in einigem übertreffen,

einander in einigem nicht erreichen.


Jean Paul




Worte auf den Weg


Im Laufe der Zeiten sagte man in vielen Familien: „Es wurde früher so viel über die Familiengeschichte geredet. Man könnte noch so vieles aufschreiben und erhalten!“

Tatsächlich aber wurde wohl aus jenen guten Vorsätzen und Vorhaben zu selten etwas. So müssen auch wir uns bei dieser Lebensgeschichte vorerst mit dem vorliegenden, etwas mageren Stückwerk begnügen. Diese Schrift gilt somit als grober Entwurf, zu dem gewiss einige Korrekturen erforderlich sind und viele, viele Ergänzungen wünschenswert wären.


Die Notizen zum Lebenslauf lesen sich leider nicht so flüssig, wie es in der Literatur angenehm ist. Aber wir haben hier keinen Roman vor uns. Es handelt sich ja um eine Aufzählung von Familienereignissen (darunter oftmals Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle), die in der Häufung des Erwähnens zwar etwas ermüdend wirken können, jedoch trotzdem im Interesse des Bewahrens aufgenommen wurden.

Also nur Mut beim Lesen.



Schmalspurwegweiser von den Hauptpersonen (Probanden) dieser Niederschrift, zu den heute lebenden Personen dieses Familienzweiges:


Im Zeitraum 1800 bis 1896: Friedrich Sommer oo Caroline Keilbach

Zu deren Kindern gehörten:

im Zeitraum 1831 bis 1909: Friedrich Sommer oo Marie Weltzer

im Zeitraum 1875 bis 1949: Rudolf Max Sommer oo Anna Margarethe Runge

zu deren Kindern zählte die Tochter:

im Zeitraum 1900 bis 2003: Anne-Marie Sommer oo Alfred Richard Janecke

zu deren Kindern gehört u.a.

im Zeitraum 1945 bis ...: Der Autor dieser Niederschrift - Chris Janecke




Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben,

bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.


Johann Wolfgang v. Goethe






Die Eltern des Rudolf Max Sommer:

Friedrich Sommer oo Marie Weltzer


Vater: Gen. 05 / 20.1

Mutter: Gen. 05 / 21.1

Die Bedeutung dieser

Familien-Namen:




Name:



Sommer



Weltzer / Welzer


Vornamen:


Karl Johann Friedrich


Marie Elisabeth



Geboren:


Potsdam, 13. November 1831,

Taufe: Nikolaikirche 25. November 1831 Superintendent Ebert,

KB.: Nr. 194 / 1831 Seite 225.

Die Paten:

Herr Großkopf, Herr Schulze,

Herr Schirmer, Frau Schröder, Frau Kästen, Jungfrau Winter



Potsdam, 29. März 1838,

Taufe: Nikolaikirche, 15. April 1838

KB-Nr.: 102 / 1838 Seite 357

Die Paten:

Herr Winkelmann, Herr Hase,

Herr Melzer, Jungfrau Michel,

Jungfrau Stakebrand,

Jungfrau Bischof


Beruf:


Schuhmacher-Meister



Hausfrau und Mutter, sechs Geburten



Getraut


Potsdam, 05. Januar 1860, Nikolaikirche.


Das Kirchenbuch existiert nicht mehr. Es verbrannte am 14./15. April 1945 nach dem Luftangriff auf Potsdam zum Ende des Zweiten Weltkrieges.



Gestorben


In Reppen (Neumark, Kreis Weststernberg – heute Rzepin), am 28. Juni 1909

Kirchenbuchverlust in Polen.


Nowawes, am 10. Februar 1906,

Friedrichskirche.

Beerdigt: 18. Februar 1906 Friedhof Goethestraße. KB-Nr.: 08 / 1906



Ein Blick in die Generation der Eltern des Max Sommer:

Zu den in Potsdam gebürtigen Einwohnern zählen wir den Schuhmacher-Meister Karl Johann Friedrich, Sommer, (Junior, genannt Fritz), geboren 1831 und Marie Elisabeth Weltzer, die 1838 das Licht der Welt erblickte. Im Jahre 1860 heiraten diese beiden jungen Menschen. Wie so oft, schreiten sie auch heute wieder durch einen Abend des Frühsommers 1860 durch Potsdam: Friedrich, der kräftige, achtundzwanzigjährige Schuhmacher-Meister und seine um sieben Jahre jüngere, zarte Frau Marie. Beide genießen es, am Abend den alltäglichen Arbeitsgeruch von Leim, Leder und Staub hinter sich zu lassen, draußen die frische Luft zu atmen und den sonst über die Arbeit gebeugten Rücken endlich zu strecken, während zu Hause die Stube zur Nachtruhe durchlüftet. Marie liebt genauso wie Fritz diese Jahreszeit. Für ihn ist es gut, daß die Abende lange hell bleiben. Das schont die Augen. Die Petroleumfunzel unter der Schusterkugel braucht erst später angezündet werden.

Heute wollen sie Friedrichs Eltern in der Kriewitzstraße besuchen, also sein Mütterlein Caroline Wilhelmine Charlotte, 1809 als Tochter des Potsdamer Pantoffelmachers Keilbach geboren, die vor dreißig Jahren Luisenbraut gewesen und nun das 50. Lebensjahr zurücklegt sowie seinen Vater Friedrich Sommer, Senior. Dieser, am vorletzten Tage des Jahres 1800 geboren, wurde leider schon am Ende seines ersten Lebensjahrzehnts Voll-Waise. Er ist der Friedrich Sommer, der vor vielen Jahren aus Buckow am Schermützelsee im Oberbarnim gelegen, in die Brandenburger Residenz gekommen war und noch in diesem Jahr sein 60. Wiegenfest begehen wird.

Gewiss ist es dem jungen Ehepaar, in der Kriewitzstraße natürlich nicht nur die Eltern anzutreffen, sondern auch einige von Fritzens zahlreichen jüngeren Geschwistern, die ihre Beine noch unter dem Tisch der elterlichen Wohnung ausstrecken.

Der Weg, den Fritz und Marie zu den Eltern zurücklegen, ist ein kurzer. Von ihrer Wohnung in der Tuchmacherstraße 25 (später Elisabethstraße, viel später Charlottenstraße) kommend, laufen sie am Schauspielhause vorbei, deren Besucher gerade den Kulturtempel nach der beendeten Abendvorstellung verlassen. Einige der Schwäne, die wie Ei-Schnee-Tupfen auf dem Wasser des Canals ruhen, heben verschlafen die Köpfe aus ihrem Gefieder. An einem Nachen gluckst leicht der Wellenschlag, als sie über die "Grüne Brücke" gehen, mit wenigen Schritten die Grünstraße durchmessen und schon, linker Hand, in die Kriewitzstraße einbiegen, zum Hause Nr. 3 hineingehen.

Dieser Weg, sie könnten ihn fast mit geschlossenen Augen laufen, ist ihnen eine liebe Gewohnheit, denn Sohn und Schwiegertochter verstehen sich mit seinen Eltern recht gut.

Gewiss sind das nicht die einzigen Spazierwege, denn außer den Gängen zu Einkäufen, besuchen sie natürlich ab und zu auch verschiedene gute Bekannte. So werden denn abends oder sonntags immer wieder andere Wege gewählt, fernere Quarrees umlaufen, die Freundschaftsinsel beschritten, wie auch der Pfingstberg erstiegen mit dem ziemlich neuen und aus Geldmangel unvollendet gebliebenem Belvedere unseres Künstler-Königs Friedrich Wilhelm IV., der Bassinplatz umrundet und natürlich auch "die Potsdamer Wurzeln der Sommer-Familien", im Holländischen Viertel, besucht.


Zeit vergeht. Im Frühjahr 1863 suchen Fritz und Marie, als die zuerst flügge Gewordenen, ein neues "Wohn-Nest", denn zur Mittsommerzeit soll ihr zweites Kind zur Welt kommen. Rechtzeitig finden sie eine neue Wohnung mit Schuhmacher-Werkstattraum, die Ihnen geeignet erscheint. Diese befindet sich in der Kirchstraße 3, gleich neben der Nikolaikirche und gerade dort, wo Fritz mit den Eltern bereits vor einem Jahrzehnt gelebt hatte. Mit diesem Wohnungswechsel schrumpft der abendliche Weg zum Haus der Eltern noch mehr zusammen. Jetzt braucht man ja nur noch "einmal lang hinfallen" und schon ist man dort.


Die älteren Geschwister des Max Sommer und auch er selbst:

Hier nun wollen wir kurz die eigenen Kinder vorstellen, die das junge Paar Fritz Sommer, jun. und Marie Sommer, geborene Weltzer in ihrer Ehe groß- und er-ziehen werden.


Als erster wird Karl Johann Friedrich am 30. Juni 1860 geboren. Er wird jedoch schon am 01. April 1862 sterben.


Marie bekommt am 8. Juli 1863 eine Tochter. Sie wird Hedwig genannt.

Luise Klara Hedwig Sommer. Abzusehen ist, daß sie nicht in die beruflichen "Fußstapfen" ihres Schuhmacher-Vaters treten wird. Sie ergreift viel später den Beruf einer Schneiderin. Wir wissen, dass sie einige Jahre darauf, den Weber und Handelsmann Hermann Knoll in Nowawes heiratet und fortan zeitlebens in der Nowaweser Mittelstraße 19 (der späteren Wichgrafstraße) wohnt.


Ihr folgt 2½ Jahre später, am 26. Januar 1866 das Brüderchen Carl Ernst Paul Sommer (zu Ehren seines schon vorher erwähnten Onkels und auch Tauf-Paten Paul Sommer, der Potsdamer Schuhe macht und meistert). Dieser Säugling Paul, wird viel später ebenfalls ein tüchtiger Schuhmacher-Meister in Nowawes werden. Im Erwachsenenalter erhält er die freundlich-scherzhafte Zusatzbezeichnung "Tanzmeister", denn nachdem das Grammophon aufkommt, wird er sonntags, wenn die Arbeit ruht, im Hof des Grundstücks in der Retzowstraße 3, und nach dem Wohnungswechsel, auch in der Lindenstraße 20 (nach dem 2. Weltkrieg als Rudolf- Breitscheid-Str. 65 bezeichnet) gern mit Musik von Schellack-Platten zum Tanze im Hof aufspielen, denn den Geigenbogen führt er nicht.


Als drittes Kind der Familie stellt sich am 28. Dezember 1868, inzwischen im Hause Am Alten Markt 3 wieder ein Mädchen ein. Eine freudige, anstrengende und arbeitssame Weihnachtszeit: Marie Auguste Elisabeth wird sie geheißen. Später als junge Erwachsene, eine praktisch veranlagte, strebsame Frau, die mit beiden Beinen fest auf der Erde steht, wird sie als Näherin tätig sein und den liebevollen, vom Gemüte her zart veranlagten, etwas schüchternen Weber Theodor Steiner heiraten. In Nowawes-Neuendorf, Mittelstraße 19 a (später Wichgrafstraße 19 a), in einem halben Kolonistenhaus, links neben dem Haus ihrer Schwester Hedwig Knoll geborene Sommer, werden sie wohnen.


Nun folgt aber erneut ein trauriger Lebensabschnitt für Fritz und Marie:

Ein Jahr später, am 31. Dez. 1869, kommt eine Tochter auf die Welt, welche die schwere Geburt nicht überlebt. Sie bleibt ungetauft und es wird für sie kein Name in das Kirchenbuch eingetragen.

Nach einem weiteren Jahr wird am 30. Dezember 1870 Klara Anna Marie geboren. Aber auch ihr war kein längeres Leben auf dieser Erde beschieden. Mit 1½ Jahren verstirbt sie am 12. Juli 1872.


Zeit geht ins Land. In der Vorweihnachtszeit des Jahres 1874 fiel wohl die Entscheidung zum erneuten Versuch, den Lebensbaum der Familie Sommer um ein weiteres Blättchen zu bereichern. Nach üblicher Reifezeit wird ein Junge „Max“ geboren. Er soll das letzte Kind der Familie sein. Seine Eltern haben zu jener Zeit 37 Jahre und 43 Jahre ihres Lebens vollendet.


Das Jahr 1875: Rudolf Max Sommer

Max wurde in der elterlichen Wohnung in Potsdam, Schwertfegerstraße 8, am Dienstag,

den 21. September 1875, nachts gegen ½ 1 Uhr geboren.

Getauft wird der kleine Maxe am Sonntag, den 17. Oktober des Jahres 1875.

Er ist das 405-te getaufte Kind jenes Jahres in der Gemeinde der Nikolaikirche zu Potsdam.


Wie aber sehen die Verhältnisse aus, in die der kleine Max da so hineinlebt? Betrachten wir einige Ereignisse: Das Elternhaus ist jenes Eck-Gebäude (Schwertfegerstraße 8 / Am Neuen Markt 1) zwischen der Hohewegstraße und dem Neuen Markte, in dem weiland die

v. Humboldts wohnten (im Flügel Neuer Markt 1) und deren Sohn Wilhelm, der spätere Begründer der Berliner Universität, geboren wurde.

Auch Prinz Wilhelm (Neffe von Friedrich dem Großen) verbrachte hier schon Zeiten mit Wilhelmine Encke, der späteren Madame Ritz, die er hernach als König Wilhelm II, in den Adelsstand einer Gräfin Lichtenau erhob. Der Sohn von König Wilhelm II, Prinz Friedrich Wilhelm, späterer König Friedrich Wilhelm III, wuchs hier auf. Genau 100 Jahre vor Maxens Geburt hatte der Bier-Brauer Lehmann das Eck-Gebäude (Flügel Schwertfegerstr. 8) errichten lassen. Das ist nun inzwischen längst schon "Geschichte".

Familie Sommer wohnt in diesem Hause aber erst seit dem Jahre 1871 (der Zeit des damals gerade gegründeten Deutschen Kaiserreiches). Eben auch für "Höhere Herrschaften" sind Schuhe herzustellen und zu reparieren und somit ist auch deren Wohnung wie Werkstatt im gleichen Gebäude zu finden. Beide Häuser, Schwertfegerstraße 8 und Am Neuen Markt 1, besitzen ja eine Flur-Verbindung, werden als zusammengehörend angesehen.

Hier nochmals im Formblatt kurz zusammengefasst:

__________________________________________________________________________


Die Kinder von

Friedrich Sommer und Marie Weltzer =

Die Geschwister des Max Sommer


Das letzte Kind (Rudolf Max Sommer) führte die Ahnenlinie in Richtung der

heute hier lebenden Familie Janecke weiter.



04 / 10.1


Sommer

Karl Johann Friedrich


* Potsdam, Tuchmacherstraße 25,

30. Juni 1860.

† Potsdam, am 01. April 1862



04 / 10.2


Sommer

Luise Klara Hedwig


* Potsdam, Kirchstraße 3, am

08. Juli 1863

oo Hermann Knoll

† Babelsberg, am 27. April 1943



04 / 10.3


Sommer

Karl Ernst Paul


* Potsdam, Am Markt 3,

26. Januar 1866

oo Emma Krüger

† Nowawes, am13. Dezember 1929



04 / 10.4


Sommer

Marie Auguste Elisabeth


* Potsdam, Am Markt 3,

28. Dezember 1868

oo Theodor Steiner

† Babelsberg, am 05. Februar 1946



04 / 10.5


Sommer

Tochter (namenlos)


* Potsdam, 31. Dez. 1869,

† Potsdam, am 31. Dez. 1869,

tot geboren



04 / 10.6


Sommer

Klara Anna Marie


* Potsdam, 30. Dez. 1870

† Potsdam, am 12. Juli 1872



04 / 10.7




Sommer

Rudolf Max

Max ist die Hauptperson dieser Niederschrift


* Potsdam, Schwertfegerstr. 8,

21. September 1875

oo Anna Margarethe Runge

Babelsberg, 23. November 1945



Nun aber Näheres zu den eigentlichen Probanden des Berichts!



Das Ehepaar = Die Eltern = Die Probanden:

Max Sommer oo Margarethe Runge




Vater: Gen. 04 / 10.6



Mutter: Gen. 04 / 11

Die Bedeutung dieser Familien-Namen

Gefühlsverbindung zu Sonne, Wärme Reife, Ernte. Namensträger eventuell im Hochsommer geboren. Ein Übername mit der Begriffswahl für diese Jahreszeit.

Mittelhochdeutscher Über-Name. Es bezeichnet die senkrecht angeordneten Stangen zwischen dem oberen und dem unteren Holm an einem Leiterwagen. Berufs-Name für einen Stellmacher, Wagenbauer = Wagner.



Name:



Sommer



Runge



Vornamen:


Rudolf Max


Anna Margarethe



Geboren:


Potsdam, Schwertfegerstraße 8,

am 21. September 1875, vormittags 12 ½ Uhr.

Taufe: Nikolaikirche, am 17. Oktober 1875. KB-Nr. 405 / 1875, Seite 326,

Das Kirchenbuch ist 1945 verbrannt.

Paten sind daher nicht nachlesbar.

Standesamt Nr. A 915 / 1875.



Weißensee bei Berlin, am

05. Januar 1880

Taufe: 14. August 1886

Wohnt vor der Hochzeit beim

Vater Franz Runge in

Neuendorf, Forststraße 15.


Berufe:


Schlosser, Elektrotechniker



Hauswirtschafterin (Lette-Verein),

Hausfrau, Mutter von zwei Kindern.



Wohnung vor d. Heirat


Nowawes, Mittelstraße 9

(elterliche Wohnung)


Neuendorf, Forststraße 15

(gemeins. Wohnung mit dem Vater)



Bürgerliche

Ehe-schließung



Standesamt Neuendorf, am 29. Juli 1905, Nr. B 37 / 1905 auf Film P 275, Seite 206.

Trauzeugen: Der Schuhmacher-Meister Friedrich Sommer, 73 Jahre alt, Nowawes, Mittelstraße 9 wohnend und der (Elektro)-Monteur Ernst Meyer, 30 Jahre alt, wohnend in Friedenau bei Berlin, Rubensstraße 23.



Kirchliche

Trauung


Neuendorf bei Potsdam, Bethlehemkirche, Pfr. Schlunk, am 29. Juli 1905.

Kirchenbuch Nr. 34 / 1905.


Gemeinsame Wohnung:


Nowawes, Priesterstraße 68, Parterre

(Wohnung, Verkaufs-Laden, Werkstatt)



Gestorben:


Potsdam-Babelsberg,

am 23. November 1945,

Beerdigt am 26. November 1945, Friedhof an der Goethestraße,

KirchenB-Nr.: 442 / 45 // Standesamt

Babelsberg, Nr. C 1062 / 1945, im Stadtarchiv Film P 329, Seite 550.



Potsdam-Babelsberg,

am 03. November 1949, 5 Uhr früh,

Beerdigt am 07. November 1949, Friedhof in der Goethestraße.

Standesamt Babelsberg Nr. C 369 / 1949.

Stadtarchiv Film P 332, Seite 207.





Die beiden Kinder der vorgenannten Eltern :

Max Sommer oo Margarethe Runge



Gen. 03 / 5.1


Sommer,

Max Fritz Franz (genannt Hans)


Geboren in Nowawes, Priesterstraße 68, 05. Mai 1906, ½ 8 Uhr am Vormittag, Standesamt: Nr. 141 / 1906.

Taufe am 29. Juli 1906, Friedrichskirche in Nowawes, durch Oberpfarrer Dessin, KB-Nr.: 132 / 1906. Die Paten sind:

1. Marie Sommer (spätere Steiner, Vaterschwester), 2. Frieda Kling, 3. Johanna Seehafer (Mutterschwester), 4. Theodor Steiner, Standesamt Nr. 144 / 1906.


Späterer Beruf: Elektromonteur im väterlichen Betrieb.

Gestorben am 03. September 1926, 20 Jahre alt.

Beerdigt am 07. September auf dem Friedhof in der Goethestraße.



Gen. 03 / 5.2

Sommer, Margarete Anne-Marie

(genannt Anni)


Geboren in Nowawes, Priesterstraße 68, 06. Juli 1913, Standesamt Nr. 317 / 1913, Taufe am 21. September 1913 bei Oberpfarrer Dessin, Friedrichskirche. Die Paten sind:

1. Emil Seehafer (Ehemann der Mutterschwester, aus Niederschönhausen bei Berlin), 2. Herr Paul Muster und

3. Herr Hermann Blohm – Stadtarchitekten in Potsdam,

4. Herr Ferdinand Pehlke, Stadtbauamt Nowawes und

5. Herr Ernst Meyer, Elektro-Monteur, 38 Jahre, Nowawes (früher in Friedenau bei Berlin, Rubensstraße 23).


Gestorben in Ferch am Schwielowsee, am 12. Dezember 2003, 90 Jahre alt. Beigesetzt wurde die Urne im Friedensgarten in der Wichgrafstraße, Potsdam-Babelsberg.





Zurück in des Max Sommers Kinderzeit.

1877

Als Max das Krabbelalter mit dem Zweifüßerstand tauscht und sich immer besser zu verständigen weiß, zieht Familie Sommer aber in die Bäckerstraße 3, zwischen Waisen- und Lindenstraße gelegen, nur wenige Fußminuten vom alten Wohnsitz entfernt.


1878

Bald schon nach Maxens drittem Geburtstag, zum 1. Oktober 1878, wechseln Sommers erneut ihren Wohnsitz und ziehen aus diesem Mehrfamilienhaus der Residenzstadt aus, nach Nowawes, in die Lindenstraße 7; also aus der Soldaten- und Beamtenstadt, in den Nachbarort des Handwerks und der Manufakturarbeit. (Quelle Melderegister Film 106/1037, Seite 254, Stadtarchiv Potsdam).

Dort wohnen sie in einem der vielen Kolonistenhäuser, die nach 1751, unter dem König Friedrich II (dem Großen, dem Alten Fritz), geplant von seinem General Wolf Friedrich v. Retzow, angelegt wurden. Angelegt für neu anzusiedelnde Weber und Spinner, die damals hauptsächlich aus Böhmen aber auch aus Württemberg, dem Raum um Nassau und aus Sachsen gekommen waren, weil sie eine neue Heimat suchten – wegen der Glaubensfreiheit in Preußen oder wegen ihrer bisherigen wirtschaftlichen Notlage. Herr v. Retzow lebte vom 24. Januar 1699 bis zum 5. November 1758, konnte die Vollendung dieses Vorhabens nicht mehr erleben.

Selbst viele der Einwohner sprechen den Namen ihres Wohnortes „sehr hart“, als „Nowawess“ aus. Die Bezeichnung aber kommt aus dem slawischen Böhmen und möchte „weich“ gesprochen werden. „W(j)es“ ist das Dorf, die Siedlung. Nowawes – also Neuendorf.


Vor vier Jahrzehnten hatte man in Nowawes die ungefähr 60 m(!) breite Lindenstraße, wegen des Baues der ersten Eisenbahnstrecke im Königreich Preußen, längs in zwei Straßen, die Lindenstraße und die Retzowstraße, geteilt und etwa mittig dazwischen die Geleise verlegt. Nach den Bahnstrecken Nürnberg – Fürth (im Dezember 1835 eröffnet) und Leipzig – Dresden in Sachsen (1837), folgte dann als die dritte Bahnlinie Deutschlands, im Oktober 1838: (Berlin) – Zehlendorf – Potsdam, eine Verbindung der Residenzen und als die "Stammbahn" für Preußen.

Aus dem Grunde des Bahnbaues ist damals auch der Fußweg mit den ausgedehnten Grasflächen vor den Häusern, den Bleichwiesen für die Webware, bedeutend schmaler geworden aber in Hof und Garten haben die Kinder ausreichend Platz zum Spielen. Knapp 10 Jahre, also den wesentlichen Teil seiner Kinderzeit, lebt Max mit Eltern und Geschwistern in diesem Hause Lindenstraße 7 und die Zukunft weiß schon, dass sie auch alle, bis auf Ferienaufenthalte andern Orts oder zu Befehlsreisen auf "das Feld der Ehre", für ihr gesamtes Leben in Nowawes bei Potsdam ansässig bleiben werden.


1880

Das Jahr 1880 hält für alle Einwohner eine große Neuigkeit bereit: In Potsdam wird eine Straßenbahn eingerichtet: Leichte Bahnwagen werden eingesetzt, von zwei Pferden gezogen. Das Ganze rollt auf Eisen-Schienen, damit es beim Fahren für die Passagiere nicht so rumpelt und es auch vor allem die Pferde beim Ziehen leichter haben.

Gleich zur Einweihung am Pfingstfest, überfüllen Berliner Ausflügler unsere neue Bahn, welche Sanssouci nun keinesfalls mehr per Pedes, sondern partout auf Rädern erreichen wollen. Deshalb wird es mitunter recht eng in den Fahrzeugen. Zwischen den offenen Perrons mit dem Stehplatz für den Fahrer, befindet sich die Fahrgastkabine mit 20 Sitz- und 10 Steh-Plätzen. Das müssen die Pferde schaffen. Acht lange Jahre müssen die Passagiere allerdings ohnehin noch vom Hauptbahnhof über die alte, inzwischen zu enge Schinkel-Brücke welche die Havel überspannt, laufen, denn die Bahn-Linien beginnen an der Bittschriftenlinde, vor dem Stadt-Schloss. Das betrifft sowohl die Strecke nach Sanssouci, als auch jene zur Glienicker Brücke, also in Richtung Berlin. An der letztgenannten Linie befindet sich auch das Depot mit den Wagenremisen und den Pferdeställen, an der Neuen Königsstraße.

Die Kutscher oder Fahrer der Bahnen erhalten monatlich 90 Mark, die Schaffner, die die Billets verkaufen, 75 Mark Gehalt und die Stall-Leute etwa 64 Mark Lohn. Die tägliche Dienstzeit der Bahn geht von sechs Uhr in der Frühe, bis nachts zwölf Uhr. Diese Pferdebahn wird 27 Jahre durch die Straßen Potsdams, bis zum 1. September 1907, "zuckeln", also laufen und rollen. Nun gut. Das ist ein schöner Fortschritt. Ganz anders aber in Lichterfelde bei Berlin. Hier nimmt die Verwaltung 1880 bereits die erste elektrische Straßenbahn der Welt in Betrieb, von Firma Siemens gebaut. Das ist erst mal ein Ereignis!

Zu jener Zeit weitet sich Siemens als Fabrikationsstätte zu ungeheurer Größe aus – baut am Rande Berlins einen ganzen eigenen Stadtteil mit Namen: „Siemensstadt“. Die Firma stellt auch die ersten Bogenleuchten zum nächtlichen Erhellen der Berliner Fahrwege und Bürgersteige, am Potsdamer Platz und in der Leipziger Straße auf.

Auch andere Unternehmungen vergrößern sich enorm auf brachliegenden Stadtrandflächen oder bei umliegenden Orten, in denen sich der Grunderwerb preisgünstiger stellt als im Zentrum („Gründerzeit“). So werden ebenfalls die Vororte von Berlin mehr und mehr industrialisiert. Es finden sich plötzlich neue Fabriken neben alten Windmühlen, Ziegen und Schafe nahe den städtischen Wohnhäusern usw.


Das Jahr 1882, Maxens 7. Lebensjahr

Max wird in die Knabenschule der Nowaweser Priesterstraße aufgenommen. Als Schulleiter und gleichzeitig Maxens Hauptlehrer, fungiert der Kirchen-Kantor Herr Nauck. Dieses alte Schulhaus, in der Art der Kolonistenbauten (nur größer), wird man zu der Zeit, da Max heiraten wird, abreißen, um Platz für einen Schulneubau zu erhalten, den die Verwaltung dann bis 1907 errichten lässt. Viel später verleiht man dann diesem neuen Haus zum ehrenden Gedenken an unseren Volks-Astronomen, den Namen "Bruno-Hans-Bürgel-Schule".

Im gleichen Jahr 1882 ziehen auch Maxens Großeltern, Friedrich Sommer, sen. und seine Frau Charlotte, geborene Keilbach von der eingangs erwähnten Potsdamer Kriewitzstraße 3, nach Nowawes, in das Haus links neben Fritz jun., also in die Lindenstraße 8. Dieses Kolonistenhaus dient noch ein halbes Menschenleben später der Baugewerke-Schule Berlin als Musterhaus zum Erfassen der früher typischen Architekturdetails.

Leider stirbt unser Großvater Friedrich, sen. bereits einige Zeit nach dem Einzug in dieses Haus, in seinem 82. Lebensjahr.


Aus dem Jahre 1888, dem 13. Lebensjahr des Max

"Der Hof" ist vom Berliner Winterquartier, wie in jedem Frühjahr, nach Potsdam zurück gekehrt. Das "Neue Palais" im Park von Sanssouci wird jetzt "Schloß Friedrichskron" genannt. Es ist der krönende Abschluss aller Bauten von Friedrich II. (des Großen, † 1786) im Park.

An dem sehr kalten 9. März stirbt Kaiser Friedrich Wilhelm I. v. Hohenzollern, (also der 2. Sohn von König Friedrich Wilhelm III und Königin Luise, gleichzeitig jüngerer Bruder und Thronfolger von König Friedrich Wilhelm IV.), im Alter von 91 Jahren. Seine Frau, Kaiserin Augusta wird ihn um zwei Jahre überleben.

Am 15. Juni erliegt sein familiärer Nachfolger, Kaiser Friedrich III., Gatte von Victoria, der vormaligen Prinzessin von England und Irland Victoria / Vicky, bereits nach 99 Regierungstagen seinem Kehlkopfkrebs-Leiden.

Kronprinz Wilhelm (der nun als Kaiser Wilhelm II folgt) und seine Frau Auguste Viktoria wohnten bisher im Marmorpalais des Neuen Gartens und ziehen nun als neue Regenten in das Stadtschloss am Alten Markt. Drei Deutsche Kaiser und gleichzeitig Preußische Könige innerhalb nur weniger Wochen sah unser Land! Unser Kaiser ist 29 Jahre jung. Am 25. Juni ist des Kaisers erster Regierungsakt: Die Einweihung des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Der neue Kaiser Wilhelm II entlässt Fürst Otto von Bismarck mit dem Titel eines Herzogs von Lauenburg in Ehren (aber mit Nachdruck wohl und sanfter Gewalt) aus seinem Amt in den Ruhestand. Acht Jahre später wird sich das Leben dieses umstrittenen Politikers vollenden, das 1815 begann, des Mannes, der gemeinsam mit der Monarchie das Deutsche Reich gründete.

Bei Hof und auch in einigen Haushalten anderer Größen, halten Telephonanlagen Einzug. Eine neue Erfindung, im Potsdamer Volksmund schnell "die Quasselstrippen" genannt.

Die Eltern Fritz und Marie Sommer und die Kinder haben in diesem Jahr eine neue Wohnung gesucht und ziehen im April um, von der Lindenstraße 7, eine halbe Straßenlänge weiter, in die Lindenstraße 44. So können sie die Mutter Charlotte, die als Witwe noch allein der Lindenstraße 8 lebt, ab Oktober nachholen und sie besser betreuen.


Das Jahr 1889, Max ist im 14. Lebensjahr

Weltausstellung in Paris. Ihr Wahrzeichen: Der Eiffelturm. 300m hoch, 9 Millionen kg Masse.

Eine unglaubliche Fülle von Neuheiten werden den erstaunten Zeitgenossen vorgestellt. So gibt es auch erstmalig Rolltreppen, welche die Etagen der Ausstellungshallen miteinander verbinden.

Schade, dass Max noch nicht dabei sein kann. Viele Seiten von Berichten könnte er alleine hierüber füllen.


Notizen zum Jahr 1890

Im Jahre 1890 beendet Max mit 14 Jahren die Volksschule mit gutem Erfolg. Die Kindheit geht damit sehr schnell ihrem Ende zu. Übergangslos beginnt der "neue Ernst des Lebens", der ihn auf den Platz an den Schraubstock stellt, damit er bei großer Zielstrebigkeit und mit Eifer die Mechaniker-Künste des Schlosserhandwerks erlernt.


Hier schließt der bisherige Erzähler seine einleitenden Worte und lässt Max Sommer alleine über verschiedene Ereignisse berichten, die während der Zeit seines Lebens eintreten und von denen er meint, dass sie interessant genug sein könnten, um weitererzählt zu werden. Nicht alles wird er uns aber preisgeben wollen. Andererseits hat ihn die Natur sowieso nicht als stets lustigen Plauderer ausgestattet. Deshalb wird Max uns auch nicht jedes Ereignis detailliert darstellen. Er fabuliert nicht, sondern berichtet meist eher kurz und bündig, als Tagebuchnotiz über einige ausgewählte Begebenheiten seiner Zeit, die ihre Schwerpunkte, seinen Interessen folgend, oft in technischen Angaben finden. So ist er dann auch darin wenig ergiebig, etwa familiäre Erlebnisse auszubreiten, denn im eigenen Kleinbetrieb, und in der Familie, sorgt er später zwar für das Nötige, bleibt aber eher strengerer Chef, als denn ein Innigkeiten schenkendes, gefühlsbetont wirkendes Familien-Oberhaupt. Sonntägliche Freuden, auch mit den ihm nahestehenden Angehörigen, gelten ihm eher als Beiwerk. am Rande. Vielleicht darf man so, wahrscheinlich ist es aber etwas zu grob, die Wesenszüge umreißen, die durchaus auch vom eigenen Erleben geprägt werden: Arbeit ist Pflicht, Leben ist Dienst. Hierin liegt sein Großteil an Lebens-Erfüllung. Obwohl – eine Portion Spöttelei schaut manchmal dennoch aus seinen Augenwinkeln.

Was aber auch bedeuten schon kleine Begebenheiten in der Familie, wenn es doch aus der Weltgeschichte große Ereignisse in der Erinnerung wach zu halten gilt? Also fügt er in dem nun Folgendem, Berichte über eigene Erlebnisse und Anmerkungen zur Familie, einfach den erwähnten Ereignissen seiner Zeit an.


1891

Gerade als noch weitere Versuche laufen, Pferdekutschen mit einem Petroleum-Explosionsmotor, zur Ablösung der treuen Vierbeiner auszustatten, gibt es Leute, die noch Unwahrscheinlicheres vorhaben. Die Brüder Lilienthal, Otto und Gustav, versuchen 1891 nach langjährigen Vorbereitungen, ernsthaft, es den Vögeln gleichzutun und durch die Lüfte zu segeln, was einerseits großes Aufsehen erregt, andererseits skeptisches Kopfschütteln in der Bevölkerung bewirkt. Eines ist klar: Beim Fortschreiten der technischen Entwicklung wird nicht die gespaltene halbe Nation im Kopfschütteln verharren können. Lilienthal also baut ein leichtes "Fledermaus-Skelett" aus Weidenruten und Bambusstäben, bespannt dieses mit Baumwollstoff und beginnt damit zu laufen, zu hüpfen, zu springen und nach verschiedenen Bruchlandungen nun auch gleitend zu fliegen. Das alles auf verschiedenen Hügeln, so 1891 am Hang bei Krielow / Derwitz unweit von Potsdam und später, 1894, vom 15 m hohen, künstlichen, weil extra aufgeschütteten "Fliegeberg" in Lichterfelde bei Berlin, wo auch seine Maschinenfabrik steht. Die Konstruktionen der Flugapparate setzt mit ihm sein mitstreitender Mechaniker Paul Beylich (1874–1965) handwerklich um.

Auch andere Menschen haben ergreifende Erlebnisse und Schicksale. Wir verfolgen in den Berichten der Zeitung die entbehrungsreiche Reise der norwegischen Expedition von Fridtjof Nansen mit dem Segelschiff "Fram" zum Nordpol unseres Erdballs, die ihn bis zum Jahre 1896 im arktischen Eis festhalten wird.


1893, 18 Jahre alt bin ich nun

Bereits im Oktober 1893 kann ich die Gesellenprüfung im Schlosserhandwerk ablegen. Das ist für mich nach der Schulzeit, nun der erste große schöne Abschluss im Beruf.

In der Folgezeit arbeite ich zwar weiter als Mechaniker, strebe aber nicht an, mich später einmal als Meister der Schlosserkunst zu etablieren. Vielmehr beschäftige ich mich intensiv damit, mein Wissen zu erweitern. Das Ziel sehe ich in einem zweiten Beruf, in der Elektrotechnik, für die außer der Licht- und Kraftanlagen, immer weitere Anwendungsgebiete erschlossen werden. So befasse ich mich also auch mit Telephonanlagen, dem Blitzableiterbau, mit Akkumulatoren-Stationen und Motoren, wie gleichfalls mit dem Forschungsgegenstand der drahtlosen Telegraphie. Mein Interesse zur Elektro-Fachrichtung war bereits erwacht, als ich begann in der Literatur dem langen Entwicklungsweg der Versuche zu geeigneten künstlichen Beleuchtungsanlagen nachzugehen. Besonders die Schriften von Thomas Alva Edison hatten es mir angetan.

In dieser zum Teil auch zusätzlich "selbst angelesenen Ausbildung", werde ich von Herrn Lehrmeister Paul Strecker, Mechaniker und Elektrotechniker, betreut (dessen Frau ist eine geborene Voß, zu gut deutsch: die schlaue Füchsin). Herr Strecker hat seinen noch jungen Elektrofachhandel, verbunden mit einem Installationsbetrieb, in der Potsdamer Kirchstraße 12, nahe der Nikolaikirche, etabliert. Das heißt, 1886 oder 1887 hatte er das Haus der vormaligen Möbelfabrik Hasselkampf erwerben können. Herr Strecker ist mir ein rechtes Vorbild.


1894

Es beginnen einige Jahre des fleißigen Kirchenbauens in Potsdam und Umgebung:

1894 Baubeginn der Pfingstkirche, 1898 Grundsteinlegung der Erlöserkirche, 1901 die Hoffbauerstiftung mit Kirche auf der Insel Hermannswerder, die Bethlehemkirche auf dem Neuendorfer Anger, neben dem alten achteckigen Kirchlein von Christoph Heinrich Ziller, einem Schinkelschüler. Der Architekt der neuen Bethlehem-Kirche ist Ludwig von Tiedemann, (geboren 1841, sein Leben wird 1906 enden, wissen wir später). Außer der Bethlehemkirche schuf er auch die Pfingst- und die Oberlinkirche, wie auch die Kirche zu Bornim im Jahre 1902 und verschiedene Berliner Gotteshäuser.

Wir verfolgen die Expeditionsreisen des Schweden Sven Hedin und seinen Leuten durch das Gebiet des Tibet mit der verbotenen Stadt Lhasa. Die Reise wird bis 1897 andauern.

Es stirbt der Arzt, Naturforscher und große Sohn der Stadt Potsdam, Hermann v. Helmholtz.

In London wird die Tower-Brigde (am Gefängnis) dem Verkehr übergeben.


Aus dem Jahre 1895

Den bisher stehenden Lichtbildern aus aller Welt, die uns die "Laterna magica" vor Augen führte, wird das Laufen gelehrt. Und wie! Und wie? Im Jahre 1895 zeigt Emil Skladandowski im Berliner Wintergarten bewegte Bilder, von einem rollenden Zelluliodband auf einen Leinwandschirm projiziert. Diese Bildfolge der sich "recht eckig" bewegenden Figuren, wird von einem zylinderbehuteten Mann erklärt. Sprechpausen füllt der Pianoforte-Spieler des Festsaales. Diese frühen Produktionen und deren Vorführungen wird man später als den "Beginn der Stummfilmzeit" datieren.

Eine Forschungsgruppe um den Wissenschaftler Borchgrevink zieht es in den kalten Süden. Als erste Menschen (der Neuzeit) betreten sie den antarktischen Kontinent, der bisher eine weiße Fläche auf der Landkarte war. So weiß sieht es aber auch in der Natur dort aus.

Professor Rudolf Virchow entnimmt der gruseligen Attraktion, dem ehemaligen Junker Kahlbutz, der in Kampehl bei Wusterhausen vergeblich seine Ruhe sucht, eine Probe aus dessen verlederter Haut, um zu erforschen, warum dessen Körper im Gegensatz zu den Inhalten der Nachbarsärge nicht zerfiel. Blieb er uns durch Einbalsamierungen oder aber "infolge seines Meineidsspruchs" erhalten? Wir alle wissen ja, dass der Leichnam bereits 1806 von Besatzungs-Franzmännern als "Wache" in ein Schilderhaus gestellt wurde und anschließend als Kriegs-Kunst-Beute nach Paris umziehen sollte, was aber vereitelt werden konnte. Auch fand er sich unversehens einmal während der Hochzeitsnacht in einem Brautbett wieder. Er selbst hat das ja alles gut überstanden. Allein – die Braut soll nach diesem Schock schwermütig geworden sein.

Zum Ende des Jahres wird der große Roman "Effi Briest" unseres märkischen Schriftstellers und Dichters Theodor Fontane veröffentlicht. (Selbstverständlich hat auch er den Ritter Kahlbutz besucht, wenn auch nicht in „E. B.“ verarbeitet).

Jetzt, vier Jahre vor der Jahrhundertwende, findet im Treptower Park die Große Berliner Gewerbeausstellung statt. „Die verhinderte Weltausstellung“. Eine riesige Schau technisch geradezu revolutionierender Neuerungen. Siemens hat auf dem Ausstellungsgelände die erste elektrische Kleinbahn für den Besucherverkehr eingerichtet. Die Lokomotive dazu, lief bereits seit den erfolgreichen Versuchen mehrere Jahre in der Dauerprüfung. Zeitlich parallel dazu öffnet von Mai bis Oktober die Berliner Gartenbauausstellung ihre Tore. Ein reizender Kontrast und also für Jeden etwas. („Damenprogramm“). Dort, im Treptower Park, haben die Berliner für die kurze Zeit der Ausstellungsdauer noch einmal die Gerichtslaube, die im Schlosspark Babelsberg steht, (aber nur als Kopie) aufgebaut, als späte wehmütige Einsicht, weil sie diese große Steinlaube 1871 anscheinend übereilt loswerden wollten, die sie deshalb dem Kaiser Wilhelm I. als Schmuckstück für den Babelsberger Park geschenkt hatten.


Einige Notizen zum Jahre 1896, ich bin 20 Jahre alt und werde noch in diesem Herbste „großjährig“

Es finden in Athen die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit statt. Großartig, solche Wettkämpfe (sage und schreibe: nach eintausendfünfhundert Jahren) wieder „aus der Taufe zu heben“. Es wird über ganz hervorragende Leistungen berichtet. Hätte das doch noch Friedrich Ludwig, der alte Turnvater Jahn, miterleben können, der schon vor 1813 die patriotischen Lützower mit Leibesübungen zum erfolgreichen Kampfe ertüchtigte.

Firma Daimler stellt am 18. August in Cannstatt eine Weltsensation vor. Den ersten Lastkraftwagen. Also ohne Pferde – mit eigener motorischer Kraftentfaltung. Er erinnert mit seinem Aussehen noch sehr an eine Kutsche. So sitzt auch der Fahrer unter freiem Himmel auf dem Bock vor dem Lastkasten. Die ihm vertrauten Zügel sind ihm bereits genommen – aber dafür ein Lenkrad an die Hand gegeben.

18. Juni 1896: Auf der Burg Kyffhausen wird das Kyffhäuserdenkmal eingeweiht, das an den mittelalterlichen Stauferkaiser Barbarossa (Rotbart) erinnert. Zur Aussichtsplattform führen 247 Stufen hinauf. Von dort soll man bei günstigem Wetter einen herrlichen Rundblick über das Thüringer Land haben und auch den Brocken im Harz gut sehen können. Der Entwurf stammte von dem Berliner Architekten Bruno Schmitz.

Im vergangenen Jahr wurde übrigens schon mit dem Bau des Völkerschlachtdenkmal (vom gleichen Architekten) in Probstheida bei Leipzig begonnen, das etwa 1913 fertig werden soll.


Unser gutes Großmütterchen Caroline Wilhelmine Charlotte Sommer, geb. Keilbach, schließt am 10. September 1896 hier in Nowawes, in der Wohnung Lindenstraße 44, für immer die Augen. Sie wurde 87½ Jahre alt. Gern und oft hatte sie uns unter vielen anderen Begebenheiten in ihrem Elternhause, auch von ihrer Zeit als Potsdamer Luisenbraut erzählt. Für uns ist ihr Ableben auch einen Grund, in eine etwas kleinere, kostengünstige Wohnung zu ziehen. Die Eltern wählen aus den Angeboten die Mittelstraße 9, wieder ein ehemaliges Weberhaus, ruhiger gelegen.


Otto Lilienthal, der erste Mensch, der sich mit einem Flugzeug (diesen Ausdruck hat er geprägt) nach dem Prinzip "schwerer als Luft" vom Erdboden abhob, stirbt wegen eines Wirbelsäulenbruchs, nachdem er am 9. August 1896 am Gollenberg bei Stölln im Ländchen Rhinow, der größten Erhebung im Havelland, abgestürzt war. Nur sein Mechaniker Paul Beylich war dabei. Dem Otto Lilienthal, 1848 geboren, gelangen schon als 20-jährigem mit Unterstützung seines Bruders Gustav, die ersten Luftsprünge mit einem Schlagflügelpaar und ab 1891 glückte auch der Gleitflug von den Hügeln bei Derwitz / Krielow. Sein Tod – ein schwerer Verlust für die empirische Forschung.


Mein weiterer Abschluss: Nun bin ich inzwischen nicht mehr nur Schlossergeselle, sondern auch der erste Elektriker, den es je in unserer Sippe gab – geben konnte, denn so sehr lange besteht ja die vom Menschen angewandte Elektrizität noch nicht. Und vor wenigen Jahren war noch nicht einmal diese Berufsbezeichnung bekannt. Ich möchte weiter lernen und den Abschluss als Techniker auf diesem Gebiete erwerben.

Es ist modern, einen Garten am Hause oder zumindest an der Wohnung zu haben. Die „Gartenstadtbewegung“ wird in diesem Jahr ins Leben gerufen. Auch ich möchte später einen eigenen Garten haben und auch so wie meine Eltern es bereits hier in der Mittelstraße 9 tun, dort kleine Palmen und andere südländische Gewächse beherbergen, zwischen jenen leben.


Aus dem Jahr 1897

Erste erfolgreiche Versuche der deutschen drahtlosen Telegraphie.

Das Thema ist schon mal gut aber diesen „drahtlosen Stand“ der ganz neuen Technik gäbe es wohl heute kaum ohne die Vorläufer-Entwicklungen. Wenden wir also unseren Blick einmal rückwärts. Hierbei hilft uns Herr Koppatz. Er erzählt uns sinngemäß:

„Der Telegrafenberg am Rande der Ravensberge bei Potsdam erhielt im Herbst 1832 seinen Namen, als die Telegrafenlinie zwischen Berlin und Köln in Betrieb genommen wurde. Auf dem Berg wurde eine der 61 >Optischen Telegrafenstationen< dieser Strecke errichtet. Die Bergkuppe war 1813, in der Zeit der Befreiungskriege, abgeholzt worden. Die neue Telegrafenstation war somit weithin gut sichtbar. Auf jeder dieser 61 Telegrafie-Stationen stand ein Mast mit sechs Signalarmen in paarweiser Anordnung, also drei Arme links und drei rechts vom Mast. Damit die 1,25 m langen und 0,45 m breiten Signalarme bei Stürmen nicht abbrachen, bestanden sie aus Holzrahmen, die mit beweglichen Feinblechlamellen ausgefüllt waren. Jeder dieser sechs Arme konnte entweder waagerecht seitwärts oder schräg aufwärts weisen, ebenso schräg abwärts zeigen oder sie hingen senkrecht herab. Damit bestand die Möglichkeit, 4096 verschiedene Zeichen zu bilden, welche Buchstaben, Worte und / oder Zahlen bedeuteten. Zum besseren Erkennen der Signale seitens der Bediensteten der nächsten Station benutzten die „Telegrafisten“, ein fest in das Gebäude eingebautes Fernrohr. Die nächsten Stationen befanden sich auf dem Fuchsberg bei Glindow, dann auf dem Schenkenberg bei Jeserig und dem Marienberg in Brandenburg (Havel). Bei Dunkelheit oder bei unsichtiger Witterung, wie Nebel, starkem Regen oder Schneetreiben, konnten keine Nachrichten übermittelt werden. Bei normalen Sichtverhältnissen durchlief eine Botschaft die 61 Stationen schnellstens in 10 Minuten. Telegrafiert wurden allerdings nur staatliche und militärische Depeschen. Private Geburtstagsgrüße konnte niemand aufgeben. –

Schon in den 1840-er Jahren wurden dann diese Optischen Telegrafen von der Elektrischen Telegrafie abgelöst. 1846 erfand Werner v. Siemens den elektrischen Zeigertelegrafen und auch die mit Guttapercha (einem Naturgummi) isolierten Leitungen dazu. Bereits 1847 / 1848 errichtete die Berliner Telegrafenbauanstalt Siemens und Halske (Johann Georg Halske war ein sehr befähigter Mechaniker bei Siemens) eine Telegrafenlinie entlang der Eisenbahnstrecke Berlin - Halle - Erfurt - Frankfurt (Main).“

(nach Ausführungen von J. Koppatz in der Tageszeitung „Brandenburgische Neueste Nachrichten“, Mai 1979.)

Die Nachrichten wurden mit elektrischen Impulsen nach dem "Striche-und-Punkte-Alphabet“ des Samuel Morse übermittelt – salopp gesagt, sie wurden „gemorst“. Das ging schon mal erheblich schneller. –

Und nun war die technische Entwicklung so weit vorangeschritten, dass wir davon überzeugt waren, bald könne man sich die schier endlos langen Drahtleitungen einsparen, damit auch deren Störanfälligkeit und die Nachrichten einfach durch die Luft schicken.

Geleitet werden diese Forschungsarbeiten von Herrn Prof. Dr. phil., Dr. Ing. h. c., Ing. Adolf Karl Heinrich Slaby. Er hat an der Charlottenburger Technischen Hochschule den "Lehrstuhl" für Elektrotechnik inne. Prof. Slaby ist jetzt 48 Jahre alt (* Berlin, am 8. April 1849,

† Charlottenburg, 1913). Obwohl in Berlin geboren, wohnte er bereits ab 1877 hier, in unserem Potsdamer Holländerviertel, in der Mittelstraße 13. Drei Jahre später (1. April 1880) wechselte er dann in das Haus Waisenstraße 26. Herr Prof. Dr. Slaby arbeitet mit den Assistenten Herrn Dr. Martin Tietz und Herrn Dr. h. c. Georg Graf v. Arco (* 30. Aug. 1869,

† 05. Mai 1940, beerdigt auf dem Südwest-Friedhof der Berliner Synode in Stahnsdorf).

Ich selbst, fast 22jährig, habe die Möglichkeit, mit Mechaniker- und Elektriker-Arbeiten an der praktischen Umsetzung der Telegraphie-Erkenntnisse teilzunehmen.

Die Telegraphie-Versuche gehen vom Campagnile der Sacrower Heilandskirche (der Kirchturm als Sendemast) aus und dann etwa 1.300 m über den Jungfernsee zur Matrosenstation der K. u. K. Schiffsanlegestelle "Kongsnaes" (des Königs Landzunge) hinüber, die in der Schwanenallee Nr. 7 als Empfangs-Station dient. Diese bauliche Anlage am Neuen Garten, die "Matrosenstation" des norwegischen Architekten Holm Hansen Munthe wurde erst im vergangenen Jahr fertig. Die Holzhäuser riechen noch ganz neu. Prächtig sieht das Empfangsgebäude aus, kunstvoll im norwegischen Geschmacke gestaltet.

Am 27. August 1897 kann in Anwesenheit des Hohen Kaiserlichen Paares das erste Funk-Telegramm mit einem Schreibtelegraphen des Samuel Morse, aber eben völlig ohne Drahtverbindung, durch die freie Luft über den Jungfernsee "gefunkt" werden.

Der mit Punkten und Strichen getippte „Funkspruch“, so nennen wir das Ergebnis, übermittelt als Botschaft den Satz:


"Die Welt am Ende des Jahrhunderts steht im Zeichen des Verkehrs."


Es ist schon ein tolles Erlebnis, hier mittendrin dabei gewesen zu sein, bei den Versuchen, bei der handwerklichen Ausgestaltung (jene auch mit Pannen und unter zeitweilig hoher

Arbeits-Anspannung). Dabei gewesen zu sein, nicht ohne "Lampenfieber", bei der festlichen, gelungenen Vorführung vor dem Kaiserpaar. (Unser Kaiser Wilhelm II. ist jetzt 38 Jahre alt). Mittendrin also, zwischen Majestäten und Drahtspulen, etwas transpirierend mit ungewohntem scheuernden Kragen zur Gala-Vorführung. Soweit die „Laborversuche“.

Wir haben es nun geschafft mit den elektrischen Funken, einem kleinen künstlichen Gewitter, über den Jungfernsee zu gelangen, das bedeutet: drahtlos zu telegrafieren. Wer weiß – vielleicht wird man in ferner Zukunft sogar über den "Großen Teich" funken können? –

Erst vor zwei Jahrzehnten hatte man begonnen, ein 3.500-km langes Übersee-Unterwasserkabel über Unterwasser-Berge und -Täler bis zum Kontinent Amerika zu verlegen. Vielleicht war dieser schier übermenschliche Aufwand beinahe unnötig, angesichts der neuen drahtlosen Telegrafie?

Die bisherigen Ergebnisse übernehmen zur wirtschaftlichen Großanwendung die AEG und Fa. Siemens, die dann auf diesem Teilgebiet ihrer Wirkungsspektren ab 1903 unter dem Namen „Telefunken“ firmieren und neun Jahre später in Nauen eine "Großfunkstelle" einrichten werden, mit der schon bald weit über 1.000 km Entfernung zwischen Sender und Empfänger drahtlos telegraphiert werden kann. –

Bereits vor 1897 und noch zeitgleich mit uns gibt es aber die Telegrafie-Versuche des englischen Italieners Marconi, die ebenfalls erfolgreich verlaufen. Prof. Dr. Slaby und

Dr. v. Arco waren kurze Zeit vor unserem großen Erfolg, im Juni, im offiziösen Auftrage unseres Kaisers bei Marconi am Bristol-Kanal in England zu Gast. Sie waren bei Marconis technischen Vorführungen an allem rege interessiert und durften sich dort gründlich umschauen sowie technische Erkundigungen einholen – das darf ich nicht verschweigen. –

In dem nachstehenden Kasten gebe ich einige Ergänzungen, die ich erst später notiert habe:


Guglielmo Marconi, der Erfinder der drahtlosen Telegraphie, wurde am 25. April 1874 bei Bologna (Italien), als Sohn eines Gutsbesitzers geboren. Seine Mutter ist irischer Abstammung. Daher lebte er zeitweilig in England aber auch in Italien.

Marconi ist also nur ein Jahr älter als ich, jetzt 22 Jahre alt. (Ich hatte bisher gedacht, es würde sich bei dem Entwickler solch einer großen Idee um einen älteren Wissenschaftler handeln). Aus Interesse hörte der junge Autodidakt Marconi bei Augusto Rihi Vorträge über die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen. Sein Gedanke: Diese Wellen nutzen, um Informationen drahtlos über große Entfernungen zu senden.

Am 2. Juli 1896 erhält Marconi das britische Patent zur drahtlosen Telegraphie – also weitaus früher, als es bei uns in Deutschland Erfolge gab. Aber Marconis Versuche gehen weiter. So erreicht er im Mai 1897 am Bristol-Kanal eine Funkstreckenlänge von etwa 6 km, im Juni über 15 km. Zu dieser Zeit besuchte Prof. Slaby ihn und er durfte als sein Gast alle technischen Details ansehen.

Im Juli 1897 gründet der 23-jährige Marconi in London seine Firma "Wireless Telegraph and Signal & Co."

Die Erweiterung der bisher möglichen nur relativ kurzen Übertragungsstrecken ist der Forschung und Entwicklung von Prof. Karl Ferdinand Braun zu verdanken (* in Fulda am 6. Juni 1850, † in New York am 20. April 1918). Der Physiker und Erfinder Braun hatte 1872 bei dem in Potsdam gebürtigen Hermann v. Helmholtz promoviert. Zu den vielen Erfindungen Brauns gehören der Kristalldetektor als Funk-Empfänger und die Kathodenstrahlröhre (Braunsche Röhre) als wichtigstes Bauteil für den späteren Fernsehempfang.

1898: Die Trennung von Sende-Antenne und Schwingkreis zur gewaltigen Erhöhung der Sendeleistung – Patent 111578 für den "Braunschen Sender", erhöhen die Reichweite der bisherigen Geräte von Marconi und Slaby enorm.

Im Jahre 1900 erhält Marconi ein weiteres britisches Patent Nr. 77777 zur Telegraphie.

Am 12. Dezember 1901 bringt Marconi eine erste schwache Transatlantik-Verbindung zustande. Dabei werden bereits die wesentlichen technischen Erkenntnisse des Prof. Braun genutzt.

1902 folgen im Mittelmeer-Raum verschiedene Funk-Übertragungen mit einer Reichweite von etwa 1.200 km.

Leider waren die Wissenschaftler Marconi, Slaby und Braun, im Kampf um den Ruhm sehr zerstritten. Es gab Patent- und Firmenverwicklungen. Für die praktische Umsetzung in Deutschland arbeitete Slaby mit der AEG zusammen, Braun dagegen mit Siemens und Halske.

Gut dass es 1903 eine Einigung mit der Gründung der "Telefunken" gibt. Aber Streitereien zwischen Briten und Deutschen gibt es auch weiterhin besonders bei der Weiterleitung/Negierung/Beantwortung aufgefangener Funksprüche, wenn bekannt ist, das der Absender das Marconi-System benutzt der Empfänger aber ein deutsches System oder umgekehrt. Das wird sich auch noch durch die Zeit des Ersten Weltkrieges hindurchziehen!


Marconi ist inzwischen Elektro-Ingenieur und wird später Physiker – gilt als Radio-Pionier.

1905 heiratet Marconi – im gleichen Jahr wie ich (Max Sommer).

1909 erhalten Marconi und Braun für ihre bahnbrechenden Arbeiten an der drahtlosen Telegraphie gemeinsam den Nobelpreis für Physik. Slaby, nennen wir ihn den Nacherfinder, geht dabei leer aus aber auch er hat im Zuge der wirtschaftlichen Verwertung der Erkenntnisse viele finanzielle Erträge.

Es erübrigt sich eigentlich zu erwähnen, dass ich, der als Schlosser und Elektrotechniker mit dem Herzen, mit "Feuer und Flamme" dabei war, nichts erhielt. Mein Lohn war die Arbeit und das Gefühl, dabei gewesen sein zu dürfen.

Guglielmo Marconi wird am 20. Juli 1937 in Rom sterben.


Auch aus den Niederungen des Alltags gibt es Erfreuliches zu berichten: Die Königliche Residenz hat ein großes Bauprogramm aufgelegt. Die Stadt Potsdam will ihren guten Ruf besser duften lassen. Nach und nach verschwinden aus den Höfen die Trocken-Abtrittshäuschen und werden durch richtige Closets in den Wohnhäusern ersetzt (zumindest dort, wo diese sich einbauen lassen, zum Teil in kaum genutzten Winkeln unter den Treppenaufgängen). Das Neuzeitliche besteht außerdem in einer Spiralstrahl-Spülung. Der Komfort: Spüler drücken – und fort geht "es" – durch eine so genannte Abwasserleitung. Dann haben wohl auch bald die Handschwengelpumpen der Einzelbrunnen ausgedient und frisches Wasser fließt in allen Häusern bis zur gemeinsamen Zapfstelle im Flur oder in "besseren Häusern" gar bis in die Küchen, wo ein Ausgussbecken das verbrauchte Wasser wie auch die Zapf-Überschüsse, aufnimmt. So ist dann der Weg mit der Karaffe von der Waschkommode oder mit der Schüssel aus dem Waschständer zum neuen Wasserhahn kurz und sehr bequem. Die Arbeiten gehen recht zügig voran. Wen wundert's? Das Bleirohr lässt sich schnell und ganz famos biegen und auch mit der Lötlampe fügen. Nur das Aufgraben der Grundstücke und Straßen für die Kanalisation dauert länger. Die „Plumpen“ in den Straßen werden uns aber erhalten bleiben, denn die zahlreichen Pferde müssen ja auch öfter mal' was trinken.

1897, den 3. November: Eine "weitere Lufteroberung", die sich zu den gleitenden Vögeln aus Holzlatten, bespannt mit Leinengewebe, gesellt: Jungfernflug einer sehr schlanken 38 Meter langen „Zigarre" mit einer Bekleidung aus dünnem, glänzenden Aluminiumblech und einem 16-PS-Daimler-Motor als Antrieb. Zu sehen auf dem Exercierplatz "Tempelhofer Feld", nahe Rixdorf bei Berlin. 16 Pferde – eine solch geballte Kraft – man stelle sich das vor. Die erstmalige Vorstellung endete leider mit einer Bruchniederkunft. Den Konstrukteur, Herrn Schwarz, trieb das aber nicht in den finanziellen Ruin. Er war schon kurz vorher in Wien im Alter von nur 48 Jahren verstorben. Auf dem gleichen Platz der königlichen Luftschiffer-Abteilung, durfte vorher auch Herr Wölfert arbeiten, der sich ebenfalls seit einigen Jahren dem Luftschiffbau gewidmet hatte und am 12. Juni '97 beim Absturz des brennenden Schiffes tödlich verunglückt war.


Das Jahr 1898

Es geht unser märkischer Dichter Theodor Fontane in Berlin, im Alter von 83 Jahren aus dem Leben (geb. 30.12.1818). Ein exzellenter Darsteller der Geschichte der Mark Brandenburg, der bei seinen Kutschen-Wanderungen dem Volke aufmerksam zuhören konnte. Vieles hat er dabei aufgeschrieben, was sonst aus dem Wissen der Leute vielleicht in Vergessenheit geraten wäre. Er ließ Menschen früherer Generationen in seinen Werken wieder lebendig werden. Doch bevor er als Romancier namhaft wurde, arbeitete er als Apotheker, Journalist, Kriegsberichterstatter, Theaterkritiker und Akademie-Sekretarius.

Emil Berliner ist aus Amerika zurückgekehrt. Er lässt in Hannover Schellack-Platten in Serie pressen. Damit wird ein neuer Träger für mehrmals abspielbare Musikstücke auf den Markt gebracht, der die Walze und die Wachsplatte schnell ablöst. Ein Generationswechsel in der Technik. Das Grammophon-Laufwerk ist mit einem Aufzieh-"Uhrwerk" ausgestattet, dessen Feder den Plattenteller sehr bequem ein kurzes Musikstück lang antreibt. Das möglichst gleichmäßige Kurbeln per Hand ist bei diesen Geräten für gehobene Ansprüche also nicht mehr nötig!

Ein gewisser Herr Strowger erfindet den Fernsprechdrehwähler. Wenn später auch bei uns Leute ein Telefon besitzen, können sie den Apparat ihres Gesprächspartners innerorts selbst anwählen und brauchen sich nicht mehr vom „Frollein vom Amt“ verstöpseln lassen.


Verschiedenes aus dem Jahre 1899

Die jüdischen Fabrikanten Benno Orenstein und Arthur Koppel gründen in Neuendorf, nahe dem Bahnhofe Drewitz eine Fabrik für leichte Lokomotiven. Im ersten Jahr beträgt die Anzahl der Leute über 420 Arbeiter und Angestellte, die vorerst etwas mehr als 100 Maschinen im Jahr produzieren. Besonders imposant ist innerhalb des Werkes die sinnreiche örtliche Führung der Zulieferungen anzuschauen: Die Zubehörteile kommen aus zwei Reihen von Maschinenhallen, die um die Endmontagehalle angeordnet sind. Jene zylindrische Halle mit kreisrundem Grundriss für den Endzusammenbauder vorgefertigten Baugruppen, wird von einer freitragenden, flachen Kugelkalotte überspannt. Mit 50 Metern Durchmesser sei sie wohl die größte zu unserer Zeit auf dem europäischen Kontinent, hörte ich. Wegen ihrer Form einer Arena wird diese Halle bald der "Zirkus" genannt.

Ein erstes "Motor-Taxometer" oder auch die "Kraftdroschke" genannt, nimmt die Straßen Berlins vom 09. September an unter seine Räder: Ein Mietwagen für feinere Leute, die sich, schneller als die Pferdebahn und selbst die Richtung bestimmend, durch die Stadt kutschieren lassen wollen. Das Vehicle besteht aus einem Dreirad, auf dem der Kutscher vorne bockt. Ausgestattet ist das Fahrzeug mit einem Verbrennungsmotor von vier Pferdestärken. Hinten aufgesattelt ist das "schier abgehackte" Ende einer Pferdekutsche auf zwei Rädern. (Wenn das so ein Karossen- und Kaleschen-Verfechter wie der Herr Kesslau aus der Elisabethstraße hören und sehen würde –, oh, ha!). Drei Personen knattern und stinken vierspännig auf fünf Rädern. Mon Dieu, was für eine große Zeit.

Max Eyth (1836–1906) schreibt seinen selbstbiographisch geprägten Ingenieur-Roman "Hinter Pflug und Schraubstock", ein Werk, so recht nach meinem Geschmacke – aber sehr lang gestreckt. Was könnte man in der Zeit des Lesens doch handwerklich schaffen!

In Potsdam, Berliner Straße 62, wohnt der berühmte Direktor der Chirurgischen Klinik der Berliner Charité, Herr Prof. Dr. Ernst von Bergmann. Jetzt, 63-jährig, wirkt er auch mal hier bei uns als "Gastoperateur" und entfernte den ersten Potsdamer Wurmfortsatz eines Blinddarmes.

Feierliche Einweihung des neuen Nowaweser Rathauses. Die Verwaltung hatte schon fünf lange Jahre dem soliden Neuendorfer Rathaus nachgestanden. Nun ist unser Bau, der dem Neuendorfer direkt gegenüber steht, noch bedeutend prächtiger. Bauzeit 1898/99. Kosten für Grundstück und Bau: 170.000 Reichsmark. (im Jahre 2001, wären das reichlich drei Millionen Deutsche Mark, eine vergleichsweise kleine Summe). Der Entwurf des Gebäudes stammt vom Architekten Julius Otto Kerwien (1860–1907).


Die beiden Jahreswechsel 1899–1900 und 1900–1901

Zweimal wurde zu Silvester das neue Jahrhundert begrüßt. Man hat sich wohl nicht entscheiden können, welches die richtige Zeit dafür ist. Ich habe aber den Eindruck, das diesjährige Fest, also das Letztere, ist wohl das Schönere und der echte Wechsel. Zwar kommt es beim Voranschreiten der Zeit und ihrer doch mehr willkürlichen Festlegung im Kalender, nun wirklich nicht auf einen bestimmten Tag für die Jahrhundertwende an, aber solch ein Ereignis, einen Jahrhundertwechsel, erlebt eben wahrlich nicht jeder Mensch.

Am 02. Januar überraschten uns die Postämter mit einer neuen Briefmarke, der „Germania“. Bis zum ersten März 1922 werden 79(!) verschiedene bunte Germania-Marken-Werte erscheinen. Die Herren Besson und Süring erreichen im offenen Korb am Freiluftballon 10.800 m Höhe. Viel Kälte (um - 60°C) und wenig Atemluft sollen sie vorgefunden haben. Aber eine vorzügliche Aussicht entschädigte sie für alle Strapazen.


Nach den Abschlüssen der Ausbildung in den beiden Berufen des Schlosserns und der Elektrik, stellt sich mir die Frage nach der beruflichen Weiterentwicklung. Sollte ich nun ständig als Geselle nur die mir zugewiesenen Arbeiten ausführen oder selbst wählen, selbst bestimmen können, mit welchen speziellen Aufträgen ich mich befasse? Sollte ich die Geschicke der Branche in Potsdam und Umgebung aktiv mitgestalten? Selbstredend erscheint mir die letztgenannte Möglichkeit aussichtsreicher und interessanter.

Deshalb setzte ich mich erneut zusätzlich auf die Schulbank, besuche in Potsdam drei Jahre lang abends das städtische Technikum und lege nunmehr die Techniker-Prüfung ab, (die in der Mitte zwischen den Abschlüssen von Meister und Ingenieur angesiedelt ist).

So habe ich im Jahre 1900, im Alter von 25 Jahren die gleichen Berufsziele erreicht, wie mein Lehrherr Strecker, "Mechaniker (beziehungsweise Schlosser) und Elektrotechniker". Dafür hatte ich in den vergangenen Jahren auch kaum Freizeit nach langer täglicher Arbeit. Der Vorsprung an Erfahrung bleibt Herrn Strecker natürlich.


Am 01. September 1900 eröffnet die Firma Schwartzkopff in Wildau eine neue Dampf-Lokomotivfabrikation und zwischen dem Wannsee-Bahnhof und Zehlendorf wird gar der Betrieb eines elektrischen Zuges versuchsweise aufgenommen.

Herr Dr. Landsteiner entdeckt, dass Menschen unterschiedliche Blutarten haben können, die sich nicht immer miteinander vertragen. Er teilt sie in verschiedene Gruppen ein, die er mit "A", "B", und "0" benennt (bald wird die Misch-Gruppe AB hinzu kommen). Nun scheint das Rätsel tödlich verlaufender Blutübertragungen gelöst. Was in meinen Adern fließt und so bläulich durch die Haut schimmert, ist aber noch nicht bestimmt worden ... und wie mag das bei unserem Kaiser aussehen?

Im November gibt es Volksversammlungen (vor allem in Berlin) gegen Wohnungsnot und wegen der Kohleteuerung.

Es tritt die Rechtschreibreform in Kraft. Nach vielen Streitereien und beschwichtigenden Änderungen ist es wohl nunmehr ein Reförmchen geworden Wir schreiben jetzt Thier, Thür, Thor, Thee und so weiter brav ohne „h“. So ist's modern! Das Sitzmöbel „Sopha“ wird nun komischer Weise „Sofa“ geschrieben, doch bei vielen ähnlichen Worten wird aus unerfindlichen Gründen die bisherige Schreibweise beibehalten. Ein Wirrwarr. Es wird einige Zeit dauern bis sich das alles durchsetzt. Wenn ich daran denke, dass zum Beispiel seit Jahren auf den amtlichen Vordrucken für „Nummer“ abgekürzt „Nr.“ gedruckt steht aber die Beamten immer noch „No.“ schreiben, dann ahne ich wie lange die Umstellung dauern wird.


1902

Während ich friedlich meine Elektroleitungen ziehe, wird auf dem Brauhausberg die Kriegsschule errichtet und zeitgleich beginnt der Bau des Gebäudekomplexes für die Königliche Brandenburger Provinzialregierung in der Spandauer Straße, gegenüber der Behlertstraße, kurz: "Die Regierung" genannt.

Der 1. Oktober. Schon wieder ein denkwürdiges Datum. Das Elektrizitätswerk, weit hinter dem Luisenplatze, in der Neuen Luisenstraße an der Havel errichtet, wird in Betrieb genommen.


1903

Ich erhalte die Befugnis zum Ausbilden von Lehrlingen. Mit den Eltern wohne ich, wie ihr schon wisst, seit sieben Jahren in der Nowaweser Mittelstraße 9 (in knapp drei Jahrzehnten wird daraus die Wichgrafstraße 9). Natürlich kann ich noch nicht ahnen, dass in dieses gleiche Haus ein Dutzend Jahre später eine Familie namens "Janecke" einzieht, die in unserem Leben, besonders in dem meiner späteren Tochter, eine wesentliche Rolle spielen wird. Unsere Welt wird immer kleiner.

Ja, so ist das. Wir bringen den Leuten Elektrotechnik ins Haus, damit sie leichter und schöner leben und andere befassen sich z. B. mit neuem Klein-Kinderkram. So brachte jüngst eine gewisse Margarethe Steiff kleine Bären aus Stoff, d. h. mit Kunst-Fell, ausgestopft mit Holzwolle und gelenkig montierten „Armen und Beinen“ als Spielzeug in die Geschäfte. Jeder mit einem Knopf im Ohr, damit man sie nicht verwechselt und weiß, woher "die Tiere" kommen. Ist auch eine Reklame. Kuscheliger für die Kleinen zumindest, als Puppen mit den üblichen Pappmaché- oder teuren, kalten und harten Porzellan-Köpfen (die eher so wirken wie meine Glühlampenschutzglocken), muss ich gestehen.

In diesen Tagen legt ein elektrischer Schienen-Triebwagen, von Siemens und AEG gebaut, auf dem Militär-Versuchsgleis zwischen Berlin und Zossen/Wünsdorf, die Strecke mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit von mehr als 200 km/h zurück. Eine Schnelligkeit, wie sie noch nie ein Fahrzeug vorher erreichte. Ein neuer Weltrekord für Deutschland. Ein Hoch der Elektrik!

Eine weitere Aufsehen erregende Zeitungsmeldung geht um die Welt: Am 17. Dez 1903 gelingt in den USA der erste menschliche Motorflug! Die Fahrradmechaniker-Brüder Wright aus Ohio schafften es, mit einem kleinen, Benzin-Motor in dem zerbrechlichen, mit Stoff überzogenem Gerippe namens "Flyer", in nur 12 Sekunden, 50 Meter weit zu fliegen. Wenn das so rasant weiter geht, werden wohl weitere, kaum glaubliche Erfolgsmeldungen nicht lange auf sich warten lassen.


Während dieser spannenden Zeit lerne ich auch meine spätere Frau, Margarethe Runge, kennen, die am 05. Januar 1880 in Weißensee bei Berlin, Goethestraße 25, geboren war. Margarethes Mutter Josephine, eine geborene Glaeser, war bereits vor rund zwei Jahren gestorben und ihr Vater, Carl Heinrich Franz Runge, ein Zimmerer und Baumeister, hatte nun im vorzeitigen Ruhestand hier in Nowawes die ebenfalls verwitwete Anna Luise Ulrich, geborene Schütte, geheiratet, deren Familie die Gaststätte "Deutsches Wirtshaus" in der Wilhelmstraße 15 (später: Alt Nowawes 15) führt. Ich kenne das!

Ich hatte mit elektrotechnischen Neuanlagen und Reparaturen auch in diesem "Deutschen Wirtshaus" zu tun. Dort begegnete ich Herrn Runges Tochter. Margarethe wohnt, wie ihre Schwester Franziska und vorher auch ihr Vater, in dem kleinen Haus Forststraße 15 (spätere Dieselstraße Nr. 12) in Neuendorf. Margarethe erscheint mir als "ganz patent". Sie hat eine strenge Erziehung genossen, nach den acht Jahren der Schulzeit eine fundierte Ausbildung in Ernährung, Wirtschaft und Haushalt an der Berliner "Lette-Schule" absolviert und ein gutes Zeugnis über ihre Zeit als Dienstmädchen bei einer angesehenen Berliner Familie mosaischer Religion vorzuweisen. Deshalb benutzt sie auch manchmal solche ungewöhnlichen Begriffe, wie: „das nicht koschere Schweinefleisch“, hat sich davon aber inhaltlich sonst nichts weiter angenommen. Trotzdem lege ich Euch am Ende dieses Abschnitts, also quasi am Jahresende eine Wortliste bei, damit Ihr mal seht, wie in diesen Familien geredet wird und was andere unserer Zeitgenossen aus diesen Begriffen „verdeutschen“.

Da ich inzwischen schon in den hohen Zwanzigern stehe, ist es wohl nur zu natürlich, sich nach einer Lebenskameradin umzusehen. Die praktisch veranlagte, pflichtbewusste Margarethe scheint gerade recht zu sein und eine solche Verbindung wäre doch ganz einfach vernünftig.

So komme ich unversehens zu einer weitläufigen Familie, denn auch Margarethe hat mehrere Geschwister. Waren wir zu Hause vier Kinder, so waren es bei Margarethe sechs:

Die älteren: Erstens Carl Robert Runge, Matrose und Elektriker. Dann zweitens: Johanna, in Berlin verheiratet mit Emil Seehafer, einem Beamten. Drittens: Eine weitere Schwester: Franziska, die wohl den Buchhalter Richard Eschert heiraten will. Zumindest dessen Vater ist Schlosser. Viertens Paul und fünftens Franz, als jüngere Brüder. Die Mutter des Jüngsten, dieses erst in diesem Jahr 1903 geborenen Franz Runge, ist nicht die inzwischen verstorbene Josephine Glaeser, also die Mutter der älteren, sondern des Runges zweite Ehefrau, die oben erwähnte Anna, geborene Schütte, verwitwete Ulrich.





Einige Begriffe aus der Sprache deutscher Juden (jiddisch), vielfach aus

dem Rotwelschen überkommen, verschiedenes aus dem Hebräischen abgeleitet.



Die meisten der Beispiele entnahm ich im Jahre 2017 den älteren Veröffentlichungen von Eike Christian Hirsch: „Den Leuten aufs Maul ...“ und Ausführungen des Bastian Sick.

Verschiedene Begriffe wurden einst aus dem Jiddischen übernommen, indem das (nicht verstandene) Wort salopp eingedeutscht, mitunter einen neuen Inhalt bekam. Diese Begriffe werden in nachstehender Liste als „Verballhornung" (Verball.) gekennzeichnet.

Mitunter sind verschiedene Schreibweisen üblich, die u. a. auch dem Wandel der Zeit unterworfen sind. Für mögliche Varianten oder Fehler wollen wir uns hier nicht verbürgen – es sind ja nur einige unverbindliche anregende Überlieferungen, die zu keinerlei Erregung führen sollen.



jiddisch


deutsch

Achiele

das Essen

Amen

so sei es // ... sind damit einverstanden // das ist wahr

baal dover

auskundschaften, Verball.: ausbaldovern

Baijs

Haus

Beheime

Rindvieh

Beise // Baize

Lokal, einfache Gaststätte

beseibeln

betrügen

betuch

historisch = vertrauenswert. Neu: vermögend sein, reich sein. Verball.: betucht (ohne eine gedankliche Verbindung zur Textilbranche)

Broche

Segen

Chammer

Esel

Chanuka

Gedenkfeier (8 Tage während) an den Makkabäer-Aufstand 167 v.u. Z.

Cheider

Schule

chess

kess, flott, frisch-frech

Choßen

Bräutigam

Chuppe

der Traubaldachin

Chuzpe

Frechheit, Unverschämtheit

Daffke // Dafke

(aus) Trotz

Daiges

Sorgen

Dalles

Armut

Efscher

vielleicht

Eizes // Ezzes

Ratschläge

Emes

Wahrheit

Gannew

Gauner

gannaw // (er) gannewt

(er) stiehlt

Geseire(s)

Gejammere, Klagen

Gewuhre

Kraft

Goi / Goj /Goy

abfällig: der Nichtjude

Haberer

Freund, Kumpel

Habibi

Liebster

Hazloche und broche

Erfolg und Segen.

Daraus Verball.: Hals- und Beinbruch

hech supha

starker Wind, Sturm.

Daraus Verball.: (es zieht wie) Hechtsuppe

Ische (langgesprochenes I)

junge Frau

Jamulke

Kopfbedeckung

Jom Kipur

Feiertag mit Fasten, Beten und Klagen

Jontew

Feiertag

kabbeln

zanken, streiten

Kafar

das einfache Dorf, Verball.: das Kaff

Kaffer

Dummkopf, blöder Mensch

Kalle

Braut

kapores

entzwei

Kassiber = Schreiber, kassibern = schreiben

Kessaw

Schreiben (des Kassibers = Schreibers)

Kessef / Kis

Geld(beutel), Verball.: Kies haben

Kinderlech

Kinderlein, Kinderchen

Knas

Gefängnis, Verball.: Knast

Kol

das Gerücht. ...

Verball.: jemand will uns verkohlen

koscher

sauber, gemäß ritueller Vorschrift

kozin

vornehm, ein Reicher, Verball.: großkotzig

lau

umsonst, schlecht

Lew

das Herz

Macke

Defekt

Maloche // Meloche

Arbeit

Mamtschu

Mutter

Masal // Massel // (ver-masselt)

Glück // (das Glück entzogen)

Maseltow

Viel Glück!

mauscheln, die Mauschelei

ursprünglich: auf jiddisch sprechen, für andere unverständlich. Neuer negativer Inhalt: etwas zu eigenen Gunsten manipulieren

Mazza

ungesäuertes, ungesalzenes Mehlgebäck, sehr dünn, oblatenähnlich . Ein anderes Brot darf z.B. zu Ostern nicht gegessen werden.

Meises

Geschichten

Melamed

Lehrer

Menoah

der neunarmige Leuchter

meschugge, meschuggo

etwas verrückt, sein bekloppt, blöd

Mezie // Mezzie

Schnäppchen, günstiger Einkauf

mies

schlecht

Mischpoche // Mischpoke

Familie // Verwandtschaft

Moo

Pfennig, Geld, Verball.: Moos

Mora

Angst, davon –> „mauern“, sich ängstlich (beim Kartenspiel) zurückhalten

mosern

etwas beanstanden, nörgeln, maulen, motzen

Motek

(mein) Schatz (als Anrede)

Nebbich

ein unbedeutender Mensch, armes Ding

Parnose

bezahlte Arbeit, Broterwerb

Peijes

Schläfenlocken der orthodoxen Juden

Pejsech

Osten?

Peßach // (Passah)

Osterfeier (8 Tage während)

Plajte-gejar

auf der Flucht sein.

Verball.: Pleitegeier

Plajte // Pleite

Konkurs, Bankrott

Pojer

der Landwirt, Bauer

Ponem

das Gesicht

Purim

jüdischer Karneval

Purium

Freuden-Fest des Gedenkens an Königin, Esther, die Haman besiegte, der das jüdische Volk vernichten wollte.

Rabi // Rabbi // Rabbiner //Rebbe

der Lehrer / Prediger

Rabbuni

ein sehr vertrauter Lehrer

Rachmone

Elend

Rama'ut

Betrug mit wertlosem Zeug

Rewach

Gewinn, Vorteil, Verball.: Reibach

Rochus // Roges

Zorn, Wut, Hass

Rosch

Beginn, Anfang –

Verball.: „Guten Rutsch“, zum Jahreswechsel

sachar // sachern // schachern

zocken, unlauterer Handel, Glücksspiel

Schabbat // Sabbat

Ruhepause, siehe daher Samstag

(der) Schadchen

Heiratsvermittler

Schalachmones

Geschenke

Schales

unwichtige Frage

schächten

schlachten, ausbluten (nach ritueller Vorschrift)

(der) Schaute // Schote

Narr, Dummkopf

Scheker // Schekorim

Lüge, „scherzen“

Schekez

Ausdruck der Abscheu für einen jungen nichtjüdischen Menschen

schicker // shiker

angetrunken, Verball.: angeschäkert,

Schicksa // Schickse // von Seq(u)ez

als Schimpfwort für „die Unreine“, z. B. für ein Christenmädchen

schlacha

erschöpft, Verball.: geschlaucht

Schlamassel (siehe auch: Massel)

Unglück, bedrückende Sorge

Schlemiehl

Pechvogel

Schmanzes

dummes Zeug

Schmo(o) // Schmock

unangenehmer Zeitgenosse, Tölpel, Einfaltspinsel aber auch wertloser Schmuck, Tand, Tinnef.

Schmou

Gerücht, Geschwätz

Sch(e)mu (machen)

schummeln, kleiner Betrug, betrügen, umgangssprachlich: Mist bauen

Schmus

(schönes) Gerede

Schnorrer

ein Musikant, der mit der Schnorre // Schnarre durchs Land zieht auch: ein Bettler

schofel(lig)

schäbig, gemein

(die) Schote

spaßige erfundene Geschichte

Schul

die Betstube

Seiwel

Mist, Dreck, auch jemanden übervorteilen. Verball.: im übertr. Sinne: jemanden einseifen

Shegetz

nichtjüdischer, also unsauberer Mann

Shmira // Schmira

die Wache. Verball.: Schmiere stehen.

Stuss

Unsinn, Narretei

Tacheles (reden)

zur Sache kommen

taff // toffte // Töfte // dufte

gut, wunderbar, hervorragend, toll

Taam

Charme, Geschmack, Nuance, Schliff

Tinnef

schlechte Ware

Toches

der Hintern

Tog

Tag

Tohu wabohu

wüst und wirr (leer), Bibel, Genesis 1,2.

unbetaamt (zu Taam)

ungeschickt

Weitschmuser

Telefon, Fernverbindung

Zocken // Zschoken

jemanden ab-zocken, an Glücksspielen teilnehmen, unlauterer Handel

Zoff

Zank, Streit, Hader

Zores

Not





Beispielsatz:

Das jüdische Mädchen ist taff – sie ist wunderbar.

Achiele ist koscher – das Mahl ist sauber (nach ritueller Vorschrift) zubereitet.

Er war toffte in der Achiele – lau in der Meloche.

Er war gut beim Essen – schlecht bei der Arbeit

Der Goi hat Massel – der Nichtjude hat Glück.







Nun gehen wir ins Jahr:

1904

Zum Weihnachtsfest fertige ich für meine Braut einen Nussknacker, aus einem Stück gewalzten Stahls gearbeitet. Es ist eine Mechanikerarbeit aber elektrifiziert habe ich ihn nicht. Dieses "Knackzeug" wird später unsere Tochter Anne-Marie Sommer, verheiratete Janecke, erben und sich noch weit über 100 Jahre später im Haushalt eines ihrer Söhne, meines Enkels Christoph Janecke, befinden. Das alles weiß ich aber noch nicht – erst die Zukunft wird es kennen.


1905 – Das Jahr unserer Hochzeit und der Betriebs-Eröffnung

Nicht nur wir schmieden Hochzeitspläne. In diesem Jahr vermählen sich W+C, welch ein Hohes monarchisches Monogramm! Es handelt sich um den Kronprinzen Wilhelm (* 1882), der die Prinzessin Cecilie von Mecklenburg-Schwerin (* 1886) zur Gemahlin wählt. Geheiratet wird, so erfahren wir allerdings erst später, im Stadtschloss. Für den engeren Kreis der Feierer ist das so genannte Kurfürstenzimmer vorbereitet. Die Trauung findet nicht in der Hofkirche (Friedenskirche) im Park Sanssouci statt, sondern im groß-familiären Rahmen in der Schlosskapelle auf dem Alten Markt. So, da werden wir das Brautpaar kaum zu Gesicht bekommen. Nach der Trauung wird dass Paar gleich nach Hubertusstock entflittern, was jetzt vorher, noch niemand wissen darf. Die Große Feier findet ohne die Hauptpersonen dann im Weißen Saal statt, wo von jeher die Empfänge ausgestaltet werden.

Der Wilhelm sieht noch immer aus, wie ein großer Junge. Die Cecilie, obwohl vier Jahre jünger, also noch 19 Jahre, dagegen wesentlich reifer, eine große elegante Erscheinung (1,82 m groß). Majestätisch!


Unsere eigene Hochzeit (die von „M+M“) findet etwas später, am Sonntag, den 29. Juli 1905 statt. Zuerst waren wir auf dem Standesamt im Rathaus. Zeugen unserer Eheschließung sind mein Vater (73 Jahre alt) und mein Freund, der Elektromonteur Ernst Meyer, 30 Jahre alt, der in Friedenau bei Berlin, Rubensstraße 23 wohnt. Nach dem Standesamt ging es zu der neuen, das heißt, gerade erst sechs Jahre alten Bethlehemkirche zu Neuendorf. (Bauzeit 1898–1899, Architekt v. Tiedemann), also wie üblich zum Wohnort der Braut. Herr Pfarrer Schlunk vollzieht die Trauung. (Karl Christian Friedrich Schlunk, Pfarrer in der Bethlehemkirche von 1891–1915). Alles ist vermerkt im Neuendorfer Kirchenbuch unter der Nr. 34/1905. Es ahnt niemand, dass dieser prächtige Bau nur 40 Jahre stehen wird, denn 1941 wird eine Brandbombe die Kirche treffen und die Ruine der Kirche wird 1952 gesprengt werden. Na, das wird dann schon nach meiner Zeit sein.

Gefeiert wird unsere Hochzeit mit den Gästen dann ein wenig gelöster in der Gaststätte „Jagdhaus Stern“, Großbeeren-Straße Ecke Jagdhausstraße. Der Inhaber, Herr Rindfleisch, hat mit seinen Bediensteten alles aufs Beste ausgerichtet. (Von den Geschenken zur Hochzeit wird auch ein als Unikat gefertigtes Holz-Tablett die Zeiten überdauern, welches wir von meiner Schwägerin Hannchen, Johanna, geb. Runge und ihrem Mann Emil Seehafer geschenkt bekaommen. (Dieses Andenken wird bei meinem Enkel Chris Janecke, den ich vor meinem Ableben nur noch embryonal kennen lernen werde, fleißig benutzt und feiert dort im Sommer 2005 seinen 100sten "Geburtstag"). Von meinem früheren guten Lehrmeister Paul Strecker, der mir noch immer väterlich-freundschaftlich verbunden ist, erhielten wir ein Barometer mit Thermometer geschenkt. Die beiden Skalen zeigen die Temperatur so an, wie die Herren Fahrenheit und Réamur es wollten (und schmückt nach 100 Jahren den Wohnraum meiner Enkelin Anngret). Die meisten Leute wollen die Temperatur dann später nur noch in Graden nach Celsius ablesen und haben schnell alle anderen Skalen und Maßeinheiten vergessen. Ich aber fühle mich nach wie vor mit den Herren Daniel Gabriel Fahrenheit und René-Antoine Ferchault de Réamur recht verbunden und das Umdenken (jeder nach seiner Facon) ist doch sowieso ganz einfach, nicht wahr? Euch zur Erinnerung:


Skala nach …

°F (Fahrenheit)

°Ré (Réamur)

°C (Celsius)

Gefrierpunkt des Wassers

32,0

0,0

0,0

Körpertemperatur des Menschen

98,6

28,4

35,6

Siedepunkt des Wassers

212,0

80,0

100,0


Na also, ist doch einfach – es geht doch!

Doch was ich hier oberflächlich plaudere, ist für mich nur Eigen-Ablenkung. Irgendwie ist es mir jetzt ein bisschen mulmig. Es ist doch eine ganz gewaltige Umstellung für diesen neuen Lebenshauptabschnitt – jetzt und für immer diesen Ring zu tragen.

Als junges Paar mieten wir in der Priesterstraße 68 (nach 1945: Karl-Liebknecht-Straße 121) im Erdgeschoss eine Wohnung, den Laden und Werkstatträume, ursprünglich waren das zwei Wohnungen. Meine Großeltern hatten mit ihren Kindern, darunter also auch mit meinem Vater, bereits um 1850 auf dem Nachbargrundstück Nr. 69 gelebt, als hier ausschließlich Kolonistenhäuser der Weber und Spinner standen. Erst in den späteren Jahren der Gründerzeit errichtete man hier diese großen Häuser, mit vielen Miet-Wohnungen, die sich eigentlich gar nicht so recht in das Ortsbild einfügen aber vom neuen Reichtum der Bauherren künden wollen. Das ist ein "Zug der neuen Zeit". So wurde im neuen Hause 69 die „Gaststätte zur Markthalle“, der Familie Gruhl eingerichtet.

Unsere neue Wohnung erstreckt sich hinter dem Laden mit Durchgangsräumen „als Seitenflügel“ hinein in die Tiefe des Grundstücks in Richtung Auguststraße. Über das Nebentreppenhaus in Richtung des Gartens geht es weiter mit Werkstatt und Kontor, unter dem sich die Waschküche befindet. Eine Raumreihung, fast wie im D-Zug. Na, das kann man, so aufgeschrieben, wohl kaum richtig erfassen. Ich fertige Euch am besten 'mal eine Zeichnung.

Nun wollen wir tüchtig schaffen, schon, um die Miete für das ausgedehnte Areal bezahlen zu können. Für die Elektro-Installation einer einfachen kleinen Wohnung, also Stube und Küche mit 2 Deckenlampenausgängen, 2 Schaltern, 2 Steckdosen, alles auf Putz, kann ich 5,--Reichsmark berechnen. Da muss man schon fleißig von früh bis spät die Hände rühren. Unsere neuen Räume richten wir bürgerlich, schlicht aber gut ein. Ich unternehme jetzt mit Euch einen kurzen Rundgang durch die neue Wohnung (siehe auch bitte meine Zeichnung):


Vor den Fenstern unserer Zimmer setzen wir Lebensbäume, Flieder und Forsythien, ferner Oleander und Kaffeebäume wie auch Yucca-Palmen in Kübeln und einen Rosenbusch -etwa so, wie bei meinen Eltern. Ein reicher floraler Schmuck, der eher an den Park von Sanssouci erinnert, als an den Hof eines Nowaweser Handwerksbetriebes. Das "itzt" blühende Nowawes! So sind wir eben. Zweckmäßig, schön und gediegen soll es sein und alles zu zivilen Preisen erstanden. Um die Pflanzen-Pflege kümmert sich von Zeit zu Zeit Herr Robert Monje, einer der Gärtner aus dem Park Babelsberg. Noch ahnen wir nicht, dass später sein (heute noch nicht geborenen Sprössling, der Ferdinand), bei mir das Elektrohandwerk erlernen wird. „Monje“ ist ein bisschen eingedeutscht und schrieb sich wohl früher „Monier“. Sehr bekannt ist uns dieser hugenottische Name von seinem Berufskollegen und vielleicht sogar familiären Vorfahren, dem französischen Gärtnermeister Charles Monier, der seine Ton-Blumenschalen immer größer und prächtiger fertigte – bis sie auseinander fielen, weil die Materialeigenschaften den hohen Ansprüchen nicht genügen konnten. Dem entgegen zu wirken, legte dieser Klugkopf in den Baustoff geflochtene Bewehrungsdrähte oder auch so genannte Armierungen ein. Ihm zu Ehren wurde diese Erfindung, in späterer Zeit „Moniereisen“ genannt – und damit konnten seine Pflanzenschalen wieder zu weitaus größeren Dimensionen heranwachsen, ohne zu zerfallen. So, und unser Gärtner nennt sich nun aber inzwischen „Monje“, wobei von den Leuten leider das „o“ betont wird und sich das viel wichtigere „é“ total verliert.


Alles war für das Geschäft derweil so gut vorbereitet, daß wir wenige Tage nach der Vollendung meines 30. Lebensjahres, am 1. Oktober 1905 das „Geschäft für elektrische Licht-, Kraft-, Telephon-, Telegraphen- und Blitzableiter-Anlagen“ eröffnen konnten

(Tel. Nowawes 340). Die zum Kaufe werbenden Artikel stellen wir in unserem Schaufenster aus. Das linke Nachbarschaufenster dekoriert Herr Brillen-Schäfer, der dort seine wichtigen Gebrechlichkeits-Hilfsmittel feilbietet und auch ein photographisches Laboratorium betreibt.

Bald kooperiere ich mit einem Berufskollegen zusammen und wir nennen uns während dieser Zeitspanne Firma "Max Sommer & Otto Thomas". Das hält Konkurrenzverhalten vom Leibe und macht theoretisch flexibler. Unsere gemeinsame Filiale mit Werkstatt und dem Material-Hauptlager besteht in der Potsdamer Charlottenstraße 51 (Tel. Potsdam 784) am Bassinplatz, fast gegenüber dem Lusthäuschen, der Gloriette. „Umarmt“ werden wir von der Kirche an sich: (Nr. 48 und 49 das Pfarrheim, Nr. 54 und 54a das Pfarrhaus und das Gemeindehaus der Katholischen Kirche Sankt Peter und Paul). Elektro-Thomas arbeitet und wohnt ansonsten in der Nowaweser Friedrichstraße 8 (spätere Garnstraße 8). Otto Thomas wird mit seiner Frau Helene, einer geborenen Schmidt, letzten Endes sieben Töchter haben. Eine fleißige Leistung zwar, ohne aber vorausschauend und umsichtig für einen richtigen Geschäftsnachfolger in dieser technischen Branche zu sorgen. Nicht wahr? Hm. Ein Jeder ist eben seiner Familie und seines Geschäftes eigner Schmied. So sollte es sein.

In dieser Zeit bringt Osram eine länger "lebende" Lampe mit Wolframfaden heraus, die wir sofort vor Verkauf gründlich in unseren Dauertest geben. Mit gutem Erfolg, so daß wir diese nicht nur anbieten können, sondern es auch wollen, obwohl wir nicht zu viele verkaufen – eben – weil sie schier ewig halten.


Aus dem Jahre 1906, meinem 30. Lebensjahr

Am 10. Februar 1906 endet in ihrem 68. Lebensjahr, die Erdenzeit meiner guten Mutter Marie Elisabeth Sommer, geb. Weltzer, hier in Nowawes, Mittelstraße 9, die am 29. März 1838 in Potsdam als Tochter des Maurerpoliers Karl Weltzer und seiner Ehefrau Christine Friederike Michel geboren war. Schade, daß sie nicht mehr die Geburt und das Wachsen unseres ersten Kindes miterleben durfte. Bestimmt hätte es sie sehr gefreut. Irgendwann aber muss ein Jeder von uns gehen und niemand verfügt über die Macht des Festhaltens.


Zwei Kurzmeldungen künden von Schrecken und Freude:

In Italien bricht erneut der Vulkan "Vesuv" aus, der dort im Jahre 79 die Orte Pompeji und Herkulaneum unter einer vielmeterhohen Schicht von Schutt und Asche begraben hatte.

In Hamburg wird der fertiggestellte Hauptbahnhof dem Verkehr übergeben.


Hurra, ein Stammhalter ist da. So wird's gemacht! Am 05. Mai 1906, gegen 7½ Uhr früh, gebar meine Frau einen Sohn in unserer Wohnung, in der Nowaweser Priesterstraße 68, der die Taufnamen Max Fritz Franz erhielt. Also die Idee für „Franz“ als Rufname, kam nicht von mir. Der Name erinnert mich doch immer zu sehr an Schiller und seine Räuber. Diesen Vornamen mit unterzubringen, darauf legte Margarethe gesteigerten Wert, aus Pietätsgründen ihrem Vater gegenüber. Der Gute fühlte sich genötigt, bei allen seinen Söhnen und sogar bei einer Tochter seinen Namen „Franz“ einzuflechten, was er auch gerne in der weiteren Verwandtschaft beeinflusst. Franz an dritter Stelle im Stammbuch. Meinetwegen. Und keine Feier ohne Freude: Ich behalte mir den Spaß vor, diesen Erfolg etwas umzubiegen und werde den Kleinen in Zukunft ganz einfach „Hans“ rufen, denn der alte Herr Schwiegervater wird bei uns das Sagen nicht haben! „Hans“ wird sich schon „einbürgern“. Bei Margarethe auch! Punktum. (Ein „Hans im Glück“ ist sowieso besser, als „Franz heißt die Kanaille“). Die evangelische Taufe erhält der Junge in der Nowaweser Friedrichskirche bei Oberpfarrer Dessin, am Sonntag, den 29. Juli 1906, am Tag der ersten Wiederkehr unseres Hochzeitstages und Kantor Pohl spielt Orgel und läutet zwischendurch die Glocken. Als Taufpaten wollen dem kleinen Erdenbürger zur Seite stehen: Meine Schwester Marie Sommer, der verwitwete Weber Theodor Steiner, der um meine Schwester Marie wirbt, Frieda Kling, dann noch die ältere Schwester meiner Frau: Johanna Seehafer aus Berlin. Was also kann es Schöneres geben?


Es ist doch kaum zu glauben. Wir ziehen hier brav und bieder Tag für Tag Elektroleitungen und kriegen unter Anstrengungen unsere Kinder aber was machen während dieser Zeit Andere? Kommt da nicht jüngst (im Oktober) so ein armes Schuhflickerchen gradewegs aus Berlin daher und stattet den Altuniformhändlern Berthold Remlinger & Sohn, den in der Potsdamer Mittelstraße 3, einen Besuch ab. Nicht etwa, weil er den kannte – weit gefehlt, möglicherweise ist der bisher nur mit dem Finger auf der Landkarte in unsere Residenz gekommen. Nein, das Individuum besorgt sich dort eine noch regelgerechte, gültige Hauptmannsuniform. Nebenan in der Vernickelungsanstalt Finke (auch „Säbelfabrikation und Militäreffekten“) Kreuzstraße 22, kauft er sodann einen Satz Stiefelsporen. Und das nicht, um etwa zum Kostümfest zu reiten. Nein, ganz und gar nicht. Gabelt er doch tatsächlich dann am 16. Oktober kurzerhand ein paar Soldaten auf und dirigiert sie per Bahn bis zum Rathaus in Cöpenick bei Berlin, wo er den Bürgermeister arretiert und die Stadtkasse mit 3.357 Reichsmark requiriert, die er aber gar nicht wollte. Sagt er. Der edle Mut habe ihn mehr nach Ausweispapieren ausschauen lassen, die aber im Rathause leider nicht vorrätig waren. Der Sinn für teutsche Obrigkeitshörigkeit treibt schon seltsame Blüten – daß so etwas überhaupt gelingen kann. Friedrich Wilhelm Voigt soll er heißen, mit einer Unterschrift „Malzahn“ hat er die Geldquittung gefälscht.

In Potsdam lebte hier auch lange Zeit ein Schumacher Friedrich Voigt aber der kam aus Brandenburg und ist älter. Jener „Cöpenicker Hauptmann“ soll aber aus Tilsit stammen und ein rechter Tunichtgut sein. Nun, zwei Jahre Gefängnis wird er absitzen müssen – zu vier Jahren war er für seine Untat verknackt.

Es hätte mich nun nicht gewundert, wenn dieser Schuster auf dem Wege bei seinem Berufskollegen, meinem Bruder Paul Sommer in der Nowaweser Retzowstraße 3, zumindest auf einen Topp stärkenden Gerstenkafe eingekehrt wäre, um mit ihm über das neue Besohlen der Stiefel und der Gesellschaft zu fachsimpeln.

Zu jenem, meinem großen Bruder, habe ich keinen häufigen Kontakt. Er ist einfach nicht der Typ des Hoflieferanten aus der gediegenen Potsdamer Schuhmacherinnung, sondern eben ein Schustermeester im roten Arbeiter-Nowawes. Er lebt in eher recht einfachen Verhältnissen, vollbringt brav allein sein Tagewerk, und hat auch seinen eigenen Dick-Kopp. Er schwingt allerdings des sonntags auch zu Grammophon und Gesang in kleiner Gesellschaft gern im Hofe das Tanzbein, wie wir wissen. Dabei wollen wir jetzt nicht darüber philosophieren, wer von uns Geschwistern sich nun bei allen Unterschieden als der Glücklichste wähnt.


Der Kaiserliche Hofstaat eröffnet am 2. Juni 1906 nach der Fertigstellung der Machnower Schleuse, mit einer Fahrt der Dampfyacht Alexandria den Teltowkanal. Die Bauzeit dieses großartigen Vorhabens, unter der Oberaufsicht des Landrates unseres Kreises Teltow, Ernst von Stubenrauch, hatte nur fünf Jahre betragen. Nun sind die Havelgewässer mit den Berliner Flüssen Spree und Dahme und damit auch mit deren Seen verbunden.

(Zu seiner Erinnerung wird man Stubenrauch später auf dem Teltower Altstadtmarkt ein Denkmal setzen und gegenüber dem Bahnhof Neu-Babelsberg wird eine Straße, die den Teltowkanal ein kleines Stück begleitet, nach ihm benannt).


Dramatischeres, als aus unserem täglichen Allerlei, gibt es aus der großen Welt zu berichten. Nach dreijähriger Expeditionsdauer hat es der Norweger Amundsen mit seinem Segelschiff "Gjöa" jetzt, 1906, geschafft, die atlantische Nordwestpassage zum Pazifik zu finden. Mehrfach musste er im hohen Norden überwintern, weil das Schiff im Eise festgefroren war.

Wir leben in einer Zeit der großen Erfindungen und Entdeckungen. So auch mit besonderen Erfolgen auf dem Gebiet der Elektrotechnik. Kürzlich wurde ein Elektrogerät vorgestellt, das Schmutz vom Fußboden der Wohnung aufnimmt, ohne diesen aufzuwirbeln. Ein Elektro-Motor mit aufgesetztem Aspirateur befördert den Schmutz in einen Sack. Unter dem Namen "Staubsauger" patentiert. Dieses Gerät werden wir wohl auch bald im Laden feilbieten können. Jawoll. (Bereits 1896 erhielten die Techniker Howard und Taite ein Patent auf eine solche Gerätekonstruktion) – nun ist sie ausgereift.

Zu einem der Großaufträge, an denen unsere Firma mitarbeitet, denn der gewaltige Umfang übersteigt bei weitem das Arbeitsvermögen eines Handwerksbetriebes, gehört die weitere Elektrifizierung des "Neuen Palais" im Park von Sanssouci. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die vielen kostbaren kaiserlichen Leuchter mit ihren Bleiglasbehängen von Wachskerzen auf die modernen Glühlampen in Kerzenform umzuarbeiten, ohne dass diese etwas von ihrer ursprünglichen Schönheit sichtbar einbüßen. (Das ist eine wertvolle künstlerische Arbeit, die aber hundert Jahre später wohl kein Denkmalpfleger mehr schätzt und aushalten will). Dazu gehört natürlich das Aufbohren der Haltearme aus geschwungenem Messingrohr, das Auflöten ungezählter Mignon Fassungen und das Durchziehen der zur Außenisolation textilumsponnenen Litzen mit Hilfe filigraner, weil höchst flexibler Kettchen als Hilfsmittel. Diese Leuchter werden auch als "Kronen" oder "Lüster" bezeichnet. Nachdem diese nun elektrifiziert sind, benennt man die Verbindungsmüffchen für die elektrischen Zuleitungen zwischen dem Deckenausgang der Leitung einerseits, und den Litzen des Leuchters andererseits, eben als: Kronverbinder oder Lüsterklemme. Und auch nach der Elektrifizierung geht der Begriff "Kerze" durchaus noch nicht aus dem Sprachschatz verloren. Man schraubt bei 110–130 Volt elektrischer Spannung beileibe nicht gleich eine Glühlampe mit 40 Watt Leistungsaufnahme in die Fassung ein, sondern bezeichnet sie vorerst als eine 40-kerzige Lampe, nachdem man der Leistung einer Wachs- oder auch Stearin-Kerze ungefähr ein Watt zugemessen hatte.

Für die im Gebäude fest verlegte Anlage finden natürlich keine Litzen, sondern Kabel aus massivem Draht Verwendung. Viel Geschick erfordert auch das (nachträgliche) Installieren der Zuleitungen hinter den Seidentapeten und an den empfindlichen Raumdecken mit ihren filigranen Schmuckelementen, beispielsweise aus Gips oder vergoldetem Holzschnitzwerk, denn eine Verlegung auf Putz, also "Freileitungen", die gibt es nur im einfacheren Bürgerhaus. Die Leitungen sind mit Guttapercha isoliert, einer dem Kautschuk ähnelnden Masse aus dem Saft des in Malaysia beheimateten Guttaperchabaumes. Die ersten erfolgreichen Versuche mit einer solchen Elektrodraht-Isolierung fanden vor etwa 60 Jahren statt und werden den Forschungen um Werner v. Siemens zugeschrieben. Außer in unserem Handwerk findet diese Masse auch bei der Herstellung von Schläuchen und gummibeschichteten Geweben Anwendung.

Bei der Tätigkeit im Neuen Palais habe ich, wie manch anderer auch, öfter Kontakt mit der kaiserlichen Familie, die für den, bitte sehr, zügigen Fortgang der Arbeiten stets reges Interesse zeigt. Allerdings hält Kaiser Wilhelm II. sich im Allgemeinen per Distanz und lässt Wünsche oder eher Anordnungen, so selten diese auch kommen, von einem Bediensteten übermitteln. Seine Kaiserliche Hoheit geruhen daselbst nicht direkt mit den Handwerkern zu parlieren. Seine Frau, Kaiserin Auguste Viktoria, hingegen, erkundigt sich bei kurzen Gesprächen auch warmherzig nach dem Ergehen der Familien und nach der persönlichen Meinung zu sozialen Problemen der Zeit. Der jüngste Sohn der Kaiserlichen Hoheiten, Prinz Joachim, führt täglich die höchst herrschaftlichen Hunde aus. Allerdings handelt es sich nicht mehr um Windspiele, wie bei Friedrich II., die noch auf das Wort Ihres Herrn hörten. Im Hause von Wilhelm II. hält man eine kaiserliche Teckelmeute, von denen wohl jeder lieber seinen eigenen Kopf und damit auch seine eigene Wegewahl durchsetzen will und sie daher mehr durcheinander laufen, als gemeinsam vorwärts zu streben. Wieder eingefangen und am lockeren Nackenfell in die Höhe gehalten, ruft Prinz Joachim mehr als einmal, halb belustigt, halb verzweifelt über diese Bande, die sich seiner subtilen Autorität wie üblich erfolgreich zu widersetzen sucht: "Sehen Sie sich doch einmal dieses Geflöhe an, Sommer" (wohl nach dem Geflügelten Wort: "Einen Sack Flöhe hüten").

Prinz Joachim ist siebzehn Lenze jung, ich bin inzwischen 32 Jahre alt und trage, wie es in bestimmten Kreisen üblich ist, einen Wilhelm II.-Bart. Auf solch kleine Episoden, wie damals an der Matrosenstation oder wie eben geschildert, beschränken sich dann aber auch im Wesentlichen die "Beziehungen zum Hof". Nur meine großen Schwestern, die Schneiderin Hedwig Knoll und die Näherin Marie Steiner, stehen in einer freundlichen Verbindung mit der Kammerdame (später Hofmeisterin und noch später Hofstaatsdame) Fräulein Claire von Gersdorff, die sich gemeinsam in dem Handarbeitskreis zur Hilfe für arme Kinder engagieren und kostenlos Kleidung herstellen, wie auch flicken. Natürlich reden sie dabei allerlei, was über den üblichen Umfang von „Kinder, Küche und Kirche“ hinausgeht. Fräulein v. Gersdorff ist eine natürlich-lebhafte Frau, vielseitig interessiert, musikalisch. Sie ist talentiert im Zeichnen und spricht fließend französisch und englisch. Das Deutsche beherrscht sie selbstredend ganz vorzüglich. Fräulein v. Gersdorff ist gerade vier Jahre älter als meine Schwester Hedwig (Knoll), zehn Jahre älter als Schwester Marie (Steiner), jetzt also 48 Jahre alt. Als sie im Jahre 1881 den Dienst bei der Kaiserin antrat, war sie 22 Jahre jung. Sie lebt mit den anderen beiden Hofdamen der Kaiserin, Oberhofmeisterin Gräfin Brockdorff und (der späteren) Hofstaatsdame v. Keller im Hofdamenhaus. Später im Ruhestand aber findet sie ihr Unterkommen in der Breiten Straße im Ständehaus (dem späteren Museum). Alle drei werden vom Kaiserhause auf dem Bornstedter Friedhof, an dessen südwestlichem Ende, zur letzten Ruhe beigesetzt werden. Allzu viel wird sie von ihrem Leben als Fräulein dann auch nicht gehabt haben, als es im Dienste bei der kaiserlichen Familie zu verleben. Ohne Ehemann, ohne eigene Kinder aber stets dem Höfischen verpflichtet, kann es ein Opfer sein, selbst wenn es einem äußerlich an nichts mangelt.

Am 19. August wird in Nauen die Großfunkstelle der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie (von der Firma Telefunken) in Betrieb genommen. Die Sendeleistung, von dem 100 m hohen Sendemast abgestrahlt, reicht gut auch bis in die 1.350 km entfernte Stadt Sankt Petersburg.


1907

Eine große, weitere Neuerung für Potsdam, wegen des Lichterfelder Vorbildes schon lange erwartet: Am 2. September 1907 wird die bisherige Pferde-Straßenbahn durch elektrische Maschinenwagen abgelöst. Ein Ereignis: Pferdebahn ganz ohne Pferde, die deshalb fortan nur noch kurz "Die Elektrische" genannt wird. Mit Guirlanden bekränzt, fahren die ersten Maschinenwagen ihre Runden, begleitet von atemlosen begeisterten Fußgängern, die zu Schnellläufern werden und Radfahrern, wie auch von wohl irritierten Hunden, die sich mit ihren Kommentaren nicht zurückhalten können, ohne dass dies die Bahnen anficht. Anfangs hängt man als "Beiwagen", wie die Anhänger bezeichnet werden, Wagen der bisherigen Pferdebahn an. Quasi in nur einem Jahr war das gesamte neue Straßenbahn-Gleisnetz geschaffen worden, bei vollständiger Aufrechterhaltung des Betriebes der Pferdebahn, die ja die gleichen Straßenzüge benutzte. Eine beachtliche Leistung!

Am 6. Oktober 1907 gründen Künstler, Fabrikeigner und Handwerker in München den "Deutschen Werkbund". Der Verein setzt sich für die ansprechende Gestaltung von Massenartikeln ein. Werkbund-Architekt Peter Behrens entwirft für die Allgemeine Elektrische Gesellschaft (AEG), deren Präsident der Herr Rathenau ist, die Formgebung für Leuchten und Haushaltsgeräte. Na, das ist doch auch 'was für uns. Er fertigt ebenfalls gleichzeitig die dazu gehörenden Werbeplakate für die Verkaufsmessen und für die Schaufenster der Geschäfte.


1908

Die Zeitung berichtet, dass im kaum bewohnten Sibirien ein Meteorit, also der Kern eines Kometen, niedergegangen sei, der einen Durchmesser von circa 30 Metern gehabt habe. Bei dessen abstürzender "Landung" soll die Waldgegend in etwa 40 km Umkreis(!) verwüstet worden sein. Der Meteorit selbst, konnte aber nicht aufgefunden werden. Schier unheimlich!

Am Wannsee ist am 01. Mai das erste Familienfreibad Europas eröffnet worden. Das bedeutet auch, der Schutzmann wird nicht mehr darauf achten müssen oder besser – er wird nicht mehr fordern dürfen, dass Männer und Frauen in leichterer, geschürzter Kleidung immer durch eine Bretterwand voneinander getrennt frische Luft schnappen und planschen. Ho, Ho, welch neuartige Freizügigkeit! „Ich hab’ das Fräulein Helen, baden seh’n, das war schön“, wird geträllert. Das wird ja wieder ein weites Studienfeld auch für Meister Zille sein.

Die Stadt Nowawes-Neuendorf trifft Vorbereitungen zum Umbau der erdgleichen Bahnanlagen. Die Preußische Stammbahn soll künftig die Bergstraße, die Eisenbahnstraße, Bülowstraße, Anhaltstraße, den Schützendamm usw. überbrücken und also Zehlendorf und weiterhin Berlin, auf einem Hochdamm kreuzungsfrei entgegeneilen, der die Lindenstraße von der Retzowstraße künftig optisch voneinander trennen wird. Hoffentlich bleibt die Bahn auch oben – siehe das Unglück an der Brücke des Bahnhofes Friedrichstraße in Berlin. Bis dahin ist es aber noch Zeit, soviel Zeit, dass vorerst hier in der Eisenbahnstraße ein Fußgängertunnel mit gefliesten Wänden unten und Glaskasten oben, angelegt wird, um die Strecke an dieser Stelle zu Fuß jederzeit schrankenlos unterqueren zu können. "Gewächshaus" wird diese gläserne Tunneltreppenüberdachung sogleich von den Einwohnern getauft. 1911 wird dann die Bahndamm-Aufschütterei beginnen und schon 1913 soll alles fertig sein, so dass der schöne neue „Untergang" dann bereits wieder begraben, zugeschüttet werden kann.


Unsere beiden Firmen „Sommer“ und „Thomas“ wirtschaften zwar noch immer nah beieinander aber lieber wieder friedlich getrennt, stellten sich doch en Detail unterschiedliche Ansichten der Chefs über die Betriebsführung heraus. Otto Thomas war mir bei manchem oekonomischen Problem zu leichtlebig (trotz seiner vielen hungrigen Mäuler), das heißt, im Wirtschaften schien er meinen Ansprüchen nicht immer sorgfältig genug folgen zu wollen.

Er hingegen bezeichnete mich mehr als nur einmal in den buchhaltérischen Belangen, als einen trockenen und peniblen Krümelkacker, der außerdem gedanklich sowieso in höheren Regionen schwebe. Ja, genau so waren seine ehrenkränkenden Worte, als ich bei der Inventur darauf bestand, dass natürlich auch die Kleinmaterialien, wie z. B. die Kabelschellen, gezählt werden müssen. Solcher Beispiele gab es mehrere! Das wäre auf Dauer nicht gut gegangen. Nun ja, jeder soll nach seiner Facon selig werden. Aufträge haben wir einzeln wirtschaftend auch genug. Es hatte sich damals bald herumgesprochen: Wir arbeiten mit promptester Bedienung, rundum zuverlässig und sauber, weitgehend zu den Wunschterminen der Kunden, wie außerdem zu zivilen, das heißt: mäßigen Preisen.


Nachrichten aus dem Jahr 1909

Es erreicht uns die traurige Kunde, dass unser Vater, der Schuhmachermeister Karl Johann Friedrich Sommer jun., der nun schon seit drei Jahren als Witwer lebte und vor geraumer Zeit in die neumärkische Kreisstadt Reppen (jenseits der Oder) gezogen war, dort am 28. Juni verstorben ist. Ein von Arbeit erfülltes Leben. Am Sonntag, den 13. November 1831 hatte er in Potsdam erstmals das Licht der Welt erblickt und ist 77 Jahre alt geworden. Zum Glück war er nicht von längerer Erkrankung geplagt oder gar von Siechtum gezeichnet.


Inzwischen bauen wir unseren Betrieb hinsichtlich der Anzahl der Gesellen etwas weiter aus. Wie ja bekannt, verfügen unsere Elektro-Monteure für den Transport des Materials über einen grundsoliden Handwagen. In den verschließbaren Holzkisten mit den Abmessungen

70 x 50 x 50 cm bewahrt jeder Monteur das Kleinmaterial auf. Jede Kiste ist mit einem Tablett-Einsatz ausgestattet, der das Handwerkzeug aufnimmt. Im Deckel der Kiste listet das Inhaltsverzeichnis die Werkzeuge auf. Eine tägliche Selbstkontrolle zum Arbeitsende auf Vollständigkeit ist also nicht nur vorgegeben, sondern auch leicht zu vollziehen. Des Weiteren gehört zur Ausstattung jeden Monteurs eine Stehleiter, die er beim Transport zum Einsatzort, liegend auf den Handwagen schnallt. Dem Monteur obliegt selbstverständlich die sorgfältige Pflege der Werkzeuge. Wagen, Kiste und Leitern erhalten jährlich einmal einen frischen maschinengrauen Anstrich. Der Eindruck unsauberer oder gar verschlissener Arbeitsmittel wäre dem Ruf des Geschäftes und unseres Namens abträglich und wird nicht geduldet.

Auch das äußerlich untadelige Aussehen des Elektro-Monteurs bezüglich seiner Kleidung und Haartracht, sein anständiges, zurückhaltendes aber gleichwohl zuvorkommendes Wesen, gehören als Bedingung zum Auftreten eines Lehrlings oder Gesellen, will er in unserer Firma angestellt sein und bleiben.

Nach dem Abschluss eines jeden Auftrages schreibt der Geselle die Materialverbrauchs- und Zeitbedarfs-Abrechnungen, die in Summa letztendlich mit der Jahresinventur in Übereinstimmung zu stehen haben. Ordnung im Denken und Handeln ist eine wichtige Grundlage jedes zuverlässigen und akkuraten Geschäftes.


In England wurde jetzt ein ganz neues, künstlich hergestelltes, formbares, leichtes und elektrisch isolierendes Material erfunden und so etwa nach seinem geistigen Vater, dem Mister Baekeland benannt. Es heißt "Bakelit". Mal sehen, was das Zeug hält und ob es eventuell auch unser sehr schweres Armaturenporzellan ablösen könnte. Allerdings sieht das neue Material weniger gut aus, schwarzbraun ist es. Unseren bisherigen Bauteile dagegen sind strahlend weiß. Na ja, keine Rose ohne Dornen.

Auf Einladung des Kaisers bietet Orville Wright im Militärareal "Bornstedter Feld", als Aviatiker, wie er sich nennt, mit seinem Aeroplan Flugvorführungen in einer den Atem beraubender Art an (in Amerika, woher er kommt, hat man noch nicht die Lilienthalschen Begriffe "Flugzeug" und „Flugzeugführer“ übernommen). Er "schraubt" sich mit der Maschine in Spiralen über unseren Köpfen hinauf zum Höhenrekord von über 300 Metern und, wir haben längst einen schmerzenden Nacken, kreist bereits über eine Stunde ununterbrochen in der Luft. Vor sechs Jahren, am 17. Dezember 1903, ich erwähnte es bereits, war ihm und seinem Bruder Wilbur der erste kurze Motorflug der Menschheit mit einem Doppeldecker gelungen. Und inzwischen dieser gewaltige Aufschwung!

Auch unsere Prinzen Sigismund und Karl versuchen sich tüchtig im Fliegen. Viel mehr stellt allerdings Hans Grade (1879–1946) auf die Beine, beziehungsweise auf die Räder. Er hatte 1900 bis 1904 die Technische Hochschule in Charlottenburg besucht (dort, wo auch Prof. Dr. Slaby unterrichtet). Seinen Betrieb gründete er, wie ich, 1905. Er baut selbst Flugzeuge, zuerst in Magdeburg, jetzt im märkischen Bork, die er bis nach Ägypten und Japan verkauft. In der Flugschau hielt er sich neulich länger als vier Stunden in der Luft. Ich denke, er steht den amerikanischen Wrights im Können und der Ausgereiftheit seiner Maschinen in nichts nach! Ja ja, der Hans, da fühlt man doch irgendwie eine Seelenverwandtschaft. Seine Lebensspanne wird etwa der meinigen gleichen.


Neues aus dem Jahr 1910

Funk-Sendungen empfangen wir mit Kristalldetektoren und Kopfhörern. Die Hörer legen wir zur Ton-Verstärkung in die trockene Waschschüssel aus emailliertem Blech, damit jeder der umstehenden Personen das blechern angeregte Summen der Sendung vernehmen kann. Die Schüssel ist ein hinlänglich verstärkender Schalltrichter. Es gibt inzwischen schon mehr zwischen Himmel und Erde, als man noch vor einigen Jahren zu träumen wagte.

Kürzlich kam eine elektrische Maschine als Hilfe bei der Küchenarbeit auf den Markt. Viel Technik und viel Reinigungsaufwand. Man bräuchte einen zweiten kleinen Küchenschrank zum Unterbringen der Zubehörteile, wenn man an die weitere beabsichtigte Entwicklung von Zusatzgeräten denkt. Aber wir werden uns diesem Problem, vielleicht als Verkaufsgut, widmen.

Bruno Hans Bürgel veröffentlicht sein Buch "Aus fernen Welten – eine volkstümliche Himmelskunde", in dem er uns Laien verschiedene Begriffe der Astronomie plausibel nahe bringt. Bürgel ist im gleichen Jahr geboren wie ich, am 14. November 1875 im Berliner Scheunenviertel. (Später weiß man, dass er mich um drei Jahre überlebt und auch auf dem Babelsberger Friedhof in der Goethestraße, nur wenige Schritte von unserer Stelle entfernt, zur letzten Ruhe gebettet wird).

In diesem Jahre kamen der Potsdamer "Rat der Magister" (Magistrat) und die Mitglieder des Luftschiff-Vereins überein, in der Pirschheide am Templiner See der Havel, eine Luftschiffwerft zu errichten. Nicht jede dieser neuen Schiffswerften wird jedoch so nah' am Wasser gebaut. Bereits bald darauf bereiten die Arbeiter und Ingenieure die Start- und Landeeinrichtungen vor.


1911

Schon ein Jahr später, kann am 9. September 1911 das Luftschiff "Schwaben", mit Dr. Hugo Eckener als Kapitän, landen. Das Schiff hat die stattliche Länge von 140 m und fasst 17.800 m³ Wasserstoff-Gas für den Auftrieb. Die Motoren leisten 435 Pferdestärken. Der allseits umjubelte General der Kavallerie a. D., Ferdinand Graf von Zeppelin, der Entwickler dieses Typs starrer Luftschiffe, wohnt derzeitig in der Potsdamer „Villa Stadtheide", in der Neuen Luisenstraße. Der Mann kann tatsächlich weitaus mehr, als reiten und schießen. Mit letzterem muss man angesichts der empfindlichen Gerippehülle und wegen der Eigenschaften des Wasserstoff-Gases ohnehin sehr zurückhaltend sein. Das Luftschiff Hansa, noch größer und stärker, als die eben vorgestellte süddeutsche Vorgängerin, wird ihre Unterkunft in der 1912 fertig zu stellenden Luftschiff-Doppelhalle finden. –

1911 konstruiert Wilhelm Maybach ein Auto, das nach der Tochter des Financiers "Mercedes" benannt wurde. Ein Name voller Stolz. Beängstigender hört sich da die Entwicklung eines Kampfwagens an, den Herr Burstyn, der englische Konstrukteur, als Geheimbezeichnung "Tank" nennt (die frühe Form eines Panzers). Mit dieser auf Endlos-Ketten fahrenden Metall-Festung sollen Kriege wohl noch schrecklicher oder völlig anders geführt werden können. Nicht mehr Mann gegen Mann, sondern die stählernen Ungetüme gegeneinander? Und mit Kanonen ausgestattet, um auch Tanks der Gegner beschießen zu können. Eine schier unwirklich anmutende, nicht erstrebenswerte Vision. Und woher kam diese unselige Entwicklung? Für schwere Böden und für mehrere Ackergeräte, die gemeinsam in einem Arbeitsgang gezogen werden sollen, hatten die Engländer Roberts und Hornsby vor acht Jahren den ersten brauchbaren Kettenschlepper (die „Raupe“) entwickelt. Schon bald hatte Burstyn diesem also seine Unschuld genommen und wir haben nun den Salat: Eine neue Kriegsmaschinerie.

Im Juni 1911 gewinnt der Bornstedter Pfarrerssohn Werner Alfred Pietschker mit seinem Albatros-Doppeldecker, in Johannisthal bei Treptow zwei Flug-Weltrekorde.15 Piloten waren mit ihren Flugmaschinen angetreten. Die Behörden schätzen die Zuschaueranzahl auf ungefähr 600.000 Personen. Pietschker wird aber leider danach, am 15. November, bei einem Absturz über dem gleichen Flugplatz tödlich verletzt. Sowohl die Siege, als aber auch den viel zu frühen Tod des 24jährigen Flugpioniers erlebt dessen Vater nicht. Der Pfarrer

Dr. Carl Pietschker war schon 1906 im Alter von 60 Jahren gestorben. So musste die Mutter Käthe, eine geborene v. Siemens, den Schmerz des Verlustes mit dem jüngeren Sohn Arnold tragen. Aber von einem weiteren Schicksalsschlag wird sie nicht verschont bleiben: Frau Pietschker wird erfahren müssen, daß ihr Jüngster in der ersten Woche des Weltkrieges (am 6. Sept. 1914, mit 20 Lebensjahren) beim Einmarsch der deutschen Armee in Frankreich fällt. Die Mutter wird bis 1949 in Potsdam leben und das 87. Lebensjahr erreichen. Der Heimatstadt Potsdam stiftet sie zum Gedenken an ihren ersten Sohn, das "Werner-Alfred-Bad", das sie in der Kaiser-Wilhelm-Straße (spätere Hegelallee) errichten lässt.

Die junge Filmgesellschaft "Bioscop" kauft ein großes Stück des Brachlandes der alten Kunstblumenfabrik gegenüber dem Lokomotivwerk an der Großbeerenstraße. Trotz des ungewöhnlich heißen Sommers in diesem Jahr wird dort sehr zügig gebaut. Schon im kommenden Jahr sollen hier Filme gedreht werden.

Wissenschaftler finden im ewigen Frostboden Sibiriens ein vollständig erhaltenes Mammut. Nicht etwa nur ein Skelett. Eine aufregende Entdeckung dieses Zeugen längst vergangener Zeiten. Man möchte direkt eine Wiederbelebung anregen, wäre das nicht purer Unsinn.

Am 15. Dezember 1911 erreicht Roald Amundsen (geb. 1872, er ist also knapp drei Jahre älter als ich) mit seiner Expedition den Südpol der Erde. Im Januar 1912 schafft es auch der Brite Scott mit seinen Männern, dieses Ziel zu erreichen. Letzterer kommt mit seiner Gruppe jedoch auf dem Rückweg bei diesen schier übermenschlichen Anstrengungen um, kurz vor dem Erreichen des schützenden Biwaks. Dramatische, lebensbedrohende Strapazen stecken hinter dieser nüchternen Zeitungs-Meldung. Der ruhelose Amundsen ist, so er wieder etwas Geld auftreiben kann, immer unterwegs zu abenteuerlichen Forschungsreisen höchsten Ranges.

Erste hochseetüchtige Motorschiffe, mit Dieselmotor ausgestattet, werden in den Dienst gestellt.

Ein regelrechtes Fieber, immer weitere, neue Automobile bauen zu wollen, greift um sich. So stellt Firma Miele jetzt nicht mehr nur grundsolide Geräte für den Haushalt her, sondern ebenfalls Fahrzeuge.


Depeschen aus dem Jahr 1912

Am 15. April 1912 ereignete sich nachts ein schreckliches großes Unglück. Der neueste, vornehmste und größte Luxusdampfer "Titanic", bei "Harlandt und Wolff" in Belfast im Auftrage der "White Starline Shipping Compagnie" gebaut, eines der drei Schwesternschiffe Titanic, Olympic und Britannic, mit jeweils 60.000 t Wasserverdrängung, rammte auf der Überfahrt von England in die USA, im Nordatlantik einen Eisberg. Es handelte sich um die Jungfernfahrt des Schiffes, unter Leitung des Kapitäns Edward John Smith. Das Unglück geschah nach nur viereinhalb Dienst-Tagen dieses Neubaus. Das scharfkantige Eis schnitt die dicken Stahlplatten des Schiffes längs auf, als wären diese aus Papier, so dass die Abschottungen wirkungslos blieben und das Schiff sank. Es war nur eine viel zu geringe Anzahl von Rettungsbooten vorhanden, weil das moderne Schiff ja für unsinkbar gehalten wurde. Die Rettungsboote waren zudem nur etwa mit der Hälfte ihrer Personen-Aufnahmefähigkeit ausgelastet, weil man an dem Irrglauben hing, mit voller Beladung würden beim Abhieven die Taue reißen. Von etwa 2.207 Passagieren konnten nur ungefähr 712 Menschen gerettet werden. Ein ohne Vergleich schlimmes Ereignis. (Noch nicht ich aber die spätere Zukunft weiß: Erst im Jahre 1985 werden Taucher das zerrissene Wrack in 4000 Metern Tiefe finden und man wird über die Tragödie im Laufe der Zeit bis zur Jahrtausendwende vier Filme gedreht haben).

Und doch gibt es auch so viel Schönes: Gerade wurde die Urlaubsgeschichte von Tucholsky: "Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte" verlegt. (Wir wissen, daß dieses Buch später auch noch verfilmt wird).

Im sogenannten Kaiserwahlkreis, "Potsdam-Spandau-Osthavelland", hat die SPD als Reichstagsabgeordneten den Rechtsanwalt Herrn Dr. Karl Liebknecht aufgestellt. Er macht mit sehr weitgehenden Forderungen von sich reden, welche die Regierung trotz vieler fortschrittlicher Entscheidungen, durchaus nicht alle als erfüllbar ansieht. Abgeordnete bestimmter anderer Parteien betrachten diese Forderungen sogar als Frechheiten, vielleicht ist er damit aber auch nur der Zeit voraus? Nicht in jedem Punkte leicht zu entscheiden.

Es stirbt Karl May, der schillernde und umstrittene Schriftsteller, der (vor allem im Gefängnis sitzend) packende Geschichten um nordamerikanische Prärie-Indianer und über Geschehnisse im Orient verfasste – über Menschen und Landstriche, die er nie besuchen konnte. Er war 1842 im Königreich Sachsen geboren.


1913

Hm, hm. Das Neumodische der Zeit treibt doch seltsame Blüten. Zwängten sich doch die "besseren Frauenzimmer“ schon seit Jahrhunderten in Korsagen mit Fischbeinformern, Schnüren, Haken und Ösen (wir aber wissen ja, dass es sich beileibe nicht um Fischgräten oder gar um Fischbeine handelt, sondern um die hornartigen Spangen der Bartenwale, die dazu dienen, das Futter vom Wasser zu trennen). Jene werden nun von federnden Stahlnetzgerten abgelöst, bei den jüngeren Frauen zumindest in leichteren Korselettes verarbeitet, um mit dem luftabschnürendem Schein, vermeintliches Sein vorzugeben. Momentan aber ist "der letzte Schrei" das Tragen von formgebenden Körbchen oder Körben (je nach natürlicher Ausstattung der Eigentümerin und damit ja auch den statischen Notwendigkeiten Rechnung tragend). Die wohl so genannten Brüstehalter sind erfunden. Später höre ich allerdings, dass es so etwas, bloß pikanter gefertigt, auch schon im Altertum gegeben haben soll. Eben, in der Mode wiederholt sich mit viel Aufsehen alles 'mal wieder. Damit nicht genug: Zwar natürlich nicht Margarethe aber verschiedene andere Frauen tragen, um es auf die Spitze zu treiben, sehr enge Röcke (Humpelröcke genannt), in denen (nomen est omen) kein vernünftiger Mensch richtig ausschreiten kann. Wie kaum anders zu erwarten, erscheint auch prompt erstmals ein Leitfaden, der dem helfenden Laien Ratschläge gibt, wie Verunglückten medizinisch zu helfen sei (wird aber nicht mit dem Rock, sondern im Buchhandel verkauft) und gilt auch für die Erste-Hilfe-Anwendung in vielen anderen gar misslichen Lebenslagen.

Herr Prof. Dr. Albert Schweitzer, der Arzt, Philosoph, Theologe und Musiker (speziell Orgel) hat in diesem Jahr die Arbeit in einer Missionsstation im Urwald des afrikanischen Landes Französisch-Kongo (später Gabun genannt), im Dorf Lambarene am Flusse Ogowe aufgenommen, um in der Einsamkeit des Buschs, unter großen Entsagungen und Opfern, den Ärmsten zu helfen, ihnen seine Medizinkunst zu widmen. Alle Achtung! Ein toller Mann! Wie ich, wurde auch er im Jahre 1875 (am 14. Januar) geboren. Ein Leben voller guter Werke.

Seit 1895 wurde bei dem Dörfchen Probstheida, in der Nähe von Leipzig, am Völkerschlachtdenkmal gebaut. Nun ist es fertig und erinnert uns anhaltend an die Befreiung von der damaligen französischen Besetzung und Unterdrückung. An der entscheidenden mehrtägigen Schlacht waren 500.000 Soldaten aus mehreren Staaten beteiligt, die letztendlich die französischen Truppen vernichtend besiegten und versprengte Reste retour bis nach Paris trieben. Der statische Teil des Bauwerkes ist aus Beton gefertigt aber außen, einschließlich des figürlichen Reliefschmucks, mit heimischen Granitplatten verkleidet. 91 m hoch ist das Denkmal und 300.000 t Masse brächte dieser Koloss auf die Waage – wenn das ginge. Nachhallzeiten des Schalls betragen im Inneren bei Gesang bis zu 20 Sekunden! Kosten des Denkmals: 6 Millionen Reichsmark. Besucht es doch auch einmal. Konstruiert hat es übrigens der gleiche Architekt, der das Kyffhäuser-Monument entworfen hat, das 1896 eingeweiht wurde. Schmitz' Bruno. Bruno Schmitz aus Berlin.


1913, am Sonntag, den 06. Juli, erblickte vormittags gegen 8½ Uhr in unserer Wohnung das zweite kleine Menschenkind unserer Familie das Licht der Welt. In der Taufe, die wiederum in der Friedrichskirche stattfand, erhielt das Mädelchen die vorher von uns ausgewählten Namen Margarethe Anna-Marie. Wir wollten sie aber nicht Hanne rufen wie man es, dem großen Bruder nachempfunden, meinen könnte, sondern, sie wurde fortan „Anni“ geheißen. Gute Freunde gewannen wir als Paten: Schwipp-Schwager Emil Seehafer aus Berlin, also den Mann der Schwester meiner Frau: Johanna. Des Weiteren unseren Freund, den Potsdamer Stadtarchitekten Paul Muster sowie seinen Kollegen, den Architekten Hermann Blohm, Ferdinand Pehlke und Ernst Meyer vom Nowaweser Bauamt. Mit allen habe ich immer mal beruflich zu tun. Zur Taufe suchten wir wieder ein besonderes Datum aus. Wir wählten den 21. September, meinen Geburtstag, der in günstiger Weise auf einen Sonnen-Sommer-Sonntag fällt und an dem Herr Ober-Pfarrer Dessin, Säuglingin Anni in die evangelische Gemeinde zu Nowawes aufnimmt. Nun wird es in unserem Hause immer lebhafter. (Anne-Marie Sommer, später verehelichte Janecke wird die Mutter von Chris Janecke werden, der diesen Bericht hier zusammenschrieb).


1914, Beginn des Ersten Weltkrieges

Man hätte meinen können, die verhältnismäßige Zufriedenheit und das fleißige Streben des Volkes sollte dauernd ungestört anhalten dürfen. – Leider aber ziehen am Himmel über unserem lieben Heimatlande dunkle Wolken auf und das Haus der K. u. K.-Monarchie, angefeuert durch die Generalität in Verbindung mit verschiedenen Interessen der Großindustrie, unternimmt leider den entscheidenden Zug, die Landeskinder gegen andere Völker zu schicken, auf dem (Schlacht)-"Feld der Ehre" im Blute ausbaden zu lassen, was die Hirne der Regierenden zur Vertretung der "Interessen Deutschlands" im Auslande vorsehen. Wir werden eine gar bittere Suppe auszulöffeln haben, bei deren Vorbereitung niemand recht ermessen konnte, wie tief eigentlich das Gefäß ist ... und es hatte – für alle Beteiligten – eine viel zu große Tiefe, wie man erst später wissen wird. Ein Weltkrieg, mit manchen Einflüssen für den Ausbruch, letztlich ohne Not angefacht von Deutschland, dessen verheerende Wirkungen man bis dahin vergeblich in der Geschichte sucht.

Am 31. Juli 1914 ruft der Kaiser die Mobilisierung Deutschlands für die "Verteidigungssituation" aus. Kriegsrecht, Soldatenaushebung, Zensur der Pressestimmen, Einschränkung von Versammlungen und Verbot politischer Veranstaltungen, gehören zu den Sofortmaßnahmen. "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche", ruft der verunsicherte, von den sich verselbständigenden Ereignissen überrannte Kaiser und es war nur noch ein kleiner Schritt, eine kurze Zeitspanne bis zur ersten, wohl schon längst vorbereiteten Kriegserklärung. Bereits in den ersten Kriegstagen starben viele, so auch eine Anzahl von Potsdamern, unter ihnen, wie schon erwähnt, des Pfarrers jüngstes Kind, Arnold Pietschker aus Bornstedt. 20 Tage nach ihm, auch noch im September, war Hermann Löns, der bekannte Dichter, vornehmlich von Tier- und Jagdgeschichten aus der Heide, mit 48 Jahren Lebensalter unter den Toten. Nur zwei Beispiele von Tausenden. Von Millionen. Und mit welcher Begeisterung waren doch viele in den „gewiss kurzen und siegreichen Krieg“ gezogen. –

In der Schlacht bei Tannenberg gehen allein 96.000 Russen in die Gefangenschaft. Die masurische Winterschlacht brachte 100.000 russische Gefangene. Wozu der Irrsinn? Kein Grund für einen Siegestaumel. Schließlich bekämpfen wir diese Menschen nicht als Eindringlinge in Deutschland, sondern deutsche Soldaten sind auf diesen von der Heimat weit entfernten Kriegsschauplätzen zugange, um dort für Kaiser, deutsches Volk und unser Vaterland zu kämpfen? Sind da nicht Zweifel trotz eindeutiger Befehlslage erlaubt? Sind nicht erlaubt. Sind aber da. Gott, hilf uns, dass die Soldaten wieder nach Hause kommen. Warum rücken wir IHM, dem fast Vergessenen, jetzt wieder näher? Warum sind die Menschen noch nicht imstande, sich selber vorbeugend gegen den Ausbruch von Kriegen zu helfen?

Rumpler, ebenfalls ein Flugpionier, stellt seine Kenntnisse in den Kriegsdienst (was hätte er in seinem Fach auch sonst weiter tun können, außer vielleicht mit einem Handkoffer für Zeiten zu verreisen, zu desertieren? Versuchsweise.) Er baut nun Kampfflugzeuge. Vorsichtshalber zweimotorige. Eben für alle Fälle. Wir wissen ja: Diese noch immer mit Stoff überzogenen Gerippe. Sie bekämpfen sich jetzt in der Luft. Rumpler überlebt diese Zeit.


Notizen aus dem Jahre 1915

Bald schon folgen kriegsbedingt deutlich spürbare Einschränkungen für das tägliche Leben. 1915 führt die Reichsregierung stufenweise das Lebensmittelmarkensystem ein. Anfangs sehen die Mengen gar nicht danach aus, als müssten wir wegen eines "kurzzeitigen Einschränkens" sogleich "am Hungertuche nagen", doch das änderte sich zusehends.


Ab Mo., 08. Februar 1915:

Brotmarken

je Nase und Woche 2.000 Gramm

Ab Do., 25. März 1916:

Kartoffelkarten

im Monat 25 Pfund für jede Person

Ab Fr., 01. Dez. 1916:

Buttermarken

125 Gramm pro Person und Woche


Im Jahre 1916 beträgt die Kartoffelernte auf Grund ungünstiger Witterung nur die reichliche Hälfte des Vorjahres, was auch die Bezugsmenge je Abschnitt der Kartoffelkarten zusammenschrumpfen lässt.


1916 – mein 40. Lebensjahr

Für die Schulkinder bringt jeder Sieg unserer Truppen im Ausland, einen Tag schulfrei in der Heimat. Zum Feiern. Wie sollten die Kinder da den Krieg nicht lieben lernen? Dreimal Hurra!

Wir allerdings hoffen, der unsinnige Krieg möge bald seinem Ende zugehen. Völlig ungeachtet dieses Wunsches werde ich nach Soldin zum Felddienst eingezogen und diene in der Armee-Starkstromabteilung No. 17, der Württembergischen Starkstromkompagnie 137. Ich gehöre zu den rückwärtigen Diensten, die Stromleitungen und technische Gerätschaften für mancherlei Gebrauch bis zur Front verlegen. Mein runder 40. wird somit nicht sonderlich begangen. Er fällt aus. Und wir altern schneller.

Der Krieg wird nicht allein mehr mit Schusswaffen geführt. Mit Gasen werden die Soldaten inzwischen schon umgebracht. Chemische "Waffen", kaum erfunden, probiert man aus.

Gaskrieg. Krieg ohne Kampf. Gas bringt Bewegung in den Stellungskrieg. Welche Hirne denken sich so etwas aus? Dafür bekannt geworden ist erst später der Chemiker des Kaiser-Wilhelm-Institutes in der Hauptstadt, Fritz Haber (1868–1934), vorerst berühmt durch die Ammoniaksynthese (Haber-Bosch-Verfahren). Er forscht geradezu fanatisch weiter, so dass ab Oktober dieses Jahres Phosgen aus seinem Labor zum Einsatz kommt, das Lungenödeme verursacht, das Absetzen von Wasser in der Lunge, so daß die Menschen nicht mehr atmen können, quasi innerlich qualvoll ertrinken. Fieberhaft wird "bei Freund und Feind" an der Entwicklung von Gasmasken und ihren spezifischen Filtern als Gegenmaßnahme gearbeitet. Ein Jahr später, im Sommer 1917, wird Haber das noch schlimmere Senfgas (Gelbkreuz) einsatzfähig entwickelt haben, das nicht nur die Lunge befällt, sondern auch die Augen angreift und die Haut auflöst.

Die geistige Herkunft dieser Grundstoffe für den Gaskrieg bleibt für uns indes aber noch geheim. So kann dann Haber 1919, nach dem Krieg, sogar noch den Nobelpreis für Chemie erhalten und weiterforschen unter dem Auftragstitel "Schädlingsbekämpfungsmittel", was letztendlich in der Blausäureverbindung mit dem Namen "Cyklon B" enden wird, das man Jahre später auf Befehl des gasfreudigen Adolf H. in den Konzentrationslagern auch gegen die eigene Zivilbevölkerung, besonders gegen jene mit jüdischer Abstammung, einsetzt. Soweit zu dem Mann der Wissenschaft mosaischen Glaubens, Fritz Haber. Ihm persönlich bleibt diese weitere grauenvolle Frucht seiner Forschung erspart. Man wird ihn, den Nichtarier, 1934 von weiteren Forschungen ausschließen und die Natur wird ein wenig später gnadenvoll das Leben des in seinem Bett Ruhenden beenden.

Doch vom Blick in die Zukunft, nun wieder zurück in unsere Zeit:

Bekannt werden uns schwere und verlustreiche Kämpfe um die Festung Verdun. Zwischen Februar und Juni sollen allein die Seeschlachten am Skagerak 175.000 Soldaten das Leben gekostet haben. Wohin soll dieser Wahnsinn noch führen. Wozu? Wem nützt das alles?

Die „Potsdamer Zeitungswoche“ im März 1916 diente dazu, brauchbares Altpapier zum Steppen von Deckenlagen zu erhalten, auch Papier als Füllung für "Stroh"-Säcke, um etwas Schutz vor der grimmigen Kälte zu erreichen.

Im April wehen dann laue Lüfte auch durch Nowawes. Am 25. des Monats begeht mein großer Bruder Paul, der Schuhmachermeister, mit seiner Emma die Silberhochzeit. Sie sind jetzt 49 beziehungsweise 48 Jahre alt. Meine Frau Margarethe geht mit den Kindern hin, ich fehle., wegen des Kaiserlichen Befehls.

Der Winter 16/17 ist auch in der märkischen Heimat bitter kalt: -20°C bis -27°C zeigt das Thermometer. Es beginnt zu Hause eine Hungersnot, die als Kohlrübenwinter in die Kriegs- Geschichte Deutschlands eingeht. Besonders auch wegen des Kartoffelmangels erlebt die Kohlrübe (auch Steckrübe oder Wruke genannt) die Auszeichnung als Hauptnahrungsmittel. Mit Notrezepten und einem angehängten wohlklingenden Zunamen fertigt man daraus alles, was man sonst entbehren müsste. So gehören zu den abenteuerlich-einfachen Rezepturen, solche Endproduktnamen wie: Kohlrüben-Sülze, K.-Pudding, K.-Schnitzel,

K.-Brat-"Kartoffeln", K.-Melasse als Brotaufstrich, Rübenbrot (mit K. das Getreidemehl "verlängert"), ja selbst Kohlrüben-Malz-Kafe trinkt man. Möglichst heiß oder später in der Grude der Kochmaschine warm gehalten, schließlich immerhin mit einigen wenigen Vitaminen.

Um der Lage versuchsweise Herr zu werden, richtet die Regierung eigens ein „Ministerium für Lebensmittelversorgung“ ein, welches wegen der Verwaltung des Mangels, mit grimmigem Humor schon sehr bald „Ministerium für Lebensmittelverknappung“ genannt wird.

Natürlich gibt es Auswirkungen auf den öffentlichen Verkehr (Fahrpreiserhöhungen), Minderung der Kraftstoffabgabemengen, Brennstoffverknappung für die Öfen (Kohlenkarte), Kostensteigerungen für Elektroenergie, Trinkwasser und so weiter.

Schon seit zwei Jahren ruft die Verwaltung die Bürger auf, sich an den Spenden-Aktionswochen zu beteiligen. So gab es bereits 1915 die „Reichs-Wolle-Woche“ zur Sammlung von weiterverwendbaren Textilien für die Mitbürger, die (besonders in Ostpreußen) schon ihre Habe verloren hatten. In der „Reichs-Gummi-Woche“ sammelte man alle entbehrlichen Gummiartikel. G.-Kleidung, Pellerinen, Plaids, Gummi-Tücher und wasserdichte Planen für „die Jungs draußen".


Das Jahr 1917

In unserem Monat März wird in Russland in der Februar-Revolution die Zaren-Monarchie gestürzt. Die Zarenfamilie Romanow wird nach Jekaterinenburg verschleppt und dort ermordet. Die Zarenfamilie war Verwandtschaft unserer Kaiserfamilie. Ein gewisser Kerenski übernimmt die Regierungsgewalt.

Im April 1917 werde ich von einem Schrapnell mitten im Dienst für Kaiser, Volk und Vaterland verwundet und lasse mich befehlsgemäß vom 1. Mai an im „Muschterländle kuriere“. Eingeliefert werde ich, (inzwischen als Soldat der 2. Kompagnie des Batallions 145), in das Ortslazarett in Freiburg im Breisgau, das in der "Hilda-Schule" eingerichtet ist. Diese Lehranstalt hat man jedoch vorher noch von den Schülerinnen evakuiert, so gibt es außer bittrer Arznei wenig, was den Genesungsprozess der Soldaten hätte beflügeln können.

Der lazarettöse Schul-Klassenraum ist schlicht mit zusammengesuchtem Mobiliar ausstaffiert: Ein alter Holztisch, verschiedene ebenso betagte Stühle, aus dem Zivilsektor des Lebens beschaffte Metallbettgestelle. Jacke wie Hose und Mütze auf Nägeln oder Haken an der Wand angehängt, in Ermangelung von Spinden und Bügeln in der Stube.

Zum Teil werden wir als dienstunfähig ausrangierten Soldaten mit unterschiedlichsten Militäruniformteilen bekleidet, für manchen können sogar Pantoffeln bereitgestellt werden. Lediglich ein wenig einheitlich krank wirken wir Dank der hellen oder auch längs gestreiften Drell-Hemd-Jacken oder auch Jacken-Hemden. Bei aller Dürftigkeit steht jedoch auf dem wackligen Tisch aufrecht das Abbild des lieben Kaiserpaares. Hoch! Dreimal Hoch! Wir zumindest waren noch einmal mit dem Leben davongekommen.

Während wir hier derzeitig „im ruhigen Auge des Tornados" liegen, hat man anderen Orts in Berlin und Potsdam nichts besseres zu tun, als die "Sommerzeit" (zumal diese nicht einmal nach mir benannt wurde) einzurichten, um abends eine Stunde mehr des Kunst-Lichtes zu sparen. Sorgen haben die Leute, die entweder nicht wissen, wie dreckig es allen im Felde geht oder die es den Menschen in der Heimat ganz anders vorgaukeln. Da gibt es "heroisches" Kinderkriegsspielzeug, mit Kriegsmotiven bemalte Dosen, sogar den Kinderteller, auf dessen Boden ein verletzter, blutender Soldat erscheint, der gerade verarztet wird. Man darf dabei zugucken wenn, ja wenn das Kind brav aufgegessen hat. Guten Appetit also. So ist das.

Wie mag es nur inzwischen der Familie in Nowawes, den Verwandten und Bekannten ergehen? Wie wird unser Geschäft ohne den Chef vonstatten gehen?

Am 19. Juli (trotz des Todesgedenktages der verewigten Königin Luise) hat man uns wegen der drohenden Überfüllung der Schule, ganz unfeierlich in das dürftigere Freiburger Reserve-Lazarett verlegt, aus dem man mich bald leidlich genesen aber wohl mit verbliebenen Metallsplittern und einer tiefen Narbe als mahnende Erinnerung an die eigene endliche Ewigkeit, am 18. August zur Wiederverwendung zum aktiven Dienst bei der Truppe hinaus befiehlt. Hier schicke ich mich erneut an, unter den zum Teil doch sehr widrigen und menschlich erschreckenden Bedingungen, verschiedene Elektroleitungen für so mancherlei Zwecke zu verlegen.


Nach wie vor brodelt es in Russland mächtig. Lenin und Trotzki sind aus der Schweiz bzw. den USA nach Russland zurückgekehrt und zerschlagen mit Sinowjew und anderen, die neue bürgerliche Regierung in der (in unserem Monat November stattfindenden) Oktoberrevolution, um eine Räterepublik der Volksmassen (der Bolschewiki) zu errichten.

Inzwischen ist auch der russische Kalender umgestellt.


Während wir Soldaten zu oft Anlass haben, die Kameraden zu betrauern, die es bei den Angriffen noch stärker ereilt hatte, die nie mehr zurückkehren, werden auch in der Heimat die Bedingungen immer härter. So zum Beispiel rationiert man dort die Lebensmittel weiter:

Für die Marken erscheint nun schon eine wöchentliche Übersicht, die ausweist, auf welchen Abschnitten man in jener Woche, Naturalien erhalten kann z. B.:

160 g Teigwaren auf Abschnitt X.

100 g Suppe auf Abschnitt Y.

125 g Graupen oder Gerstengrütze auf Abschnitt Z.

Wichtiger Hinweis: Bezugsmöglichkeiten für Butter und Eier werden später gesondert bekannt gegeben. Noch wachsende Kinder und Jugendliche erhalten zusätzlich 125 Gramm gute Buchweizengrütze – aber auch:

- Bis zu 2 Pfund pro Kopf Kriegsmus dürfen gekauft werden, solange der Vorrat reicht.

- Getrocknete Steinpilze im Angebot, bis zu 1 Pfund pro Haushaltung erwerbbar, in den

durch Aushang bekannt gemachten Geschäften sowie

- 250 Gramm Fleisch, wenn vorhanden, auf der Reichsfleischkarte,

- 5 Pfund Kartoffeln auf den Abschnitten 60 a, b, c, d der Kartoffelkarte,

- ½ Pfund Zucker auf der Zuckerkarte, gültig vom 1. – 31. des Monats.


In der Post aus der Heimat lese ich, daß im Sommer 1917 die Glocken der Potsdamer Kirchen Nikolai, Heiligengeist sowie Peter und Paul aus den Glockenstühlen geholt wurden, um diese für das Herstellen von Kriegsmunition einzuschmelzen. Damit bestätigt der christliche Kaiser seinen Glauben – oder die dringende Notwendigkeit, zum Sieg die letzten bronzenen Reserven anzutasten.

Die Linken des Reichstages beschließen dagegen eine Resolution zur Beendigung des Krieges und stellen sich damit gegen die Interessen von Kaiser, Heeresleitung und grauen Hintermännern aus der Industrie. Herr Dr. Liebknecht erhält zwei Jahre Zuchthaus wegen seiner öffentlichen Stellung gegen den Krieg. Er soll bei Arbeit Manneszucht erlernen. Der blutjunge Matrose Max Reichpietsch und der Heizer Albin Köbis (beide aus Berlin) werden wegen politischer Meuterei auf dem Schiff "Prinzregent Luitpold", am 5. September in Köln erschossen. Als Spionin wird in Paris die Tänzerin Mata Hari, (Künstlername) gefasst und hingerichtet. Sie war noch etwas jünger als ich. Heinrich Mann schreibt das Stück "Der Untertan". Es soll recht deutlich erkennbar räsonierend sein. Geradezu querulantiv. Ich selber habe es nicht gesehen. Mitten im Krieg, so als wäre gar nichts geschehen, gründet man aber daheim, auf Drewitzer Gelände, die Universum-Film Aktien-Gesellschaft, kurz, UFA genannt. Noch mehr äußerst wichtiger Nachrichten gibt es aus der Region Potsdam. Das Kronprinzenpaar Wilhelm und Cecilie, ich erzählte Euch damals im Jahre 1905, dass wir fast gemeinsam geheiratet hätten, bekommen jetzt endlich eine eigene Wohnung. Für das Paar und die Kinder (sechs sind es schon), wurde im Neuen Garten am Heiligen See, das Schloss „Cecilienhof“ gebaut – von 1914 bis 1917. Der Architekt Paul Schultze-Naumburg entwarf die Bauhülle im englischen Landhausstil und Paul Ludwig Troost besorgte das Innenarchitektonische.


1918, zum Ende des Jahres endet der Krieg

Während ich noch im Kriege bin, verbringt wenigstens die Familie ihre Ferien in diesem Jahr sogar an der See, in Trassenheide bei Zinnowitz, wo sie sich mit Runges und Seehafers treffen. Dort weilte ich auch bereits vor acht Jahren mit Margarethe und Hans. Damals, im Frieden, hatten wir zahlreiche Express-Päckchen mit frisch geräuchertem Fisch an unsere Potsdamer und Nowaweser Verwandten und Bekannten gesandt, damit auch sie etwas an den Genüssen unseres Urlaubs teilhaben konnten. Friedenshering! Welch ein schönes (aber aus Sicht des Fisches gleichsam unsinniges) Wort. Welch' genüssliche Erinnerungen. Geräucherter Hering – (wir als Soldaten machen tatsächlich immer nur „Bückling als Befehlsempfänger“. Das ist nicht nach meinem Geschmack). Nun erhalte ich ab und zu ein kleines Päckchen des begehrten Salzes, das wir zum Würzen des Fraßes und vor allem als Tauschwährung fürs Tabakkraut benötigen.

Im vierten Kriegsjahr wird uns noch eine weitere Wunderwaffe beschert. Ein neues deutsches Geschütz mit knapp 130 km Reichweite beschießt Paris. An eine solche Entfernung hätte wohl sogar Baron Münchhausen kaum geglaubt. Hört der Schrecken denn nimmer auf?


Im Sommer 1918 gibt es in der Heimat die „Windel-Woche“. In irgendwelche Alttextilien müssen ja auch die Kriegskinder-Ärschlein der kleinsten Scheißer gehüllt werden. Natürlich wird es immer schwieriger, die Textilien leidlich sauber zu bekommen (vom Aufhalten der Vergrauung des Weiß' an sich ganz zu schweigen), denn was es auf der Reichsseifenkarte gibt, nimmt sich abenteuerlich aus. Zurück zur Natur: Ton-Seifenerde und Speckstein gehören zu den Mitteln der Wahl. Vorzüglich wirkt die Knochenseifenwaschpaste, sandhaltig. Die Aktionen der sogenannten "fleischlosen Wochen" werden nicht etwa aus religiös-vegetarischen Gründen in einer vorösterlichen Fastenzeit ausgerufen, sondern ab Spätsommer 1918 bis zum Ende zelebriert. Man heiterte sich mit makabren Witzchen auf, wie z. B. "Etwaige, in der Wasserbrühe versehentlich schwimmende Fleischfasern, sind für die Neuverwendung gebündelt in der Küche abzugeben" und ähnlichem in dieser Art.

Doch, endlich wird der Krieg beendet, (wenn auch nicht siegreich durch uns, man sagt, weil „ein Dolchstoß von links“ dazwischen kam) und wir kommen nach Hause. Neun Millionen Menschen hat der Krieg das Leben gekostet. Gewonnen wurde nichts – doch wir kommen nach Hause. In die vertraute aber fremd und arm gewordene, spießige ordentliche Welt.

Der Kaiser hat es zeitlich nicht mehr geschafft, bestimmt wollte er uns noch danken. Er hat jedoch nur noch, auf Drängen seiner Berater, am 9. November abdanken können, in der Art, dass selbst er davon vorerst gar nichts mitbekam, sondern Max v. Baden ihm die Vorarbeit leistete. Die Aristokratie ist tot. K. u. K. Wilhelm der II. findet mit einem Teil der Familie und mit Bediensteten, wie auch mit einer Anzahl von Eisenbahn-Güterwagen, gefüllt mit den nötigsten lebenswichtigen Sächelchen, im niederländischen Amerongen Asyl und später im Hause Doorn eine bleibende Heimstatt. Seitdem verwaist der ziemlich neue Kaiserbahnhof in Potsdam, zwischen dem Wildpark und dem Schlosspark Sanssouci gelegen.

"Der Bart ist ab“, sagt man. Meinen kürze ich deutlich um seine W II.-Endspitzen. Derzeit besteht ein schreckliches Kuddelmuddel. Es lebe die in Weimar gewählte Nationalversammlung, die Weimarer bürgerliche Republik. Die neue Heimat unserer Wünsche! Hoffentlich geht’s gut.

Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann wird Reichsministerpräsident und er ruft die Republik aus. Zwei Stunden später tut das der Dr. Karl Liebknecht, aus unserem alten Kaiserwahlkreis, vom Berliner Schlossbalkon noch einmal. Allerdings verkündet er eine sozialistische Räterepublik. Schon gleich Gerangel der Parteien? Oder meint man: Doppelt hält besser?


Das Jahr 1919

Die Herren Gropius, Feininger, Itten und Marcks gründen in Weimar das "Staatliche Bauhaus", als Zentrum moderner Gebrauchskunst, wie es vor einem reichlichen Jahrzehnt bereits der Werkbund tat. Nur hier allumfassend, mit dem Versuch, alle Lebensbereiche positiv zu beeinflussen. Bald wird’s also zum Beispiel mehr, als nur schön geformte neue Nachkriegsleuchten geben.

Nach dem Versailler Vertrag, der das Kriegsende besiegelt, darf Deutschland auch in den Lüften keine kriegsfähige Macht mehr unterhalten und muss teilweise mit dieser noch vorhandenen Technik die Kriegsreparationen bezahlen. Der Rest unserer stolzen Luftschiff-Flotte wurde aufgelöst, abgewrackt oder tut im Ausland Dienst. Vorher waren bei den Kriegshandlungen bereits 52 unserer deutschen Luftschiffe verloren gegangen und auch die riesige "Doppel-Garage", der Potsdamer Hangar in der Pirschheide, muss fortgegeben werden. Er wird eine stattliche Bahnhofshalle in Spanien abgeben. Ähnlich geht es den Hallen am Bodensee, in Schneidemühl und wo auch immer sie noch stehen mögen: Abbau!

Am 15. Januar 1919 werden Rosa Luxemburg (geb. 1870) und Karl Liebknecht (geb. 1871) von radikalen rechtsorientierten Freicorps-Offizieren ermordet und in den Berliner Landwehrkanal geworfen. Die neue Demokratie wird es schwer haben, Fuß zu fassen, in der Zeit, in der ein Jeder etwas zu sagen haben will und manche Gruppen bestrebt sind, sich gewaltsam durchzusetzen.

Es schließen sich neue Bündnisse zusammen, wie in der Deutschen Arbeiterpartei, (die den Sozialismus nationalen Gepräges in ihren Namen aufnimmt und sich später NSDAP nennen wird) oder aber in der Komintern (Kommunistische Internationale), deren Verbindungen von Moskau aus gelenkt werden oder Menschen in der Arbeiterwohlfahrt, die besonders in dieser Schicht Leid durch Sozialarbeit lindern möchte.

Einer weltweiten Grippe-Epidemie, einer Pandemie, fallen allein in Deutschland 196.000 Menschen zum Opfer.

Unsere nunmehr bürgerliche Regierung legte gleich fleißig mit neuen sozialen Gesetzen los, um die frühere Bismarcksche Vorarbeit zu verfeinern: Der Acht-Stunden-Arbeitstag wird festgeschrieben. Neue Regelungen für ältere Kinder und Jugendliche und für den Mütterschutz werden verabschiedet. Das Arbeitsschutzrecht erhält eine bessere Fassung.

In der früheren Kriegsschule auf dem Potsdamer Brauhausberg wird nunmehr ein Friedens-Heeres-Archiv eingerichtet. In Nowawes gründet man indessen die "Technische Nothilfe".


1920

Im schönen 1920er Frühling wird unser Sohn Hans konfirmiert und überschreitet nun, eingedenk des Schulabschlusses am Realgymnasium in der Althoffstraße, die Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Ich setze mein Hoffen da hinein, dass er ein tüchtiger Elektriker wird, der einst die Leitung unseres Betriebes übernehmen und somit mein Werk fortsetzen wird.


Die Reichsregierung übernimmt die Eisenbahnen der Provinzen und der privaten Betreiber. Somit haben wir eine einheitliche "Deutsche Reichsbahn". Fa. Junker baut den Eindecker

F 13 (ein Ganzmetall-Flugzeug) mit 195 PS Leistung! Für 4 Personen gedacht mit einer maximalen Geschwindigkeit von 175 km pro Stunde. Welch ein bravouröser Erfolg! Für ein bisschen weniger Wind sorgt eine neue Erfindung. Der elektrische nickelglänzende Haartrockner „Fön“, den wir schon bald in unserem Schaufenster zur Verkaufsreklame präsentieren können.

Die neue Stadt Groß-Berlin wird gebildet. Ihre Fläche wächst am 01. April mit einem Schlage um das Dreizehnfache – das ist kein Scherz! Unsere Provinz Brandenburg verliert damit zahlreiche Städte und Dörfer, so auch: Charlottenburg, Zehlendorf, Schöneberg, Spandau, Wilmersdorf, Neukölln, Lichtenberg, Weißensee und auch Köpenick, da diese Orte jetzt nach Berlin eingemeindet sind. Damit sieht Berlin nun wie eine richtige Hauptstadt aus. Und für unsere Provinz Brandenburg fallen Wirtschaftskraft wie Steuereinnahmen in beträchtlicher Größenordnung fort.

Im Juli 1920 unternimmt der jüngste Ex-Prinz Joachim (ich berichtete schon – der damals mit den Dackel-Hunden), welcher in Bornstedt auf dem einstigen Kron-Gut die Landwirtschaft betrieb, einen Selbsttötungsversuch, an dessen Folgen er im Potsdamer Sankt-Josefs-Krankenhaus, an der Allee nach Sanssouci gelegen, verstirbt. Was ihn dazu bewegt haben mochte, weiß ich aber nicht. Trauriges auch gleich über seine Mutter.


Neuigkeiten aus dem Jahre 1921 – ich werde 45 Jahre alt

Am 11. April 1921 stirbt in der Fremde, im Hause Doorn, Ex-Kaiserin Auguste Viktoria. Sie wird bald darauf im Antikentempel des Parks von Sanssouci beigesetzt. Ihr werden später ihre Getreuen folgen: Gräfin v. Brockdorff 1924, Claire v. Gersdorff 1927 und Gräfin v. Keller 1945. Sowohl dem Ex-Kaiser, Herrn Wilhelm v. Hohenzollern als auch später dem Sarg mit seiner sterblichen Hülle, wird wegen der Kriegsschuld die Rückkehr nach Deutschland verweigert. Sein Leben wird im Jahre 1941 in den Niederlanden enden.


Im gleichen 21er Jahr endet auch das Leben von Enrico Caruso (Nardini), dem singenden italienischen Schwarm der Frauen. Ebenfalls stirbt Engelbert Humperdinck, der das Märchen Hänsel und Gretel in Form einer Oper vertont hatte.

Unser verehrter Physik-Professor Dr. Albert Einstein erhält den Nobelpreis.

Zwischen Berlin und Potsdam wurde durch den Grunewald die 10 km lange Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße gebaut und jetzt übergeben: Die AVUS. Warum eigentlich nicht AVÜS (würde sich das zu französisch anhören)?

Manche jungen Frauen wollen nicht mehr weiblich aussehen wie sich's seit jeher geziemt, sondern eher flach und spack. Verunstalten sich mit der verrückten Haarmode, dem "Bubikopf". Ich halte "diesen" für gar keine damenwürdige Frisur – so'n Blödsinn aber auch, doch wer fragt mich schon danach.

In Oberschlesien findet eine Abstimmung zur Gebietsaufteilung zwischen Deutschland und Polen statt. Viele Menschen, die nicht unter polnischer Verwaltung, also nicht als polnische Staatsbürger leben wollen, müssen umsiedeln. Es ist wohl zu erwarten, daß sich eine Völkerwanderung in Bewegung setzt.

Die "Deutsche Arbeiterpartei" hat eine "Schutz-Abteilung" gebildet, die ihre Versammlungen gegen Störungen "von noch weiter links" schützen soll. Bei ersten Aufmärschen geben sich diese jungen Männer in braunen Hemden recht forsch, wenn nicht gar großsprecherisch, rüde. Haben ja auch noch nichts mitmachen brauchen. Sie nennen sich kurz: „SA“.

Alle Achtung, selbst in Sankt Petersburg und Moskau erkennt man den Segen, den mein Berufsstand mit sich bringt. Der Herr Lenin, der jetzt wohl etwa die Funktion des Zaren aber mit Arbeiter- und Soldaten-Beratern innehat, befasst sich in Schriften und Plänen damit, das ganze riesige Reich in absehbaren Zeiträumen mit Strom zu versorgen. Er will auch den Leuten, die bisher nichts kannten als harte Arbeit unter einfachsten Bedingungen in der Leibeigenschaft, Kultur und Komfort ins Haus zu bringen. Er hat die These aufgestellt, dass der Staat dann die Bevölkerung reich versorgen kann, wenn die uneigennützig arbeitenden Räte des Arbeiter- und Bauernstandes das Land verständig und wohlwollend regieren und die Elektrotechnik überall in Wirtschaft und Haushalt Einzug gehalten hat, um das Leben zu erleichtern. So etwa. Sinngemäß. Sehr plausibel. Wenn's dann so klappt.


Weil unser Staat ungeheure Summen an Kriegsreparationen zahlen muss, kann er die Industrielle Wirtschaft nicht ankurbeln und auch nicht die Landwirtschaft stützen. Der Wert der wenigen Waren steht in keinem Verhältnis zu den Geldscheinwerten und -Mengen, die sich im Umlauf befinden. Mit dem Beginn der vorerst schleichenden bald später aber "galoppierenden" Geldentwertung, gibt Potsdam, wie auch viele andere Städte, eigene Notgeldscheine heraus. Als Motive wählt man, wie sollte es in Potsdam anders sein, eine historische Soldatenserie. Eigentlich haben wir von Preußens Gloria noch genug an Erinnerungen.


In dieser Zeit tritt aus der Deutschen Arbeiterpartei ein Mann heraus, der nach seinen Reden alles besser machen will und kann. Er lebt im Raum München, soll ursprünglich aber aus Braunau in Österreich kommen. Offenbar kein Kundiger der Physik. Er traut den Mikrophonen nicht, sondern schreit seine Botschaften stets mit beschwörend schnarrendem Hinterton heraus. Ein komischer Kauz dieser Hitler. Wohl ohne ehrbaren Beruf. Ein möchte-gern Kunstmaler wird gesagt. Vielleicht ein verkrachtes Malheur. Im Krieg Gefreiter und jetzt den wichtigen Mann markieren – das Männeken. Wird sich wohl auf der Bühne der Politik keine „großen Sporen“ verdienen.


Einige Ereignisse aus dem Jahre 1922

Am 24. Juni 22 wird der Reichsaußenminister Walter Rathenau (1867–1922), der wohl einen der fähigsten Staatsmänner der Republik darstellte, von Leuten der rechtsradikalen und antisemitischen "Organisation Consul", aus der Putschistengruppe "Kapp" hervorgegangen, hinterrücks erschossen. Das Attentat geschah im Grunewald während der Autofahrt von seinem Hause in der Zehlendorfer Königsallee, zum Ministerium in der Wilhelmstraße, aus einem ihm folgenden Wagen heraus. Gerade erst am 16. April war es Rathenau gelungen, mit der Sowjetunion den Rapallovertrag zu schließen. Nur 175 Tage währte die Amtszeit des kunstsinnigen, sensiblen und sozialkonstruktiven Politikers und Industriellen, der dem Denken seiner Zeit offenbar voraus war. Auch auf Philipp Scheidemann, der nach dem Krieg die Republik ausgerufen hatte, wurde ein Attentat verübt. Der momentane Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrumspartei) warnte während eines Aufruhrs im Reichstag, laut in den Sitzungssaal hinein rufend, dass der innere Feind der Republik "rechts" steht (beziehungsweise dort sitzt). Eine aufrüttelnde Mahnung bei dem großem Tumult.

Als Bürgermeister von Nowawes wird von diesem Jahr an (1922 bis 1933) Walter Rosenthal, ein jüdischer Mitbürger, die Geschicke des Ortes wesentlich mitbestimmen.



1923

Mit der fortschreitenden Inflation erfolgt die Flucht fort vom Geld, hin zu den Sachwerten. Nicht mehr lange wird es dauern und man zahlt man den Arbeitslohn öfter aus, ja bald täglich und die Summen werden auch größer. Aufgespart werden kann natürlich kein Geld, weil es schon nach wenigen Tagen immens an Wert verliert.

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Für einen weiteren Eindruck zur Inflation lasse ich Herrn Dr. phil. Eugen Roth (1895–1976, ein Leben in München) zu Wort kommen. 
	In seinem Buch „Lebenslauf in Anekdoten“, im Carl-Hanser- Verlag, München, 1963 	erschienen, wird er schreiben:
Im Jahre 1923 war tiefste Inflation – falls es jemand vergessen haben sollte; die Milliarden- und Billionenscheine wurden in Säcken herumgefahren, ohne alle Vorsichtsmaßregeln, ergraute Bankräuber schauten kaum hin, und selbst der blutigste Anfänger wusste: so schnell konnte er gar nicht davonlaufen wie das Geld.
Damals täglich einkaufen zu müssen, war eine Qual für die Hausfrau; selbst wenn sie das soeben erst empfangene Geld so rasch wie möglich in Ware umsetzen wollte und in aller Frühe auf den Markt und in die Geschäfte eilte – ihre Milliardenscheine hatten nur noch Pfennigwert, und mit halbleerer Einkaufstasche, verzweifelt und oft weinend, kam sie zurück, ratlos, was sie mittags auf den Tisch setzen sollte. Dabei war es nicht so, wie's im Kriege gewesen war, als man auf seine Marken kaum etwas bekam und man schon glücklich war, ein paar gefrorene Dorschen, nach einer Stunde Anstehens, noch ergattert zu haben – im Gegenteil, alle Marktstände, alle Auslagen waren (beispielsweise in München) voll der besten Dinge, und offenbar gab es Leute genug, die sich die feinsten Leckerbissen kauften. Aber wer kein Geld hatte – und der spät ausbezahlte Lohn für einen Monat ehrlicher Arbeit war eben kein Geld mehr –, dem blieb der Schnabel sauber. Dumm genug waren all die braven Leute – und sind's heute wieder und werden's morgen noch einmal sein –, die noch in alten Begriffen lebten, die jammerten, dass der Dollar so steige, statt zu begreifen, dass nur die Mark ins Bodenlose sang, die Leute, die noch dem Pfennig nachliefen, während schon die Straßenbahn mit zwölfstelligen Ziffern umsprang und Banklehrlinge sich mit Millionenscheinen Zigaretten anzündeten.
Viel gescheiter waren übrigens auch wir nicht, ausgenommen vielleicht mein jüngster Bruder (namens Roth), der so manchen Handel rasch abzuwickeln verstand, der freilich für uns schon an der Grenze des Unerlaubten zu tänzeln schien. Aber eines Tages bekam ich von einem Studienfreund aus Aarau für ein paar Zeitungsbeiträge sage und schreibe einhundert Schweizer Franken geschickt – ... Diesen Schein ließ ich wechseln und einen Bruchteil des Geldes, zehn Franken, gab ich meiner Mutter: sie sollte, im Bewusstsein, nur acht Mark in der Tasche zu haben, sich in der nächsten Bank jene Berge von Papiergeld einlösen, die dem jüngsten Kurs entsprachen – und dann eilends ihre Einkäufe machen, unbeirrt von den verrücktesten Preisen, die verlangt werden würden. Und nicht einen einzigen Geldschein dürfte sie wieder mit nach Hause bringen. ... und reich beladen kam sie heim, bestürzt über die Fülle – und mit rechtem Maß gemessen, war alles so lächerlich, so unglaubwürdig billig gewesen, viel, viel billiger als je in der goldenen Friedenszeit. ...(ja, wenn man das richtige Geld hatte).
Bald aber  kam das Ende des Spuks und der Bann war gebrochen. Zuerst kam die Rentenmark und dann die Reichsmark und es zogen wieder normale Finanzverhältnisse ein.
–––

Trotz der gewaltigen Inflation kommt eine neue Haushalt-Maschine auf den Markt. Es ist eine Rührwaschmaschine im Holzbottich. Nicht mehr die Hausfrau soll die Wäsche im Waschfass auf dem Wellblech rubbeln und mit der Wurzelbürste schrubben. Oben, auf einem Bock über dem offenen Bottich sitzt der gekapselte Getriebe-Motor. Er ist mit einer Rühr-Welle verbunden, die hinunter reicht und an deren Ende ein Rührblatt schwebt. Das Rührblatt wird kreisförmig vor und zurück bewegt. Ob die Wäsche davon ausreichend sauber wird? Ich denke, diese Erfindung müsste auch jeden Bäcker hinsichtlich der Teigbereitung interessieren, denn das Kneten ist eine Schwerarbeit.

Im Sommer textet und komponiert Gustav Büchsenschütz (1902–1996) die Hymne "Märkische Heide" – "Steige hoch, du roter Adler..." und singt es seinen Wanderfreunden in der Jugendherberge Neufehlefanz bei Wolfslake vor, bevor es bald so richtig zum Volkslied wird.

Am 29. Oktober startet nach den vorausgegangenen Versuchen das erste deutsche Rundfunkprogramm aus dem Hause der Berliner VOX-Schallplattenfabrik. So kann auch der künstliche Adler bald durch den Äther fliegen und nicht nur von der schwarzen Platte hüpfen.

Thomas Mann veröffentlicht "Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", in dem sich Wünsche zahlreicher Männer wiederfinden. Sein Bruder Heinrich hingegen schreibt über: "Die Diktatur der Vernunft", ein anscheinend viel trockeneres Thema.


Es entwickeln sich inzwischen die Umrechnungskurse folgendermaßen:


Dezember 1918

1 US-Dollar

7,-- Reichsmark

Dezember 1920

1 US-Dollar

70,-- RM

Dezember 1922 (und so, wir hätten es nicht für möglich gehalten, wird es weitergehen)

1 US-Dollar

7.350,-- RM

April 1923

1 US-Dollar

20.980,-- RM

1. Juli 1923

1 US-Dollar

160.400,-- RM

1. Oktober 1923

1 US-Dollar

42.000.000,-- RM

1. November 1923

1 US-Dollar

4,2 Billionen Deutsche Papier-Reichsmark


Im August 1923 bezahlten wir beispielsweise für:


1 Flasche Bier

100.000 Reichsmark

1 Rasiermesser schärfen

60.000 Reichsmark

1 Paar Schnürsenkel

48.000 Reichsmark

1 Tafel Schokolade

30.000 Reichsmark

Im November 1923: Für 1 Streichholz

fast eine Milliarde Reichsmark


Wegen des rasanten, ungeheuren Werteverfalls werden die Preise täglich neu festgesetzt.

Mein Schwager Theodor (56 Jahre alt), der sensible Mann meiner Schwester Marie, war von dem komischen Gefühl behaftet, die Verantwortung für die Versorgung seiner Frau nicht ausleben und nicht mehr tragen zu können, nachdem die Inflation alle seine Ersparnisse aufgezehrt hatte. Dabei hätte er kein schlechtes Gewissen haben müssen – doch nicht er hatte die Inflation ausgelöst! Zumindest der Theo sah aber als einzigen Ausweg in den Griebnitzsee zu gehen. Weil er Nichtschwimmer war, gelang ihm so der Freitod. Niemandem hat er damit genützt. Auch war diese Wahl war kein guter Ausweg, sondern nur ein Irrglaube daran. Diese große innere Krise traf ihn besonders schwer; die große Geldkrise aber traf doch die meisten von uns. Und wir werden sie überstehen! Irgendwie.


Die Inflation ist zu Ende. Es gibt einen scharfen Schnitt. Am 1. Dezember wird die „Rentenmark", bzw. die "Goldmark" eingeführt. Wir lernen nun wieder ganz kleine Zahlen schreiben. Der glamouröse Tanz auf dem Rand des Vulkans der „Goldenen Zwanziger“, der immer hektischer und irrsinniger wurde, hat einen dünnen schwarzen Mantel umgehängt, unter dem sich nur noch ein Totenskelett markiert. Schluss mit dem Theater.


1924

Am 21. Januar 1924 stirbt in der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich als Arbeiterführer "Lenin" genannt hatte, im 53. Lebensjahr, wohl an den Folgen einer „Tabes dorsalis“, sagt man, einer infektiösen Rückenmarkszersetzung. Sein Nachfolger ist der jüngere Georgier Josef Wassilionowitsch Stalin also „der Stählerne“, der ebenfalls wie vorher Lenin, einen anderen bürgerlichen Namen besitzt aber nur noch den selbst zugelegten „Künstlernamen“ nutzt. Mal sehen, was nun aus der umfassenden, die Völker friedlich verbindenden Elektrifizierung und dem kommunistischen Paradiese wird. Ein jeder Staatsmann und sein Umvolk hat ja so seine eigenen Gedanken und Ziele.

Ebenfalls im Januar öffnen der Archäologe Howard Carter und sein Financier Lord Carnavon mit mehreren Arbeitern im ägyptischen Luxor das etwa 3.000 Jahre alte Grab des Kind-Pharaos Tutenchamun. Der Kopf der Mumie ist mit einer fein gearbeiteten Totenmaske aus purem Goldblech bedeckt, kunstvoll gefertigt zu einer Zeit, als man in unserer Gegend wohl in recht einfachen Hütten aus Holz und Lehm lebte und über das gelungene Legieren von Bronze, aus Kupfer- und Zinnerzen, bereits einen Freudentanz aufführte, darob höchst glücklich war, steht wohl in den Büchern – ich war ja schließlich nicht dabei.

Die Filmgesellschaft "Bioscop" ist in der jüngeren UFA (Universum-Film-Aktiengesellschaft) aufgegangen. Diese beschäftigt heute schon etwa 4.000 Mitarbeiter und gehört somit, wie das ihr gegenüberliegende Werk für Kleinbahnlokomotiven "Orenstein und Koppel", zu den größten Arbeitgebern der Region.

Auch wird in diesem Jahr ein Lastkraftwagen erfolgreich mit einem Dieselmotor ausgestattet.

Zur ersten deutschen Funkausstellung (1924) werden die ersten Radioapparate verkauft, die je nach Größe und Ausstattung etwa 400 bis 500 Mark kosten. Ist ja ein Heidengeld. Aber auch eine großartige Sache (die ja ohne Elektrotechnik nicht vorstellbar wäre). Kopfhörer adé. Jetzt kommen die Töne raumfüllend aus dem kleinen dunklen Holzkasten.

Nach den seit Jahren bestehenden Versuchen, fährt nunmehr fahrplanmäßig und ständig eine elektrisch betriebene Bahn zwischen Berlin und Potsdam – die S-Bahn. Also Schnellbahn oder Stadtbahn. Hat demnach nichts zu tun mit Ess-Bahn, wie zum Beispiel diese Fein-Kekse, das so genannte „S-Gebäck“, auch beliebt in der Form von "Bärentazen". Nein, ein „Speise-Wagen“ hängt für diese kurze Fahrzeit nicht dran.

Herr Dr. Konrad Röntgen entdeckt bei planmäßigen physikalischen Versuchen Strahlen, die den Körper zu durchdringen vermögen. Das Körperinnere, die Knochen, kann er durchleuchten und auch auf einem Wandschirm sichtbar machen. Nun will er die Abbilder des Innern sogar auf Filmmaterial festhalten. Er nennt diese Entdeckung: "X-Strahlen". Das Ganze betreibt er außer an Materialien im Selbstversuch an seinem Körper, denn keiner weiß so recht, ob oder wie gefährlich diese Forschungen sind. Wie interessant, erstaunlich!


Das Jahr 1925

Am 28. Februar 1925 stirbt Friedrich Ebert an einer verschleppten Blinddarmentzündung. Viel zu früh. Nur vier Jahre älter ist er als ich es bin. Ebert war im Februar 1871 im schönen Heidelberg geboren, lernte den ehrbaren Sattler-Beruf. Er trat während der Wanderburschen-Zeit, die eigentlich der Vorbereitung der Meisterprüfung dienen sollte, der SPD bei. Er wurde mit 24 Jahren Gastwirt (ach) und blieb das bis zur Jahrhundertwende, bis er sich vollends der politischen Tätigkeit für die Arbeiterschaft widmete. 1912 zog er für die SPD in den Reichstag ein, wurde gleich nach dem Weltkrieg Reichskanzler (von Max v. Badens Gnaden) und ein Jahr später, also von 1919, bis zu seinem Tode, dann Reichspräsident. Und nun der tödliche Abbruch der Karriere, bloß weil er keine Zeit hatte, rechtzeitig einen guten Arzt aufzusuchen, der die Seitenkrankheit hätte ansehen sollen. Sein Nachfolger wird der frühere Generalfeldmarschall Paul v.

Hindenburg. Ein ganz anderes Kaliber – wie es unterschiedlicher wohl kaum sein könnte.


In diesem Jahr hatte unser Sohn Hans beim Hockeyspielen einen bösen Unfall. Ein Mitspieler schlug ihm versehentlich derb mit dem Schläger an das Knie. Es waren aufwändige Behandlungen erforderlich, die aber nicht zum Erfolg führten. Letzten Endes musste das Bein bei Herrn Dr. Stahlschmidt in unserer Nowaweser Oberlin-Klinik am Oberschenkel amputiert werden, doch eine Heilung trat nicht ein. Für ihn und uns brachen die Vorstellungen über seine Zukunft zusammen. Es bestehen keine Aussichten mehr, dass Hans völlig gesundet. Es schwinden somit auch unsere Vorstellungen, ihm später das Geschäft zu übertragen. Hätte er sich nur gründlich genug befleißigt, sich den ihm übertragenen Aufgaben zuzuwenden, als dem von mir ungern gesehenen, eigentlich untersagten Hockeysport zu frönen, so wäre es wohl nicht zu diesem gesundheitlichen Fiasko gekommen. Doch diese Überlegungen ändern nun auch nichts mehr. Bald darauf stellen die Ärzte die uns erschütternde Diagnose "Krebs", was Unheilbarkeit bedeutet. Ganz rührend sorgt sich der junge Arzt, Dr. Heim, der ihn in der Berliner Charité behandelt, auch jetzt noch darum, ihm die Lage zu erleichtern und kommt oft mit dem Motorrad von Berlin extra zu uns nach Nowawes. Dr. Heim rät zu einem Erholungsaufenthalt, beispielsweise im Schwarzwald. So fahren wir nach Badenweiler und finden im Hotel Saupe eine gute Unterkunft. Eine Besserung der Gesundheit wollte sich, wie befürchtet, aber nicht einstellen.


1926. Ich werde 50 Jahre alt.

Es ist zum Heulen. Wieder ein Abschied: Am 03. September 1926 erliegt unser Sohn Hans dem Krebsleiden. Auf dem Friedhof in der Goethestraße richten wir eine Familiengedenkstätte ein. Eine schöne geräumige Stelle (auf der auch wir später noch Platz finden wollen) mit einem Gedenkstein aus grauem Spremberger Syenit mit dem Schriftzug "Ruhestätte Familie Sommer" und einer ebenfalls gravierten Sommer-Blume als Schmuck. Besucht jemand diesen Ruhegarten, so findet er die Stelle vom Eingang gesehen, nach vierzig Schritten, linker Hand am Hauptweg, unter einer wahrhaft majestätischen Eiche.


Das Potsdamer Landgericht bestellt mich als Sachverständigen für Rechtsfälle in Verbindung mit elektrischen Licht- und Kraftstromanlagen. Seit diesem Jahr arbeite ich auch zusätzlich als ehrenamtlicher Schriftführer der "Elektro-Handwerkerinnung für Potsdam und Umgebung."

Allgemein bekannt dürfte sein, dass es in meinem Betrieb nicht üblich ist, die Lehrlinge mit Nebenaufgaben zu beauftragen, sofern solche nicht zur Berufsausbildung gehören, wie beispielsweise private Einkaufsdienste für den Chef oder Handreichungen in der Hauswirtschaft zu erledigen, wie es bei manch' anderem Lehrherrn als üblich gilt. Die kleinen Einkäufe beim Kaufmann erledigt Margarethe sowieso erst abends kurz vor sechs, bevor die Läden schließen, weil sie tagsüber in unserem Geschäft steht. Zum Glück haben wir in Max Hasait, meinen Spielkameraden aus Kindertagen, für die Buchhaltung eine exakte Kraft, die fast zum Inventar gehört.

Auch sind im Betrieb Klatsch und Tratsch, das Schimpfen oder gar das Fluchen streng untersagt, genauso wie auf den Baustellen bei den Kunden. Ein Jeder hat ruhig und mit Umsicht seiner Arbeit nachzugehen. Selbstverständlich ist das Trinken von Bier und Schnaps während der Arbeit generell untersagt, das Aufsuchen von Wirtschaften für die Lehrjungen tabu, solange sie bei mir in der Ausbildung stehen. Ich bilde mehr Lehrlinge aus, als wir behalten können. Alle unsere Lehrjungen bekommen nach der Gesellenprüfung schnell eine Stelle. Sie gehen wahrlich weg, wie die warmen Semmeln. Gleichwohl sind die Lehrjahre für sie streng. Lehrjahre sind keine Herrenjahre! Nur mit Ordnung, Disziplin und Präzision in der Anwendung der Fachkunde, kann man sich im Leben anständig behaupten. Viele gute Lehrjungen und spätere Gesellen hatte ich. Zu meinen besten Lehrlingen gehört unter anderen Erich Ladenthin, dessen vielseitige Interessen sich nicht nur auf das zum Broterwerb Nötige beziehen. Auch Ferdinand Monje, Wilhelm Adlung (Helmi), Erich Ladenthin und Lehrjunge Griegorieff aus der Kolonie Alexandrowka Nr. 7 stellten sich willig und geschickt an. Letzterer ist der Nachkomme eines der russischen Soldaten, die nach den Befreiungskriegen in Potsdam blieben, das russische Feudalsystem Alexanders II. mit den für sie neuen kleinen Freiheiten im Preußen des Friedrich Wilhelm III. eintauschen durften, sich flugs mit Potsdamerinnen beweibten und deshalb nach 1826 in dem schmucken Muster-Militärdorf (das zum Andenken an den inzwischen verstorbenen russischen Zaren diesen Namen erhielt) eine neue Heimstatt als Chorsänger fanden.

Zeitweilig arbeitet auch mein um vier Jahre älterer Schwager Carl Runge, aus der Blücherstraße 5, der vorher zur See gefahren war, als Elektromonteur in meinem Betrieb. Er ist ein Mann vom Fach, von der Pike auf.

Unsere Katze "Itze" (das "I" bitte lang zu sprechen, wie ein "ie"oder besser „ii“) hat wieder Nachwuchs bekommen. Wenn sie mal von den anstrengenden Mutterpflichten Erholung benötigt, bewacht unser Mischlingsterrier, der "Drewitzer", das Körbchen und wärmt die kleinen Katzen, obwohl dann schon eine unbequeme Enge herrscht. Selbst wenn die Kätzchen auf ihm umher klettern, erträgt er das duldsam, mit Gleichmut. Itze lässt ihn dankbar gewähren, solange sie fort ist, weil sie seiner vorsichtigen Fürsorglichkeit vertraut, scheucht ihn aber recht "undankbar" mit krallenden Pfoten weg, wenn sie zurückkehrt und ihren Platz wieder einnehmen will. Die Frauen. So ist halt das Leben.


In diesem 26er Jahr wird bei Eberswalde, in "Niederfinow", der Bau des größten Schiffshebewerks Europas begonnen. Acht Jahre Bautätigkeit werden bis zur Inbetriebnahme veranschlagt.

Vor wenigen Tagen: Roald Amundsen! Der erste, der mit dem Luftschiff den Nordpol überfliegt, nachdem sein früherer Versuch mit Flugbooten gescheitert war. Er ist mit dem in Italien gebauten Luftschiff "Norge", mit Lincoln Ellsworth und Umberto Nobile unterwegs und kommt auch heil wieder zurück. Vier Tage vorher hatte es der Amerikaner Richard Byrd mit einem dreimotorigen Flugzeug der Firma Fokker geschafft. Für ein solch teures Gerät hätte Amundsen kaum so schnell das Geld zusammen bekommen. In Spitzbergen trafen sie kameradschaftlich, neidlos, aufeinander.

1926 ist auch unsere Stadt Nowawes zur Autostadt geworden. In der Wilhelmstraße montiert Louis Nathan Kleinwagen: Das NOWA-Auto oder NAWA-Auto (aus Nowawes, Nathan und Wagen gebildet). Er hatte in der Wilhelmstraße bereits 1884 eine Jute- und Hanfweberei gegründet. Nathan war 1856 in Calbe an der Saale geboren worden. Er ist aber nicht nur Unternehmer, sondern auch Kommunalpolitiker. So engagierte er sich auch beim Bau des Teltowkanals, förderte die medizinische Versorgung der Nowaweser Bevölkerung, buk Brot für hungernde Arbeiterfamilien, das heißt, er verteilte es kostenlos und eröffnete gleichfalls eine Suppenküche. Er stirbt mit 69 Jahren und wird auf dem Potsdamer jüdischen Friedhof am Fuße des Pfingstberges bestattet.

Zum Ende des sechsundzwanziger Jahres treten in der Stadt gehäuft Typhusfälle auf. Wie man hört, hatten die Ärzte angesichts der schlechten Ernährungslage schon früher damit gerechnet. Äußerste Sauberkeit und das Abkochen des Wassers und der anderen Lebensmittel sind geboten.


Auch 1927 ist ein ereignisreiches Jahr

Nicht genug mit den Typhuserkrankungen, breitet sich Anfang 1927 erneut eine Grippe-Epidemie aus, gegen die es ja keinen Impfstoff gibt. Körper-Kontakte sollen weitmöglich vermieden werden, jedwede Versammlungen fallen aus.

Das Ende des Winters 26/27 kündigt sich mit einem gewaltigen Hochwasser an. Der Pegel in Nowawes steht knapp unter der 2 m-Marke über dem langjährigen Normal. Von der Nuthe bis zum Neuendorfer Anger sieht man über eine Wasserwüste, ebenso zeigen die Wiesen zwischen Horstweg und Schlaatz, die Bahnlinie im Wildpark Land unter. Im Golmer Luch sowieso, aber selbst der Park von Sanssouci mit dem überfluteten Friedensgraben bietet ein ähnliches Bild. In den tiefer stehenden Gebäuden schwimmen die Kohlen buchstäblich an der Kellerdecke. Verheerende Zustände. Solche Hochwasserstände werden sich 1930, 1938 und 1940 in Potsdam und Umgebung erneut einstellen.


Im Juli halten sich Margarethe und Anni wieder in Badenweiler auf. Es ist einerseits schmerzlich, die Stätten nun ohne Hans wiederzusehen, andererseits brauchen sie aber die Erholung. Diesmal wohnen sie nicht im „Hotel Saupe“, sondern preisgünstiger in der Pension „Haus Kleinod“, bei der Familie des Buchdruckers Engler, der seine kleine Druckerei im Keller des Hauses Moltkestraße 13 hat, nebenbei einen kleinen Kiosk führt und Zimmer an „de Sommergäscht“ (wie man dort sagt) vermietet. Da kamen wir als Familie Sommer im Monat Juli ja so gerade recht. Zumindest nahm ich die Möglichkeit wahr, auch einige Tage auszuspannen und sie von dort abzuholen.

Zur Zeit des Abschlusses ihrer Schulzeit, zu Michaelis, den 4. September 1927, wird Anne-Marie in der Friedrichskirche konfirmiert. Sie soll nach unserem Willen keine langwierige Fremd-Ausbildung aufnehmen, sondern gleich in unser Geschäft einsteigen, Einblick in die Buchführung erhalten. Hier ist mit Strenge die Arbeit zu achten und auch so ans Werk zu gehen, damit sich nicht Flausen einstellen, wie solche Hansens Schicksal mit dem Unfall beim Hockeyspielen so verhängnisvoll beeinflusst hatten. Während Margarethe die Anni beim Verkauf mit anstellt, (Rechnungen trägt sie ohnehin schon lange Zeit aus und kassiert auch bei den Kunden, soweit das möglich ist), bringt ihr Max Hasait die Grundlagen der Rechnungsbuchführung und der buchhaltérischen Materialwirtschaft näher, (die sie dann später sowieso selbständig weiter führen wird, nachdem Hasait am 28. März 1933 stirbt).

Die Familie Sommer, also meine Schuhmacher-Eltern und die Familie des Schneidermeisters Hasait, hatten schon vor unserer Geburt nebeneinander im Hause Schwertfegerstraße 8 gewohnt. Damals war natürlich nicht abzusehen, daß jemand von den Kindern und dann ausgerechnet die beiden Maxens, mal in derselben Firma arbeiten würden. Der andere Hasait-Sohn, Oscar, ist inzwischen langjährig, wie sein Vater, ein Schneidermeister. Als ich zur Schule kam, zogen auch sie von jener Wohnung fort, zur Bäckerstraße 6. Die Vorfahren der Familie Hasait waren Balten, stammen aus Litauen.


1928

Im Frühjahr 1928 feierten wir in Berlin Schwiegervater Franz Runges 82. Geburtstag. Auch seine gute Bekannte Frau Zborowski, Liebnows, Escherts und Seehafers waren dabei. –

Margarethe, Anne-Marie und ihre Tante, meine Schwägerin Johanna (Seehafer) sind wieder in Badenweiler, ich halte hier im Geschäft die Stelle. Sehr locker schreibt die Tochter des Vermieter-Ehepaares "Any" Engler "an Herrn Sommer in Nowawes". Solch eine verkürzt hingeworfene Briefanschrift scheint ausreichend, obwohl sie die genaue gut kennt. Im Gegensatz zu ihrem Aussehen hat Fräulein „Anys“ Art so etwas Legeres, Weltgewandtes. Ihre Schreibhand hat trotz der Jugend, dem Kindesalter kaum entwachsen, schon Mondänes in diesen kurzen Zeilen. Das südlichere Flair lässt sie erwachsener erscheinen, als ich es hier aus unseren "Nudelberger" Kreisen gewohnt bin. Später ist dann Any auch bei uns zu Besuch und ich zeige ihr die beiden Städte: Potsdam, Nowawes-Neuendorf, die Schlösser und die Parkanlagen. Diese gegenseitigen Besuche setzten wir auch in den 30er Jahren fort.


1928 schippert der wohl übertrieben selbstbewusste Italiener, General Umberto Nobile, mit dem Luftschiff "Italia", in Richtung Nordpol, diesmal aber als Kapitän mit eigener Mannschaft, Er verunglückt jedoch irgendwo über dem Packeis bei Spitzbergen. Die Gondel des Fahrzeuges zerreißt dabei. Nobile bleibt mit einem Teil der Besatzung luftschiffbrüchig abgestürzt, auf dem Eis zurück. Das zerstörte Luftschiff, völlig unlenkbar, setzt wegen der Gasfüllung aber mit dem Rest der Mannschaft die Fahrt fort und gilt seither als im ewigen Eis verschollen. Ähnlich erging es dem eigenbrötlerischen, wortkargen aber hervorragenden und zähen Amundsen, der bereit war, den waghalsigen Nobile zu suchen und dabei, wohl am 19. Juli, während dieser Rettungsaktion selbst ums Leben kam. Nobile und weitere Mitarbeiter der Besatzung wurden hingegen von anderen gerettet und vom sowjetischen Eisbrecher Krassin aufgenommen. Fast dreißig Flugzeuge sollen an der Suche beteiligt gewesen sein. –

Der junge Amerikaner Charles Lindbergh (1902–1974), ein Postflieger, überquerte im Vorjahr als allein fliegender Pilot, demzufolge ohne Schlaf und wie man sich leicht vorstellen kann, ohne Zwischenhalt, als Erster mit dem Flugzeug den Atlantik und landete nachts mit Stress-Halluzinationen ob des Schlafentzugs, nach 33 Stunden Dauerflug am 22. Mai 1927 auf dem wahrhaft blendend beleuchteten Flugplatz in Paris.

Das deutsche Flugzeug "Bremen" überquerte nun auch den Atlantik, aber in entgegengesetzter Richtung als Lindbergh. Allerdings konnten die Besatzungsmitglieder einander ablösen und zwischendurch ruhen. Im November folgte Dr. Hugo Eckener mit dem Luftschiff "Graf Zeppelin". Er hatte es bei der Atlantiküberquerung mit Abstand am komfortabelsten in seiner Großgondel.

Eine neue Wirtschaftskrise kündigt sich an. Deutschland hat etwa 2 Millionen Arbeitslose, es droht eine steigende Tendenz.

Der Winter, der die Jahre 28 und 29 verbindet, ist ein besonders strenger. Nachts werden minus 27° bis 30°C erreicht. Das Eis des Heiligen Sees in Potsdam ist etwa einen halben Meter dick. Die Tiere in den Wäldern leiden sehr. Trotz der försterlichen Versorgung verenden viele Waldbewohner in diesen Wochen des harten Winters. Öffentliche Amtsstuben reduzieren die Öffnungszeiten. Für Schüler gibt es wegen der Kohleknappheit im Februar "Kältefrei".

Hoch-Zeit (aber keine Eheschließung, sondern Eis-Zeit) besteht bei Firma „Eis-Fix“ in der Wiesenstraße an der Nuthe. Nuthe-Eis – soviel Natureis wird gebunkert, wie man unterbringen und für den Sommer aufbewahren kann.


In jener Zeit schaffen wir uns eine Mercedes-Schreibmaschine an. Nun können wir mittels Carbonbögen mehrere Seiten durchtippen und es entfällt das lästige Ausfertigen des Schriftverkehrs und der Rechnungen mit Copiertinte, die bisher dann feucht und mit der Presse in die Kladden copiert wurden. Unsere Firmenbriefbögen und Abrechnungsblätter lassen wir immer bei der Firma Freudenberg in der Nowaweser Bäckerstraße (spätere Schornsteinfegergasse) drucken.


Aus dem Jahre 1929

Bei der UFA wurde in nur sechs Monaten Bauzeit die neue Halle aus Klinkersteinen errichtet, die als das "Tonkreuz" Berühmtheit erlangt. Dringend wurde sie benötigt, denn man bereitet darin den ersten richtigen deutschen Tonfilm vor. Lernten die Bilder vor dreieinhalb Jahrzehnten das Laufen, so bringt man ihnen jetzt auch noch das Sprechen und Singen bei. Versuche dazu gibt es schon ab '22 in Berlin, den "reifen" Tonfilm dann aber doch zuerst in den USA und nun bei uns. Die konservierte Musik soll von einer "eigenen Spur" auch direkt vom Zelluloidstreifen kommen. Von mir nicht erklärbar aber doch wahr. Erläuterungen zu den Bildern von einem Filmerklärer und auch der „lautmalende“ Spieler am Pianoforte können dann wegfallen.

Professor Albert Einstein, der große Physiker, lässt sich in der Nähe des Templiner Sees, im gerade 8 km von hier entfernten Dorf Caputh, in der Straße "Am Waldrand 7/8", ein schlichtes aber schönes Haus aufstellen. Der Architekt, Prof. Konrad Wachsmann, entwarf es für ihn aus vorgefertigten Holzwand-Elementen. Viele namhafte Gäste sah dann später dieses Haus, unter ihnen auch Gerhard Hauptmann, die Brüder Zweig, Käthe Kollwitz, seinen Chef aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik: Max Planck (1858–1947), Fritz Haber, ebenso Heinrich Mann, Max Born, Max von der Laue und viele andere Menschen. Einstein pflegte trotz seiner zeitfüllenden Studien einen fleißigen Briefverkehr, so auch mit Charly Chaplin oder Prof. Dr. Albert Schweitzer.

Nur wenige Sommer wird er jedoch in Haus und Garten oder mit seiner Segeljolle "Tümmler" auf den Potsdamer Gewässern verbringen können, da er rechtzeitig vor dem Nazi-Regime in die USA emigrieren wird.

Handlungsort Bülowstraße (spätere Wattstraße), Ecke Großbeeren Straße: In der dortigen Autowerkstatt baut Herr Förster auftragsgemäß eine Rakete. Sie soll in dem UFA-Film "Die Frau im Mond" verwendet werden (wurde sie dann aber doch nicht. Ein Jahr später wird sie, mit einem Benzin-Sauerstoff-Gemisch angetrieben, in Berlin-Reinickendorf auf dem dortigen Versuchsflugplatz starten).

Thomas Mann, der den gleichen Geburtsjahrgang hat wie ich (mich jedoch um 10 Jahre überleben wird), erhält den Nobelpreis für Literatur. (Ich gehe leer aus).

25. Oktober 1929 – der Schwarze Freitag an der New Yorker Börse, leitet die weltweite Wirtschaftskrise ein. In den nächsten Jahren wird unser Land sehr hart davon betroffen sein.

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Dr. phil. Eugen Roth  (1895–1976, München) berichtete im Spätsommer 1929 für die Zeitung über die Jungfernfahrt des Luftschiffes „Graf Zeppelin“. Sinngemäß führte er aus: Das Wetter war zu jener Zeit ungünstig, der Aufstieg des Luftschiffes in Friedrichshafen am Bodensee verzögerte sich Tag um Tag. Aber an einem sonnigen Morgen war es soweit. Der graue Riese wurde aus der Halle gezogen, er schwebte bereits, von vielen schwäbischen Soldaten an den Leinen gehalten – und noch mehr Soldaten sperrten den Platz ab gegen das herbeigeeilte Volk. Die Honorationen waren bereits alle vorher in der Halle eingestiegen.
Luftschiffkapitän Lehmann leitete von der Erde aus das Abflugmanöver – er, ein so sehr Freundlicher, der später 1936 beim Brand des Luftschiffes „Hindenburg“ in Lakehurst, USA, ums Leben kommen wird.
In dieses bereits startklar schwebende Luftschiff stieg ich (Roth) über die Strickleiter als letzter Fahrgast ein und nach mir nur noch der Erste Offizier. Kommandant des Luftschiffes war Dr. Eckener.
Dr. Roth stieg nach diesem Jungfernflug nicht geordnet aus, sondern sprang bereits vor der Halle aus dem noch schwebenden Schiff, um mit großem Zeitvorsprung als erster Reporter die Zeitungen vom Sonderpostamt aus telefonisch mit einem Exklusivbericht versorgen zu können, der in der Redaktion sofort mitstenografiert wurde. Nach langer Zeit, sehr spät, wurde dann die Telefonzelle auch für andere Reporter frei.
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Ein Einschub: Anne-Marie, Maxens 16jährige Tochter, charakterisiert ihren Vater:

Mein Vater hat ein „feines“ Auftreten. Seine Umgangsformen sind kühl, akkurat und höflich. Er benutzt nie Schimpfworte, auch keine eher harmlosen Kraftausdrücke und achtet auch bei den Gesellen auf ein entsprechendes Verhalten. Vater, der Chef, trägt stets „Offiziersstiefel“ mit oben abschließendem Gummizug und seitlichen Schlaufen als Anziehhilfe und zum Aufhängen der täglich auf Hochglanz polierten Stiefel. Er war in den zwei handwerklichen Berufen Mechaniker und Elektriker, als Techniker mit eigenem Betrieb, über den Meister hinaus gewachsen. Mein Vater hat bedauerlicher Weise kaum eine geschwisterliche Verbindung mit seinem älteren Bruder, dem Schuhmachermeister Paul Sommer, in der Nowaweser Lindenstraße 20 wohnend. Ich kann mich erinnern, diese Familie, also Onkel / Tante und die Cousins und Cousinen leider nur einmal bewusst besuchsweise gesehen zu haben.

Mit Vaters beiden Schwestern Hedwig Knoll und Marie Steiner, die in der Mittelstraße 19 und 19a leben, besteht eine lose Verbindung. Über Angelegenheiten der Familie und Aspekte der Geschichte unserer Familie wird aber kaum geredet.


Notizen über das Jahr 1930

Es finden ab Friedrichshafen am Bodensee, Südamerika-Flüge mit Luftschiffen und auch mit dem Großraumflugzeug Dornier X 10 statt. Dieses ist als Wasserflugzeug konstruiert (aber in der Luft kann es auch ...).

Solche Glanzlichter täuschen aber nicht darüber hinweg, daß es mit Deutschlands Wirtschaft immer weiter bergab geht. Die Kriegs-Reparationsverpflichtungen nach dem Versailler Vertrag bemessen, werden dem ausblutenden Deutschland gestundet, später sogar erlassen.

Psittakose-Erkrankungen treten in Potsdam zu mehreren Fällen auf. Man nimmt an, dass die Erreger von exotischen Vögeln eingeschleppt wurden. Solche gefiederten Freunde, die daran nicht gleichermaßen erkranken, werden auch hier von einigen Einwohnern gehalten.


Ich erhielt von der Handwerkskammer zu Berlin die Bestallungsurkunde als Sachverständiger für die Beurteilung von Arbeiten auf elektrotechnischem Gebiet.

Inzwischen hat Herr Reinicke das Geschäft meines früheren verehrten Lehrmeisters Paul Strecker, in der Kirchstraße 12, als Inhaber übernommen. Tel. Potsdam 32 22, falls ihr 'mal wegen eines Auftrages anrufen wollt. Oder lasst diesen besser einfach hier bei mir in Nowawes bearbeiten.

Unsere Tochter Anne-Marie ist mit dem CVJM (Christlicher Verein junger Mädchen) über Pfingsten ins Riesengebirge. Sie kommt immer ganz begeistert von diesen Fahrten zurück. Im Sommer ist Anni mit der Kinderkirche über Steinstücken nach Albrechts Teerofen am Teltow-Kanal gewandert. Dort verlebten mehrere hundert Kinder wieder einen fröhlichen Sonntag. Wir begehen am 29. Juli unsere Silberhochzeit. Einige Gäste sind da – aber weniger Tamm-Tamm, als vor einem viertel Jahrhundert.


1931

Wilhelm und Anna Thiele, die Kunstmaler, die in der Nowaweser Auguststraße 34 (spätere Tuchmacherstraße) wohnen, malen das herrliche Großgemälde des Alten Marktes zu Potsdam mit seinem bunten Treiben. Die Situation mit ihrer Stimmung ist ganz großartig eingefangen. (Das Bild wird 70 Jahre später im Hochparterre der „Regierung“, des "neuen" Rathauses hängen).

An Filmen die in den Kinos erscheinen, wären zu nennen: "Schloß Gripsholm", nach Tucholsky, "Die Dreigroschenoper" von Brecht. "Der Hauptmann von Köpenick", von Carl Zuckmayer (Aus dem Leben des Schusters Voigt / 1906. Eine sozialkritische Episode. Die wahren Erlebnisse, die sich auch hier am Orte zutrugen, ich erzählte euch damals davon, jetzt im Kintopp. Na so was).

Prof. Albert Einstein unterstützt die internationale Vereinigung der Kriegsdienstverweigerer. Ende des Jahres gibt es über 5½ Millionen Arbeitslose. Rufe nach einer starken Hand werden hörbar. Könnte es ein neuer aber weiser Monarch richten? "Wir wollen unser alten Kaiser Willem wiederhaben", ist wohl angesichts der Probleme nicht der zeitgemäße Ausweg. Bei der Wahl zum Reichspräsidenten erhalten Hindenburg (mit 85 Jahren) 53% der Stimmen, Hitler 37% und Thälmann 10%. Hindenburg wurde somit wiedergewählt (für ein Jahr nur wird es sein).


Anni ist über Pfingsten mit der Kirche (Pfarrer Mehlhase) im Harz. Goslar, Rübeland und andere Orte wollen sie besuchen. Nun ist sie auch der Blindenmission beigetreten, die Pastor Christoffel gegründet hat. In ihr liegt so eine soziale Ader.

Habe ich so aus den Augenwinkeln richtig gesehen, dass unser Geselle Erich Ladenthin versucht mit Anne-Marie zu liebäugeln? Nichts da, das Kind ist erst Achtzehn. Wenn er in ein paar Jahren seinen Elektriker-Meisterbrief aus der Tasche zieht und dann in der entsprechenden Form, vorerst bei mir … bitteschön ... mit mir kann man doch reden.

Aber falls daraus etwas werden sollte – ich habe mich schon 'mal umgehört:

Der Vater von Erich Ladenthin, Ernst Karl August Ladenthin, ist Eisenbahnarbeiter. Schienenkratzer. Er wurde am 06. Oktober 1881 in Stolzenburg, im Kreise Landsberg, nein, nicht an der Lanze, sondern am Fluss Warthe geboren.

Die Großeltern des Erich Ladenthin sind der Fuhrmann August Ladenthin und seine Frau Louise, geb. Kuhl in Landsberg.

Erichs Mutter ist die Arbeiterin Alma Friederike eine geborene Tauer, geboren ebenfalls in Landsberg, aber am 28. Juni 1881. Hier in Nowawes wohnen sie in der Marienstraße 13 a. Ihre Eltern sind der Former Hermann Wilhelm Franz Tauer und seine Ehefrau Luise, eine geborene Dunst, beide in Landsberg lebend. Na dann – woll'n wir mal sehen.


1932

Mit dem Jahresbeginn 1932 gehöre ich auch dem Gesellenprüfungsausschuss, als Stellvertreter des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses und Meisterbeisitzer an, bis dieser im Jahre 1935 aufgelöst wird.

Margarethe und Anni sind in diesem Sommer wieder in Badenweiler bei Englers, über die Zeit von Annis Geburtstag hinaus.

Auf der diesjährigen Messe für elektrotechnische Haushaltgeräte haben wir wieder einen gemeinsamen Stand mit Innungsobermeister Otto Arlt (Karlstraße 16). Anni führt dort den Kunden elektrische Geräte vor und ihr obliegt das tägliche Schaukochen auf dem Elektroherd, der „Siemens-Schulküche“ und das Backen in der „Stromküche“. Otto Arlt ist im Umgang leutselig. Seine Frau, die mitarbeitet, ist, wie soll ich sagen - recht propper.


1933

Das Jahr bringt eine neue Regierung. Der neu gewählte Reichstag soll in Potsdam zur Eröffnungssitzung zusammentreten, da das Reichstagsgebäude in Berlin am 27. Februar brannte. Ein Zufall? Brandstiftung? Der Name Georgi Dimitroff und Namen weiterer bulgarischen Kommunisten sowie Marinus van der Lubbe fallen in diesem Zusammenhang. Letzterer wird 1934 hingerichtet. Es bleibt aber der Verdacht, dass der Brand von den Nationalsozialisten „gestiftet“ wurde. Josef Stalin macht Dimitroff anschließend zum Chef der Kommunistischen Internationale. Später wird man den Brand als willkommenen Anlass für den Zeitpunkt des Endes der Demokratie bezeichnen. Nur weil der Berliner Reichstag Brandschäden aufweist, findet die folgende Veranstaltung in Potsdam (als Ausweich) statt:

Potsdam, den 21. März. Ein kalter Tag, leichter Schneefall. Großer Trubel, auf den Straßen viel Militär: Die alte Reichswehr und Hundertschaften der braunen Schutzabteilung. Im krassen Gegensatz zu diesem kriegerischen Aufzug läuten kurz vor Mittag anhaltend alle Kirchenglocken der Stadt.

Der greise Generalfeldmarschall v. Hindenburg übergibt (auf der Straße) symbolisch mit einem Händedruck, dem neuen Reichskanzler die Macht der Regierung. Kanzler wird aber eben kein Scheidemann oder gar ein Mitstreiter von Liebknecht, kein Aristokrat oder Gelehrter, sondern der Führer der NSDAP, Adolf Hitler. Heute nicht in brauner Uniform, sondern ganz zivil und devot auftretend, im schwarzen Frack, wie zu einer Gala-Theatervorstellung. Nur mit den gebündelten Stimmen von Deutsch-Nationalen und Nationalen Sozialisten (was sagen schon diese Bezeichnungen über Programminhalte und Ziele der Parteien?) konnte Hitler die neue Machtstellung erlangen Schon wieder: Hoffentlich geht’s gut. Von der Garnisonkirche tönt es zu jeder Stunde mahnend: "Üb immer Treu und Redlichkeit … „


Der junge Herr Dr. med. Heim, der unseren Hans während dessen Erkrankung so treu behandelt hatte, gehört auch zu jenen Vielen, deren geforderter Nachweis über die "unentbehrliche" deutschblütige Abstammung, den Missfallen der Behörden erregt hätte. Unverständlich diese Forderung der Regierung nach "dem Arischen", nach vielen Generationen des guten Zusammenlebens, und wohl völlig ungeachtet des segensreichen Tuns auch seiner Familie. Er verlässt Deutschland im Mai 1933. Sein Post-Gruß aus England gibt uns eine letzte Nachricht vor dem weiteren Auswandern. China ist sein Ziel. So sehr viele fliehen noch rechtzeitig in irgendein Land das sie aufnimmt und finden in der Fremde eine Zuflucht, so auch Prof. Albert Einstein und seine Familie, die Familien Mann, die nach Amerika fahren oder Kurt Tucholsky, der leider mit 45 Jahren dann im schwedischen Exil seinem Leben ein Ende setzt.


Am 20. August 33 erhalte auch ich die Aufforderung meine "deutschblütige arische Abstammung" nachzuweisen. Verschiedenes bekomme ich aus den Kirchenbüchern an Daten noch zusammen. Die Pfarrstellen und Standesämter sind ja hoffnungslos mit Anfragen überlastet. Aber bereits bei der Kenntnis über meine Großeltern machen sich schon Unsicherheiten bemerkbar. Na, vielleicht kann man das später ohne Zeitdruck und ohne dieses mulmige Gefühl im Nacken, noch näher "erforschen".


1934

Offenbar hat mein Nachweis ausgereicht, denn in diesem Jahr bekomme ich die Bestallungsurkunde als „Sachverständiger für das Elektroinstallationshandwerk, in den Fragen des Vergabewesens für alle öffentlichen Vergabestellen in Potsdam und Nowawes“, was ohne Bestätigung der "hinreichend guten Abstammung" jetzt wohl nicht mehr möglich gewesen wäre. (Wie nichtig sich doch diese persönliche Notiz angesichts der derzeitigen großen Geschehnisse ausnimmt).


1935

Der Deutsche Autobahnbau wird mit der Ausführung eines Autobahn-Rings um Berlin begonnen. Tausende Arbeitslose kommen wieder in Lohn und Brot. Hitler erhält dafür "Lorbeeren" vom Volk. Adam Opel lässt in der Stadt Brandenburg den Lastkraftwagen "Opel-Blitz" produzieren. Das Dorf Ludwigsfelde wird wegen der Herstellung der Daimler-Benz-Flugzeugmotoren in kurzer Zeit zu einer Kleinstadt, ist aber als wichtige Stätte fortan auf keiner neuen Landkarte mehr eingezeichnet.

„Arado“ baut eine Flugzeugwerft am Flüsschen Nuthe, am "Aradosee", an der Flur-Grenze zwischen Nowawes und Potsdam.

Eine der ersten Fliegerinnen der Welt ist unsere Landsmännin (oder richtiger: Landsfrau?) Elly Beinhorn. Sie fliegt am 13. August alleine die 3.570 km lange Strecke Gleiwitz-Istanbul-Berlin. 1931 war sie mit 24 Jahren auch schon allein nach Afrika und Australien geflogen! –

In diesem 35er Jahr wird die Wehrpflicht wieder 'mal eingeführt.


1936

Am Sonntag, den 19. Januar 1936 stirbt mein Schwiegervater Franz Runge im 90. Lebensjahr in Berlin, nach einem Berufs-Leben als Zimmermann und Maurer, als Bau-Meister.


In Berlin finden im neuen Olympia-Stadion und andern Orts die Olympischen Spiele statt. Das olympische Dorf wurde 25 km von hier, in Dallgow-Döberitz und Elstal errichtet. Sportler aus 48 Nationen beteiligen sich. Die Spiele nutzt man propagandistisch mächtig. Nach Abschluss der Spiele übernimmt sofort die Wehrmacht das Gelände mit allen Einrichtungen. In Spanien herrscht Bürgerkrieg. Das offizielle Deutsche Reich unterstützt die Franco-Regierung. Dagegen kämpfen auch deutsche Kommunisten auf der Seite der Aufständischen. Die deutsche Flugzeug-Legion "Condor" bombardiert die baskische Hauptstadt Guernica, was Pablo Picasso später auf einem Bild darstellen wird. Ist schwierig anzusehen. Solche Art des Malens wird im deutschen Reich als entartete Kunst bezeichnet.


Ich habe mitbekommen, dass der junge Christlieb Albrecht von gegenüber, mit Anni Fahrrad fahren übt. Ohne nach meiner Erlaubnis zu fragen. Wozu braucht eine junge Frau heute so etwas? Seit Jahren klappert sie die Kunden per Pedes ab. Das ging doch immer ganz gut. Viel laufen erhält gesund. Sie murmelte was von Zeitersparnis und weil sie doch öfter mit dem Richard von Janeckes unterwegs ist, der ja auch ... Wissen wir doch, wie derlei Extratouren bei Hans ausgingen. Unfall – Tod. Zum Volkstanz laufen sie doch auch von Nowawes nach Bergstücken oder Saarmund, nach Eiche zu „Onkel Emil“ – manchmal bis Töplitz. Und weitertanzen werden sie ebenfalls zu Fuß. Warum also jetzt plötzlich die fixe Idee mit dem Fahrrad – sie ist doch erst 23.


1937

Unsere Anne-Marie verlobt sich mit Herrn Richard Janecke. Auch ein Techniker. Früher arbeitete er in der Lokomotivfabrik bei Orenstein und Koppel, wie sein Vater August. Bis zur großen Entlassungswelle 1925. Herr Janecke hat noch eine etwas ältere Schwester. Die Käte. Die Mutter der beiden, Klara Janecke, geb. Dittwaldt, ist 1933, wenige Tage vor der Regierungsübernahme schon früh hingeschieden. Der Richard J. zeichnet technisch (aber kaum Elektroleitungen), macht mehr in Graphik, Kunstschriften und solchen modernen Kopierverfahren wie Lichtpausen, Glasdruck, Rotationsdruck und verkauft Bürokrempel – kein so richtiges Handwerk mit solider Basis – in meinem Sinne – also ich weiß ja nicht. Mir ist noch unklar, ob er Anne-Marie mit seinem Gewerbchen wird ernähren können. Und wer soll hier verkaufen, das Buchwerk führen, die Kunden aufsuchen, wenn er sie wegheiratet? Margarethe wird schließlich auch nicht jünger. Eigentlich sollte ja ein Schwiegersohn ins Haus, der als Inhaber und unter meinem Namen die Firma weiterführt.

Nach der Verlobung unternehmen sie mit den Rädern(!) eine Fahrt nach Rheinsberg.

Unser Besuch bei den Verlobten in der Wohnung des Vaters Janecke in der Wichgrafstraße 22, (früher Mittelstraße 22, Besitzer: Töpfermeister Max Lüscher): Ja, ja, ganz netter Kaffee-Nachmittag. Schade, dass Klara Janecke, die eigentlich meine Schwägerin sein sollte, nicht mehr lebt. Aber sie war fast dabei (in den Gedanken und mit ihrem Bild sowieso) und – liegt doch auf dem Friedhof schräg gegenüber. Sie soll trotz flotter Berliner Mundart sanfter gewesen sein, als ihre Tochter Käte, die recht burschikos ihren eigenen Kopf zur Schau trägt und vor rund einem Jahrzehnt "nur mal kurz" mit dem Techniker Richard Kümmel verheiratet war.

Richard Janeckes junger Freund Christlieb Albrecht (27 Jahre alt), aus der Priesterstraße im früheren böhmischen Schulhaus (spätere Karl-Liebknecht-Straße 27), also uns gegenüber wohnend, war einige Stunden auf Urlaub von Preußens hier und hat uns mit Anne-Maries Vier-Reichsmark-Agfa-Box-Kamera (Baujahr 1927) an der Kaffeetafel photographiert. Gut gelungen. Morgen schon muss er wieder zurück zum Militär.


Herr Professor Dr. Sauerbruch, ein großer Chirurg, so wie ich 1875 geboren, entwickelte bedeutende neue Operationsverfahren und befasst sich derzeitig auch mit neuartiger Mechanik für Arm- und Beinprothesen. Er hätte auch ein berühmter Feinmechaniker werden können. Vielleicht werden solche Hilfsmittel in ferner Zukunft sogar noch elektrifiziert. Wer weiß das schon? Die Entwicklung geht so stürmisch voran. Könnte die Forschung doch ein Menschenleben lang im Frieden betrieben werden.

Das größte Luftschiff, die LZ-129 "Hindenburg", 245 m lang und mit 200.000 m³ Gas gefüllt, verbrennt bei einem Gewitter nach Blitzeinschlag am Ankermast im Luftschiffhafen von Lakehurst (USA) am 6. Mai 1937. Die leicht explosible und brennbare Wasserstoff-Füllung brennt wie eine riesige Fackel. Zahlreiche Menschen kommen dabei in Sekundenbruchteilen um. Diese Katastrophe bedeutet vorerst das Ende der Luftschiff-Fahrt. –

Die Villenkolonie Neu-Babelsberg wird per Erlass vom 23. September 1937 zu Nowawes eingemeindet.


1938

Der kürzlich vereinigte Ort Nowawes–Neubabelsberg soll ab 1. April 1938 den Namen Babelsberg tragen. Die bisherige Bezeichnung "Nowawes" erinnert die Regierung zu sehr an die Böhmen, die zu den Slawen gezählt werden und die hier, entgegen früherer Toleranz, keinen Platz mehr, selbst nicht in der Erinnerung, haben sollen. Schade. Auch die deutsche Übersetzung "Neuendorf" sollte es als Film-Stadt wohl auch nicht mehr sein. Filmpoduktion auf'm Dorf. Das wäre zu provinziell. Der neue Name "Babelsberg", für die Schwestern-Orte, in Anlehnung an Schloss und Park, die ja ohnehin bereits Babelsberg heißen, ist uns nicht fremd. Ein Trost?

09. November 1938: In der Vergangenheit verschwanden auch aus Potsdam immer wieder Leute, insbesondere jüdische Mitbürger. In dieser Nacht wird die Potsdamer Synagoge (am Wilhelmplatz, links neben der Hauptpost) zerstört und geplündert, Geschäfte jüdischer Menschen werden gestürmt und ausgeraubt und deren Besitzer zum Teil vertrieben oder verhaftet. Den Grabtafeln auf dem jüdischen Friedhof werden die Namen ausgemeißelt. All diese Gewaltakte werden später als „Reichskristallnacht" und „Reichsprogromnacht“ in die Geschichte eingehen. Es ist der Beginn, die erfolgreichen jüdischen Bürger radikal und vorerst vom Wirtschaftsleben auszuschließen.


1939

Am 15. März marschiert die Reichswehr auf Hitlers Befehl in die Tschechoslowakei ein.

Auch der Ortsname „Babelsberg“ existierte nur ein Jahr. Kein April-Scherz: Am 1. April wird die Stadt nach Groß-Potsdam eingemeindet. Neulich noch in Nowawes lebend, wohnen wir jetzt in Potsdam-Babelsberg, Priesterstraße 68. Ganz ohne Möbelumzug.

1. September 1939. Schon wieder ein neuer Krieg! Auslöser soll eine Provokation um den Radiosender Gleiwitz in Oberschlesien sein. Manches an den Berichten ist unklar. Bereits Wilhelm II. hatte damals lauthals verkündet: Ab heute wird "zurück" geschossen. Das "Volk ohne Raum" soll sich nun auf die fremde Weite, in die Ostgebiete, ausdehnen können.

Soll ich sagen: Gott sei Dank, bin ich für diesen Krieg nun zu alt?

Die Familie unseres Stadtarchitekten Paul Muster besitzt jetzt einen Hanomag, der in des Volkes Mund schnell „das Kommissbrot“ genannt wird – wegen seiner Bauform. Eigentlich sollte es ja mit dem größeren KdF-Wagen („Kraft durch Freude“) soweit sein aber den werden wir wohl nur als Militärfahrzeug zu sehen bekommen.

Richard Janecke und unsere Tochter besuchen im Sommer das neue Schiffshebewerk Niederfinow und reisen dann weiter in den Urlaub.


1940

Diesmal kehrt der Krieg ab August 1940, ins Reich zurück. Die ersten Bomben fallen auf Berlin. So wird später beispielsweise auch das große Mietshaus, das mein Schwiegervater Franz Runge, als Zimmer- und Baumeister, in Berlin-Moabit, Spener Str. 32 errichtet hatte, und in dem seine Kinder-Familien leben, dem Erdboden gleichgemacht. Zu seinem "Glück" braucht er das nicht mehr mitzuerleben. Nur wenige unwesentliche Stücke konnten aus den Trümmern gerettet werden. Friedel Liebnow und Johanna Seehafer durchsuchten die Ruine soweit es ihnen möglich war. Sie konnten als letzte Erinnerung, als Andenken an die Wohnstätte, an ihr Zuhause, nur noch ein ornamentales Fliesenbruchstück des Hausflur-Fußbodens mitnehmen.

In dieser Zeit wird auch der älteste Sohn meiner Schwester Hedwig (Knoll, geborene Sommer) zum Militär eingezogen. Der Walter Knoll hatte in der Wichgrafstraße 19 einen Friseurgeschäft, das er somit aufgeben muß. Er hat niemanden, der der Kundschaft inzwischen die Haare schneidet. Zumindest könnte er bei seiner Rückkehr sofort bei mir als Elektrohilfsmonteur einsteigen, wenn der Friseurladen nicht gleich wieder anlaufen sollte.


1941

1941, den 5. und 6. April. Nun ist es soweit. Unsere Anne-Marie und Richard Janecke heiraten. Am 5. im Standesamt bei Herrn Richter. Am 6., Palmsonntag, Trauung in der Friedrichskirche bei Pfarrer Viktor Hasse. Unsere Tochter im weißen Kleid, der Richard (ich sage noch immer Herr Janecke zu ihm) im Frack und mit Zylinder. Zum Glück spielt das Wetter mit. Wir feiern bei uns in der Priesterstraße 68, in Wohnung und Garten. Eine Anzahl von Gästen ist zu uns geladen. Dazu gehören, außer unseren unmittelbaren Angehörigen: Hedi und Annegret Giese aus Wittenberge von Janeckes Seite, Luise Hasait (genannt Lieschen), Elisabeth, Hans und Viktor Hasse aus dem Pfarrhaus in der Lutherstraße 1, Emma Hönow, verehelichte Renn vom Friedrichskirchplatz 2, Ober-Bauinspektor Paul Muster aus Potsdam, Hans-Sachs-Straße 7, Betty Pehlke und ihr Mann: Anne-Maries Taufpate der Stadtbauinspektor Ferdinand Pehlke (gleich nebenan – 10 Häuser weiter wohnend), Anton Bernhart, usw. Verschiedene kamen wegen der kriegsbedingten Schwierigkeiten mit der Fest-Lebensmittelbeschaffung (recht rücksichtsvoll) auch nur zwischen den Mahlzeiten kurz mal herein.

Die vielen Gratulanten, die meisten alte Nowaweser aber auch Auswärtige, kann ich hier gar nicht alle aufzählen. Vorher, aber auch später, fertigte Ina Muster-Schatzmann (Potsdam, Alter Markt 3, ja dort in dem Haus an der Nikolaikirche, wo auch früher unsere Sommer-Vorfahren-Familie gelebt hatte) noch verschiedene Fotos. Sie zieht mit ihren Eltern in dieser Zeit aus Angst vor Bombardierungen, zwischen die Großstädte Potsdam und Berlin, nach Kohlhasenbrück, zum Königsweg 310.

Eine mächtige Prüfung, besonders für die Frauen, ist dieser ganze Festtags-Trubel.


Zeit ist vergangen.

Nun ist es inzwischen ruhiger um uns geworden und Anne-Marie ist mit ihrer Aussteuer: Wäsche, selbst ausgesuchtes Mobiliar für Wohn- und Schlafzimmer sowie Geschirr, in ihr neues Heim, Geschäft mit Wohnung, Lindenstraße 39 (spätere Rudolf-Breitscheid-Straße 46) gezogen. Zur Hochzeit bekam sie von uns einen Elektroherd, etwa solch einen (nur moderner), den sie bereits vor Jahren auf der Messe, beim Schau-Kochen zur Verfügung hatte.

In unserem Haus stirbt unser „Nachbar und Übermieter“, der Schiffsmaschinist Franz Brückner, im Alter von nur 51 Jahren. Unsere Kinder spielten früher viel miteinander.


Bald darauf, in der Nacht des 7. Juni, wird unsere Neuendorfer Bethlehemkirche, unsere Hochzeitskirche, von einer Brand-Bombe getroffen. Gerade vier kurze Jahrzehnte war sie seit ihrer Einweihung unversehrt geblieben. Ich empfinde es wie eine persönliche Verletzung, selbst wenn ich ja kein Kirchenmensch bin. Und das geht wohl manchem von uns so. Vielleicht überhaupt nur ein Versehen, dieses Bombardement. Eher ist anzunehmen, dass die Arado-Flugzeugwerke das Ziel sein sollten. Bisher sind Potsdam und Umgebung von schweren Angriffen verschont geblieben. Am 1. August geben die Postämter die ersten Briefmarken mit dem Porträt Hitlers heraus. Leider als langweilige Dauerserie.



1943

So, wie pünktlich zum Gedenktag an die Gründung des Preußenstaates vor 242 Jahren, also am 18. Januar, brachte unsere Tochter Anne-Marie zwischen zwei Sirenen-Luftschutzwarnungen vor Flugzeugangriffen, im Kreiskrankenhaus Babelsberg, Lindenstraße 10, ein Mädchen zur Welt: Enkelkind Anngret. (Ein wahres "Blitzmädel" und ein bemerkenswerter Schreihals). Wäre es ein Junge geworden, hatten die Eltern an den Namen „Mirko“ gedacht (Vorsicht! – besonders arisch wäre der wohl nicht gewesen).

Die Paten bei der Taufe, (Pfingsten bei Pfarrer Viktor Hasse) sind Anne-Maries Freundin Margarethe Baensch (geb. Barsch) und Christlieb Albrecht, der später nach dem Krieg, nicht mehr Soldat, sondern Organist und Kantor der Friedrichskirche sein wird.



1944

Nach zahlreichen missglückten Anschlägen auf das Leben von Hitler, (wohl die einzige Möglichkeit, ein Kriegsende zu beschleunigen und weitere Opfer "bis zum Endsieg" zu vermeiden), wurde er diesmal leicht verletzt aber nicht getötet. Wieder hat ihn "die Vorsehung" gerettet, wie er nebulös bekannt gibt. Oberst Graf von Stauffenberg versuchte das neuerliche Attentat im ostpreußischen Führerhauptquartier, der „Wolfsschanze“, am 20. Juli 1944. Fast alle die das Attentat mit vorbereitet hatten (der Kreisauer Kreis) oder von der Vorbereitung Kenntnis hatten, darunter auch namhafte aristokratische Offiziere des Potsdamer Eliteregiments "Infanterie-Regiment Nr. 9", aus der Kaserne Priesterstraße 2–8 am Lustgarten, werden vom sogenannten Volksgerichtshof in einem Schauprozess gnadenlos verurteilt und hingerichtet.

Gerüchte sickern durch, dass für den Krieg noch eine große Wende für möglich gehalten wird. Diese beziehen sich auf sogenannte V-Waffen, "Vergeltungswaffen", die in Peenemünde entwickelt worden seien und mit Raketenantrieb eine ungeheure Reichweite hätten sowie je nach Ausstattung, sich auch ihr Ziel treffgenau selbst suchen. So 'was hat die Welt noch nicht gesehen. Nur ein Gerücht? Auch an anderen Waffensystemen, leichten Raketen, die bemannt und auch unbemannt von beliebigen Orten gestartet werden können, wird fieberhaft gearbeitet.


In der schweren Zeit des Krieges haben wir jetzt nur noch den Gesellen Schmidt, denn der Not der miserablen Auftragslage gehorchend, mussten wir unsere Mitarbeiterzahl drastisch verringern. Um uns beide irgendwie ernähren zu können, gehe ich trotz dieses an Arbeit und Erfolgen reichen Lebens mit 69 Jahren, nun aber ärmer und müder denn je und mit weniger Hoffnung – mit meiner Werkzeugtasche und Stullenbüchse – die wenigen Reparaturaufträge selbst erledigen. Schmerzliche und gleichermaßen schöne Erinnerungen an die erste Zeit meiner beruflichen Praxis im Kaiserreich vor über fünf Jahrzehnten, an unsere Blütezeit, tauchen dabei häufiger auf.


1945

Am 30. Januar des Jahres '45 torpedieren die Russen von einem Unterseeboot aus, nun auch das deutsche KdF-Schiff "Wilhelm Gustloff", das vom ostpreußischen Hafen Pillau mit Flüchtlingen nach Danzig unterwegs ist. Kurz vor dessen Ankunft wird es getroffen. In der Danziger Bucht starben von 6.000 Passagieren mehr als 5.000 Menschen in den eiskalten Fluten der Ostsee.

(Anmerkung: KdF = „Kraft durch Freude“, eine Erholungsorganisation im „Dritten Reich“).

Die Anzeichen mehren sich: Endlich geht der Krieg zu Ende. Ohne den Einsatz einer neuen Wunderwaffe. Obwohl ich mein Leben lang nichts weiter mit der Religion und ihren Kirchen zu tun hatte, sage ich heute: "Gott sei Dank". Wir sind am Leben geblieben.

In der Nacht vom 14. zum 15. April aber geschieht das schwer Fassbare, bringt eine englische Bomberflotte in weniger als einer halben Stunde Tod und Verderben. Ein grauenvoller Vergeltungsakt für Potsdam.

Die Wohnstätten, die Straßenzüge um die Nikolaikirche herum, in denen meine zahlreichen Vorfahren lebten, die Grünstraße, die Kriewitzstraße, die Kaiserstraße, der Alte Markt mit dem Stadtschloss, die Straße „Am Kanal“, die Berliner Straße, der Blücherplatz, die Burgstraße, auch dort, wo ich bei Herrn Strecker in der Kirchstraße das Handwerk erlernte, ebenso die Französische Straße, sowohl die Garnison-, als auch die Heiligengeist-Kirche, vor allem auch der Bahnhof und das Reichsbahnausbesserungswerk, alles größtenteils zerstört. Bombenabwürfe zwischen 23.40 und 24 Uhr und in deren Folge die Feuersbrunst. So hat der Krieg noch kurz vor seinem Ende zu einem großen Schlag auf Potsdam ausgeholt. In den folgenden Tagen wird so einiges von dem, was noch halbwegs wieder aufbaubar erscheint, durch die von Nord und Ost her anrückende Artillerie zerschossen, wozu auch unsere Nikolaikirche gehört., die Französische Kirche, das Schauspielhaus am Kanal ... . Die sowjetische Rote Armee nimmt unser Gebiet ein und verkündet am 8. Mai, nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, das Ende des Krieges für uns.


Am 22. Mai kann ich vom Babelsberger Rathaus die übergangsweise gültige Berechtigung abholen, meine Handwerkerleistungen mit Geschäft und Werkstatt weiterführen zu dürfen, weil sie als nachkriegswichtig gelten. Zur Ausübung der Tätigkeit wird mir inzwischen fast Siebzigjährigen mittels Berechtigungsschein gestattet, dabei mein altes Fahrrad und einen Handwagen zu nutzen. Den gleichen Schein erhalte ich handschriftlich auch in kyrillischer Schrift ausgefertigt, auf dass diese letztgenannten Wertgegenstände, „also mein Fuhrpark“ für die künftige Friedensarbeit, nicht an der nächsten Straßenecke von den an Fahrzeugen ja auch interessierten Soldaten konfisziert werde. Ob's wirklich 'was helfen wird, weiß niemand.

Der Arbeitsplatz, den ich über Jahre für meinen Neffen Walter Knoll "warmgehalten" hatte, blieb bis heute leer. Er ist aus dem Krieg nicht nach Hause gekommen.


Am 2. September gilt nun der 2. Weltkrieg nach sechs Jahren generell als beendet, nachdem auch Japan kapitulierte. Die USA hatten am 6. und 9. August auf die Städte Hiroshima und Nagasaki noch zwei schreckliche neue Waffen, so genannte Atombomben, abgeworfen. Es soll eine Vergeltung für den japanischen Luftangriff auf Pearl Habour ( den "Perlen-Hafen" auf der Insel O'ahu, Hawaii) sein, der am 7. Dezember 1941 stattfand.

Die vernichtende Wirkung von jeweils nur einer Atombombe pro Stadt, soll eine ganz entsetzliche, nicht vorstellbare sein. Wird die Welt nie friedlich werden? Was bedeutet da ein Friedensschluss, wenn gleichzeitig noch schlimmere neue Waffen ausprobiert werden?


Unsere Tochter ist wieder schwanger. Um die Weihnachtszeit soll sie ihr zweites Kind zur Welt bringen – in diesen Zeiten – was die jungen Leute sich so denken, die selbst kaum 'was zu beißen haben und aussehen, wie das Leiden daselbst (besonders, wenn ich mir meinen Herrn Schwiegersohn so ansehe, der bald aus den Latschen kippt und meine Tochter, die, wie andere Frauen allerdings auch, noch irgendwie zusätzlich ein wachsenes Kind mit ernährt). Wenn es ein Mädchen wird, könnte sie den Namen „Christel“ erhalten, wenn es ein Junge wird, soll er "Christoph" heißen, wurde uns schon mal verraten.

Wer weiß, vielleicht führen diese Nachkommen mal weiter, was wir aufbauten oder zumindest was wir uns wünschten. Und sie werden manches besser machen, als wir!? – Aber werden die Menschen, die nach uns kommen, sich erneut hochrappeln können oder es überhaupt dürfen? Unter welchen Regierenden wird das sein? Wiederholt sich denn immer wieder alles? Wiederholen sich auch alle Fehler?

Werden die Enkel vielleicht einmal an uns Alte denken – auch wenn wir nicht mehr sind, sich damit beschäftigen, was wir in unserer Zeit erlebten? –


Nachworte

Im November des letzten Kriegs- und ersten Friedensjahres, muss Max Sommer sich wegen einsetzender Herzbeschwerden zur Beobachtung in das Babelsberger Krankenhaus begeben. Am Freitag den 23. November 1945, geht Rudolf Max Sommer dort von einem bürgerlichen ehrlich geführten Handwerker-Leben, um 22 Uhr 40, friedlich in die Ewigkeit über. Er stirbt zwei Monate nach der Vollendung seines 70sten Lebensjahres an Herzmuskel- und Kreislaufschwäche.

Die Spuren von Kummer und Entbehrungen der Kriegszeit sind nun aus seinen Zügen gewichen und haben einem Ausdruck feierlich erhabener Würde Platz gegeben. Am Donnerstag, den 29. November, leiten ihn die Angehörigen zu der großen Familienstelle auf dem Friedhof an der Goethestraße zur letzten Ruhe. An die Familie Sommer erinnert der graue Syenit-Stein mit der Sommer-Blume als Zeichen der Hoffnung und des sich erneuernden Lebens.

Einen Monat später, am 29. Dezember 1945, wird das zweite Enkelkind „Christoph“ geboren.



1946

Am 02. Januar 1946 erhält die Witwe Margarethe Sommer von den Stadtwerken Potsdam, Elektrizitätswerk, Kapellenbergstraße 4, den neuen Installateurausweis Nr. 28, als Genehmigung für Max Sommer, 70 Jahre alt, zur Weiterführung der Herstellung elektrischer Anlagen.

Dieser Ausweis blieb neu. Er wurde nie benutzt. Der Elektroinstallationsbetrieb und das Verkaufsgeschäft „Max Sommer“ erfährt nach dem 40. Jahr der Gründung – seine Auflösung.



1949

Am 03. November, früh gegen 5.00 Uhr stirbt auch Ehefrau Margarethe im Babelsberger Krankenhaus in der Rudolf-Breitscheid-Straße nach einem kurzen Aufenthalt.

Am 07. November findet die Beerdigung im Friedgarten Goethestraße an der Seite ihres Mannes und ihres Sohnes statt.


–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––


Zusammenstellung der Wohnorte im Laufe des Lebens des Rudolf Max Sommer und ab 1905 auch seiner Frau Margarethe (geborene Runge).



Anzahl der Wohnstätten


Jahre / Zeitdauer



Lebensalter

des Max


Anschrift

1

Ab 1871 (nur die Eltern), seit meiner Geburt 1875 aber auch ich: 1875–1877


00–01

Potsdam,

Schwertfegerstraße 8


2

1877–1878

02–03

Potsdam,

Bäckerstraße 3


3

1878–1888

03–12

Nowawes,

Lindenstraße 7

(Ort ab 1838: Babelsberg,

Lindenstraße ab 1945: Rudolf-Breitscheid-Straße)


4

1888–1896

12–20

Nowawes,

Lindenstraße 44


5

1896–1905

20–29

Nowawes,

Mittelstraße 9

(ab 1930: Wichgrafstraße 9)

6

Die gemeinsame Ehewohnung

1905–1945

29–70

Nowawes, (ab 1939:

Potsdam-Babelsberg)

Priesterstraße 68 =

(gleiches Haus nach 1945:

Karl-Liebknecht-Straße 121)



Margarethe Runge hingegen wohnte vor der Ehe unter folgenden Anschriften:


1

Hier nur die Eltern

Lebensalter der Margarethe

Berlin,

Greifswalder Straße 9

2

Hier nur die Eltern

–––––

Berlin,

Elbinger Straße 11

3

Seit ihrer Geburt 1880


Weißensee bei Berlin, Goethestraße 25

4



Berlin-Moabit,

Spener Straße 32

5

etwa ab 1901

21–25

Neuendorf bei Potsdam,

Forststraße 15

6

Die gemeinsame Ehewohnung

1905–1949

25–69

Nowawes,

Priesterstraße 68 =

Potsdam-Babelsberg,

Karl-Liebknecht-Straße 121






Die Geschichte ist die uns überlieferte Information

über frühere Versuche, die Zukunft zu gestalten.


Karl Steinbuch







Ein Nachtrag:


Chris Janecke Potsdam, im September des Jahres 2005




Lieber Großvater Max Sommer,

heute sende ich Dir meine Grüße zu Deinem 130sten Wiegenfeste.


Zu Deiner Aufstellung, die 1933 zum Erbringen des „Nachweises der Deutschblütigkeit“, für den „Arischen Nachweis“ vom Staat gefordert war, gebe ich einige Erläuterungen und Ergänzungen, als Hilfe für spätere Leser.


Für mich ist diese Liste nun fast 70 Jahre später, eine willkommene Hilfe, ein Ausgangspunkt, im Gegensatz zur damaligen Zeit ohne einen politischen Druck, die Ahnenforschung in der eigenen Familie zu betreiben.

Dabei stelle ich auch fest, dass sich in diese Aufstellung einige Ungenauigkeiten eingeschlichen hatten. Du kannst diese ja nicht mehr selber korrigieren. Damit Fehler aber nicht „weitergeschleppt“ werden, berichtige ich diese nachstehend und gebe eventuellen Lesern auch einige Erläuterungen.


Zu 1) Zu Deiner Person: Die nachgetragene Nummer 405 bezieht sich auf das Kirchenbuch. Es handelt sich bei Deiner Geburt um die 405. Geburt / Taufe im Jahre 1875 in der Gemeinde der Nikolaikirche zu Potsdam. Dieses Kirchenbuch fiel im April 1945, in den letzten Kriegstagen den Flammen zum Opfer. Deshalb kann den Eintrag heute niemand mehr nachlesen.


Zu 2) Zu Deinem Vater: 194 bedeutet wiederum: Die 194. Geburt / Taufe des Jahres 1831 in der Nikolaigemeinde (auf Seite 225 des Kirchenbuchs), mit dem Nachsatz: Gestorben am 28. Juni 1909 (in Reppen / Neumark). Stark zu vermuten ist, dass es sich bei seiner Fahrt nach Reppen nicht um eine Besuchsreise gehandelt hatte. Dein Vater hatte in der Kirche und in der städtischen Verwaltung die Änderung seines Wohnsitzes nach Reppen offenbar bekanntgegeben, sich abgemeldet, weil / so dass sich im Kirchenbuch Nowawes und im Standesamt zum Ableben keine Notizen befinden. Warum er nach Reppen zog, wissen wir nicht. Bekannt ist nur, dass dort wahrscheinlich zeitweilig sein Onkel Carl Sommer, der Mühlenmeister (* 1803) gelebt hatte, und seine Frau Henriette, eine geborene Keyling, dort starb. Aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor, also ein Cousin Deines Vaters, der vielleicht während jener Zeit noch in Reppen lebte.


Zu 3) Zu Deiner Mutter: Die 102 bezieht sich wieder auf das Geburtsregister der Nikolaikirche Nr. 102 / 1838, S. 357. Dieses Kirchenbuch blieb ebenfalls erhalten.


Zu 4) Dein Großvater hieß Johann Friedrich Sommer (ich nenne ihn „den Jüngeren“, da sein Vater, Dein Urgroßvater, ebenfalls Johann Friedrich („der Ältere“) hieß. Auch können wir die Angabe des Geburtsortes „bei Reppen bei Frankfurt“ berichtigend verfeinern, denn tatsächlich geboren wurde er in Buckow am Schermützelsee, damals Oberbarnim, heute Märkisch Oderland, in der „Märkischen Schweiz“.


Zu 5) Deine Keilbach-Großmutter trug die schönen Vornamen Caroline Wilhelmine Charlotte.


Des Weiteren:

Natürlicher Weise hattest Du nicht nur ein Großelternpaar, sondern zwei, also insgesamt vier Personen. Dazu gehören demzufolge noch die Eltern Deiner Mutter (Marie Elisabeth Sommer, geborene Weltzer), die nicht unerwähnt bleiben sollen. Ich trage sie hier nach:


Mein Großvater, mütterlicherseits:

Carl Wilhelm W e l t z e r,

Geboren am 25. März 1813 in Tuchorze in Schlesien. (Die Angabe zu seinem Geburtsort sind noch unklar, weil andere Dokumente des polizeilichen Melderegisters: Muskau, Musta und Musten ausweisen, die sich aber als nicht verwertbar herausstellten).

Gestorben am 27. Juli 1889 zu Nowawes.


Meine Großmutter, mütterlicherseits:

Christine Friederike W e l t z e r, geborene Michel,

Geboren am 01. August 1818 zu Potsdam. Gestorben am 06. Oktober 1857 in Potsdam.



Lieber Großvater Max, recht viele Grüße an Dich und Margarethe,


Dein Enkel Christoph




Hier folgt ein späterer Brief:


Potsdam-Golm, am 12. Juli 2016


Liebe Nachgeborenen!

Dieser kleine Holzkasten gehörte ursprünglich Franz Runge, meinem Urgroßvater. Dieser lebte von 1846 bis 1936.

Der Behälter mit den Abmessungen ( 26 x 17 x 11 cm) besteht aus dunkelbraunem Holz und ist mit Maschinen-Schnitzereien versehen. Der Deckel besteht eigentlich nur aus einem rechteckigen Rahmen, in dem ein Bild Platz finden kann.

Diese Mini-Kiste diente Urgroßvater Runge wohl etwa ab 1866 zur Aufbewahrung seiner Tabakwaren und sie stand die längste Zeit in Berlin, in verschiedenen Häusern. Nach dem Ableben seines Erstbesitzers erbte die Tochter Margarethe des Franz diesen Kasten.

Im Jahre 1936 hieß sie, die Margarethe, allerdings schon drei Jahrzehnte nicht mehr Runge, sondern seit 1905: Margarethe Sommer, als Ehefrau von Max Sommer. Seither stand der Kasten in Nowawes, dem späteren Potsdam-Babelsberg, Priesterstraße 68, der späteren Karl-Liebknecht-Straße 121.

Im Jahre 1949 endete das Leben der Margarethe Sommer. Ehemann Max war bereits Ende 1945 gestorben. Nun war der Kasten schon mehr als 80 Jahre alt und hatte unter anderem auch zwei Weltkriege überstanden. Leider waren am Holz deutliche Nutzungsspuren und Beschädigungen sichtbar. Irgend jemand hatte versucht den Holzkasten, der auseinander zu fallen drohte, mit Nagelungen provisorisch zu reparieren.

Aus dem Nachlass ihrer Mutter Margarethe übernahm deren Tochter Anne-Marie Sommer, verehelichte Janecke, diese kleine Truhe. Während dieser Zeit fügte sie in den Rahmendeckel ein Sommer-Sonnenblumen-Bild ein. Der Kasten diente im Haushalt der Anne-Marie, der Aufbewahrung von Kämmen und Haarbürsten.

Als sich die Lebenszeit nun auch der Anne-Marie im Jahre 2003 neigte und der kleine Haushalt aufgelöst wurde, übernahm nach geschwisterlicher Einigung, Chris Janecke den Kasten als Teil des Erbgutes.

Nun, im Juli 2016 überarbeitete ich (der Erbe) dieses Behältnis: Ergänzte nachformend ausgebrochene und abgesplitterte Holzteile, leimte Verbindungen nach, reparierte den gebrochenen Deckelboden und fügte auf der Deckel-Innenseite einen weiteren Halte-Rahmen ein, so dass in dem Kasten als Schmuck nun ein neues Außen- und erstmals auch ein Innen-Bild (sichtbar im aufgeklapptem Zustand) Platz finden. Nach Abschluss dieser Arbeiten beizte ich den Kasten mit dunkelbrauner Lackbeize wieder auf einen einheitlichen Farbton: Eiche, dunkel. Obwohl der Holzbehälter etwa 150 Jahre alt ist, sieht der nun wieder neu aus, wie an seinem ersten Tag.

Bei den letzten Handgriffen hatte ich das Gefühl des Absenders einer Flaschenpost – nur eben ohne Flasche, denn ich legte eine handgeschriebene Notiz mit dieser Geschichte des Kastens zwischen die beiden Bilder der Blumen. Unsichtbar.

So aufgefrischt wird dieses Gehäuse bei mir nun als Nähkasten genutzt. Vielleicht "erlebt" es nochmals 150 Jahre? Eventuell wird mein Notizblatt nie entdeckt.


Freundlich grüßt Euch Euer Vorfahre Chris Janecke




Geht uns der Gegenstand zu einer Erinnerung verloren,

kann sich auch bald die Erinnerung verlieren.

Holen wir den Gegenstand zurück, damit wir

die Erinnerung noch lange wach halten können.“




- Ende des Dokuments -