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Zur Ahnenliste „Janecke“ gehörend:

Einige autobiografisch beschriebene Bilder aus dem Lebensfilm von

Chris Janecke,

geboren in Potsdam-Babelsberg, am 29. Dezember 1945, etwa 09.00 Uhr.


Der Teil 1: Die Jahre 1945 bis 1955, sein erstes bis zehntes Lebensjahr.


Autor und Kontaktpartner für Fragen, Meinungen und Ergänzungen:

E-Mail: christoph@janecke.name


Jüngster Bearbeitungsstand: Mai 2021


Zur Einstimmung in diesen Text gibt es einige Bilder – bitte hier klicken.



Weihnachten feiern wir die Geburt des Menschen,

der das Göttliche Bewusstsein und die Kraft dieses Bewusstseins verkörperte,

der uns diese lehrte und verstehbar machte.

Diese Kraft und dieses Bewusstsein ruht in jedem Menschen – auch in dir.

Ich wünsche dir,

dass du diese Kräfte und ihre Wirkungen entdeckst und

zum Nutzen für dich und andere anwendest.


nach René Gräber



Die mir bisher namentlich bekannten Vor-Mütter und Vor-Väter in gerader Linie:

Diese Tabelle kann auch gerne von unten nach oben gelesen werden – aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit.


Gene-

ration

Ehemann

Ehefrau

Lebten / leben in der Zeit

Orte der Lebens-mittelpunkte


Bei der Generation 08 versiegt der Strom der Kenntnis bereits, weil die Kirchenbücher vernichtet worden sind. In benachbarten Orten lässt sich der gleiche Familienname wesentlich weiter zurück verfolgen – aber es fehlt die zuverlässige Belegbarkeit der Familien-Zusammengehörigkeit.


09

Die Eltern von Joachim J. Die Lebenszeit mag etwa zwischen 1720 und 1790 gelegen haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der junge Mann in Hoewisch aufwuchs und im Jahr 1743, mit 6 weiteren Hoewischern, entweder als Acker- oder Müllerbursche 20 km weiter nach Calenberge „auswanderte" (nach einem Hinweis des Ortslexikons, Hoewisch betreffend).


08

Janecke,

Joachim

namentlich nicht bekannt

um

1750 bis 1806

Calenberge = Pollitz-Kahlenberge, (Altmark),

Provinz Sachsen

07

Janecke,

Andreas Christoph

Later,

Catharina Margarethe

1778 bis 1849

Calenberge, Schönberg und Höwisch (Altmark)

06

Janecke,

Joachim Heinrich

Betke,

Catherine Elisabeth

1807 bis 1887

Meseberg (Altmark),

und Osterburg

05

Janecke, Carl Friedrich August, der Ältere

Neumann,

Dorothee Elisabeth

1842 bis 1912

Schmersau (Altmark)

und Osterburg

04

Janecke, Carl Friedrich August, der Jüngere

Dittwaldt,

Pauline Klara Antonie

1869 bis 1950

Berlin, Rixdorf,

Nowawes-Neuendorf

03

Janecke,

Alfred Richard

Sommer,

Anne-Marie

1900 bis 2003

Rixdorf und Nowawes, Potsdam-Babelsberg

02

Janecke, Chris.toph



1945 bis ins folgende Jahrtausend

hinein

Potsdam, in verschiedenen Ortsteilen

01

Janecke, Kinder.

Nähere Angaben sind sogar dem Autor bekannt, unterliegen aber dem allgemeinen Interesse des familiären Datenschutzes.

00

Janecke, Enkel.


Eine kurze Vorbemerkung:

Hier sitze ich nun mit ergrautem Bart, inzwischen eine Lesebrille auf der Nase, oft ein Schmunzeln mitten im Gesicht und beginne wieder mal mit meinem Hinein-Versenken in die Vergangenheit. Diese sehe ich allerdings als „gedehnte Gegenwart meiner Zeit“ oder als „allgegenwärtig“ an. Ich beginne der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen und manches zu notieren, was mir in diesem Leben begegnete, wer und was mich womit bewegte. Neben mir auf dem Tisch liegen Zettel, mit Stichworten beschrieben, auch alte Fotos und persönliche Dokumente. Alles trägt dazu bei, dass während des Schreibens immer mehr alte Begebenheiten erneut „lebendig“ werden. Es werden Erinnerungen und Bilder sein, die anderen Menschen eher unwichtig erscheinen mögen, sind es im Sinne der Weltgeschichte doch tatsächlich völlig unbedeutende Ereignisse. Auf dem Wege des Wiedererlebens und dieses Aufschreibens einiger Erinnerungsausschnitte begleiten mich im Geiste verschiedene andere Menschen. Einer von Jenen prägte die folgenden Worte:




* Was manchmal fehlt * Einige Empfehlungen für ein glückliches Leben *


Begehe deine Wege durch Lärm und Hast dieser Zeit souverän, ruhig und gelassen, ohne Eile.

Meide die lauten Menschen und die streitsüchtigen Leute, ihr Wesen stört deinen Geist und deine Seele.

Durchschreite dein Leben bewusst! Suche wahren Frieden in der Stille und finde den Frieden in dir selbst.

Äußere deine fundierten Meinungen besonnen und ruhig, klar und fest. Sei dir dabei stets bewusst, dass die

Wahrheit auch schmerzen kann. Nimm von Älteren aber auch von der Jugend für dich Ungewohntes mit Milde auf.


Versuche andere Menschen zu verstehen, ohne dich selbst aufzugeben. Achte die anderen, auch wenn

sie dir völlig anders scheinen, als du dich siehst, denn sie sprechen ihre Sprache, leben ihre Geschichte

und tragen eigene Sorgen – egal ob sie jung und manchmal überschießend sind oder schon alt und müde.

Höre freundlich-dankbar auf die Weisheit und den Rat des Alters, auch wenn du nicht genauso empfindest.


Du merkst bei jedem Vergleich zwischen dir und anderen, dass du unter Menschen lebst, die unterschiedliche Kenntnisse und Erfahrungen gewannen, ein anderes Verständnis und Können besitzen, als du. Es sind Menschen,

die mehr – oder weniger wissen als du. Es sind Menschen, die dir weniger gut oder besser scheinen, als du dich

einschätzt. Fühle dich deshalb weder geringer, noch erhebe dich über sie. Jeder darf seinen Platz beanspruchen.


Gehe auf den als gut erkannten Wegen, die dir Freude und Zufriedenheit bringen. Freue dich über die Erfolge

deiner Leistungen und trage deine Pläne in die Zukunft. Diese beflügeln dich, sind Schätze bleibenden Wertes

im Wandel der Zeiten, denn das Schicksal kann sich jederzeit wenden. Bleibe in Demut und sei bescheiden.

Danke für die Segnungen zu jedem Tag, die du erhältst – schon bevor du ihres Eintreffens gewahr wirst.


Pflege Umsicht im wirtschaftlichen Handeln, denn in Menschen kann auch List und Tücke sein. Lass' deshalb

aber nicht ab von deinen Idealen, bewahr' dir den Blick für das Gute, denn besonders die Rechtschaffenheit wirst

du reichlich antreffen dürfen. Nutze die Vorteile, die sich dir bieten – nie aber zum Schaden anderer Menschen.


Überfordere dich nicht mit zu vielen Wünschen. Deren Erfüllung macht selten glücklich. Sei realistisch und schaue,

was für dich nötig und möglich ist. Überdenke doch einmal, was du für dein gutes Leben wirklich brauchst, denn

mit einem wohlsortierten Gepäck wandert es sich leicht. Löse den Überfluss, der dir zur Last wurde, einfach auf.

Gib von dem Vielen, das du hast, an Bedürftige ab. Schon vor Jahrhunderten wusste man:

Geben macht seliger, als nur nehmen. Gern Gegebenes kommt oft, vermehrt um ein Vielfaches, zurück zu dir.


Viele Leute reden von hohen Idealen und überall gibt es hervorragende Menschen und Heldentaten. Sei du selber,

bleibe dir und deinen soliden Grundsätzen treu, was immer auch geschehen mag. Befrage dich bei deinem Handeln

immer wieder auf's Neue, ob es dem Besten für alle dient. Und wenn du auch Großes erreicht haben magst:

Bleibe stets demütig und bescheiden – allein schon im Maßstab der Erde sind wir Menschen unermesslich klein.


Täusche keine Gefühle vor, wenn diese nicht vorhanden sind. Du würdest andere verletzen und auch dir schaden.

Achte besonders die Liebe. Sie ist etwas Heiliges und soll auch dir kostbar sein. Trotz häufiger Entzauberung und vieler Enttäuschungen in der Welt verdorrt sie nicht, denn wenn sie wahr, dann ist sie von Dauer – unvergänglich.

Sei auch freundlich zu dir selbst. Nur wer sich selbst achtet, ehrt und liebt, kann andere Menschen recht lieben.


Sei dankbar für jedes Jahr, das du erfüllt durchleben darfst, auch wenn mit jedem Tag ein Stück der Jugend schwindet.

Stärke beständig die Gewandtheit von Körper und Geist, damit sie dir lange erhalten bleibt. Sei dankbar für Kraft, Freude und Gesundheit. Bedenke beizeiten, dass Unvorhergesehenes in dein Leben treten könnte, doch beunruhige nicht die Freude am Dasein mit Zweifeln und Ängsten. Sei immer so, dass du vor dir selbst bestehen kannst.


Du bist ein Kind des Universums, genau wie die Tiere, die Pflanzen dieser Erde. Es ist dein Geburtsrecht in dieser

Welt zu sein, doch du lebst auf diesem Planeten eben nicht allein – sei also achtsam und rücksichtsvoll,

stets erfolgreich bemüht um freundliche Beziehungen zu allen Wesen, die da leben.


Denk' an die früheren Alten und jene, die dir schon folgen oder später nach dir kommen.

Liebe und ehre die Natur der Erde, lebe mit ihr in Harmonie – du bist ein Teil von ihr. Achte und bewahre die Dinge sorgsam. Sie sind aus den Stoffen der Erde und tragen das Wissen und Können derer, die sie schufen in sich.


Darum lebe in Frieden mit der Quelle alles Guten, dem Göttlichen, wo und wie es dir auch immer begegnen mag.

Halte inneren und äußeren Frieden, egal ob dein Mühen und Sehnen für dich schon die erkennbare Erfüllung findet.

Auch dann, wenn dir das Leben große Probleme und schwere Prüfungen auferlegt, versuche zufrieden zu sein.

Diese Welt ist wunderschön. Erkenne sie und strebe danach in ihr glücklich zu werden.


––––––––––––––––––––––––––––––––


* Desiderata * geschrieben 1927 * Erwünschte Ziele für dich * Lebensregeln von Baltimore *

Original: Max Ehrmann, Philosoph, Jurist, Schriftsteller (1872–1945), Terra Haute, Indiana, USA.


(Bearbeitete Fassung nach verschiedentlicher freier Übersetzung)



Ich durchlebe diese meine vergangenen Zeiten also nochmals im Eildurchlauf, gewiss mit dem unbemerkten Überspringen verschiedener Vorkommnisse, die wegen der von mir ihnen zuerkannten Geringfügigkeit tief im Unbewussten schlummern. Meine Auffrischung des Erinnerns findet jedoch nicht nur am Schreibtisch statt. Verschiedene meiner früheren Aufenthaltsorte in diesem Leben suchte / suche ich gerne extra nochmals auf. Und das immer nur ganz alleine, sonst kann ich nicht tief genug zurück fühlen!


Wegen des Fehlens jeweils zeitnaher Aufzeichnungen folgt hier kein Tagebuch, sondern eher eine Jahreskladde, gefüllt lediglich mit einigen Erinnerungssplittern, die sich bis heute erhalten haben, etwa in der Art, wie ein Huhn hier und da ein Körnchen aufpickt, das es eben grad' noch so sieht.

In den Erinnerungen beschränke ich mich im Wesentlichen auf das persönliche Erleben. Wichtigeres aus Weltpolitik oder Kommunalpolitik, über Naturereignisse, spannendes über Erfindungen und Entdeckungen, steht auf den Blättern „Zeitgeschichte“ der gleichen Internetseite. Somit wird dem eigenen kleinen persönlichen Erleben der größere Rahmen zur Seite gestellt. –

Wandern wir also gemeinsam locker durch jene vergangene Zeit, in der sich wahrscheinlich bei manch einem Leser ähnliches Empfinden einstellt oder aber bei ihm ganz andere Gefühle und Erinnerungen geweckt werden – alles dürfen wir wohl als gut und richtig ansehen – falls wir es so wollen.


Gleich geht es los mit dieser Geschichte.

Bevor ich aber mit dem Darstellen dieses, also meines Lebens beginne, gestattet mir bitte, dass ich euch


Meine künftige Familie:


Vater

<= Meine Eltern =>

Mutter

Janecke

Namen

Sommer


Alfred Richard August

Vornamen

Margarethe,

Anne-Marie


Rixdorf, bei Berlin

01. Oktober 1900


Geboren


Nowawes bei Potsdam

06. Juli 1913

Janecke, Karl Friedrich August und

Dittwaldt, Pauline Klara Antonie


deren Eltern

(also meine Großeltern)

Sommer, Max

und

Runge, Margarethe

Techniker (im Maschinenbau)

Beruf

Licht- und Foto-Pauserin


Potsdam-Babelsberg

Heirat

06. April 1941


Potsdam-Babelsberg

02. März 1983

Lebensende

Ferch, Gemeinde Schwielowsee,

12. Dezember 2003




Die bisherigen Kinder der Vorgenannten

(„bisherige“ bezieht sich auf das Jahr 1945)


Anfangs des Jahres 1943, wurde meine große Schwester geboren.

(Nähere Angaben unterliegen noch dem Wunsch des Datenschutzes.)


Meine Eltern hatten in der Kriegszeit zwischen dem Erscheinen meiner großen Schwester und später mir, ein weiteres Kind erwartet, für die Geburtszeit in der Mitte des Jahres 1944.

Dieses Kind wäre mein etwas älterer Bruder gewesen aber er kam viel zu früh und nicht lebensfähig auf diese Welt. Trotzdem habe ich ihn vermisst.


Viel viel später kam mir in den Sinn, dass ich d e n Jesus, auch wenn er vor rund 2.000 Jahren nur für eine viel zu kurze Zeit hatte leben dürfen, ...

(der von vielen Menschen auf einen Thron im Himmel gesehen wird,

obwohl er stets sagte, dass er auch ein Menschensohn sei),

... ganz schlicht einladen und als meinen größeren geistigen Bruder annehmen sollte, von dem ich für's Leben lernen könne. Die bisherige Lücke im Leben unserer Familie könnte er gewiss ganz ausgezeichnet füllen. Irgendwie würde ich mich auch schon in die Rolle des Christopherus', des Christusträgers hineinfinden, obwohl ich der Jüngere, Kleinere bin und auch mit der kirchlichen Theologie so meine Probleme haben werde.



Die Stadt Potsdam im Jahre 1945 – in der Zeit, in der es das Kind Christoph Janecke noch nicht gab. Hierzu gibt es viele Bilder und Berichte. Deshalb hier nur sehr wenige Angaben:


14. April 1945.

Der Krieg, den Deutschland in eine Anzahl von Ländern trug mit den Wirkungen unermesslichen Leides, kehrte nach Deutschland zurück.

Ein herrlicher, milder Frühlingstag. Am späten Abend wurden bei einem britischen Flugzeugangriff mehr als 1.750 t Spreng- und Brandbomben auf das Zentrum der Stadt abgeworfen. Die historische Innenstadt wurde sehr stark zerstört. Später wird man wissen, dass es etwa 500 Flugzeuge waren, in einem ca. 70 km langen Geschwader.

(Von den nicht explodierten Bomben, den Blindgängern, werden auch 75 Jahre später immer noch Exemplare aufgespürt und vorsichtig entschärft. Die Bombenanzahl, als auch die Jahresangabe wird sich weiter erhöhen.

Im Stadtteil Babelsberg gab es während des Krieges Zerstörungen geringen Ausmaßes.


Weiter im April

In diesem Monat entlässt „der Führer“ eine Anzahl von Generälen, die kein siegreiches Ende des Krieges mehr sehen.


24. April

Zusammentreffen sowjetischer und amerikanischer Truppen in Torgau an der Elbe.


25. April

Der Ring der angreifenden Streitkräfte um Berlin ist geschlossen.


26. April

Die Rote Armee der Sowjetunion zieht mit Panzern, der Artillerie, in Potsdam ein.


30. April 1945

Letzte Kampfhandlungen in Potsdam.

In der Berliner Reichskanzlei tötet sich A. H. und seine Frau E., geb. B., wie es auch andere der politischen Spitzenkräfte des Dritten Reiches tun.


08. Mai 1945

Das Ende des Zweiten Weltkrieges wird nach der Kapitulation Deutschlands bekannt gegeben.


––––––––––––––––


So sah die politische Lage aus.

Es bedeutet einen Moment des Besinnens, um nun den großen Schritt hinab in die kleine Welt tun zu können.



Das Jahr 1945 – in meiner Erinnerung war das ein recht kurzes Jahr.

Gedanken über meine vorgeburtliche Zeit vor meinem Auftritt auf dieser „Weltbühne“


Langsam bereitete sich der '45-er Spät-Herbst darauf vor, in den Winter überzugehen. Ich, als ziemlich groß gewachsener Fötus, hatte keinen rechten Platz mehr, um in der mütterlichen Fruchtblase noch wirklich fröhlich umher schwimmen zu können. Es wurde mir immer schwerer und unbequemer, meine Lage in der Höhle der warmen Gebärmutter zu verändern. Ich merkte, dass es schmerzhaft wird, die Arme und Beine zwangsläufig immer stark angewinkelt halten zu müssen. Das Bedürfnis zur Entspannung, mein ungeduldig zunehmender Wunsch, Arme und Beine endlich strecken und recken zu können, begann mit dem Fortschreiten der Zeit übermächtig zu werden. Meine Ernährungslage war wohl nicht sonderlich gut. Es schien, als ginge es meiner Mutter in dieser Hinsicht auch nicht besser. Ich spürte, dass eine neue Zeit mit einem veränderten Lebensraum mit unbekannten Bedingungen heranreift und diese wohl endlich anbrechen muss. –


Meine ältere Schwester plaudert indessen, von diesen Umständen nicht betroffen und deshalb völlig unbefangen: „Ende Dezember zeigt der Kalender. Nun bin ich bald schon drei Jahre alt.

Gerade, da wir so gemütlich zusammen leben, muss Mutti noch mal so plötzlich fort, weil ich als verspätetes Weihnachtsgeschenk dieses schon lange angekündigte Geschwisterchen bekommen soll. Ein Schwesterlein sollte es am besten sein – oder notfalls vielleicht auch ein Brüderchen.

Soviel steht schon mal fest: Meine Tante Käte, die Vaterschwester, versorgt inzwischen unseren Haushalt und somit auch mich in diesen Tagen. Und das ist erstmal wichtig und auch gut so.“


Das letzte Halbjahr des Zweiten Weltkrieges liegt schon einige Monate hinter uns. Ich werde am Ende des ersten Friedenshalbjahres im Städtischen Krankenhaus von Potsdam-Babelsberg geboren. Am Sonnabend, den 29. Dezember 1945, gegen 9.00 Uhr am Vormittag.


Vorerst empfing mich ein angenehm-verträgliches Dämmerlicht, leider abrupt abgelöst von der mich sehr blendenden Baby-Inspektionslampe, ein „Gruß der Welt“ für jeden Neuankömmling. Auch störten lautes Instrumentengeklappere und grelle Stimmen, die bislang nur gedämpft und sich eher freundlich anhörend, an meine Ohren drangen.

Die vor Kälte zitternden Schwesternhände stellen an meiner bloßen blauroten Magerkeit eine hinlänglich gesunde Normalität fest. Begrüßungsverhältnisse dieser Art fechten mich aber nicht sehr an. Ich verhalte mich ruhig und duldsam.

So, da bin ich schon mal in dieser Welt, habe ihre lichtvolle Schönheit aber noch nicht erblickt.


Den Namen Christoph(erus) haben meine Eltern für mich reserviert. Als ein schützender Träger und Begleiter des Christkindes zur Weihnachtszeit sozusagen. Für mich als Ausübender einer solchen tragenden Rolle ist es für dieses Jahr etwas zu spät und auch scheine ich dafür noch etwas zu klein. Für eine Silvesterfeier zur Begrüßung ist es hingegen zu früh. Das neue Jahr wird ohnehin eher still, kaum mit Böllerschüssen begrüßt – diese hat man aus jüngerer Vergangenheit noch zu gut im „geistigen Gehör“ und es gibt auch eher wichtigere Einkäufe für den Lebensunterhalt zu bedenken. Falls es 'was gibt.


Anne-Marie, die Mama dieses Babys, erzählt:

Am 29. Dezember 45 wurde unser Kind „Christoph“ geboren. Diesmal ging es gut, nach vielem vorherigen Bangen und Bitten. Draußen ist es bitter kalt. Es liegt hoher Schnee.

Im Babelsberger Kreiskrankenhaus auf dem Gelände der Oberlin-Klinik fehlen dem Kreiß-Saal noch mehrere Fensterscheiben. Einiges ist mit Pappe notdürftig vernagelt oder mit Zeitung überklebt. Die Temperaturen im Kreißsaal und den Zimmern der Entbindungsstation sind wohl nicht viel anders als draußen – die Situation erinnert mich in diesen Tagen an die karge Herberge in einer abweisenden Welt vor rund zwei Jahrtausenden. „Es begab sich aber zu der Zeit, als ...“ – die Weihnachtsgeschichte.

Wir Gebärenden kamen mit Hunger hierher und haben auch Angst vor den sowjetischen Soldaten, die immer wieder, selbst in diesen Räumen, ihre unerwarteten Razzien vornehmen. Trotzdem kann ich mich in den folgenden Tagen sättigen. Es gibt für uns meist gute Graupen in wässriger Brühe.


Aus demTaschen-Notiz-Kalender der Mutter Anne-Marie von 1946 (geführt vom 29. Dezember 1945 bis zum 14. April 1946):

Anmerkung: Die (in Klammern gesetzten Erläuterungen) stammen „vom Baby Christoph“, ganz frech und eigenmächtig 70 Jahre später angefügt.



Soweit der Vorspann vom Rest des Jahres 1945.


1946 – Das wird mein 1. volles Lebensjahr

Einige Auszüge aus Mutter Anne-Maries Taschen-Notiz-Kalender; speziell geführt für Eintragungen zur Entwicklung des Kindes Christoph.


(Großvater August Janecke hatte für diesen Enkel weise „Walter“ vorgeschlagen, obwohl er wusste: „auf mich hört ja niemand von den jungen Leuten“. Er kannte sich mit den Schwierigkeiten von Namensgebungen aus. Seine Eltern hatten ihn schließlich August genannt, obwohl er dann erst im September geboren wurde und seinen Kindern – meinen Eltern – schien gerade jetzt „Walter“ zu militärisch, weil der Name doch aus dem Germanischen kommt und „Gewalt ausüben + Heer“ bedeuten will – das muss nicht sein, davon hatte man in der Vergangenheit mehr als genug ... auch wenn es ganz prachtvolle Menschen mit diesem Namen gibt).



Fr., 04. 01. 46

Christoph hat heut’ zum ersten Mal richtig gelacht. (Über wen verschweigt die Höflichkeit der Schreiberin.) Nur weiß er bestimmt noch nichts davon. Spaß macht's trotzdem es anzusehen. Er hat 100 g getrunken (es war mir aber zu wässerig).


Di., 08. 01. 46

Christophs kleiner Po ist ganz wund. Weshalb nur? (Ich wüsste etwas dagegen, wenn man es zur Hand hätte.) Heute Abholung vom Krankenhaus mit Auto nach Hause zu Richard und zu Christophs großen Schwester (dem ersten Kind der Familie).


(Das war gut so, also nicht etwa nachts, sondern von 14.00 bis 15.30 Uhr).

(Sie bekamen ihm, denn er wird bald zwei Monate alt. Da soll schon mal endlich 'was kräftig-vegetarisches zwischen die Kiemen ...).

Aus dieser Weißbrotschnitte entsteht ein kräftigender Magermilchbrei für Christoph. Denn bei den Versuchen mit unserem Graubrot wurde die Milch sofort sauer.



21. März 1946

Wir (also die vierköpfige Familie) sind zum Alten Stern (zur Gaststätte am Jagdschloss Stern) gelaufen. In lauer Luft bei Sonnenschein draußen Kaffee getrunken (also in Wirklichkeit Kaffee-Ersatz-Extrakt).


Schöne Aussichten

Was aber sagen denn so die Astrologen, die Esoteriker und die Numerologen aber insbesondere auch echte Wissenschaftler für das Leben dieses kleinen Kindes, diesem winterlichen Steinböckchen voraus, wie es vielleicht etwa die „Drei Weisen aus dem Morgenlande“ taten?


Kriterium


Voraussage „der Weisen“

Mein späteres eigenes Empfinden

Wesen

Romantiker

Ja, ja, „der zeitweilige Träumer“ – im Milieu zwischen Ludwig Richter und Carl Spitzweg, mit satirisch-ironischem Einschlag, ist er „gern zu Hause“.


Charakter

Sensibel, diplomatisch,

heiratet spät …


Duldsam – aber nur bis zur Grenze.

Ja … und vielleicht doch viel zu früh.


Mineral

Onyx, schwarz

Er hat mehrere Lieblingssteine, dann aber eher den milchig-weißen Opal oder den gelb-transparenten Citrin. Die anderen Mineralien achtet er aber auch – schon, damit die Mutter Erde nicht traurig ist.


Baum

Eiche

Eher die Linde, auch die Zimmer-Linde


Aggregat

Wasser

Ja, Bäche, Flüsse, Zelt am See, Boot, Floß alles sehr willkommen – am besten gemeinsam mit einem Hund oder auch einer nicht wasserscheuen Katze, die gern beim Angeln ohne Haken) hilft.


Sozialverhalten,

Medizin?

Helfertyp

Ja, unbedingt.

Das gesamte Leben hindurch.


Blutgruppe

Er hat die seltenste Gruppe AB (4%) der deutschen Bevölkerung. Und nach dieser: =>


nachdenklich, pflichtbewusst,

kreativ, konzentriert,

wünscht sich viel Schlaf – aber es gibt so viel Spannendes / Wichtiges zu tun.

Besondere

Eignung für

solche

Berufe/

Tätigkeiten

wie

Arbeit mit dem Schwerpunkt geistiger Anteile wie Forscher, Ingenieur, Schriftsteller.

Lehrtätigkeit.

Lieber unabhängiger Einzelkämpfer, als sich unterordnend.


Malerei / Musik nicht ausgeschlossen.

Und so wurde es: Ingenieurtechnisches Arbeiten in den Bereichen der komplexen Hygiene und Arbeitshygiene, der Gebäude-Ausstattung, dem Umweltschutz, der Arbeitssicherheit, Entwerfen und testen neuer Technik. Technische Formgestaltung (Design). Technischer Autor. Berufspädagogik (Lehrkraft). Nebenberufl.

Lehrkraft für Populär-Medizin.

Außerberufliche Interessen: Archäologie, Bionik, Schreiben, Tiere. Aber auch handwerklich „bastelte“ er so manches.


Die

Graphologie

sagt über ihn:

Eher defensiv-miteinander, als kämpferisches sich gegen andere durchsetzen.

Nun ja, das praktische, das wahre Leben forderte von allem seine ausgewogenen Portionen.



Weitere Ausführungen, beispielsweise zu den schönen Voraussagen der Numerologie oder zu den Ergebnissen seiner eingeprägten Linien in den Patschhändchen sparen wir uns noch auf.


Noch einmal zurück geschaut – zu den ersten Tagen im Licht

Der Standesbeamte, Herr Richter, hat als Staatlichen Anteil am Geschehen, den Geburtsschein Nr. 6 / 1946 ausgestellt (und um 60 unserer Reichspfennige dafür gebeten, hernach erhalten und gewiss auch in die Standesamt-Kasse des Rathauses eingelegt). Er ist ein zuverlässiger Mann!

Mein Vater schreibt in der von ihm für alle Verwandten und Bekannten gestalteten Geburtsanzeige überschwänglich irgendetwas von einem „kräftigen Stammhalter“, obwohl ich recht schlaksig, also lang und noch dünn aussehe. Nun, der Wunsch ist hier wohl der Vater dieses Ausdrucks gewesen.

Mein zusammensteckbares Holz-Bett hatte Mutti hochschwanger selbst tragend, im Frühwinter 1942 für ihr erstes Kind, für meine inzwischen schon große Schwester, mit der S-Bahn aus Berlin geholt. Am nächsten Tage wurde auch dieser Möbelverkaufs-Tempel bei einem Fliegerangriff von Bomben völlig zerstört. Wie gut, dass unser Bett gerade noch vorher verkauft / gekauft wurde. Und nun erbe ich es von meiner großen Schwester.

Einige Tage nach meiner Geburt, fand mein erster Umzug statt, von der Klinik, in der gleichen Straße ein paar Häuser weiter, in das Heim meiner Familie. Rudolf-Breitscheid-Straße 39, die vor kurzem noch Lindenstraße hieß und bald die neue Hausnummer 46 erhält.


Meine Eingangsbemerkung zum Licht bezieht sich nach dem Verlassen des mütterlichen Bauches, dann tatsächlich auf die kurzen Sonnen-Stunden an den Wintertagen. Für die künstliche Beleuchtung der Räume war damals für die Kriegszeit angeordnet, ausschließlich 15-Watt-Glühlampen zu verwenden. Einerseits wegen des möglichst geringen Energieverbrauchs, zum anderen wegen der zuverlässigeren Verdunkelungsmöglichkeit gegen spähende fliegende Aufklärer und den folgenden möglichen Bomberangriffen. Das Argument des Einsparens gilt ja immer noch, oft wird der elektrische Strom auch abgeschaltet. Dann ist Ruhe und am Abend feierliche Kerzenbeleuchtung.

In meinem neuen Zuhause ist die Heizungssituation derzeitig auch nicht wesentlich günstiger angelegt, als in der Klinik und mit der Getränkeversorgung – na, ja. Ermessen könnt Ihr es daran, dass mein zartes Hunger-Durst-Begehren mütterlicherseits nur etwa bis zum 12. Februar gestillt werden konnte und dann schon bald ein Festessen hinzu kam. Dieser Ausdruck bezog sich aber weniger auf eine feierliche Art, als auf die Konsistenz der Zusatz-Nahrung.


Schaukelübungen für Kurzreisen

In dieser Zeit gehen die Gedanken der Eltern wohl weniger zu sehr weiten, großen Ausflügen. Bei kleineren Spaziergängen liege ich tief unten in dem gemütlichen weißen Kinderwagen mit einer Karosse aus leicht bauchig geformtem Sperrholz, das weiß lackiert ist, mit Hartpappe ausgekleidet und diese mit Lüftungslöchern versehen. Gegen die Witterungsunbilden dient ein „Verdeck“ aus weißem „Wachstuch“. Fahren wir einmal mit der S-Bahn fort, muss der Kinderwagen von Mutti und mit Hilfe einer fremden zweiten, meist ungeübten Person die Treppe zum Bahnsteig hinauf getragen werden. Und irgendwann auch wieder hinunter. Ich glaube mich fest daran zu erinnern, dass ich bei diesem Getragen-Werden ein Gefühl mangelnder Sicherheit hatte. Ich hatte Sorge, dass der Fremde mit den Händen abrutschen oder mit den Füßen stolpern könnte und den Wagen mit Inhalt hätte fallen lassen können. Ich war ja schließlich auch nicht des Helfers Kind. Der Helfer konnte auf zwei Treppenabsätzen notfalls nochmals fester Nachfassen, sich erholen. Bis auf den 5,40 m hohen Bahndamm des Bahnhofs Babelsberg führen 36 Stufen hinauf. Ein weiterer Schwachpunkt waren die Clip-Schellen, die das Rad auf der Achse halten sollten aber sich manchmal lösten. Letzteres sah ich aber noch nicht. Fast immer gingen solche Schaukelübungen gut aus. Vorbei schwebte ich am Bahnhofsaufgang an dem Emaille-Schild, das mich stets mahnte „Das Spucken auf den Fußboden ist verboten“, obwohl ich das ohnehin nicht getan hätte – ist doch eben manches eine Frage der Erziehung und des Alters.

Ihr wisst ja: Bevor man den Bahnsteig betreten konnte, stand oben auf dem Treppenabsatz die „Wanne“, in der ein Bahnbediensteter (weiblich oder männlich) saß, die / der die Fahrkarten mit der Lochzange entwertete. Man durfte eben nur mit einem Fahrschein fahren, der bereits wertlos gemacht wurde. Wollte man seinen lieben Besuch nur bis zum Zuge bringen, bedurfte es zum Überwinden der Wannenkontrolle zumindest einer Bahnsteigkarte, die man zu jener Zeit unten am „Schalterfenster“ für 10 Reichspfennige erstehen konnte. Das waren so meine ersten wichtigen Eindrücke aber nun will ich euch nicht mit jeder Entdeckung von mir bekannt machen, nicht jede Kinderkrankheit erklären, euch beileibe nicht mit jedem Pups von mir konfrontieren, nur soviel – mein Mütterlein hat damals vieles davon sorgsam und detailliert notiert. Es ist für Interessenten nachlesbar.


Patenwerbung – lauter patente Leute

Das sind sie nun: diejenigen lieben Menschen, die meine Entwicklung beobachten und ihre Hand schützend über mich halten möchten, mir manches mit auf dem Weg durchs Leben geben wollen:

  1. Die Oberlin-Diakonissen-Krankenschwester (in Rente) Elisabeth Gandert, (1874 bis 1958). die aus Berchtesgaden über eine Tätigkeitszeit in Bernburg, nach hierher zugewandert war.

  2. Betty Pehlke, Ehefrau des pension. Nowaweser Stadtbauinspektors Ferdinand Pehlke.

  3. Rosemarie Bernhart aus Rudolstadt, die junge Ehefrau von Anton Bernhart. (1924–2018).

  4. Herr Hans Ewert, jener in der Ferne, dessen persönliche Bekanntschaft ich nie machte.


Nun ist es Taufzeit

Zur Zeit des lieblichen Pfingstfestes, am Sonntag, den 9. Juni 1946, werde ich in der Babelsberger Friedrichskirche von Herrn Pfarrer Wolfgang Iskraut, ihr wisst ja, der Schwager von Pfarrer Viktor Hasse, getauft. Also nicht echt getaucht, nur so ein bisschen mit Wasser bespritzt. Einige gutgemeinte Worte spricht er als Vertreter von oben auf mich herab. Auf mich, mit semmelblondem Haar, ganz in weiß – eher wie ein Mädchen gewandet. Während dieses ersten Lebensjahrzehnts wird sich die Haartönung ganz von alleine, ohne fremdes Zutun, in ein Schwarzbraun wandeln.

Zu des Pastors Worten gehört hauptsächlich der Taufspruch: „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder sollen heißen“. 1. Joh. 3.1

An diesem Tage wird auch mein Name, den bereits der Standesbeamte, Herr Richter, vor längerer Zeit zu Buche geschrieben hatte noch einmal manifestiert. „Christoph“ soll er heißen. So wurde der innig geäußerte Wunsch des Opas August: „Es wäre doch gut, wenn das Kind Walter hieße“, – nicht berücksichtigt. Aber auch meine Idee, dass selbst ein so kleiner Mensch schon vorsichtshalber mehrere Vornamen tragen könne, um später selbst auch mal wählen zu dürfen, fiel nicht auf fruchtbaren Boden, auch nicht in die Waagschale, sondern ins Tauf-Wasser. Ich selber konnte wegen noch ausstehender Sprachkenntnisse den Eltern nicht beibringen, dass ich ganz gern Jan („die Gnade des Herrn“) geheißen hätte. Aber das wäre mit einer Doppelung im Familiennamen vielleicht auch etwas des Guten zu viel gewesen. Bei der Namensnennung wäre ich dann vielleicht des Stotterns verdächtig geworden.

Die Tauf-Feier findet in der Priesterstraße 68 (spätere Karl-Liebknecht-Straße 121), in der Wohnung und im Garten der Sommer-Großeltern statt. Dieser Großvater, mütterlicherseits, Max Sommer, Schlosser und Elektrotechniker, erlebt mich allerdings als Enkelsohn nicht mehr. Er starb einen Monat vor meiner Geburt.


Meiner großen Schwester Haarpracht wird anlässlich meines Tauffestes zu einem Schneckenkrönchen herausgeputzt. Sonst schmückt sie sich gern mit der üblicheren Modefrisur „Hahnenkamm“. Aber auch Zöpfe, zu „Affenschaukeln“ geformt, liegen durchaus im Trend.

Sie selber erzählt sinngemäß dazu bei der Betrachtung des Familienbildes vom Tauftage:

Pfingsten. Ich bei der Taufe meines Bruders, vor dem Garten von Oma Margarethe Sommer. Es ist schon schön warm und grün und bunt. Mein Kleid hat Tante Käte genäht und vorher an mir Maß genommen, damit es auch richtig hübsch auf mir hängt.

Dieses kleine weißliche Nachkriegsbündel auf dem Schoß von Mutti, ist nun mein neuer Bruder. Man kann noch nicht viel mit ihm anfangen – aber alle freuen sich. Darüber?

Pfarrer Wolfgang Iskraut hat ihn heute gebadet – aber bloß ein bisschen. Erst seitdem heißt er nun richtig „Christoph“. Seine Taufpaten-Tanten lerne ich an diesem Tage noch besser kennen, als meine eigenen, denn das ist bei mir schon zu lange her.

Jetzt sind wir hier vier. Das hört sich hübsch gereimt an – wie ein Gedicht – oder nicht?“


Meine frühe Nordlandreise

Im März bekommt meine Schwester den bösen Husten und ich gleich ein bisschen mit. Außer bittrer Arznei sollen gegen dieses reizende Bellen reizklimatisch veränderte Verhältnisse gut sein und so kommen wir auf irgendeine Weise, an die ich mich nicht mehr so genau erinnere, im August 1946 zur Erholung für einige Tage auf die Insel Rügen nach Lietzow, an jene Stelle, wo die beiden Jasmunder Bodden – der kleine und der große – voneinander geschieden werden – oder sich treffen.


Meine Mutti erzählt – denn sie weiß manches doch besser:

Hier in Babelsberg haben wir nicht genug zu essen. Unser Betrieb ist wie alle Druckereien geschlossen, mit Verboten belegt. Die sowjetische Militäradministration hat Sorge, dass antisowjetische Flugblätter oder Druckschriften hergestellt werden könnten. So sind wir ohne verschuldeten Anlass unter strenger Beobachtung. Wir müssen uns zur Kontrolle ständig auf der Kommandantur melden. Ohne diesen Teil der Arbeit, ohne die Einnahmen, können wir auch die Miete nicht mehr pünktlich voll zahlen. So kratzen wir das restliche Geld zusammen und fahren nach Lietzow auf der Insel Rügen. Im Zug fehlen noch nachkriegsbedingt teilweise die Fensterscheiben. Es zieht fürchterlich aber es ist ja Sommer. Nur um die Kinder mache ich mir wegen der Zugluft Sorgen, denn Püdde hat Keuchhusten und Christoph ist nun gerade erst ein halbes Jahr alt.

Das Fläschchen für Christophs Milch darf ich bei einigen der vielen Zwischenaufenthalte dem Zugführer geben. Dieser lässt dann die Milch vorn in der Dampflokomotive aufwärmen und ebenso das Wassermagerbrei-Töpfchen, denn das Reisen dauert lange, macht durstig und auch hungrig. Wir Eltern essen später etwas. „Hoffentlich“, denken wir und „mal sehen, ob es für uns're Lebensmittel-Reisemarken dort etwas gibt“.

Es wird etwas geben. Das weiß die Zukunft.

Der Zug fährt nicht auf die Insel, sondern endet in Stralsund am Bahnhof „Rügendamm“. Über den Damm und die erst notdürftig reparierte Brücke müssen die Leute zu Fuß gehen. Dann rollt uns ein Bus weiter.

In Lietzow wohnen wir in der Pension „Strandburg“, nahe der Boddenstraße, unmittelbar am Strand des Großen Jasmunder Boddens gelegen. Das ist dort, wo beide Bodden fast zusammenstoßen und nur das Ufer mit der Boddenstraße dazwischen ist und die Strandburg mit uns drin und die Bahngleise und ein bisschen Wald. Sonst weiter rein gar nichts.

Hier können wir uns sogar richtig satt essen – Vati ist vom anhaltenden Hunger so sehr geschwächt. Es gibt Kartoffeln – und Sonne und die Meeresluft tragen auch zur Erholung bei. Als Getränk nehmen wir immer gern das Wasser aus der Leitung, denn der Kafe aus getrockneten, aufgebrühten Lupinen und zum Schwärzen mit etwas Wegwarte (Zichorie) versetzt, hat einen schrecklichen Geschmack. Ansonsten sind die Verhältnisse in der Unterkunft etwas unerquicklich, so dass wir diese aus gegebenem Anlass schnell „das Räubernest“ nennen, weil es viel besser passt.

Mit unserem Mädel muss ich mehrmals in die Stadt, nach Bergen fahren, weil sie dort Spritzen bekommen kann, um den keuchenden Husten zu lindern.

Einen unheimlich großen Schreck gab es heute: Christoph lag nur kurze Zeit unbeaufsichtigt im Kinderwagen. Er hat dort das silberne Klingelhäschen zum Spielen, einen metallenen Hohlkörper, innen mit einer Kugel, an einem langen blauen Band befestigt, damit er (der Silberhase) sich nicht zu weit vom Wagen entfernen kann. In dieser kurzen Zeit hatte sich der Junge das Band irgendwie um den Hals gewickelt und war im Gesicht und am Körper schon ganz blau angelaufen. Bei den ihn freundlich umsorgenden Schutzengeln schrillten die Alarmglocken. Intuitiv fühlte ich die Aufforderung, sofort nach dem Baby zu sehen. Gerade noch rechtzeitig kam ich hinzu. Ich weiß nicht, wie das überhaupt möglich war, wie es dazu kommen konnte. Hoffentlich hat die mangelnde Blut- und Sauerstoffversorgung des Gehirns keine bleibenden Beeinträchtigungen bewirkt. Er hat sich glücklicher Weise schnell wieder erholt.

Insgesamt ein Grund dankbar zu sein, dass es noch einmal so abging. Eine Lehre fürs Leben.

(Christoph ergänzt später: Da meine blaue Gesichtsfarbe, weitaus dunkler als die des Seiden-Bandes, gerade noch rechtzeitig bemerkt wurde, bin ich heute in der Lage, an diesem bis hierher kurzen Lebenslauf weiter zu schreiben).


Die Kinder sollen es besser haben

Die sowjetische Militäradministration (SMAD) ordnet mittels Befehl an, dass im Rahmen einer einzurichtenden Schulspeisung jedem Schulkind an jedem Schultag ein Teller warmen Essens zum Preis von 0,15 RM (Reichsmark) zu gewährleisten sei. Das ist sehr gut aber soweit sind wir noch nicht.


Die Fremdsprache meiner großen Schwester

Die Eltern werden später berichten, dass „Püdde“ in ihrem dritten Lebensjahr für einige Tage recht flüssig aber für die Eltern nicht erklärbar und von ihnen kaum verstehbar, plötzlich in einer „harten“, vielleicht ostpreußischen Mundart mit eingestreuten völlig ungebräuchlichen Worten redete, was später noch mehrmals auftrat, dann aber nur noch kurzzeitiger und sich bald völlig verlor. Nie hatte das Kind Kontakt zu Menschen mit solch einem hier sehr auffälligem Dialekt und völlig fremden Worten. Waren das möglicher Weise Restkenntnisse ihrer Seele aus einem früheren Dasein und deren Reflexion, die hier einen beredten Ausdruck fanden?


Vom 20. September, bis etwa zum 10. Oktober 1946, halten sich Vati, seine Schwester Käthe (manche Leute nennen sie auch einfach Käte, weil's moderner scheint) und meine Schwester im Thüringer Land auf. Sie sind in Bad Sulza zu finden, im Hotel Eschenbaum.

Mutti und ich bleiben dagegen zu Hause in Babelsberg, führen hier den Betrieb und den Haushalt allein – zu zweit – weiter.


Kinderlieder

Die ersten Kinderlieder, die ich hörend lerne und somit an Lebensweisheiten teilhabe:


Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen:

Wer will guten Kuchen backen, der muss haben sieben Sachen:

Eier und Schmalz, Butter und Salz, Milch und Mehl,

Safran macht den Kuchen gel. Schieb, schieb in den Ofen hinein.


Alle meine Entchen II:schwimmen auf dem See:II,

Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh’.


Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.

Ei, wir tun dir nichts zu Leide, flieg nur aus in Wald und Heide.

Summ, summ, summ, Bienchen summ herum.


Erst kommt der Sonnenkäfer-Papa,

dann kommt die Sonnenkäfer-Mama

und hinterdrein, ganz klitzeklein,

die Sonnenkäferkinderlein.


Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?

Das sind die lieben Gänschen, die haben kein Schuh’.

Der Schuster hat’s Leder, kein’ Leisten dazu,

drum geh’n die lieben Gänschen auch heut’ ohne Schuh’.


Maikäfer fliege,

Vater ist im Kriege,

Mutter ist im Pommernland,

Pommernland ist abgebrannt.

Maikäfer fliege!


Kleinstkinderspielzeuge

Womit spielt in der Nachkriegszeit das Kleinstkind Christoph? Da wurde bereits erwähnt:

Zusammengefasst: Mit dieser Ausstattung konnte ich mich zu den Reichen dieser Welt zählen!


November '46:

Vati hält sich zur medizinisch verordneten Nachkur im Krankenhaus „Heckeshorn“ am Wannsee im Westberliner Stadtbezirk Zehlendorf (Amerikanischer Sektor der ge-vier-teilten Stadt Berlin) auf. Während der Besuchszeiten unternehme ich im Garten (einige Stufen führen dorthin hinunter) meine ersten Laufübungen, einmal auch an der treu sorgenden Hand von Patentante Elisabeth Gandert. Hier lernen wir auch die Krankenschwester Renate Zauleck kennen (die eigentlich aus Berlin-Pankow stammt aber inzwischen hier lebt und arbeitet). Dieser Name wird uns später noch öfter begegnen. Meine große Schwester spricht sie aber viel lieber mit „Tante Spinate“ an, denn das Wort geht ihr bei größerem Mitteilungsbedarf flüssiger von der Zunge und der wertvolle Spinat ist ihr neben anderem selbstgerupften Grünzeug ohnehin als ein übliches Gemüse geläufig.


Immer noch 1946

Es vorweihnachtet schon sehr – und doch ist der Brotkorb ziemlich leer. Das kommt vom zurückliegenden Krieg und von der Nachkriegszeit. Diese steht unsern Eltern in ihren Gesichtern geschrieben und auch eine Personenwaage wüsste davon ein Lied zu singen. Wir besitzen keine aber uns gegenüber, oben auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Babelsberg, steht eine – von den Dresdener Süßwarenfabriken, wie auf einem Schildchen zu lesen ist. Leider spendet dieses Gerät weder Süßes, noch Brot, nur ein trockenes Pappkärtchen, einer Fahrkarte gleichend, mit der Gewichtsangabe dessen, der kurz mal auf der Waagen-Plattform stand. –

Ist im Haushalt wieder mal dieses „klitschige“ Wasserbrot vorhanden, schneidet man es vorsichtig und trocknet es leicht röstend auf der Herdplatte. Zum Festmahl wird es, wenn mit Margarine, Sirup oder Marmelade bestrichen. So ist es auch verträglich-bekömmlich.

Herr Erich Füssel aus der Wichgrafstraße 18 kam zeitig genug aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Er ist so freundlich und fertigt von diesem Weihnachtsfest, also speziell von uns, mehrere Fotos (Anhang). Meine Schwester, mit ihrem modischen Haarkrönchen, ist auf dem Bild die einzige Person mit einem strahlenden, einem gewinnenden Lächeln. Bald schon wird sie ihren vierten Geburtstag begehen.


Als Weihnachtsgeschenk für meine Eltern, das Fest fiel ja diesmal so etwa mit dem Ende meines ersten Lebensjahres zusammen, kann ich ihnen meine etwas wackligen Laufkünste vorführen, lag damit also etwa in dem üblichen Zeitrahmen der Kindesentwicklung. Man braucht nur einen Haltepunkt scharf anzuvisieren und mit den Armen ausbalancierend auf ihn zueilen, dann geht das schon – und wenn es mal nicht richtig glückt, gibt es in dem engen Zimmer geeignete Möbelstücke, um sich erneut aufzurichten. Und man sieht immer: Übung macht den Meister.


Was in diesem Jahres sonst noch so geschah:

Natürlich passierte viel, viel mehr. Das könnt ihr für jedes Jahr beispielsweise in den Dokumenten zur „Zeitgeschichte“ auf der gleichen Internet-Seite lesen und in besseren Quellen sowieso.


1947Mein 2. Lebensjahr

Im Wettlauf um gute Gesundheit holen mich im März die Windpocken ein.

Im April ist mein Windelalter nun endgültig vorbei. Für gemütliche Sitzungen lädt mich fürderhin der Topf ein.


Kinderbücher:

Struwwelpeter“ ist in dieser Zeit der Renner.


Unterhaltung

An Unterhaltungsmusik komponiert beispielsweise Rudi Schuricke jetzt „Die Caprifischer, Vaya con dios...“, wovon ich noch nicht so viel habe, aber die Musik hält sich so lange am Schlagerhimmel, dass ich sie später auch noch ganz frisch mitsingen kann. Theo Lingen gibt auch einige Jahre zum Besten: „II: Der Theodor :II, der steht bei uns im Fußballtor“. Herr Lingen erinnert mich auch heute noch mit seinem mittelgescheitelten Haar und seinen Gesichtszügen sehr an die Klasssenkameradin meiner Mutti: „Tante Emma“.


Mittel zum Leben – Lebensmittel

Der Bruder von Vatis Mutter war gleichzeitig ein vormals gut situierter Reichsbahn-Amtmann. Er heißt Max Dittwaldt. Er und seine Frau Gertrud (Tante Trudel) waren im März 1945 aus Königsberg in Ostpreußen (von Pillau über die Ostsee) mit ihrer „Resthabe“, die in einem Rucksack und einem Köfferchen Platz haben musste, „Heim ins Reich“ geflüchtet, lebend über die Ostsee gekommen. Nach einem Kurzaufenthalt im Schweriner Auffanglager, wohnen sie jetzt in einem Lüneburger Zimmerchen zur Untermiete, in der Ilmenaustraße 1a. Lüneburg liegt sehr weit entfernt, dort, wo viele Soldaten in englischer Sprache reden, was man nicht verstehen kann. Bei uns ist es das russische Vokabular, das vom Laien ähnlich gut verstanden wird.

Zu den Festtagen schicken sie uns ein Päckchen mit Kartoffeln, „Tüffeln“ oder „Tüfften“, wie Onkel Max sie in niederdeutscher Ausdrucksweise ankündigt. Zwischendurch senden sie aus ihrer westlichen Besatzungszone auch immer mal Brotrinden von Schnitten (trockenes „Hasenbrot“), die ihre betagten oder gar schon ersetzten Senioren-Zähne nicht mehr beißend teilen können, zu uns. Je nach Vortrocknung und Reisewitterung kommen sie manchmal auch unverschimmelt hier an.

Anfangs trugen diese Päckchen des innerdeutschen Verkehrs neben der Adresse vorsichtshalber noch den Hinweis „Germany“, weil ja nun auch Potsdam-Babelsberg bei Verschiedenen geistig-gedanklich in eine verdächtige Nähe zu Moskau gerückt war oder vielleicht gibt es ja eine Doppelung – eventuell in den sibirischen Weiten nochmals einen Ort mit dem Namen Potsdam. So etwa wie beispielsweise die Stadt „Potsdam“ in den USA. Da sollte man schon der Vorsicht halber ... Pflicht war es, diese Liebesgaben mit „Geschenksendung – keine Handelsware“ zu kennzeichnen, damit sie vielleicht weniger häufig geöffnet, geprüft und die Brotrinden seltener begrapscht über die Interzonengrenzen eilen können. Es ist immer sehr gut von den Dittwaldts gemeint und wir sind dankbar dafür. Die Rinden schmecken, wenn man Hunger hat, ziemlich ausgezeichnet. Mutti kocht auch Brotsuppe daraus, mit einem Häubchen von Hühnerei-Eiweiß-„Sahnen“-Schnee garniert, wenn es Eier gibt. Garantiert.

Bald haben wir hier bei uns in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) Haferflocken auf Lebensmittelkarten als wertvolle Grundnahrung für uns Kinder. Darüber ist Mutti sehr froh. Enthalten sind in dem daraus hergestellten Brei allerdings zahlreiche Hartschalenteile, auch Spelzen oder Hacheln genannt, die uns zum Rückwärts-frühstücken einladen. („Erks“). Hat die vorsichtig sondierende Zungenspitze sie rechtzeitig erkannt und abgesondert, reihen wir diese zur Flocke gehörenden Fremdkörper am Tellerrand auf, um der Breiköchin das Ausmaß unseres Schreckens darzustellen. Hier können sie als stumme Zeugen dafür dienen, wie sauer uns die süßen Haferflocken wurden.

Eines sehr schönen Tages – das ist dann aber erst später, im 48-er Jahr eingetreten, kommt von Dittwaldts aus Lüneburg wieder ein Päckchen aber ohne Brotkrusten (oder Brotkürsten oder Brotrinden), sondern mit einer dunkelblau-hellblau-silbrigen Tüte mit Kölln-Haferflocken zartester Machart. Vielleicht sind diese, so vornehm aufbereitet, nicht mehr ganz so biologisch vollwertig wie unsre Groben, stellen aber einen Genuss dar, der auf unseren Kinderzungen so dahinschmilzt, wie auf unseren übrigen Sinnen ebenso. Vor diesen neuen Mahlzeiten tanzen Schwesterlein und Christoph-Klein dann in Vorfreude um den Tisch herum und singen mit Begeisterung „Lüneflocken, Lüneflocken“, obwohl diese doch eigentlich vom Familienkonzern namens Kölln stammen, der nicht in Lüne' ansässig ist. Was macht's schon? Die Hauptsache ist der Genuss beim Essen.

Lebensmittelmarken, also Abschnitte der L.-Karten gibt es für fast alles Wichtige, zum Beispiel für Margarine, Brot, Fleisch, Wurstwaren, Eier, Zucker, Kartoffeln, aber auch Karten für den Kauf von Kohle und anderes mehr. Es ist also nicht möglich mehr zu kaufen, mehr zu essen, als es die Markenabschnitte pro Zeiteinheit (Woche und Monat) ermöglichen. Man muss / will also gut einteilen. Hält man sich nicht am Heimatort auf, kann man beim Rat der Stadt, Abteilung Handel und Versorgung, „Reisemarken“ im Tausch gegen die regulären ortsgebundenen Marken beantragen.


Anfang November muss Vati wegen Herz- und Kreislaufbeschwerden ins Krankenhaus Berlin-Nikolassee. Dort besuchten wir ihn. Wieder war auch meine gütige Patentante Schwester Elisabeth dabei, die dort zum Zeitvertreib ein wenig mit mir spielte. Spielen allein füllt aber den ernsthaften Lebensinhalt nicht. So möchte sie mich dazu führen, unter ihrer Anleitung als Wunderkind bis „Zehn“ oder aber als ihr erstes Patenkind zumindest anfangs bis „Drei“ zählen zu können. Aber irgendwo sind uns da Grenzen gesetzt. Ich bin kein Wunderkind und habe auch diese Dame nicht glücklich gemacht. Zu ihrer Enttäuschung redete ich lieber die „Ältern“ vorerst gebührend mit „Mama“ und „Papa“ an, denn Zahlenreihen und zusammenhängende kurze Sätze nahm ich wohl erst nach dem 2. Geburtstag in mein Repertoire auf, so dass die Lieben schon wieder Sorge haben, dass es mir an irgendetwas fehlen könne. Diese Sorge zerstreue ich jedoch bald mühelos, was sie mit der Bezeichnung für mich als „unser Quasselpeterchen“ quittierend honorieren. Ich will jedoch freimütig meine deutliche Erkenntnis gestehen, dass ich in der vertrackten Übergangsphase durchaus Probleme damit habe, dass ich viel mitteilenswertes erzählen möchte aber noch nicht alle rechten Worte dafür finde, auch, dass mir verschiedene Begriffe noch nicht so geschmeidig über die Zunge glitten, obschon sie sehr wohl darauf lagen. Das war schon eine ärgerliche Hemmung. Ich werde das nicht vergessen können.


1948Mein 3. Lebensjahr

Kindergartenzeit

Ich gehe von nun an in die Schulstraße.

Also noch nicht ganz bis zur Schule aber immerhin bis zum Nachbargrundstück – in den Kindergarten. „Kindergarten, Schweinebraten, hat die ganze Welt verraten“, so rufen die schon höher Gebildeten und Wissenden hinter mir her, als sie sehen, wohin Mutti meine Schritte zu lenken gedachte.

Im zarten Alter von 2 ½ Jahren komme ich als „Mittagskind“ in den evangelischen Kindergarten des Oberlinhauses in der Schulstraße zur Diakonissenschwester Helga Stein. Diese ist uniformiert mit steifer weißer Kopfhaube, graublauer Bluse und weißer Schürze. Wenn ich euch das anvertrauen darf: Es gefällt meiner Mutti dort recht gut. Das kann ich erklären – sie muss ja nicht dort bleiben. Mir aber sagt das Ganze überhaupt nicht zu. Schon die Gedanken an den nächsten Tag rühren mich anfangs zu Tränen. Schrecklich, was man dort alles mitmachen muss. Der einzige Trost war ja noch meine Schwester, die ich ab und zu sah. Ansonsten eine Horde anderer Kinder, die oft schreien, laut umhertoben. Habe ich mal ein momentan herrenloses Auto ergriffen, um mit diesem eine wundervolle Wach-Traum-Reise zu unternehmen, kommt schon ein schreiendes Kind, um mir das Objekt, den Angelpunkt der Phantasie, fortzureißen, weil es dafür seinen eigenen Bedarf erkannt hat. Dann gibt es die Ringelreihen-Kreis-Tanzspiele auf Kommando zu absolvieren wie „Laurentia, liebe Laurentia mein“, an eine Laurentia gerichtet, die ich überhaupt nicht kenne, die sich auch nicht in diesem Kreis aufhält. Auch haben wir das Haupt (aber nur das eigene) zum Verrichten des Gebetes de- und reumütig zu senken. Woran aber mögen diese vielen kleinen Gehirne in dieser Zeit wirklich denken? Zum Beispiel an das Frühstück, das vor jedem steht – oder besser: auch an das des Nachbarn? Alles nicht so nach meinem eher freigeistigen Geschmack. Dann das erzwungene Lernprogramm! An mehr als einem Tage müssen wir oftmals „schleifen“, solange eben, bis wir das Binden der Schnürsenkel an den Schuhen beherrschen.

An anderen Tagen sind Versuche der Klebearbeiten mit Buntpapier aktuell oder später gar Flechtarbeiten mit Papierstreifen an der Reihe. Das ist schon viel besser. Als ich „den Bogen raus habe“, war aber erst mal wieder Schluss damit. Auch zu späterer Zeit gibt es eigentlich nur zwei Erlebnisbereiche im Kindergarten mit denen ich mich anfreunden kann: Mal- und Bastelstunden und vor allem die sommerlichen Mahlzeiten, sitzend im „Hof-Garten“ an der quasi bayerischen Bierzelt-Ausstattung (ohne Zelt), also an langen Holztischen und an jenen beiderseits angeordnet, die lehnenlosen Holzbänke. Das alles im Halbschatten unter dem alten Walnussbaum. Genüsslich zu den aus der knapp 200 Meter entfernten Heimat mitgebrachten Schnitten, den mageren köstlichen Milchkafe trinken, dessen Nachgeschmack noch heute den Papillen meiner geistigen Zunge anhaftet. Alles in relativer Ruhe genießen zu dürfen, ganz ohne Krach dabei sowohl das Schwatzen mit vollen Mündern der Nachbarschaft und ebenso das Schmatzen auszublenden, die Ohren zuzumachen. Das ist was! Das ist schön – dort eine Zeit träumen zu dürfen, in sich allein sein zu können, bis alle mit dem Mampfen fertig sind. – Ein Geschenk des Tages.

Immer wieder werden wir im Kindergarten mit dem rechteckigen engzahnigen Läusekamm (ohne Griff) prüfend bearbeitet. Als „Staubkamm“, wird er sowohl diskret und vornehm, als auch absichtlich irreführend bezeichnet. Aber wohl niemand wurde in die Irre geführt – ein Jeder wusste Bescheid. Bei meiner Schwester und mir konnten bei aller größter Mühe nie diese Nissen entdeckt werden. Wir hatten keine Läuse zu Gast, dienten ihnen nicht als Wirte. Ich schwöre es!

Auch Flöhe gibt es. Wo die nur hergekommen sein mögen? Und weshalb zu wem? Ob manchmal Flöhe auch Läuse haben – oder springen die einfach viel zu schnell von dort wieder fort?

Komischer Weise haben viel viel später, lange Zeit nach dem Krieg, wieder viele Leute Läuse.


Herbstkur in Bornstedt bei Potsdam

Für September / Oktober 1948 erhält unser Vater eine dringend notwendige Herz-Kreislauf-Behandlung verordnet. Es geht nach Bad Elster, im schönen Thüringer Land gelegen. Da unsere Mutti ihn wegen seiner Geh-Behinderung begleiten muss, verleben meine Schwester und ich ersatzweise „frohe“ sechs Wochen im Oberlin-Kinderheim in Bornstedt. In der Potsdamer Straße 196, etwa gegenüber dem alten Forsthaus. Von dort wäre ich am liebsten schon am ersten Tage ausgerissen aber die Heimat schien irgendwo – unerreichbar in einem anderen Erdteil zu liegen. Also: verraten und verkauft sind wir. Alte, strenge und familienlose sowie wohl überforderte Diakonissenschwestern, die sich uns kleinen Kindern widmen wollen, sind unsere Betreuerinnen. Es ist so ähnlich wie bei Hänsel und Gretel. Sie meinen es aber so sehr gut mit uns, können das vielleicht bloß nicht so recht zeigen und ausleben – hören wir später. Eine schreckliche Zeit –verlassen sind wir von aller Welt. Wenig gutes Essen. Verwöhnt sind wir diesbezüglich sowieso nicht. Selbst meinen einzigen Freund, meinen schwarzen Wauwi, der mit den himmelblauen Augen, lassen die garstigen Kleinkinderaufbewahrerinnen nicht als meinen Trost mit mir im gleichen Bett schlafen, sondern sperren ihn (als wertvolle pädagogische Maßnahme getarnt) in den dunklen Koffer und lagern diesen bei abgesperrter Atemluft auf dem kalten Dachboden. „Hunde haben hier keinen Zutritt“. Ja, so geht es in der Welt zu. So schrecklich diese Stätte, dass ich sie erst nach 50 Jahren wieder aufsuchte, um Frieden mit ihr zu schließen – also jene alten Damen hatten inzwischen das Haus verlassen. Die Zeit hat sie getilgt. In der Zeit des Heimaufenthaltes lernen wir das Lied:


Wenn die Arbeitszeit zu Ende

Wenn die Arbeitszeit zu Ende,


rüsten nach der Burschen Art 


Samstag alle fleiß' gen Hände

zu der frohen Wanderfahrt.

Singend zieh'n wir aus dem Städtchen,

frei das Herz und leicht der Sinn.

II: Links die Burschen, rechts die jungen Mädchen 
und ich selber mitten drin. :II


Hei, das ist ein fröhlich Wandern!


Wiesen, Felder zieh'n vorbei.


Einer sagt es froh dem andern;


heute, Bruder, sind wir frei!

Weit zurück schon liegt das Städtchen,


und wir wandern leicht dahin;

II: Links ...


Singen, spielen im Vereine, 


Rast in kühler Waldesruh.

Und beim hellen Mondenscheine


wandern wir der Heimat zu.


Singend zieh'n wir ein ins Städtchen,

frei das Herz und leicht der Sinn.

II: Links die Burschen, rechts die jungen Mädchen

und ich selber mitten drin. :II

Nein, solch ein schöner Gesangsbeitrag kommt von mir nicht freimütig aus voll überzeugtem Herzen. So froh bin ich nicht gewesen. Das Lied war nur die Theorie, die Praxis sah für mich anders aus.

Auch sammeln wir hier in Bornstedt fleißig Bucheckern. Daraus sollen Halsketten – ich will an so 'was nicht denken, da steht mir immer Lietzow '46 mahnend vor Augen – und auch schmückende Armbänder für die Mädchen entstehen. Hoffentlich bleibt auch noch etwas als Winternahrung für die freundlichen Tiere des Waldes übrig. Für Eichhörnchen zum Beispiel. Das wäre gut. Mit denen kann man wenigstens ordentliche Gespräche führen, wenn sie nicht fortlaufen.

Aber noch im Oktober '48 feiere ich mit meinem Wauwi ein gewaltig-stilles Wiedervereinigungsfest. Das vormals plüschige Fell wird dann später recht „abgeliebt“ aussehen – etwa so wie unser Teppich auf seiner versteckten Rückseite.

Unseren Teppich von unten kenne ich sehr gut. Wenn Mutti den Teppich des Wohnzimmers gesaugt hat (kennt ihr den großen grauen, kräftigen Topfstaubsauger von Miele?), dann werden die Teppichseiten nach innen umgeschlagen, weil Mutti dann die mit rotbrauner Ölfarbe gestrichenen Dielenbretter mit Seifenlauge wischt. Ich sitze während dieser Zeit unter dem Tisch, richtiger „in meinem Boot“ und um mich herum die Teppichwellen, die ach so wilde See – solange bis der Boden getrocknet ist.


Die neue Währung – ohne Gewähr für ihr langes Bestehen?

Bisher bezahlen die Eltern alle Waren in Mark und Pfennig des Deutschen Reiches. Nun aber ist es aus damit, denn es erfolgt die Währungsumstellung, die auch uns im Lande Brandenburg die Deutsche Mark der sowjetischen Besatzungszone bringt, nachdem die West-Alliierten in ihren Zonen gemeinsam einheitliches neues Geld, also völlig anderes, eben West-Geld herausgegeben hatten. Das soll wohl nur eine kurze Übergangswährung bis zur Wiedervereinigung der Besatzungszonen sein. Dann wird es schon wieder anderes schönes gesamtdeutsches Geld geben. Am Tage nach der Währungsumstellung in den Westzonen waren dort plötzlich wie von Zauberhand alle Geschäfte proppevoll mit Warenangeboten. Der Auftakt-Termin eines „Wirtschaftswunders“.

Ob das bei uns im Osten genauso wird? Ach nein – wissen wir später, als wir klüger wurden. Es wurde nicht vergleichbar. Es gab da gewisse Unterschiede. Hier wurde nichts in die Geschäfte hineingepumpt, sondern Industrie-Anlagen als versuchsweise Kriegsreparationen stellvertretend für das alte gesamtdeutsche Reich gen Osten transportiert. Dass sich dieser kleinere Anteil der Deutschen mithilfe ihres Fleißes wieder hochrappeln, war vielleicht das noch größere aber eher unauffällige und von vielen Schwierigkeiten begleitete zeitweilige Wirtschaftswunder.

Der Umstand neuen Geldes ist für uns Jüngere günstig, denn wir haben plötzlich viel Spielgeld in unserer Kasse, weil mit den bisherigen Reichspfennigen niemand mehr 'was anzufangen weiß – außer uns Kindern.


Weihnachtszeit, schöne Zeit

Wir drei: Vater, Tochter und Sohn sind am 24. Dezember interessanter Weise in den Laden verbannt worden, weil Mutti im Wohnzimmer irgendwas kramt, rumort, zum Fest vorbereitet. Wir stehen im offenen Türrahmen schauen auf das Treiben am Bahnhof und in der Straße und reden über das Leben. So gehen die Gedanken und Gespräche auch zum lieben Weihnachtsfest.

Meine große Schwester ergreift hier jetzt das Wort, denn sie redet viel mehr und wesentlich reifer, als ich es kann. Etwas kritisch muss sie sich dann schließlich als die vom Kindergartenerfahrungsaustausch Aufgeklärte doch schon mal äußern, also: – „Pühh! Echten Weihnachtsmann und so 'was – gibts ja überhaupt nich. Wozu denn überhaupt ein Gedicht lernen? Alles nur Spinnerei. Dis glaubt ja höchstens noch so'n Baby wie Christoph“. Der kleine Bruder gestattet es sich an dieser Stelle sanft einlenkend, mit überzeugtem Ernst im Gesichtsausdruck, anzumerken: „Abba Osterhase mit weiches Fell gib es würklich“. –

Das Schicksal will es jedoch offenbar anders und dem Geschehen eine Wendung geben:

Auf der anderen Straßenseite schreitet ein weißbärtiger Rotgewandeter mit geschultertem Sack fürbass und unser Vater ruft laut: „Lieber Weihnachtsmann, komm' doch bitte mal zu uns herüber, hier ist so ein Mädchen, das nicht glaubt, ...“ und er kommt dann tatsächlich über die Straße gestapft, riesengroß, geradewegs auf sie, die Ungläubige, zu...

Nachher hat sie dann der Mutti hervorsprudelnd erzählt: „Ich habe dann nur ganz schnell die Hände und die Füße gefaltet und brav aufgesagt: Lieber guter Weihnachtsmann schau mich nicht so ...“ Die Rute hat er dann in seinem grauen Sack stecken lassen – nur mal so leicht mit einem Tannenzweig gedroht – oder zwinkernd gewinkt?

Ja, während dieses einschneidenden Ereignisses, das einer größeren Portion an Dramatik wohl nicht entbehrt, schmückt Mutti immer weiter am Weihnachtsbaum herum. Eine sehr wichtige Rolle spielen dabei unsere Buntpapierkringelgirlanden. Und auch süße Kringel, die später (im Januar) leicht eingestaubt „geplündert“ werden dürfen. Dann gibt es noch die Kerzenhalter, an einem Ende als Spiralbohrer fürs Stämmchen gestaltet, am anderen Ende mit einem Messingblechteller und scharfen Metallzähnen versehen, die die Kerzen beißen und so senkrecht halten. Auf der Spitze des Bäumchens sitzt ein silbriger „Eisvogel“ mit einem Schwanz aus Glasfasern. Über die Zweige wird vorsichtig und einzeln das Jahr für Jahr aufbewahrte und wiederverwendete schwere Stanniol-Lametta (Vorkriegsware) gehängt. Ein Jahrzehnt später wird es dann im Handel das zu leichte Aluminium-Lametta geben, bei dem das Bäumchen aussieht, wie der ungekämmte Fussel-Struwwelpeter, wie ein Wirrkopf – aber bitte, eben nicht bei uns.


1949 – mein 4. Lebensjahr

Als Vorbeuge-Maßnahme bezüglich drohender Stromsperren ist es angeraten, bei der vorhandenen 110-Volt-Netzspannung, die guten 15-Watt-Glühlampen zu nutzen. Wir haben noch einige „großkerzige“ Vorkriegs-Glühlampen, deren Glaskolben in einer Spitze „auslaufen" und dort zugeschmolzen sind. Diese wurden vor langer Zeit beiseite gelegt. In die kleinen 15-Watt-Lampen kann man getrost hineinsehen und den rot-gelben Glühfaden betrachten, ohne geblendet zu werden. Für uns Kinder sind es gemütliche Stunden, wenn bei den Stromsperren die Beleuchtung von der Glühlampe hochherrschaftlich auf Stearin-Kerzen wechselt. So traut und feierlich. Die Kerzen werden selbstredend solange genutzt, bis sie kleine Stümpfchen sind und dann andere Reste „aufgepfropft“ werden oder man diese Kurzkerzen für die ebenfalls kürzeren Aufenthalte in der Außentoilette weiternutzt, denn in dieses stille Örtchen führen keine Elektroleitungen hinein. Für seltene Gänge in der Dunkelheit in den Keller oder in den Brennstoffschuppen nutzen wir die Stall-Laterne, ein fast geschlossenes „Windlicht", das dem vorbeugenden Brandschutz gerechter wird, als das offene Kerzenlicht, auch „Talgmops" genannt.

Eine Petroleumlampe besitzen wir auch. Aus einem Glasbehälter bestehend, der aussieht wie ein größerer Parfümzerstäuber. Dessen messingfarbene Schraubverschlusskappe ist mit einem Schlitz versehen, durch den mittels eines Handrädchens von Zeit zu Zeit ein flacher Docht nach oben weitergeschoben wird – immer um den Millimeter-Betrag des Abbrandes.

Gesellige Spiele

Zuhause erwartet uns heute eine große Überraschung: Wir haben jetzt sogar „Das beliebte Original-Spiel * Mensch ärgere dich nicht * für vier bis sechs Personen“, gesetzlich geschützt, JFSM, Int. Reg. Joseph Friedrich Schmidt, München 13, Lizenzherstellung von „Der Spielkasten“ in Berlin, Hergestellt als – Ostzonen Ausgabe – 3,25 Reichsmark. Aha, schon vorausschauend vor einiger Zeit gekauft, denn inzwischen haben wir ja die D-Mark, die Deutsche Mark, die aber nur in unserem kleineren östlichen Teil Deutschlands gültig ist. Die anderen, in den Westzonen, wollen diese auch gar nicht, die haben eine D-Mark, die härter ist, wie man hört.

Auch mit ohne zu viel Spielzeug kann ich glücklich sein. Es ist schon schön, wenn Vati mal etwas Zeit hat und ich auf dem Tisch allein mit vorgestreckten Armen und Händen einen imaginären Hof einfriede und die Finger ein Tor bilden, was sich für Menschen, Tiere und Fahrzeuge leicht öffnen und schließen lässt. Zu frohem Spiel besitze ich hölzerne leere Garnrollen und auch Rollen vom Leukoplast-Pflaster. Das sind in der Wirklichkeit des Spiels natürlich Autos. Auch die kleinen braunen, wenn auch alten Vorkriegs-Spritzflaschen mit dem schönen Mädchennamen „Maggi“ glänzen wie neu und diese dienen mal als Verkaufsgut im Kaufmannsladen, mal sind sie aber auch Straßenlaternen oder Bäume. Hinzu kommen noch kleine wertvolle Schiebeschachteln aus Sperrholz, in denen sich früher Reißzwecken befanden. Damit zu spielen ist schön. Wunderbare Spiele lassen sich da „mit so tun als ob“ gestalten – und mein „geistiges Auge“ sieht alles ganz deutlich, was kein anderer erblicken kann. Wir sind damit verhältnismäßig ganz schön reich.

Von Muttis Jugendfreundin aus Westdeutschland bekamen wir kürzlich ein Fische-Angelspiel geschickt, geschenkt. Das war sehr freundlich von ihr. Ein faltbares Pappaquarium mit kleinen Pappfischen, jeder mit einer Metall-Heftklammer gefoltert. Mit einer Angel, an deren Ende ein Magnet befestigt ist, kann man sich sein Mittagessen angeln. Blind natürlich, das ist der „Riesenspaß“, denn durch die bunt bedruckte Pappwand des Aquariums kann man nichts sehen. Man fischt also im Trüben. Weiter nichts? Weiter nichts! Was soll das? Da kommt sofort Langeweile auf. Also bitte, meine Anmerkung will keinen Undank zum Ausdruck bringen aber...


Etwas Neues: „Die HO hat alles“ (Handelsorganisation in der Ostzone). So sind in der Backwaren-Verkaufsstelle jetzt „Schweineohren“ aus Blätterteig, mit flüssigem Zucker geschönt, im Angebot. Das Stück für 5,- Deutsche Mark, Ost. Frei, ohne Lebensmittelmarken. Solange der Vorrat reicht.

Es handelt sich nicht um ein Grundnahrungsmittel. Es ist eher ein zeitweiliges Luxusgut für den sehr kurzzeitigen Genuss.


Italienische Sonne in Babelsberg

Jetzt im Winterhalbjahr gehe ich einige Male bis fast in den sonnigen Süden. Das bedeutet für mich: Ambulante Gesundheitsvorsorge in der Oberlin-Klinik. Nur einen Katzensprung entfernt – ist ja gleich nebenan. Ich habe nämlich auf Muttis Antrag einige Höhensonnen-Bestrahlungen verordnet bekommen, weil der Arzt ihr zustimmte und meinte, dass sei eine gute Idee. Höhensonne löckt Pro-Vitamin D. Im Verein mit Lebertran gut gegen die Rachitis. Das ist nicht wie der Name uns vielleicht einreden möchte, eine lateinische Entzündung des Rachens, enthält auch keinerlei Rache-Gedanken, sondern benennt die Knochenweiche, die zum Beispiel zu ungesunden X- oder auch halb-O-förmigen Säbelbeinen als Folge des Mangels an Vitamin D führt. Und gerade das soll hier schon vorher nachhaltig bekämpft werden.

Leider wird man von dieser Höhensonne nicht braun aber die Haut soll zumindest angeregt werden, ein bisschen des Vitamin D zu bilden. Das können wir nicht ganz alleine, nicht ohne Hilfe.

Der eigentlich kuschelige weiche, warme Sandstrand den man sich wünscht und der sich sonst unter der natürlichen Höhensonne befindet, ist hier ausgetauscht gegen eine harte Untersuchungsliege, mit einem Laken überzogen. Die liebe warme Sonne ist hier nachgestaltet mit einer laut summenden, grünlich grellen Ultraviolett-Lampe, vor der man die Augen mit einer sehr dunklen Gummiband-Brille schützt. Die lieblichen Düfte südländischer Pflanzen werden ersetzt von einem aufdringlichen Ozongeruch. Aber bitte auch diese Beschreibung nicht als Undank werten. Es hat schon alles sein Gutes. So wird bestens für unsere Gesundheit gesorgt.



Ich biete mich an – als euer Wanderführer durch Haus und Hof

Da ich inzwischen groß genug dafür bin, kann ich Euch auch gerne über das Hausgrundstück und durch unsere Miet-Wohnung führen, die uns seit 1941, also dem Zeitpunkt der Hochzeit unserer Eltern, bis zum späten Frühjahr 1956 beheimatet. Wohnraum und Arbeitsstätte der Eltern liegen im gleichen Hause und sind miteinander verbunden, kennen keine absolute Trennung.


Warnung und Rat: Solch ein Spaziergang über das Grundstück ist recht anstrengend und wer sich außerdem mitten in einer Zeitnot befindet, sollte das Kapitel vielleicht besser überspringen.

Wirklich stark Interessierte können sich das alles am Ort selber ansehen.


Das Haus Rudolf-Breitscheid-Straße Nr. 46 (bis 1945 als Lindenstraße 39 benannt), liegt eingebettet in der Straßenzeile gegenüber einem der Eingänge des Bahnhofs Babelsberg. Das Haus wurde erst 1874 an der Stelle eines alten kleinen ortstypischen Kolonistenhauses errichtet. Das Grundbuch von Babelsberg, Blatt 6862 vermerkt, dass dieses Grundstück in der Gemarkung Babelsberg, Flur 1, Flurstück 893/1 liegt und 319 m² groß ist.

Links von „unserem“ Gebäude steht das kleinere Kolonisten- und Weberhaus Nr. 45, in dem oben Familie Wa., jun. wohnt. Im Erdgeschoss, in den früheren Wohnungen, befinden sich zwei Geschäfte: links: „Schöne Spielwaren und Sportartikel“, das Helene Runge, geborene Beerbaum und ihr Sohn Hellmut gemeinsam betreiben, nachdem Hellmut (Cousin meiner Mutti) aus dem Krieg und aus der anschließenden Gefangenschaft zurück gekommen war. Seine Eltern leben getrennt, das heißt, sein Vater Carl Robert Runge wohnt nicht hier, sondern in der Fultonstraße 5.

Rechts im besagten Kolonistenhaus Nr. 45: der Friseur Herr Heue. An der rückwärtigen Seite dieses Hauses lässt Herr Heue bald einen Glasanbau errichten, wie ein Wintergarten aussehend oder eine Veranda, mit „krisseligem“, also undurchsichtigem Glas. Aber wir wissen trotzdem: In diesem Anbau sitzen die Damen unter der Haube, wenn der haarkünstlerische Verschönerungsprozess es erfordert. Bei dem Blick in teils hochrote Frauen-Gesichter habe ich den Eindruck, dass die Behandlung wohl so ähnlich anstrengend ist und sie sehr leiden müssen - ähnlich, wie manchmal beim helfenden Arzt. Der Herr Heue trägt auch einen eben so weißen Kittel. Und pomadige Haare. Er ist bestimmt ein ganz schön gelehrter Mann, der ausreichend Themen hat, um gern und viel zu schwatzen.

Auf dem Hof für beide Grundstücke 45/46, der durch das links neben dem Häuschen angeordnete Tor erreichbar ist, befindet sich das „Garten-Wohnhaus“ des Eigentümers Herrn Wa., Senior. Des Weiteren ein langer massiver eingeschossiger Steinbau, der den Hof in der Länge teilt. Die Aufteilung dieses Nebengebäudes: beginnt von Norden her gesehen, mit einem türlosen Gelass, in dem Mauer- und Dachziegel, auch Lehm und Sand lagern. Daran schließt sich die Waschküche an, die ein eingemauerter Kochkessel dominiert. Ferner stehen darin der Dreifuß-Holzbock mit dem hölzernen Waschfass, die Zinkwannen und der hohe Zinkzuber zum Einweichen der zu waschenden Kleidungsstücke. Es folgen hinter der Waschküche mehrere Gelasse, die der Hausbesitzer wohl zum Abstellen gar manch mehr oder weniger wichtiger Gerätschaften nutzt – für manches eben, was der Besitzer mehrerer solcher Häuser zu brauchen glaubt, wenn er Maurer (in Rente) von Beruf ist. Alle Holztüren dieser Verschläge, die neugierigen Blicken wehren, sind mit rotbrauner Ölfarbe gestrichen, eben so, wie es auch jedem anständigen Dielen-Holzfußboden zugedacht ist. Der letzte Verschlag dieses Bauwerks als südlicher Abschluss enthält unsere Außen-Toilette mit einem überdachten Eingang auf der Seite unseres Hofteils.

Auf der gegenüberliegenden Hofseite, an das große Quandt'sche Haus Nr. 47 gelehnt, steht „unsere Werkstatt“. Hier werkt aber niemand. Es ist ein großer Abstellraum. Die Eltern wollen später mal den Hauswirt fragen, ob sie sich dieses Gebäude als 2. Zimmer ausbauen lassen dürfen, denn es ist recht eng bei uns. Sie schieben diese Frage aber solange auf, bis sie vielleicht das Geld dafür zusammen haben, damit diese Frage keine Luftblase ist, sondern „Hand und Fuß“ hat. Es folgen dann die Kammern für die Brennstoffvorräte der Mieter. An letztgenanntes Bauwerk schließt sich der Freiluft-Hühnerzwinger des Hauswirtes an.

Gegenüber dem Werkstatteingang sind an der Gebäudewand stehend, die langen Holzleitern des Hauswirtes befestigt, die über das Haus hinaus hoch in den Himmel ragen, als wollten sie die Wolken aufgabeln. Ich habe sie nie anders als in dieser Wartestellung gesehen, Wind und Wetter, Sonne und Schnee ausgesetzt, was mir leid tat für sie. Weiter hinten, in Höhe der Brennstoffschuppen befindet sich die Klopfstange, weil dort den Teppichen, soweit vorhanden, mit dem Ausklopfer der Staub ausgeklopft wird. Sie einfach an ihrem Bestimmungsort zu belassen und allein mit dem Staubsauger zu bearbeiten, ist heute noch unüblich. Natürlich ist man bei diesem Tun, je nach Klopfhäufigkeit und der davon abhängenden Ergiebigkeit, ebenfalls in eine Staubwolke eingehüllt und die Atemluft ist entsprechend dicker. Links neben diesem Platze solcher Sklavenarbeit liegen zwei große Betonquader völlig unbekannter, nie geklärter Herkunft und Zweckbestimmung auf dem Erdboden (herum). Als Mensch, Maurer und Hausbesitzer braucht man vielleicht eben solche Elemente irgendwann einmal sehr dringend. Diese und der zwischen ihnen von Kinderhand etwas ausgeschachtete Zwischenraum des grauen Hofsandes, ergibt für mich ein wunderschönes, geradezu vornehmes Auto, in dem man sich auf weite Reisen durch die Welt träumen kann, genau so weit wie die Phantasie gerade reicht. Die Zeit dafür – die wird manchmal abrupt gekürzt von solchen Rufen wie: „Reinkommen, Abendbrot“, damit war aber in Wirklichkeit ich gemeint, denn das Essen steht ja bereits auf dem Tisch. Es gibt für uns aber auch mobile Autos, also Automobile. Zu denen gehört beispielsweise mein alter Kinderwagen,

die tiefliegende „Rumpelkutsche“ aus Sperrholz, bauchig gebogen und mit elfenbeinfarbenem Lack geschönt, mit Hartpappe-Auskleidung, weißem Wachstuchverdeck. Jener, bereits gebraucht angeschafft, wurde zu frohem Kinderspiel freigegeben, weil ich als das letzte geplante Kind gelte. Mit diesem also „kariolen“ wir gern auf dem Hof umher, transportieren wichtige Güter und wie später dann mit unserem großen Handwagen. Eine Art von Lebensschule, bevor es ernsthaft in den lebhaften Straßenverkehr geht.


Natürlich spielen wir viel draußen – zum Beispiel Verstecken. Da gibt es für die Versteck- und Wartezeit mancherlei Überbrückungsverse die im Singsang zu rufen waren, wie: „Eins, zwei drei vier Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vorder mir gibt es nicht. Eins, zwei, drei –ich komme!!!“ oder auch nur das langsame aber laute Zählen von eins bis zehn, bis das Suchen beginnt. In der Wartezeit die eigenen Augen mit den Händen zugedeckt, manchmal die Finger dabei ein wenig gespreizt. Hat man einen Versteckten jedoch entdeckt, so wird laut gerufen: „Anschlag Moni“. War Moni damit nicht einverstanden, tönt es zurück: „Güldet nich – du hast gelunscht“. Necken kann man den vorerst vergeblich Suchenden, indem man aus dem Versteck ruft: „Eckenkiekerla huhu“ (oder ähnliches), um den Vorgang des Gefunden-Werdens ein wenig zu beschleunigen, die Sache zu erleichtern. Eine zeitliche Dehnung darf sich ja nicht zur Langeweile ausarten. Ja, so war das nämlich.


Im Hause hatten meine Eltern vorerst das so genannte Erdgeschoß gemietet – das ist nicht so schlimm wie es sich anhört, hat nichts mit Kriegsmunition zu tun. Ganz vornehme Leute sagen lieber „Parterre“. Von der Straße aus kommend, betreten wir zuerst den Laden, abgeteilt als Kundenraum und Verkaufs-Büro, dahinter die Dunkelkammer für die Fotokopierarbeiten – das ist ein schmaler „Durchgangsschlauch“, der ohne Anmeldung und Erlaubnis nie und nimmer bei Tageslichteinfall durchschritten werden darf. Innerfamiliär wird der Raum aber nie „das Fotolaboratorium“ genannt, sondern schlicht als „die Kabine“ oder „das Kabuff“ bezeichnet und ein Jeder von uns weiß, welcher Raum gemeint ist.


Rechts vom Büro geht es zwei Stufen höher in den Lichtpausraum, ausgestattet mit großem Tisch zum Bearbeiten der Zeichnungen, für das Fertigen großformatiger Kunst- und Plakatschriften und als Standort der Lichtpaus-Apparatur. Auch dieser Raum ist ein zeitweiliges Heiligtum für konzentriertes, störungsfreies Arbeiten des Vaters.

Dahinter liegt das sonnenlichtfreie kombinierte Wohn-Schlaf-Zimmer, mit dem Fenster nach Norden gerichtet und mit Aussicht auf die „Werkstatt“, diesen vorerst nur ersehnten zweiten Wohn- oder Schlafraum. Die Küche kann man erreichen, wenn man von der Straße kommend, durch Kundenraum, Büro und Fotodunkelkammer schlüpft oder aber durch Büro, Lichtpause und Wohnzimmer oder aber man benutzt den Seitenflur des Hauses und kommt, vier Stufen höher, direkt in die Küche. Links neben dem Laden kann man also das Haus auch durch den seitlich angeordneten Durchgangsflur betreten, von dem aus nach rechts schwenkend die Treppe ins Obergeschoß führt, in dem das Ehepaar Schubert wohnt. Oder man durchschreitet den Flur bis zum Ende und geht in den Hof. Der Herr Schubert hat einen seltenen Beruf. Bei der DEFA ist er ein Film- und Theater-Kulissenmaler. Wenn also ein Film über die Alpen hergestellt werden soll aber die Filmleute nicht dorthin reisen dürfen, malt Herr Schubert die Berge eben. So einfach geht das. Manchmal.

Alle diese von uns genutzten Räume sind als Durchgangsräume so untereinander verbunden, dass sowohl den Kunden schon mal klar werden kann, was so auf dem Küchenherde schmurgelt. Ebenso hat der die Lichtpausen entwickelnde, stechende Ammoniakdampf auch im kombinierten Wohn- und Schlafzimmer sein Zuhause und wabert durch die übrigen Räume. Man kann also die gesamte Wohnung mit Ladenbereich in Kreisläufen durcheilen, was für uns Kinder, zum Beispiel als Rennstrecke, aber nicht angezeigt ist.

In der Nachkriegszeit mit vielen Flüchtlingen und Berlins sowie Potsdams zerbombten Zentren ist die Wohnungsnot groß und an das Mieten günstigeren Wohnraums schon deshalb, aber auch aus Kostengründen nicht zu denken.


Nur sehr standhafte, geduldige Leser werden sich der Frage zuwenden: Wie aber sind nun die Wohnverhältnisse mit ihrer Einrichtung im Einzelnen?

Eilige Zeitgenossen überfliegen die nun folgenden Beschreibungen besser.


Der Kundenraum

Betritt man von der Straße her den Kundenraum, so wird man von der mit der Tür verbundenen Ladenglocke angemeldet und steht vor einem Schalterfenster, durch das hindurch hauptsächlich Theaterkarten verkauft werden. Diese liegen sortiert, für die Kunden unsichtbar, rechts und links dieses Fensters in Regalen. Rechts neben dem Schalterfenster befindet sich der Ladentisch, ein Teil der Tischplatte ist klappbar, um den Durchgang ins Büro zu ermöglichen. Über den Ladentisch werden Büromaterialien verkauft (z. B. ein Tintenfässchen für 30 Pfennige), Kundenaufträge werden hier angenommen wie auch Lichtpausen und Fotokopien ausgeliefert. Zum Kundenraum gehört auch noch das Schaufenster, dessen Auslagen-Werbung man von der Straße aus betrachtet.

Außen am Haus stehen Werbetafeln, hauptsächlich mit den Angeboten der Berliner Theater.


Das Büro

Nicht allzu groß ist es und muss doch drei Arbeitsplätze aufnehmen: Den Platz am Theaterkartenschalterfenster, den Platz am Ladentisch und einen Platz im Hintergrund, an dem Schreibmaschinenarbeiten, Abrechnungen, die Buchhaltung usw. erledigt werden. Dazwischen spielen auch mal wir Kinder, wenn es ganz allein im Wohnzimmer zu langweilig ist – aber eben so zurückhaltend und leise, dass es die Kunden und den Geschäftsverkehr nicht stört. Andererseits gibt es mit dem steten Wechsel von Kunden und deren Anliegen, auch wenn ich diese noch nicht immer alle verstehe, doch ständig neue Anregungen für die Phantasie, die in gar viele Gebiete hinein schweift. Allein schon die Gespräche über die Inhalte der Theaterstücke und deren Personenbesetzung! Ein Bildungsprogramm – so ganz nebenbei den Horizont erweiternd. Vieles Spielmaterial bietet so ein Laden! Beispielsweise gehören veraltete Stempel dazu oder ungültig gewordene, weil nicht abgeholte Theaterkarten. Das gesamte Regal ist ja angefüllt mit diesen wunderschön anzusehenden verschiedenfarbigen Karten, die etwa das Format 150 x 45 mm haben und den Wert für je eine Theatervorstellung. Davon darf um Himmels Willen nie versehentlich etwas verloren gehen.

Mein Vater prägte damals über mich den Satz: Christoph kauft sich ’ne Theaterkart’ und macht darauf ’ne Dampferfahrt.


Die „Fotokabine, das Laboratorium oder die Dunkelkammer.“

In dieser vom Büro mittels Holzwand abgetrennten Dunkelkammer ist an einem schmalen Gang mit Steharbeitsplätzen der Belichtungskasten mit Zeitschaltuhr aufgestellt in dem die Originalvorlagen abfotografiert werden und des Weiteren ein Tischgestell angeordnet, auf dem großformatige flache Fotowannen stehen, die verschiedene Flüssigkeiten zum Entwickeln, Fixieren und Wässern enthalten. Hier werden von den Originalvorlagen der Kunden Kontaktnegative gefertigt und von diesen dann wiederum Positivdarstellungen. Eine aufwendige Prozedur, die zu dieser Zeit aber dem üblichen Stand der Technik entspricht und als normal erscheint, weil man ja nichts anderes kennt, als dieses moderne Verfahren.

Über den flachen Fotowannen werden die bearbeiteten Papiere dann auf den „Wäscheleinen“ zum Trocknen aufgehängt. An den unteren Rändern der Papiere sammelt sich das Wasser, deshalb werden diese Überschüsse der Nässe zwischen Daumen und Zeigefinger abgestreift, um den Prozess des Trocknens etwas zu unterstützen. Bei ganz eiligen Kleinaufträgen wird die beheizte Trockenpresse genutzt. Schwer lassen sich die großen flachen Wannen, vollgefüllt mit den Chemo-Wässern tragen, ohne überzuschwappen, um deren Inhalte dann mit Hilfe eines Trichters wieder in die Vorratsflaschen zu gießen. Alle diese Vorgänge werden während der Arbeit nur wenig von einer dunkelroten Lampe erhellt, ansonsten beim Aufräumen und Reinigen mit einer normalen weißlichen Osram-Lampe, deren Kolben unten spitz zuläuft und dort nach dem Evakuieren der Luft zugeschmolzen worden war. Diese Glühlampe hielt jahrelang, bis etwa 1953 das Lichtnetz der Stadt von 110 Volt auf 220 Volt umgestellt wurde. Da mussten auch diese Glühlampen weichen. Wertvollere Geräte, die weiterhin Bestand haben sollten, werden dann bis zu ihrem „Lebensende“ mit einem Vorschalt-Transformator betrieben, der die neue doppelt hohe Netzspannung entsprechend verringert, damit für das Gerät alles beim alten bleibt. In dieser Zeit gibt es dann also viele Basteleien, denn so viel fabrikneue Vorschaltgeräte wie benötigt, kann der Handel nicht anbieten.

Arbeits- und Gesundheitsschutz geht alle an: Nur einmal habe ich es gewagt aus einer Schale etwas von diesem „bestimmt köstlichen Kandiszucker“ zu naschen. Es war aber ekelhaftigstes Fixiersalz für die Fotoarbeiten.


Die Lichtpauserei

Neben diversen Schränkchen und Hängeregalchen, die vielerlei Utensilien aufzunehmen haben, besteht die Haupteinrichtung aus dem Schreibtisch, dem großen Zeichentisch und der Lichtpausanlage. Auf dem Zeichentisch werden nicht nur technische Zeichnungen oder großformatige Plakate oder die „Drehpläne“ früher für Ufa und TOBIS-Film, jetzt für die DEFA bearbeitet, sondern auch Lichtpauspapier von der Rolle in gewünschte Formate geteilt. Nach dem Pausen und Entwickeln werden die Ränder einer jeden lichtgepausten Kopie beschnitten. Und das geht mitunter sogar bis über das Format DIN A0 hinaus. Wegen der Großformatigkeit kommt keine Schlagschere als Tischmodell zum Einsatz, sondern alles wird mit der Handschere beschnitten. Als ich etwas älter bin, helfe ich natürlich beim Beschneiden. Man muss dabei höllisch aufpassen – selbst mit der langen, geraden Schere kann man versehentlich zu leicht „Bäuche“, Kurven, statt gerader Linien schneiden.

Die eigentliche Lichtpausanlage besteht aus einem großen, schweren, längsgeteilten Glaszylinder, drehbar zwischen zwei A–Böcken aufgehängt. Auf diesem Zylinder, in die Waagerechte geschwenkt, werden das Lichtpauspapier und die Transparentoriginale mittels einer Leinendecke fest übereinander gespannt. Zum Belichten schwenkt man den Zylinder in die senkrechte Stellung. Dann wird eine Lampe von oben nach unten durch den Zylinder geführt. Das heißt, sie „fährt“ am Stahlseil hängend, und mittels Gewicht gezogen, wie von alleine durch den Zylinder. Die benötigte Geschwindigkeit = Verweildauer der Lampe = Belichtungszeit, wird mit einem verstellbaren Bremspropeller, also vom Luftwiderstand, realisiert. Die Lampe besteht aus einer Glasglocke in der sich auf Abstand gehalten, zwei Graphitstäbe gegenüberstehen. Beim Anlegen einer hohen Spannung springt ein hell gleißendes Lichtband, ein „Lichtbogen“ von einem Kohlestab-Ende zum anderen. Hat die Lampe den großen Zylinder durchlaufen, wird sie mit einer Seilwinde per Handkurbel wieder nach oben gezogen. Hierbei kann man mit der Geschwindigkeit des Kurbelns nochmals eine Feinregulierung als Nach-Belichtungsdauer „nach Gefühl“ erreichen. Ließe man die Handkurbel versehentlich los, würde die heiße Lampe aber nicht nach unten „durchrauschen“ und am Fußboden zerschellen, denn die Seilwinde wird entgegen der Kurbelrichtung von einer Sperrklinke sichernd gehalten. Nach dem Belichten sieht man die von der schwarzen Tusche (Linien, Zeichen, Schrift) des Transparentoriginals abgedeckten, also unbelichteten Stellen des Lichtpauspapiers nur ganz schwach hellgelb. Nach dem Belichten kommen die zusammengerollten Papiere dann in die Ammoniakgas-Entwicklerkästen. Sind die Pausen dann im Gas entwickelt, zeigen sie die Schrift / Zeichnung mit kräftigen rotbraunen (Sepia) oder dunkelblauen Konturen auf hellem Grund.


Als ich ein Baby noch war, wählte man diesen zeitweilig waagerecht gestellten Glaszylinder (aus halbrund gebogenen Glasschalen) öfter als Ort für meinen Mittagsschlaf. Nach dem Erwachen dauerte das Orientieren einen Moment – wo man auch hinsah – von gebogenen, spiegelnden Glaswänden umgeben. Nein, so etwas kennt, meine ich, nicht jedes Kind!


Das große Pensum der Arbeiten füllt nicht nur den Tag der Eltern aus, sondern auch oft Zeiten der Nacht, soweit der Materialvorrat, die Genehmigungen der Obrigkeit und die eigene Kraft reichen. Auch muss mitunter ohne lieferbares Material „irgendwie“ geleistet werden, damit von staatlicher oder sowjetischer Seite nicht eine „Verweigerungshaltung als Sabotage“ vermutet wird, falls nicht zu anderen Zeiten wiederum Produktionsverbote verhängt werden oder eine Kappung des Arbeitsmaterials vorgenommen wird. Beliebige, unberechenbare und willkürlich wechselnd erscheinende Anordnungen. Größte Anstrengung ist erforderlich, um die Familie ernähren zu können, denn in der sowjetischen Besatzungszone bzw. auch später in der DDR werden bis zu 80% der hier geschaffenen mageren Einkünfte bei selbständig Gewerbetreibenden, die also nicht in einem staatlich geführten Betrieb angestellt sind, vom Finanzamt „weggesteuert“. Das bedeutet, als Steuer eingezogen, um private und somit „kapitalistische“ Wirtschaftsbestrebungen, den Eigenbesitz an Produktionsmitteln, während der Vorbereitungsphase zum zentralisiert planwirtschaftlichen Aufbau des Sozialismus nicht störend zur Wirkung kommen zu lassen. Da reicht es bei größter Sparsamkeit gerade zum recht einfachen Leben. Diese Zeiten sind als sehr schwierig und kräftezehrend anzusehen. Einen Acht-Stunden-Tag wie für Arbeiter in der Fabrik oder Angestellte im Büro gibt es nicht. In diesen Zeiten ist unser Vater wegen Unterernährung und völliger Überarbeitung nach körperlichen Zusammenbrüchen öfter im Krankenhaus.

Unser umsichtiger Steuerberater, der redlich rechnende Herr Walter Rath, trägt seinen Namen durchaus zu Recht.


Nun das kombinierte Wohn- und Schlafzimmer im Erdgeschoss oder im Hochparterre (weil es drei Stufen über dem Hof liegt, genau über dem Luftschutzkeller).

Dieser Raum hat zwei Türen. Eine Tür stellt die sinnreiche Verbindung zur Küche dar, die andere Tür führt in den Lichtpausraum, also in die Arbeitsstätte. Der Raum ist recht lichtarm. Nicht nur weil dessen Fenster nach Norden weist, sondern auch wegen des nur wenige Meter davor stehenden Werkstattgebäudes. Eng ist es in diesem Raum.

Ich schlafe in einem zerlegbaren, mit Holzdübeln zusammen steckbaren Kinderbett, darinnen schon vor mir meine Schwester ruhte. – Die Zukunft wird wissen, dass dieses Bettchen nacheinander vorerst zehn Kindern in 2 Generationen eine Ruhestätte bieten wird. –

Mein Sitzplatz am Esstisch befindet sich, kuschelig geschützt, zwischen dem Wohnzimmerschrank und der „Anrichte“ auf dem aus Weidenruten geflochtenen zylindrischen Wäschekorb. Das ist mein bequemer lehnenloser „Stuhl“. Das übt hervorragend das „Geradesitzen ohne sich anzulümmeln“.

Während dieser Nachkriegszeit ist eine schwarz-weiße Katze namens „Lola“ unsere freundliche tierische Hausgenossin, die auch in diesem Zimmer wohnt.


Die Küche

Dieser Raum ist, wie alle Räume, ein Durchgangsraum. Man geht durch diese Küche, wenn man vom Hausflur zum Wohnzimmer will oder zur Fotokopie (Dunkelkammer) möchte. Die Küche hat also drei Türen. An der Wandseite, die ans Wohnzimmer grenzt, befindet sich die Wasserzapfstelle, bestehend aus einem Messingauslaufventil und darunter ein gusseisernes, halbrundes Ausgussbecken. Daneben steht als Schmuckstück der 3-Platten-Elektro-Herd, mit zwei einhängbaren „Seitenflügeln“ als Abstellflächen, diese schwarz emailliert, der Herd ansonsten weiß, ein Hochzeitsgeschenk meiner Sommer-Großeltern für ihre Tochter, meine Mutti. Dann folgt der Waschtisch: Ein Küchentisch, aus dem man ein Holzgestell ziehend herausrollen kann. In dem Holzgestell hängen zwei Schüsseln, die abwechselnd der Körperhygiene, der kleinen Textil-Handwäsche aber auch dem Waschen von Gemüse und dem Reinigen des Essgeschirrs dienen. Ein Universalmöbelstück und Multitalent also. Den Abschluss an dieser Wand in Richtung Dunkelkammer bildet eine alte „Kochmaschine“, also ein aus weißen Kacheln mit Lehm gemauerter Kohleherd, der zu seiner Zeit gleichzeitig den Raum heizte, der aber nicht mehr genutzt wird, denn er ist vom Hausbesitzer stillgelegt worden, weil defekt. Eine einfache Problemlösung. Macht nichts: seit 1941 haben wir den erwähnten Elektroherd. Wenn's Strom gibt ist er nutzbar. Sonst zeigt er sich aber als kühles Schmuckstück. Auf der (k)alten „Kochmaschine“ steht unser „Fliegenschrank“. Eigentlich hätte man ihn freundlicher Anti-Fliegen-Schrank nennen müssen, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist also der luftige Schrank mit Gazewänden, in dem weder Fliegen noch Gaze bevorratet werden. Ein Lattengestell mit Tür, etwa 50 x 50 x 100 cm (hoch). Hierin wird die geringe Auswahl der Lebensmittel aufbewahrt. Kühl ist es in der nach Norden orientierten Küche ohnehin (im Winter eiskalt, ohne Heizkörper) und zusätzlich bekämpfen die Ammoniakschwaden von der Lichtpausanlage nebenbei sowieso Bakterien und deshalb halten sich die wenigen Lebensmittel länger. Die Gaze ermöglicht es, die Schätze zu sehen aber vor allem ist es natürlich ihre Aufgabe, den Fliegen einen Zutritt und Zuflug zu verwehren. Ach die Katze kann keine Kostproben nehmen.

Auf der gegenüber liegenden Seite des Raumes stehen der Küchenschrank und später auch noch ein großes Regal, das Materialien für den Gewerbebetrieb aufnehmen wird. Auf dem Küchenschrank findet die Eieruhr Platz, das ist ein umdrehbares Standglas mit Sand gefüllt, mit dem die Zeit des Eierkochens bestimmt wird. Fünf Minuten benötigt der Sand, um vom oberen Vorratsbehälter durch die Taille des Glaskörpers zu rieseln. Das ist für's weiche Ei geeicht.

Der Fußboden der Küche ist mit „Linoleum“ belegt, bestehend aus einem groben textilen Trägermaterial, mit einem harten, wasserfesten und vormals blanken Belag beschichtet. Küche und Wohnzimmer sind mit einfachen Fenstern ausgestattet. Im Winterhalbjahr hängen gegen den Einbruch kalter Zugluft immer Decken „bis zu halber Höhe“ davor. Schnell sind diese Glasscheiben dann mit Eisblumen „zugewachsen“.

Manchmal legen wir Münzen in die Ofenröhre und lassen diese dort aufheizen. Anschließend drücken wir sie gegen die Fensterscheibe. Für kurze Zeit hat man dann ein Guckloch durch die Eisblumen nach draußen, bis es wieder „zuwächst“. Und das neue Wachstum geht viel schneller, als bei Dornröschen.


Hier für jüngere Interessenten noch eine Antwort auf die Frage: Wie sieht eine moderne, später dann historische Kochmaschine aus? Also: Es handelt sich um einen Herd. Etwa 70 cm hoch, 1,2 m bis 1,5 m lang und 0,7 m bis 0,8 m „tief“, gemeint ist „breit.“ Er steht immer an einer Küchenwand, weil er einen Schornstein = einen Kamin = eine Esse = also einen Rauchabzug benötigt. Er wird vom Fußboden aus auf einer lastverteilenden Grundplatte hochgemauert, aus (weißen) Kacheln, diese mit eisernen Halteklammern versehen, mit Lehm verbunden und mit Schamottesteinen zur Wärmehaltung ausgekleidet. Unten, mittig hat man oft eine Aussparung für einen Brennstoffvorrat vorgesehen. Bei modernen Kochmaschinen links zwei Gasbrennstellen, weiter rechts der Holz- und Kohlebrennraum. Dieser Teil abgedeckt mit einer Stahlplatte. Dort, wo die Kochtöpfe platziert werden sollen, hat die Stahlplatte kreisförmige Öffnungen, die mit mehreren zentrischen Ringen verschlossen werden, die aber je nach Topfbodengröße bei Bedarf entfernt / geöffnet werden können. Die Töpfe werden dann vom Rauch geschwärzt aber es spart Energie. Die Vorderfront besitzt eine Feuerungstür und darunter hinter einer weiteren Tür den Aschekasten, davor, auf dem Fußboden, aus Brandschutzgründen eine Blechfläche. Die Oberkante der Kochmaschine ist mit einem Winkelstahl eingefasst und davor ist oft ein Stahlrohr als Distanzhalter (zum Schutz für den Bauch und für Kinderfinger) angebracht. Vorsichtig nutzen ihn manche auch als Handtuchtrockner. An der Wandfläche hinter / über dem Herd „ein Spiegel“, das heißt, eine vor Fettspritzern schützende Fläche aus Fliesen oder Kacheln, oft mit einem eingearbeiteten Sinnspruch zur Erbauung der Hausfrau, wie „Eigener Herd ist Goldes Wert“. Komplettiert wird das Ganze mit einigen Haken (möglichst aus glänzendem Messing) für kleine Küchengerätschaften und Topflappen.

Dort finden wir auch den Drosselschieber, der die Zugstärke zur Abführung des Rauches und somit auch die Geschwindigkeit des Abbrandes regelt und die lange Stange zum Betätigen der Klappe für den Lüftungszug im benachbarten Schornstein, auch Wrasenabzug genannt. Durch diesen verlassen die Kochdünste die Küche. Zusammenfassend kann man sagen, dass dieses Ungetüm wenig mit einer Machine gemein hat – nur den Namen.


Das Schlafzimmer im Obergeschoss des Hauses

Es ist ganz neu zum Mietumfang hinzugekommen und führt zu einer Auflockerung des bisher kombinierten Wohn- und Schlafzimmers in der unteren Etage. Dort in das untere Wohnzimmer passt jetzt sogar noch etwas Luft hinein! Das neue Schlafzimmer befindet sich Wand an Wand mit dem Wohnzimmer der Mietspartei Ehepaar Schubert. In diesem neuen Schlafzimmer finden die Ehebetten der Eltern Raum, der Kleiderschrank, die Frisierkommode, Kinderbetten. Das alles mit dem Blick durchs Fenster auf den Bahnhof – und in die Züge – wenn gerade welche halten.


Die Außentoilette, ein stilles Örtchen – zum Glück allein für unsere Familie.

Tagsüber verrichten wir unser „Geschäft“ in jenem abgeschiedenen Örtchen auf dem Hof. Im Winter ist's in diesem Verschlag natürlich recht frisch. Es herrschen drinnen die Außentemperaturen. Auch am Tage ist es ein lichtloses Gelass aber durch die Ritzen der Tür dringt etwas Licht. Allerdings stieben durch dieselben Ritzen im Winter auch Schneekristalle hinein. Inmitten des knapp 1 x 1 m großen Raumes steht der gusseiserne Rundspültrichter, zu dessen Wasserversorgung ein geschwungenes Bleirohr führt. An der Wand hängt ein Pappkästchen, mit geblümten Stoff beklebt, aus dem vormals Fläschchen mit Ligament-Büroleim zum Verkauf angeboten wurden. Jetzt dient es dazu, die sorgfältig mittels Messer formatierten Zeitungsblätter aufzunehmen, da es in diesen Jahren kein Toiletten-Rollenpapier gibt.

Andere haben dazu einen Zettelspießer – ein solcher wäre aber in dem dunklen Klo(sett) zu unfallträchtig erschienen. Die Finsternis können wir uns allerdings bei Bedarf mit einer Stearinkerze erhellen, die in einem schwarzen schmiedeeisernen Halter steht und uns bei längerer Sitzungsdauer Licht, Wärme und Spielgelegenheit spendet, und auch die Gedanken auffrisst.

Tritt die „dünne Notdurft“ auch mal in der Nacht auf, gibt es einen Toilettenstuhl mit geruchsverschließendem Deckel, wie auch einen weiß emaillierten Henkeltopf mit der üblicher Weise sinnigen Bezeichnung „Nachtgeschirr“.


Die Werkstatt“.

In unserer Werkstatt (ein Abstellraum in dem gesonderten Hofgebäude), war es seltsam, geheimnisvoll. Dort wurde nichts gewerkt. Die Fensterläden waren geschlossen und in den wenigen trotzdem eindringenden besonnenen Lichtstrahlen sieht man Stäubchen flirren – ansonsten alles im Halbdunkel. Vatis Fahrrad hängt an der Wand. Er kann es nicht mehr nutzen. Muttis Rad ist seit dem Sommer '45 fort. Auf Nimmerwiedersehen. In eines Rotarmisten Hand. Verschiedene Holzkisten stehen dort. Ein Papierrollenabreißgerät vom „aufgelassenen“ Elektrowaren-Geschäft Sommer mit superscharfen Abreißkanten, alte Druckereiapparate-Bestandteile, Werkzeuge, Klapphocker, ein hölzernes Ziehharmonika-„Feldbett“ von Opa Sommer, eine elektrische Wanduhr (in Ruhe) und gar manches mehr. Diese Werkstatt wollten meine Eltern eigentlich gern als Zimmer ausbauen lassen, mit einem Verbindungsgang zum Haus, besonders damit wir Kinder nicht immer den Ammoniak-Entwicklerdämpfen ausgesetzt sind, der stets durch alle Räume der kleinen Wohnung wabert – aber es kam nicht dazu. Das Hauptproblem war wohl das Geld – aber wir bekamen ja kürzlich ein Zimmer. in der oberen Etage des Hauses. Das vereinfachte alles.

Hier sind wir am Ende der Besichtigung von Wohn- und Arbeitsräumen.


Stromsperren

Ganz kurz hatte ich sie ja schon mal erwähnt. In der Nachkriegszeit gibt es sowohl morgens, als auch abends oft Stromsperren, also gerade immer dann, wenn der Strom für Beleuchtungszwecke gebraucht wird. Planmäßig wird die Stadt oder einzelne ihrer Gebiete abgeschaltet, um in anderen Stadtgebieten wichtige Produktionsanlagen betreiben zu können. Oft braucht aber gar nichts mühevoll schaltend gesperrt werden, wenn die Versorgung wegen der Überlastung von ganz alleine zusammenbricht. Eben noch künstlich erhellt war der Raum und schwupps – schon ist's duster. Die Eltern jammern, dass sie nicht weiterarbeiten können, die Lichtpausen irgendwie halb belichtet und somit bald vernichtet, was den Kunden nicht berechnet werden kann, sondern eigenen Verlust bedeutet. Immer wiederkehrend. Für uns Kinder ist diese Zeit, die vom Kerzenlicht (dem Talgmops) oder der Petroleumfunzel erhellte, eine besinnliche. Das ganze Jahr, so wie im Advent. Besonders schön ist es, wenn Vati unserer Bitte folgt und „einen Schlag“ aus seiner Jugend erzählt. Mit Auge, Ohr und Mund sind wir ganz bei der Sache, wenn er von seiner Kinderzeit auf dem Grundstück in der Wiesenstraße an der Nuthe, den Wasserfahrten mit dem „Sargdeckel“, wie liebevoll das Boot in Punt-Bauart geheißen wurde, das Rutschen auf einer Bohle vom hohen Kieshaufen herab – mit Splittern im Hinterteil, später von den Flügen der Zeppelin-Luftschiffe, den kleinen Fliegern und ihren darin sitzenden „Pionieren“ und anderes mehr erzählte. Davon konnten wir gar nicht genug hören, so dass die Spannung, wenn auch nicht im Stromnetz, aber bei uns Kindern in Hirn und Herz selbst bei den Wiederholungen anhielt, denn viel an Neuigkeiten kommt da wohl nicht mehr hinzu.

Für Mutti ist es da viel schwieriger, wenn sie versucht bei dem Kerzenlicht die Zeit nutzbringend zu verwenden und zumindest nebenbei Strümpfe (auf dem Stopfpilz) zu reparieren. Dunkle Strümpfe, Dunkles Garn und wenig Licht.

Hübsch sind in der Dunkelheit auch die „phosphoreszierenden“ sonst im Hellen nur weiß aussehenden Plaketten anzuschauen, die in der Dunkelheit grün leuchten, etwa so schön wie die Zahlen und Zeiger auf unserem Wecker, also der Uhr. Das erscheint uns immer besonders geheimnisvoll. Diese runden Plaketten haben einen Durchmesser von etwa vier Zentimetern und sind hinten mit einer Broschen-Anstecknadel versehen. Sie wurden in der Kriegszeit ausgegeben damit sich die Leute auf der Straße nicht an- und umrannten, wenn bei einem Bomben-Luftalarm die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet war und bei Neumond, also bei „Kein-Mond“ oder starker Bewölkung völlige Dunkelheit herrschte.

Natursalate

Die Wiesen in der Umgebung des Flüsschens Nuthe (der Name herrührend von Einschnitt, Graben) sind im Winterhalbjahr zum Beispiel zwischen dem Horstweg und dem Schlaatz mit seinem Meteorologischen Beobachtungs- und Mess-Stützpunkt, oft überflutet, so dass die größeren Kinder auf den Wiesen Schlittschuh laufen. Jetzt, im Frühjahr, sind sie nur noch sehr feucht aber wir können bereits an die erste Ernte gehen. Löwenzahn und Brennnessel, an anderer Stelle Huflattich und Gänseblümchen. Alles kleingehackt mit etwas Salz – noch besser als Petersilie. Auch das Hahnenfußgewächs namens Sumpfdotterblume, deren feste Knospen, sauer eingelegt, als Ersatz für Kapern verwendet werden können, wächst sehr munter. Schon Muttis Vorbereitung ist ein Genuss und wenn das große Salat-Hornbesteck auf dem Tisch liegt, geht's bald los – dann kann einem schon das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Brennnessel und Sauerampfer ergeben, wenn man will und so man muss, auch eine leidliche Suppe voller schöner Vitamine, wenn sie nicht zu lange kocht. Die Natur gibt uns viel Gutes. Kostengünstig.


Am 5. April ist eine große Doppelfeier für uns: Wir begehen den Hochzeitstag unserer Eltern. Und auch unser Kindergarten (des Oberlin-Vereins) hat heute Geburtstag. Allerdings ist es schon der 75-ste. Also ist der Kindergarten nur 5 Jahre jünger als unser Opa! Ach so, ja. Mit ihm im September die nächste große Feier!


Zum Pfingstfest hat Mutti wieder das Haus sehr schön geschmückt. Links und rechts der Ladentür stehen Birkenstämmchen in frischem Grün und auch stark duftender Flieder in Steingut-Töpfen mit Wasser. In der Wohnung befindet sich gleichartiger Schmuck, etwas kleiner gehalten.

Am 1. Feiertag gehen wir auf einen großen Ausflug in den Babelsberger Park. Hier sind wir des Öfteren. So auch mit Onkel Hellmut Runge, der diesmal sein Fahrrad dabei hat, so dass sich unsere Füße auch mal ausruhen können, wenn auch er dafür schwerer zu schieben hat. Er tut es gern. Am Nachmittag des 2. Feiertages unternehmen wir mit Tante Luzie und Ulli einen schönen Familienausflug mit Picknick im Walde. Die „Tante“ ist eine frühere Schulfreundin von Mutti. Im Stillen war sie ihren Eltern langzeitig gram, weil sie meinte, jene hätten bei der Namenswahl an Luzifer, den Teufel, gedacht, obwohl sie doch eigentlich als ein so liebes Kind geplant war – doch oh, nein, die guten Älteren hatten die Heilige (Lichtbringerin) Santa Lucia vor Augen. Manche Leute sagen ja auch, dass es die gleiche Figur gewesen sei – nur zu unterschiedlichen Zeiten. Missverständnisse sollten die Großen ausräumen, bevor sie entstehen.


Neuglobsow am Großen Stechlin (Theodor Fontane würde 130 Jahre alt, wenn ...)

Herrlicher Urlaub statt Alltag. Im Juni /Juli kann unsere Familie für vier Wochen gemeinsam in Neuglobsow am Stechlin-See weilen. Vati und Tante Liesel sind schon vorgefahren. Mutti kommt mit uns Kindern hinterher.

Schon die abenteuerliche Fahrt dorthin werde ich nie vergessen. Erst mit Zügen und mehrfachem aufregenden Umsteigen und jeweiligem Nachzählen der Gepäckstücke und der Personen. Dann ab Gransee mit einem „Koffer-Fahrzeug“, einem besonderen Personenkraftwagen. Er hat 2 Sitze und der hintere Teil, in dem ich sitze, ist so eine Holzkiste ohne Seitenfenster aber mit einem Hintertürchen. Sicher eingepackt zwischen Taschen und dem Koffer kann man aber nach hinten durchs Fenster fast alles sehen, was die Landschaft so bietet. Die erste Autofahrt meines Lebens – welch ein Genuss. Das muss ich doch mal erwähnen! Aber sie ist nicht lang genug.

Angekommen in Neuglobsow am Großen Stechlin. Hier ist es schön. Wir wohnen im „Haus Sonnenhügel“ in dem gleichnamigen Sträßlein. Das Haus gehörte noch bis vor drei Jahren der Berliner Berufsschullehrerin Frau Elise Deutsch, also bis zu ihrem Ableben. Im Dorf stehen verschiedene kleine Fachwerkhäuser von den früheren Arbeitern der Glashütte. Der Ort wurde eben wegen dieser Glasschmelzerei und -bläserei etwa im Jahre 1780 gegründet.

Seit 11 Jahren, kurz bevor der schreckliche Krieg begann, ist dieses prächtige Stück Land ein Naturschutzgebiet, deshalb darf man da auch nicht laut oder falsch singen, ganz zu schweigen von lautem Schreien. Das könnte die geschützten Ameisen ärgern oder die Singvögel in unrichtige Tonfolgen lenken. Der Große Stechlin gehört zu den größten Klarwasserseen Norddeutschlands. Die alte slawische Bezeichnung „Steklo“ für diesen See, bedeutet nicht etwa Steh-Kloake, sondern im Gegenteil soviel wie „glasklar“. Um aber solche Irrtümer bei unwissenden Fremden zu vermeiden hat man den Namen dann doch lieber ins Deutsche übersetzt, denn bei „Stechlin“ ist nun doch alles klar. Der See, so als große Wanne gesehen, fasst ungefähr 97 Millionen m³ Wasser – mehr soll nicht hinein, weil er sonst überlaufen würde. Er nimmt eine Flächenausdehnung von 4,25 km² ein. Wollt ihr den See umwandern so sage ich euch gleich mal, dass die Länge der Uferlinie 16 km beträgt. Man kann also nicht ... mal schnell ... Auch stehen kann man in diesem See nicht, denn an den tiefsten Stellen muss man bis zu knapp 70 m tauchen, bis man wieder festen Boden unter den Füßen hat. Sehen kann man ohne Lampe bis in etwa 10 m Tiefe. Ein wahres Urlaubsparadies also. Nicht nur wir baden in Ufernähe, sondern auch Glasaale, Plötzen, Hechte, Barsche, Karpfen, Maränen und andere Wassertiere.

Für uns gibt es auch Fahrten mit einem Ruderboot über den Stechlin. Die erste Ruderbootfahrt meines Lebens. Wunderschön – und natürlich singen wir dabei das Lied: II:„Jetzt fahr’n wir über’n See, über’ See….“ :II. Wir treffen uns auch mal mit der lieben Patentante meiner Schwester, die Margarethe Baensch heißt. Also die Patentante trägt diesen Namen. – Weniger schön: es stellen sich Windpocken ein. Andere Pocken wären aber viel, viel schlimmer. Unsere sind das kleinere Übel und damit ein guter Trost.

Aber jede Ferien gehen einmal zu Ende und die Zeit kommt, da wir uns verabschieden müssen. Auch hier im Urlaub sind viele sowjetische Militärbürger in ihrem Dienst anzutreffen. Weil doch zu Hause in unserem Laden oft russische Offiziere verkehren, nehme ich mir auch etwas von dieser schönen sowjetischen Sprache an. Meine wichtigsten Lieblingswörter sind „Mettschlemme“ und „Schlampampe“. Ich bringe sie öfter mal ins Gespräch, wenn mir so danach ist. Ein Blick in die Zukunft: wenn ich einst zur Schule gehen werde, und dann noch später, so im 6. Schuljahr, wird es dann zum Beispiel aber schon „Bensakalonka“, einer der Begriffe für die Treibstoffversorgung sein und noch etwas später, wenn wir die Sehenswürdigkeiten der ruhmreichen Sowjetunion studieren, wird auch „Dostoprimeschatjelnostch” und ähnliches zu den Ohrwürmern gehören. So richtig ordentlich sprechen kann man es aber erst dann, wenn es hübsch in kyrillischen Lettern gesetzt ist. Andererseits werde ich von keinem ausländischen Schüler erwarten, dass er mir flüssig „Betriebskollektivvertragswesen“ nachspricht.

Wieder daheim.


Sonntagsfreuden

Des Öfteren ist mir nach einem kleinen Stückchen Sonntags-Kuchen zumute – aber damit sind wir nicht verwöhnt. Doch es gibt für uns einen gewissen Heimvorteil bei der Beschaffung. Und das ist so: Im Nebenhaus, Rudolf-Breitscheid-Straße 47 / 48, befindet die Bäckerei und Konditorei des Herrn Kurt Weber, vormals Quandt. Bei diesem geschäftigen Treiben fallen so viele Kuchenkrümel an, dass die Bäckerfamilie sie nicht alleine aufessen wollen, obwohl sie ja Zwillings-Töchter haben, die schon etwas älter sind, als wir und demzufolge mehr essen könnten. Deshalb können wir uns ab und zu ein gefülltes Tütchen mit Kuchenkantenabschnitten und Krümelresten abholen. Köstlich.

Natürlich gibt es auch richtigen Kuchen. Mutti bäckt dann meist selber. Wie viele Haushalte die keinen Herd mit Backröhre haben – man kann ja nicht einfach einen kaufen – wird die „Stromküche“ genutzt. – so heißt das Gerät. Das ist ein großer Backtopf, oben im Deckel mit Sichtscheibe versehen und in diesem wird der Kuchen mit Unter- und Oberhitze gebacken. Die beiden Heizteile können einzeln geschaltet werden.

An den freien Sonntagen arbeiten die Eltern möglichst nicht. An jenen Tagen unternehmen wir oft Wanderungen. Mal in den Babelsberger Park und mal nach Potsdam zum „Café Taag“ in der kleinen Heinrich-Mann-Allee. Die Ältern sagen immer noch so altertümlich: „Saarmunder Straße“ (weil die Straße zu diesem Ort führt und früher auch so hieß. Dabei ist diese Umbenennung nun schon ungefähr drei Jahre her). An einem anderen Tag geht's durchs Birkenwäldchen oder auch zum Jagdschloss Stern. Wir sind gut zu Fuß, so laufen wir auch von Babelsberg nach Rehbrücke zur Gastwirtschaft „Burgfischerei“ – das aber an einem anderen Tag, sonst wird es zu viel, wäre es zu weit.

Besonders schön ist es auch bei Tante Liesel, die richtig Elisabeth heißt, denn sie hat einen Garten in der Rudolf-Breitscheid-Straße und zu ihr ist es nicht weit.


Neueste Nachrichten

Geheimnisvolles kommt auch „ab und an“ auf uns zu: Vom Himmel rieseln immer mal wieder Flugblätter mit neuesten Nachrichten, von feindlichen Flugzeugen abgeworfen, die jetzt aber keine Bomben mehr tragen. Ich kann die Mitteilungen noch nicht lesen. Sie werden von so komischen Männern eingesammelt, die das recht hurtig betreiben aber wir dürfen ihnen nicht beim Sammeln helfen und die Blätter aufheben. Es ist streng verboten.


Waldeslust

Mit der Kinderkirche unternehmen wir einen Waldspaziergang, mit Picknick und solchen Spielen, wie Eierwettlauf und Sackhüpfen aber auch Ringelreihen-Kreistanz, was nicht so das Rechte für mich ist. Mutti geht darin aber mit Leib und Seele völlig auf, war sie doch in einer Jugendgruppe des Volkstanzkreises und hatte ebenfalls in ihrer Jugendzeit (sie sagt gerne: in der „Mädelzeit“) sonntags eine ganze Kinderkirchen-Kindergruppe zu betreuen. Deshalb erinnert sie sich auch bei dieser Gelegenheit bestimmt gern dieser zurückliegenden Zeit.



Überhaupt keine Pferde

Ein bedeutender Feiertag! Opa August Janecke vollendet sein 80-stes Lebensjahr! Und das am 18. September 1949. Einen Monat früher wäre es noch treffender gewesen.

Wie bin ich doch schon stärker aufgeregt, als das ältere Geburtstagskind selbst. Bei wunderschönem Wetter ist eine Kutschfahrt von Babelsberg zur Gaststätte Forsthaus Templin vorgesehen. Selbstverständlich zur Feier des Tages mit dortigem Festessen auf den mageren Lebensmittelmarken. Diese waren bereits vorausschauend zurück gelegt, vom Munde abgespart und liegen bereit. Ich stehe also vor dem Hause des Töpfermeisters Lüscher in der Wichgrafstraße 22, in dem Opa August und seine Tochter, unsere Tante Käte wohnen. Natürlich fiebere ich in froher Erwartung einer Kutsche entgegen, gezogen von zwei schönen braunen Pferden. Nach unendlich scheinender Wartezeit kommt dann vom Plantagenplatz etwas über das Kopfsteinpflaster hufgeklappert und hinterher gerumpelt – zwei ziemlich weiße Zugtiere vor einem offenen Landauer (es sind aber keine weißen Hirsche wie damals bei Herrn Pückler). Enttäuscht laufe ich hoch in die Wohnung und rufe: Es sind gar keine richtigen Pferde – es sind ja bloß Schimmel. Allgemeines Schmunzeln. Nur meine schlaue Schwester stichelt herum – ob ich denn vielleicht Zebras erwartet hätte? Die braven Tiere nehmen es mir nicht übel und die Fahrt verläuft doch sehr, sehr schön und harmonisch. Schwarze offene Kutsche mit weißen Pferden davor. Prächtig!


Leider erst über drei Jahrzehnte später „erforsche“ ich, dass mein Großvater August Janecke in seiner Jugend selbst einen kleinen Pferdefuhrwerksbetrieb in Berlin hatte, später als Trainsoldat (Zugsoldat) während des Ersten Weltkrieges im schwierigen Gelände mit Pferden die schweren Geschütze in die Positionen an der Frontlinie ziehen musste und vom Tierarzt öfter als Helfer herangezogen wurde, weil er eben einen „Pferdeverstand“ besaß und ich erfuhr ebenso, dass wiederum sein Großvater Janecke in der Altmark (in der damaligen Provinz Sachsen) zeitweilig ein Postillon war, also auch sehr verbunden mit den Pferden. Meinen eigenen Umgang mit Pferden werde ich später in der Landwirtschaft finden. Dieser wird aber von nur kürzerer Dauer sein.


Oktoberfest

7. Oktober. Schon wieder Geburtstag. Nachdem die Alliierten zum Ende des Kriege nicht nur Deutschland besetzt, sondern uns auch brüderlich die Hand gereicht hatten, wurde im Westen erst eine Bi-, dann eine Tri-Zone gebildet, von US-Amerikanern, Briten und dann auch von Franzosen. Daraus entstand die Bundesrepublik Deutschland mit der Stadt Bonn als Regierungssitz – wahrscheinlich nur für eine kürzere Zeit bis zur gedachten Wiedervereinigung. Die große Sowjetunion blieb mit dem ihr unter grauenvollen Verlusten erkämpften und zugestandenen Ostteil Deutschlands ein Außenseiter und ließ die kleinere östlich gelegene Deutsche Demokratische Republik vorbereiten. Die Gründung geschieht nun heute, am 7. Oktober 1949. Die Geburtsstunde des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden – unter der Diktatur des Proletariats und die einzig wahre Heimat eines jeden deutschen Arbeiters und Bauern, wie beides stolz verkündet wird. So wird auch die Teilung der früheren Reichshauptstadt Berlin manifestiert. Ost-Berlin gilt somit als die Hauptstadt der DDR. West-Berlin (die drei Sektoren der westalliierten Mächte) eine politisch scheinselbständige Insel, wird völlig von der DDR eingeschlossen.

Im Westen singt Bully Bulahn hinschmelzend: „Ich hab so’n Heimweh nach’m Kurfürstendamm“ und Eberhard Storch singt (und wir mit): „II: Auf Wiederseh'n, bleib nicht so lange fort“:II.


Herr Hanns Eisler dagegen komponiert unsere gute „Deutsche Nationalhymne“ der DDR und

Herr Johannes Robert Becher erdenkt dazu den würdigen Text:


Auferstanden aus Ruinen

und der Zukunft zugewandt.

lass' uns dir zum Guten dienen,

Deutschland einig Vaterland.

Alte Not gilt es zu zwingen,

und wir zwingen sie vereint,

denn es wird uns doch gelingen,

dass die Sonne, schön wie nie,

über Deutschland scheint


Glück und Frieden sei beschieden,

Deutschland, unserm Vaterland,

alle Welt sehnt sich nach Frieden,

reicht den Völkern eure Hand.

Wenn wir brüderlich uns einen,

schlagen wir des Volkes Feind.

Lasst das Licht des Friedens scheinen,

dass nie eine Mutter mehr

ihren Sohn beweint.


Lasst uns pflügen, lasst uns bauen,

lernt und schafft wie nie zuvor,

und der eignen Kraft vertrauend

steigt ein neu Geschlecht empor.

Deutsche Jugend, bestes Streben

unsres Volks in dir vereint,

wirst du Deutschlands neues Leben.

Und die Sonne schön wie nie,

über Deutschland scheint.




Ein schönes Lied, welch gutes Lied. Verschiedentlich wurde daran herumgebessert aber nach einer Reihe von Jahren entschied sich die Regierung dazu, dass es nicht mehr zu singen sei!

Die Zeit sei über den Text hinweggegangen – aber instrumental dürfen die zweite und dritte Strophe noch vorgetragen werden, weil man davon ausgehen kann, dass dann niemand ernsthaften Schaden daran nimmt.

Hausaufgaben

Meine Schwester hat ja schon ihre Schulzeit begonnen. Nachmittags stehen da Schulaufgaben oder Hausaufgaben auf dem Plan, da darf ich nicht stören.

In der Potsdamer Wilhelm-Pieck-Straße gibt es jetzt in der alten Charlottenschule für Mädchen, die früher auch mal von unserer Tante Käte besucht wurde, die Staatliche Schuhtauschstelle für Jungen und Mädchen. Das ist praktisch, weil die Kinder ja wachsen. Dort kann man zu klein gewordene Schuhe, die sauber sein müssen, die möglichst frei von Fußpilzen und Läusen sein sollen, abgeben, und, falls sich etwas passendes findet, mit anderen alten, etwas größeren Schuhen wieder nach Hause gehen.

Meine Schwester und ich werden schon recht früh zu fest wiederkehrenden Arbeiten im Haushalt angehalten. Bei mir gehört das Staubwischen der Stühle dazu, weil ich an höhere Aufgaben noch nicht so gut heranreiche. Dann kommt dann das Putzen der Messingteile hinzu, also das Wasserauslaufventil („der Hahn“) über dem Ausgussbecken in der Küche und die Schlüssellochblenden, („die Schilder“) sowie deren Türdrücker („die Klinken“). Das hat an jedem Sonnabend zu geschehen, mit einem Läppchen, mit „Sidol“ angefeuchtet, dass Mittel, das später etwas sozialistischer in „Perdol“ umbenannt wird. Die Oxidschicht heruntergerieben, wird das Messing blank, das Tüchlein und die Tür schwarz. Die Finger auch. Also dann – bis zum nächsten Wochenende! Die Schuhe hingegen werden täglich gepflegt.

Natürlich gehört auch das „Tisch decken“ vor den Mahlzeiten dazu – und das vorherige Händewaschen sowie das nachma(h)lige Abräumen des Geschirrs vom Tisch.

Zu besonderen Anlässen (wie bei Wanderungen) benutzten wir in einer Gasthaustoilette (falls überhaupt vorhanden) nicht deren normale Seife, sondern Mutti hat aus der nebulösen, grauen Vorkriegszeit noch hauchzarte, herrlich duftende rosa Seifenblättchen als besondere Attraktion für uns. Für besondere Ausflugs-Sonntage. Zumindest solange, bis eines Tages der Vorrat aufgebraucht ist. So etwas wächst nicht mehr nach.

Später, nach dem üblichen Einkaufsmitlauf, kommt das selbsttätige Einkaufen von Lebensmitteln in eigener Verantwortung hinzu, welches im Familiensprachgebrauch „Einholen“ genannt wird.


Kinderspiele und Kindersprüche

Mit Zucker und Zimt – das Spiel beginnt!“

Spaß macht es, nach Gewitterregen Streichhölzer als Boote an der Fahrbahnkante zu platzieren, mit den Augen zu verfolgen und mit den Füßen über lange Strecken zu begleiten, wie sie im Rinnstein („im Schnittgerinne des Hochbordes“, wie der Straßenbauer korrigierend anmerkt) in rasender Fahrt mancherlei stromschnelle Gefahren zu bestehen haben. Bootsmaterial haben uns unbekannte Raucher immer wieder rechtzeitig bereit geworfen. Als beliebte Wildwasserstrecke dient uns der Abschnitt in der Rudolf-Breitscheid-Straße zwischen Kirch- = Herbert-Ritter- = Bendastraße, vorbei an „unserem“ Haus vorbei an Blumen-Schilde, also bis zum Straßenknick. Am Knick bricht der Gully, ein Regenwassereinlauf, unser Spiel ab. Abrupt. Reicht aber. Also, meine große Schwester macht solche herrlichen Bootsfahrten natürlich nicht mit. Kleinkinderkram!

Ab und zu spielen wir auch im Dachgeschoss des Nachbar-Hauses, Nr. 45. Besonders interessant ist das Bereiten von Gerichten in der Puppenküche. Gern werden dort Karamell-Haferflocken-Bonbons hergestellt. Das Rezept: Moni fettet eine Pfanne ein, gibt Zucker hinein, heizt bis dieser schmilzt, gibt Haferflocken hinzu und rührt das Ganze eine Weile. Bevor die Herrlichkeit erkaltet, schneidet man die zähe Masse in Karos. Anschließend wird alles von alleine hart und lutschbar. Und bald danach: Zähneputzen nicht vergessen!


Auf dem Hof spielen wir mit Murmeln. Die Tonkügelchen sind die schlechtesten ihrer Art. Spezialisten unter den Kindern haben Stahlkugeln aus alten Maschinen-Kugellagern geerntet. Das ist schon 'was! Später die vornehmen „Glasbucker“ mit spiraligen Farbfäden drin.

Beliebt ist im Sommer das Spiel zur gerechten Obstverteilung „Au-Pfläumchen“: Eine Anzahl von Pflaumen wird auf den Tisch gelegt und die Kinder bestimmen still ein „Au-Pfläumchen“ – in Abwesenheit des „Probanden“. Dieser darf sich nach seiner Rückkehr zum Tisch solange ganz vorsichtig Pflaumen nehmen, bis er das „Au-Pfläumchen“ berührt und der gemeinschaftliche Schmerz-Aufschrei „Au“ dieses Mitspielers Ernte beendet und der nächste Kandidat an der Reihe ist. Für Leckermäuler gibt es aber auch Schoten (junger Zuckererbsen) zu schlachten oder Chalwa (tschechischer Honigkuchen, der kein richtiger Kuchen ist, sondern viel besser – ohne Teig – solch eine eher undefinierbare Köstlichkeit als flache, ausgewalzte Platte).

Natürlich werden aus Seifenwasser und einem Strohhalm die schönsten schillernden Seifenblasen gezaubert – und wer die größten hat, die am weitesten fliegen, der kann sich freuen – mindestens genauso wie die anderen Kinder.

Das Spiel „Stille Post“ besteht darin, einen markanten Kurz-Satz leise von Kind zu Kind weiterzusagen. Das letzte Kind darf dann laut den Inhalt wiedergeben. Mancher schummelt aber auch und bringt absichtlich und künstlich andere, lustige Inhalte ein.

Doof finde ich solche „Intelligenz-Spielfragen“ wie: „Rechtsan/mWald steht ein Haus, guckt ein kleines Männlein 'raus“. Was hat das Männchen für einen Beruf? Es gab besseres Beruferaten.

Auch spielten wir: „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“, „Meister, Meister gib uns Arbeit“,

Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser?“ „Völkerball“ (Abschlagen), „Müde, matt, krank, tot“. „Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann“. „Ziehet durch ziehet durch, durch die goldne Brücke“. Abnehmen (mit in sich geschlossener Schnur: „Brücke, Badewanne, Schwan, Krone“ und andere Figuren können von den Händen des zweiten Mitspielers abgenommen und dann als andere Figur wieder zurück übergeben werden. Wenn man es kann. „Himmel und Hölle“ und weiteres. Wir haben in der Zeit nach dem großen Krieg nur wenige, meist einfache Spielsachen – kennen aber eine Unmenge an Spielen und haben nie Langeweile.


Der Lindenwirt

Er ist kein Gastwirt. Unser alter Hauswirt (der hausbesitzende Vermieter) in unserer alten = früheren Lindenstraße ist mittelgroß und hager, hat eine eher ungesunde rote Gesichtshautfarbe und ist doch kein echter Indianer. Er wohnt mit seiner Frau „im Gartenhaus“ seines Grundstücks. Seine Madame sieht hingegen etwas füllig aus. Wenn ihm das Kinderspiel auf dem Hof zu fröhlich und zu bunt wird, gebietet er: „Eens, eens von Hoff," mit der entsprechenden Arm- und Daumenbewegung in Richtung Straße weisend und dabei die Gesichtsfalten in eine Drohgebärde ziehend. Dieses „1 – 1“ war zwar für Außenstehende nicht so ganz eindeutig verstehbar formuliert, es wurde aber von uns immer gut verstanden, was er damit und mit seiner begleitenden Körpersprache auszudrücken suchte.

Sein Enkel Wolfgang, der sechs Jahre reifer ist als ich es bin, kommentiert jene freundliche Bitte seines Großvaters gern mit den Worten: „Da jumpt die Jeije“. (Das heißt in deutscher Sprache etwa: Der Opa spielt die erste Violine und lässt die Puppen nach seinem Willen tanzen). Im späteren Leben wird Wolfgang der schönen und grundsoliden Tätigkeit eines Kindergarten-Hausmeisters nachgehen.


Alle Wetter!

29. Oktober 1949. Zweiundzwanzig Tage ist unser junges Land jetzt schon alt.

Bereits fast November ist es und bei uns zeigt das Thermometer 23°C im Schatten an. Und im Sonnenschein erst mal. Es lockt der See zum Bade. Drohender Klimawandel? Alle Wetter! So 'was hat die Welt noch nicht gesehen! Eine Witterung wie im Sommer – oder doch ähnlich wie es am 24. Dezember 2012 sein wird. In München 22°C!

Vati sagt scherzhaft weise voraus: „Ich denke es gibt heute noch ein paar schöne Tage“, manchmal auch: „Das ist ja heute wieder ein Wetter – daraus kann man ja beinahe schon zwei machen“. Ob er recht hat?


Zu unserem schon nicht mehr ganz neuen Geld gibt es jetzt auch „richtig goldene“ 50-Pfennig-Münzen, hinten mit Fabrikschornsteinen und einem Pflug darauf – der goldene 50-er der Arbeiter und Bauern in ihrem ersten Fünf-Jahr-Plan.


Eine Benimm-Schule

Wir waren wieder bei Zaulecks in Berlin- Steglitz, Schlossstraße 41a zu Besuch. Also in West-Berlin.

Ach, ist das am Grenz-Bahnhof Griebnitzsee immer bedrückend aufregend. Obwohl wir ja gar nichts Böses machen, werden wir aber alle von unseren DDR-Grenzpolizisten so angeguckt, als hätten wir! Und immer müssen einige Leute befehlsgemäß aus dem Zug aussteigen und zur „Untersuchung“ (also, ein Arzt ist da nicht) vorerst in die Holzbuden auf dem Bahnsteig. Willkürlich, wie beim Würfelspiel. Oder auf Verdacht im Zuge der Kontrolle von Gesicht und Ausweis, den jeder vorzeigen muss. Niemand von uns weiß, ob diese Mitbürger dann mit einer der nächsten Bahnen weiterfahren dürfen. Für einige unserer DDR-Mitbürger wird ein neues Reise-Ziel festgelegt werden, das vorerst ihnen, und uns sowieso, unbekannt bleibt. An der Westseite der gleichen Grenze dagegen, also beim Feind, der wie man sagt, bereits den nächsten Krieg vorbereitet, gibt es keinerlei Visitationen des Gesichts, des Leibes, des Gepäcks, der Papiere. Wir fühlen uns willkommen.

Es ist nett dort in Berlin, aber die ältere gnädige Dame ist doch gar zu vornehm und steif. Sie ist eine geborene v. Bülow und hatte den Pfarrer Zauleck geheiratet, der jetzt aber nicht mehr lebt. Deshalb heißt sie inzwischen Zauleck und ihre Krankenschwester-Tochter auch. Sie stammt wohl also aus dem gleichen Familienverband, aus der auch der freundlich-unsteife Herr Loriot kommt.

Es ist manches ungewohnt in diesem Haushalt, was mich beklemmt. Nur ein Beispiel: Andere Leute und deren Kinder dürfen Bonbons mit den Fingern greifen. Hier benutzt man sogar zum Greifen des Zuckers für den Fünf-Uhr-Tee eine Zange, obwohl dieser mitnichten eklig oder giftig ist. Zucker, der vorher extra zu Würfeln gepresst wurde, weil es angeblich besser ist, wenn er sich im Tee schlechter auflöst. Meine Schwester gesteht: „Ich ergreife also das Zuckerstück mit diesem federnden Doppellöffel (weil es so schön unpraktisch ist) und lege damit den Zuckerwürfel genießerisch auf meine Zunge. Als Nachteil wurde nun ausgerechnet mir angerechnet, dass die gnädige Frau Gastgeberin vergessen hatte, jeder Person so einen Doppel-Löffel, solch eine Zange hinzulegen. Kleine Einzel-Löffel hatte sie ja noch genug – aber eben leider keinen passenden Streuzucker dazu. Es liegt vielleicht auch am vorigen Krieg, dass sie nicht mehr ausreichend Zuckerzangen besitzen, dachte ich.

Erst die ernste Aufklärung seitens der vornehmen Dame zum Benimm machte die Angelegenheit dann zur Peinlichkeit – unnötig aber manche Erwachsenen wollen eben gern darstellen, dass sie schon etwas mehr wissen als wir Kinder aus dem Osten.


Auf Wiedersehen, Oma

Am 3. November stirbt unsere Oma Margarethe Sommer, geborene Runge, im Alter von 68 Jahren. Unsere Großmutter, die ganz schön klein war. Also, das ist die Mutter unserer Mutti. Sie kochte bisher, anders als es bei uns üblich ist, immer auf einem Herd mit Holz und Kohlen. Sie hat es so „von der Pike auf“ gelernt und ihr Leben lang fleißig geübt. Ich sehe sie auch noch in meinen späteren Jahrzehnten vor meinem geistigen Auge in einer dunkelblauen, weiß-rot gepunkteten Kittelschürze, die sie oft trägt. Sie hatte früher auch einen Ehemann. Einen strengen Fachmann. Es war Opa Max, er war Schlosser und Elektrotechniker mit eigenem Betrieb und eigenem Verkaufsladen in der Priesterstraße 68 – ab 1945 wurde das Haus dann die Karl-Liebknecht-Straße 121. Ich habe ihn aber nicht kennengelernt, weil er einen Monat, bevor ich geboren wurde, im Alter von 70 Jahren starb. Wir besuchen ihn aber häufig auf dem Friedhof an der Goethestraße. Ihr findet die Ruhestätte ganz leicht, wenn ihr vom Haupteingang den Weg geradeaus vierzig große Schritte geht, dann seht ihr auf der linken Seite bei der großen Eiche den grauen Stein aus Spremberger Syenit, auf dem schlicht „Familie Sommer“ steht und den zusätzlich eine eingravierte Sommer-Sonnen-Blume schmückt.

Unsere gute Oma Klara Janecke ist schon vor langer Zeit gestorben, so dass nicht mal unsere Mutti sie gesehen hat. Eine Herzensgute, mit frischem, „schlagfertigen“ Berliner Mundwerk. Auf den wenigen alten Fotos bleibt sie jung. Und schön. Da kommt nicht jede mit!

Opa August Janecke ist dagegen noch da. Er ist mir angenehm. Bei ihm darf ich alles, mache aber längst nicht alles ... und er liest dabei im Lehnstuhl sitzend ein gutes Buch, schmaucht dazu ein Pfeifchen, lernt die höchst interessante Zeitung auswendig und schläft oft dabei ein. „Ach wo, ich denke gerade nach“, sagt er dann. Schlaftabletten kennt er nicht – hat er doch die Tageszeitung.


Auflockerungen

Für den Winter haben sich die Eltern außer den sonntäglichen Spielen und trotz ihrer vielen oft bis in die tiefe Nacht hineinreichenden Arbeiten wieder etwas Besonderes ausgedacht. Kürzlich brachte Mutti für jeden von uns eine rote Wundertüte mit. Sie enthielt eine normale Muschel (aber ohne lebendes Tier, also nur die Doppelschale) – sonst nichts – außer ein bisschen alte Luft. Das soll ein Wunder sein? Nun aber schreibt die Gebrauchsanweisung vor, dass diese Muschel in ein mit Wasser gefülltes Glas zu legen sei, in eine Art Aquarium also. Das tun wir nun. Zeit des Wartens. Nichts tut sich. Komisches Wunder.

Die Eltern als Zauberkünstler sehen sich etwas verlegen-ratlos an. Sie kennen diesen Zauber auch noch nicht. Nach Unzeiten des auf-die-Folter-gespannt-Seins („wir machen jetzt lieber 'was anderes“) – dann endlich: Die Muschelhalbschalen öffnen sich einfach wie von Zauberhand und daraus entsteigt eine schöne Kunstblume in Richtung Wasseroberfläche. Also doch noch so eine Art von Halb-Wunder. Man hätte in der Gebrauchsanweisung auch vermerken können. „Sehr geehrter Käufer! Haben Sie nur wenig Zeit für Wunder, dann geben Sie diesem Kaltwassertier bitte warmes Wasser“. So wäre die Blume vermutlich schneller erblüht, die Wunderspannung aber kürzer gewesen – und sie hat sich lange gehalten.


Ja, mit kleinen Begebenheiten schaffen die Eltern immer wieder Erlebnisse, kleine Höhepunkte im Alltag, an die ich noch heute, viele Jahrzehnte später in Dankbarkeit denke.

Wir haben sogar ein Puppenhaus. Unten Wohnzimmer und Küche, oben Schlafzimmer und Bad, wohin eine Außentreppe führt – so richtig mit Möbeln, elektrischer Türklingel und Beleuchtung in jedem Raum. Herrlich. Die Klospülung funktioniert aber gut genug ohne Wasser.


Sind wir bei Tante Käte in deren Wohnung und habe ich dort eine freie Wartezeit, kann ich mit den kleinen blanken Zinngussfiguren spielen. Man kann damit einen kleinen Tierpark aufbauen.


Advent, Advent, ein Lichtlein brennt

Zum ersten Dezember wird die blaue Engel-Treppe (auf Pappe gedruckt) an die Wand gehängt.

24 Stufen führen bis zum Himmelstor, das sich am Heiligen Abend bereitwillig öffnen lassen wird. Adventskalender zeigen hinter jedem Datumstürchen ein kleines buntes Bild.

An mehreren Orten des Wohnzimmers stehen hinterleuchtete „Transparente“ mit adventlichen und weihnachtlichen Motiven. Die Zukunft berichtet: Diese werden auch noch im Jahr 2018 genutzt.

Heiße Bratäpfel duften auf dem Steingutteller in der eckigen Wärme-Röhre des Kachelofens vor sich hin. Der Duft sorgt für Appetit und fördert selige Stimmung.

Unser Hausgesang wechselt mit den Jahreszeiten auch sein Repertoire. Derzeitig: Singen von Adventsliedern und dabei fröhliches Kleben von bunten Kringeln aus schmalen Buntpapierstreifen.

Noch weiß ich nicht, dass auch für mich der Schwierigkeitsgrad wachsen wird und ich im kommenden Jahr aus eben solchen Streifen dann Papierflechtarbeiten für die Außenseite einer Buchhülle oder Buch-Lesezeichen als Weihnachtsgeschenk für liebe Anverwandte fertigen werde. Die Lesezeichen erhalten am unteren Ende noch ein aus verschiedenfarbiger Wolle geflochtenes Schwänzchen. In dieser kunsthandwerklichen Fertigung erzielt meine Schwester eine große Meisterschaft. Nur ihr zu Ehren erwähne ich es schon in diesem Jahr, obwohl ich selber ja erst im nächsten ...


Grüße der Brüder Wilhelm und Jacob Grimm zum Advent – eine gar grimmige Begebenheit

Im Kindergarten erhalten wir bei der anhaltend mangelnden Ernährungssituation täglich einen Esslöffel voll Lebertran, so dass wir bald selbst den Geruch ausdünsten, als seien wir die Leber des Walsäugefisches daselbst. Tran, der uns wichtige Fettsäuren bringt (ohne dass dieses Omega-3 wirklich säuerlich schmeckt), dazu einige Vitamine schenkt und der Rachitisgefahr entgegen tritt. Gegen letztere Volkskrankheit wird auch mit dem Erdalkali-Metall Calcium (Calcipot-Tabletten) vorgebeugt. Ja, wirklich, Metalle kann man schlucken, nicht nur im Zirkus der Araber mit dem Degen.

Der Weg zum Kindergarten führt uns bei „Oma Schmidt“ vorbei, die, wenn wir nach Unterqueren der Eisenbahnbrücke rechts um die Ecke biegen, am Beginn der Schulstraße in ihrem alten hölzernen Zeitungskiosk sitzt, einem ehemaligen Wagen. Dieser ist mit den nur noch kaum schützenden Resten eines Farbanstrichs versehen, dem man in seinen besseren Zeiten gewiss den Farbton „altrosa“ zugesprochen haben könnte. So meine Erinnerung. Ein eigentümlicher, ganz arteigener Geruch von Druckerschwärze, Gerstenkaffee, Altpapier und gewiss noch anderem Lebensbeiwerk entströmt seinem „Schalterfenster“, hinter dem die Oma Schmidt sitzt. Hierher, zur „Nenn-Oma Schmidt“ bringen wir auch die Schalen unserer Kartoffeln, denn Oma Schmidt, obwohl für uns nur im Verkaufswagen zu sehen, soll auch noch irgendwo (nachts) in einem Hause leben und dort in dessen Nähe sogar Kaninchen beherbergen. Stallhasen, kleine freundliche Kuscheltiere, die auch täglich mal Hunger haben, so lange, wie ihr allzu kurzes Leben währt. Die Schalenschale wird zu der sich öffnenden Tür des Kiosks hinein gereicht, so dass man kurzzeitig der ganzen bescheidenen Pracht des Wageninhaltes gewahr wird.


In der Vorweihnachtszeit wird im Kindergarten täglich ein Kind, das besonders folgsam, lieb und freundlich ist, auserkoren, die Kerzen des Adventskranzes ausblasen zu dürfen. Dieser Kranz hängt an roten Bändern vom Rundhaken der Raum-Decke herab. Dazu wird das Kind von der „Tante“ zum grünen Kranze, bzw. seine Kerzen emporgehoben.

Ihr habt ja schon in meinem Bericht über das Jahr 1948 gelesen, dass ich im Kindergarten, in jenem lauten Trubel, keine rechte Ruhe finde, um überhaupt manch weiterbildendes Spiel genießen zu können.

Wir haben im Kindergarten Holzwürfel, die mit Bildern von sechs verschiedenen Märchen beklebt sind. Jene möchte ich nicht nur stückweise während des täglichen Kampfes um das Spielzeug ansehen – ihr wisst ja: meine Gemütsveranlagung hat permanent „eher schwach ausgebildete Ellenbogen“, es wäre mir fatal gewesen, wenn ich jemandem weh getan hätte – ich möchte gern diese Würfel ausleihen und zu Hause mit gehöriger Muße betrachten. Möchte die Geschichten zusammensetzen, mit ihren Helden die Abenteuer gemeinsam in Ruhe durchleben. So befinden sich just an diesem Tage die Bauklötzchen zwecks ihrer Ausleihe in den langen Beinen meiner Hose, die sinnvoller Weise einen dem Zweck entsprechenden unteren Abschluss mit Gummibündchen haben. Sie erscheinen nur heute unten etwas sehr ausgebeult. Herunterziehen kann die Last die Hose nicht, denn ich benutzte ja Hosenträger.

Just an diesem Tage widerfährt mir, entgegen allen Erwartungen, zu meiner Ehre und zu meinem Entsetzen, diese Auszeichnung, zum Kranz hochgehoben zu werden.

Aus Sorge vor einer möglichen Entdeckung ist für mich der gesamte Auszeichnungsgenuss dahin. Denn siehe: "Lerne nicht allein, sondern besser in der Kindergarten-Gemeinschaft". Doch auch an diesem Tage wacht ein gütiger Schutzengel. Danke!

Die geliehenen Märchenbilderklötze deponiere ich vorerst unter dem räderlosen aufgeständerten Zeitungswagen der „Oma Schmidt“, um sie dann, wenn die Umstände günstig scheinen, in unserem Keller einzulagern. Gedanken an einen möglichen Bauklotzverlust in der freien Natur quälen mich nicht, rechne ich doch in der Umgebung nur mit ehrlichen Leuten. Und gegenüber befindet sich ja sowieso das Polizeirevier. Nur im Keller, so meine ich, sei ein ruhiges, frohes Betrachten des Leihguts, ein guter Lernprozess, denkbar.

Es gehört zum Kreis meiner kleinen Aufgaben, die Familie mit Kartoffeln aus jenem Keller zu versorgen. Solch sinnreiches Beschäftigen mit den Märchen in der Tiefe fand aber bereits nach wenigen Tagen und kurz vor dem Weihnachtsfest ein jähes Ende, als unsere Mutti sich besorgt suchend um ihren verlorenen Sprössling kümmerte, der Kartoffeln holen sollte, der aber im Keller versonnen, gedankenverloren dem Bildungsprogramm huldigte, neben Hänsel und Gretel als Dritter im Bunde. Meine gut eingefädelte Angelegenheit flog nun auf, das Leihgut und ich wurden ans Tageslicht befördert und die Aktion endete mit demütiger und demütigender Entschuldigungszeremonie einschließlich der entgegen meiner Planung verfrühten Rückgabe, also vor dem beabsichtigten Ende der Ausleihzeit, was mein künftiges Leih-Verhalten im Leben beeinflusste. Ich wollte nur Gutes! Könnt ihr glauben! Und im Kindergarten freute man sich: „Aha, es wird eine Gabe zum Spielen gebracht!“ Die kurzzeitige Ausleih-Abwesenheit war nicht aufgefallen. Es war wohl die Zeit der Inventur noch nicht.

Zumindest konnte ich nach Geständnis und erhaltener Absolution mit kaum befleckter Seele das weihnachtliche Hochfest begehen. Auch solches war schon wieder was Gutes!


Ein andres Mal pass besser auf und mache nicht die Mode“, das war so ein gesanglich unterlegter Merksatz, den wir Kinder trällerten, ohne genau zu wissen, was er uns bedeuten wollte.


Weihnachtszeit – schöne Zeit

Am Heiligen Abend ist alles anders. Die Eltern haben früher mit der Arbeit aufgehört. Wir, das sind Vati, meine Schwester und ich – stehen wieder in der Ladentür und schauen auf die Straße. Und warten der festlichen Dinge, die da kommen werden. Und sie kommen.


Wir bekommen zum Weihnachtsfest ein Paket von Verwandten aus dem Westteil unserer zerschnittenen Heimat geschickt. Das hat nach dem Öffnen einen ganz arteigenen, „spannenden“ Geruch. Ein Duft liegt in der Luft. Nicht nur von dem Tannenzweig, der obenauf liegt. –

Solche Vermerke wie SBZ, „Sowjetische Besatzungszone“, „Ostzone“ oder ähnliches ist nun nicht mehr üblich. Jetzt soll groß und fett „DDR“ vom Absender aus der BRD geschrieben werden. Aber wir sind ja nicht der Absender unser Einfluss ist begrenzt. Wird von den Absendern etwas veraltetes geschrieben, so wird es künftig von unseren fleißigen Postzollangestellten dick geschwärzt damit es nicht das Auge schmerzt. So kann man dann zumindest noch auf dem Rest-Weg durch die DDR aktuell das Wort DDR lesen. Und das ist gut und zweckmäßig so. Oder der inhaltsreiche Karton „mit den Liebesgaben“ wird eingezogen und zum Volkseigentum der DDR. Nicht so gut, denn wir wissen nicht welches Individuum dann darauf dankbar herum kauen wird.

Die Eltern wollen jedoch nicht nur als Empfänger dastehen. So erhält der Westabsender etwas Potsdam-spezifisches, Literatur-Kulturvolles. Ein Kalender, ein gutes Buch, Potsdam-Briefpapier. Schon das Verpacken wird künstlerisch. Verwendet wird dazu neues, unbrauchbar gewordenes Lichtpauspapier, verklebt und das Ganze mit Papierstrippe (anstelle von Hanf oder ähnlichem) zusammengehalten. Diese Schnur wurde aus zusammengedrehten Papierstreifen hergestellt und will nicht zu stark angezogen werden, weil sie eine leichte Überbeanspruchung mit dem Reißen quittiert. Auch geht die Haltbarkeit flöten, sobald das Drillpapier feucht wird. Aber unsere guten Gedanken und Wünsche begleiten ja recht zuverlässig diese Sendungen.


Silvesterfreuden

Zu Silvester haben die Eltern, deren Arbeit leider noch bis in den Abend hinein geht, für uns wieder eine besondere Attraktion: Das berühmte Bleigießen. Gesägte Stücke von einem alten Wasserrohr aus Plumbum, werden in einem ebenso alten Topf liegend auf der Herdplatte verflüssigt. Pfui, welche gesundheitsschädlichen Dämpfe – ach was, ist das schön – schon der heiße klare metallische Spiegel, sobald man die schwimmende graue Schmutz- und Oxidschicht mit dem alten Löffel fortzieht und beseitigt. Dann der für jedes Familienglied mit der alten Schöpfkelle portionierte „Schluck“ des siedenden flüssigen Metalls in kaltes Wasser gegeben – und welche erstarrten Phantasiegebilde gibt das – ähnlich der einfacheren Methode des Tintenklecksens auf ein zu faltendes Blatt, hier aber nicht nur flächig, sondern eben körperlich-dreidimensional und unsymmetrisch – wie interessant sind doch diese Gebilde. Wenn man sich daraus mit viel Einsatz von Geistesschmalz und Witz auch noch die spannenden Ereignisse des kommenden Jahres herausdeutelt, dann erstmal ... einfach großartig.


Zum Abend gibt es Kartoffelsalat mit Ei vom Huhn und Heringshäppchen vom Fisch. Später am Abend als „Nachtisch“ endlich die Mohnpielen. Die Zahnbürste war also mehrmals in Aktion.

Mohnpielen – wie war das doch gleich? An den Küchentisch wird der „Fleischwolf“ mit einer Klemme festgeschraubt. Aufgekochte Mohnsamen werden in den Trichter gegeben und mit der Handkurbel wird die Zuführschnecke zum Rotieren gebracht. Diese bringt den Mohn zum vierflügligen Messer, das darin umherschneidet. Die Masse wird beim Weitertransport durch die enge Lochscheibe gedrückt und in einer Schüssel aufgefangen. Diese Masse versetzen wir mit heißer Milch, (eventuell mit Weißbrotbröcken gestreckt), mit Rosinen Zitronat, Orangeat angereichert, Zucker zugegeben. Auch süße Mandeln oder Walnüsse sind in feinen Stücken willkommen. Diese Masse dürfen Erwachsene mit einem Schluck Weinbrand abschmecken und dann soll sie eine Weile in Ruhe ziehen. Anmerkung bezogen auf die Zutaten: Das ist kein richtiges Nachkriegsrezept – man nimmt davon eben das, was man hat.


Ganz „überschwänglich, laut und ulkig“ ging es bei uns nicht zu, genauso sparsam mit Alkohol für die Großen – ein kleinerer Glühwein oder Grog sowie Kinderbowle.

Dann spielten wir gemeinsam etwas oder erzählten viel oder verfolgten eine kürzere Zeit auch mal eine Radiosendung, wenn sie uns „nett“ erschien.


Zum Jahresabschluss die Rückschau auf unsere guten Lieder – Liedgut 49

Was sangen wir in fröhlichen Stunden? Daheim werden gern des Volkes Lieder gepflegt. Auch die Lieder der Kirche kommen zu ihrem Recht. Zusätzlich lernen wir beispielsweise so richtige Kinderlieder wie:

- Spannenlanger Hansel, nudeldicke Dirn, geh'n wir in den Garten, schütteln wir die Birn'. ...

- In einem kleinen Apfel, da sieht es lustig aus ...

- Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit: Wer wohl am besten sänge ...


Na ja, das waren mehr die normalen, die gesitteten Lieder. Unter uns Nachbar-Kindern sind aber durchaus solche beliebten sinnreichen Texte gang und gäbe wie:

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad

ohne Hupe, ohne Bremse ohne Licht.

(Wie vor aber letzte Zeile:)

Meine Oma ist 'ne ganz patente Frau.


(Ich denke dabei auch an den Rummel – an das Motorradfahren an senkrechter Steilwand, „im Zylinder“. Da sah ich zwar keine Oma im Sattel, undenkbar ist es jedoch nicht).


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Immer an der Wand lang,

schmiert die Mutter ihre Butter,

immer an der Wand, an der Wand entlang.


(Was is'n Butter? Noch nie gegessen).


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Tschia tschia, tschia, tscho

Käse jibts in der HO. (Staatlich geführte Handelsorganisation in der DDR)

50 Pfennig kost' das Stück

und die Leute laufen wie verrückt.


(Man setzte in der Nachkriegszeit wegen der großen Verknappung

statt „Käse“ auch mal „Männer“ ein und für „Leute“ = „Frauen“)

Käse jibts in der HO

Lange Schlange musste stehn

aber Käse kriegste keen.


Tschia tschia, tschia, tscho

Fische jibt et an der Jrenze,

doch wenn de hinkommst,

kriegste nur noch Schwänze.



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Und wenn Sanella ranzig wird, und später noch in Westdeutschland)

dann kommt sie in den Keller.

Kaum ist die Kellertüre zu,

dann hat Sanella keine Ruh’,

denn die Mäuse beißen zu.

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Maikäfer fliege,

der Vater ist im Kriege.

Die Mutter ist im Pommernland,

Pommernland ist abgebrannt,

Maikäfer fliege.


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An der Ecke steht ein Schneemann,

den die Kinder da gebaut.

Und der liebt das Fräulein Lehmann,

hätte sie so gern zur Braut.


(Dieses Lied singt im Radio Cornelia Froboess für uns alle.)


1950 – Mein 5. Lebensjahr

Wohnungswechsel unserer Tante Käte

Im Frühling sitzen wir bei Tante Käte in der Wichgrafstraße 22 bei Malz-Kafe und Kuchen „im Garten“, das ist der Platz zwischen dem Vorder- und dem Hinterhaus. Etwas einsam ist es jetzt dort, denn ihr Vater, unser Opa August Janecke, ist ja nicht mehr dort. Am 2. Februar ist er gestorben, ein halbes Jahr nach seinem 80-sten Geburtstag. An ihn erinnern aber gemeinsame Stunden, die Erzählungen unseres Vaters und einige Fotos. Eines zeigt ihn im Militärmantel grad' auf dieser Fläche zwischen den Gebäuden, wo wir jetzt sitzen, als seine Familie im Kohlrübenwinter 1917 in dieses Haus zog und er von der Front auf einem kurzen Urlaub hier war. Es ist richtig: auch er hatte eine Frau – unsere liebe Oma Klara Janecke, geborene Dittwaldt. An sie kann ich mich aber nicht so recht erinnern, denn ihr Leben endete schon zu zeitig, am 25. Februar 1933. Nun besuchen wir sie beide auf dem Friedhof an der Wichgrafstraße – also schräg gegenüber ihrer Wohnung auf der anderen Straßenseite.

Weil Opa August Janecke im Winter starb, wird der Tante Käte wegen der bestehenden Wohnungsnot die nun für sie zu groß gewordene Zwei-Zimmer-Wohnung im Hause des Töpfermeisters Lüscher gekündigt. Also nicht vom Hausbesitzer gekündigt, sondern von den „Staatlichen Organen“, der Stadtverwaltung, denn sämtliche Wohnungen gelten „als staatlich bewirtschaftet“, um diese dauerhaft gerecht zu verteilen. So folgt zwangsläufig ein Abschied von der Zeit des hier Wohnens von 1917 bis 1950.

Tante Käte zieht einige Fußminuten weiter in eine ihr zugeordnete Wohnung, Pestalozzistraße 10. Hätte man da nicht einen besseren Namen wählen können, denke ich so bei mir, muss man denn an diesen schönen sonnigen Tagen an die schrecklichen mittelalterlichen Pestzüge erinnert werden – wenn so etwas nun wiederkäme? Au wacka. Erst später werde ich erfahren, dass die Straße so heißt, weil wir diesen guten berühmten Pädagogen ehren wollen.


Die neue Wohnung die Tante Käte zugewiesen bekommt: Zimmer, Küche mit „Kochmaschine“. Wenn diese geheizt ist und die Metalloberfläche etwas Wasser abbekommt, tanzen kleine Wasserperlen lustig auf der Herdoberfläche, bevor sie zischend verdampfen. Die mit weißen Kacheln, Schamotte und Lehm gesetzte Kochmaschine ist mit einer massiven Einfassung aus Winkelstahl versehen, die aber unansehnlich, schon rostig ist, weil sie vom Vormieter nicht gepflegt wurde. Die Tante reibt erst grob mit feinem Sandpapier, dann täglich mit einer ebenfalls feinen Metallkette mal eine Minute darüber und nach geraumer Zeit strahlt die Einfassung blitzblank, hochglänzend.

In der Küche wohnt in einem Käfig, den man „Bauer“ nennt, ein Stieglitz. Wenn er gern möchte, kann er seinen Bau auch verlassen. An die Küche schließt sich eine Speisekammer an. Dann gibt es den kleinen Korridor von dem alle Türen abgehen – auch die zum Wohnzimmer und zur gemütlich warmen Innen-Toilette. Unten gibt es auch noch sogar ein kleines Gärtchen, so etwa
5 x 5 m groß. Viel heller Sand mit wenig Nährstoffen. Ein lilafarbener Fliederstrauch und ein noch kleines Forsythiengehölz stehen dort. Eine Gartenbank, die Klappstühle dazu der alte Klapptisch mit Wachstuchdecke und heute darüber die geblümt Selbstbestickte. Am Rand eine Menge zarter wunderschöner Cosmea in verschiedenen Blütenfarben. Auch ein Topf mit Pantoffelblumen steht bereits auf dem frisch gedeckten Kaffeetisch. Sehr schön ist das alles. Solch einen kleinen Garten würden wir auch recht gern haben. Ich denke – der Wohnungswechsel ist nicht schlecht (ich hänge auch noch nicht so sehr am Altgewohnten wie Tante Käte).


Wir sehen den spannenden Film „Das doppelte Lottchen“. Den Film über die als Babys getrennten Zwillinge der ehegeschiedenen Eltern. Das Buch, nach dem der Film gedreht wurde, schrieb Herr Erich Kästner. – Ihr wisst ja: Zum Thalia-Filmtheater haben wir es nur fünf Häuser weit und zum dann nächsten Kino „Flohkiste“, also den „Union-Lichtspielen“, wie man auch sagen könnte, ebenfalls in unserer Straße, ist es auch nur ein Katzensprung. Ja, hier brummt die Kultur lebhaft!


Hofschönung

Eifern wir der Tante Käte nach! Wir wollen es schöner haben auf dem sandigen, beschatteten Hof. Deshalb ersuchen die Eltern beim Hauswirt, Herrn Wa., um die Genehmigung, auf „unserer“ Hofseite Gras aussäen zu dürfen. Die Zustimmung wird erteilt und Mutti und der energische und energiegeladene kriegsversehrte „Onkel“ Gustav Hansen (vor dem Krieg Lehrer; er hat jetzt nur noch einen Arm und ein Bein, behilft sich aber mit Prothesen sehr geschickt), streuen den Samen, harken in ein, klopfen den Samen fest, gießen ihn mit Wasser, aus der Küche herangetragen, reden ihm gut zu, auf dass er einen Rasenteppich bilden möge. Bis auf einen schmalen Pfad dürfen wir die Hoffläche nicht begehen, nichts zertreten. Doch die zarten Pflänzchen verhungern dann wohl auf ihrer zu wenig nahrhaften Unterlage des grau-schwärzlichen Sandes und Wasseranschlüsse für eine Versorgung, zusätzlich zur Regenspende gibt es auf dem Hof nicht...und das Wasser von oben blieb aus – es konnte kein Gebrauchsrasen sich bilden.


Trotz alledem: Unser Hof soll schöner werden! Hatte die große Mühe von Mutti und Herrn Hansen nicht gefruchtet, so haben wir uns jetzt eine kleine Gartenecke zwischen Werkstatt und Wohnhaus gestaltet, denn Herr Wa., sen. als Hausbesitzer, hat nochmals „ausnahmsweise ja“ zu diesem Vorhaben gesagt.

Es ist genau vor dem Heue’schen Parfüm- und Frisierwässerchen-Altkartonagen-Holz-Verschlag, der gerade erst gebaut wurde. Das Bauen war die Attraktion auf unserem Hof, deren Errichtung ich als den ersten Neubau in meinem Leben sehr bewusst miterlebte. Aus duftenden Brettern und Holzlatten gefertigt, bald braun stinkend mit Karboleneum angestrichen, was die gelagerten Kartons mit Restduftstoffen vergeblich zu überdecken suchten. Das alles ging schnell, denn das neue Gebäude, in der Ecke zweier Häuser, lehnte sich an deren Wände, so entstand das Bauwerk aus nur einer Holzwand, vorn offen, mit einfachem Pultdach.

Unsere benachbarte neue Gartenfläche ist etwa 2,5 x 2,5 m groß und sieht sehr hübsch aus. Vom Weg zum Baden in der Havel, also von den wilden Flächen hinter dem „Schwarzen Damm“, haben wir schöne Kanadische Goldraute (Wildkraut am Rande des Bauschutts) mitgebracht und Mutti hat von irgendwoher Samen für Kapuzinerkresse und Ringelblumen gezaubert. Man kann sogar noch das zusammengeschobene Zieharmonika-Feldbett (von Opa Sommer) als Sitzbank hineinstellen und den Klapphocker. Das Ganze haben wir mit Schnur „eingefriedet“. So ist es ein recht schönes friedliches Fleckchen geworden.

Für eine kürzere Zeit, bis über diese Fläche von und mit höherer Hausbesitzer-Gewalt wieder anders verfügt wird – das sind doch nur unnütze Kindereien! – Wir sind bloß Mieter. Wie sagt doch Wolfgang Wa. dazu? Da jummt die Jeije.


Das stärkste Radonwasser

Im Juni bekommt unser Vati eine Kur nach Bad Brambach, um seine Arbeitsfähigkeit irgendwie aufrecht zu erhalten. Es geht ihm sehr schlecht. Der Erholungsort liegt nicht hier in unserem Land Brandenburg, sondern in einem anderen Land, im Vogtland. Die Menschen sprechen dort auch unsere Sprache; manches aber hört sich aber doch etwas anders an, sagt man. Radiumbäder soll Vati bekommen. Er soll wohl mehr strahlen, ist er doch so überarbeitet und ernst. Vati und seine Schwester fahren vor und wohnen in der Pension „Drei Linden“, im Sprudelweg 12. Diesmal brauchen wir Kinder nicht ins Heim nach Bornstedt.

Wir dürfen mit Mutti anfangs des Monats Juli hinterher fahren. Nur wäre für uns alle der Sprudelweg zu klein und so wohnen wir nun zusammen im „Haus Gertrudis“ in der Bad Brambacher Bergstraße 9, im Parterre. Die Vermieterin ist die nette Frau Schindler. Vati nimmt dort Radiumbäder (also nicht bei Frau Schindler, sondern im Kurhaus), wird von außen und innen damit gespült und sogar wir dürfen so' was auch trinken. Das stärkste Radonwasser überhaupt, gibt es hier. Auch wir Kinder strahlen schon ganz mächtig. Leider haben wir davon kein Foto. Aber die Hauptsache: es hilft für und gegen fast alles, obwohl wir gar nicht zu einer Trinkerkur anreisten.

Nun wollt ihr vielleicht wissen, was Schindler und Gertrudis verbindet. Also das war so: Im nebenan liegenden Grundstück wohnte seit alter Zeit der Gustav Schindler, ein Brambacher Musikinstrumentenbauer, der seine Geigen auch im eigenen Laden verkaufte. Seine Frau hieß dann seit ihrer gemeinsamen Hochzeit mit Nachnamen ebenfalls Schindler. Das Ehepaar Schindler bekam bald, in üblicher Zeit nach ihrer Hochzeit ein Töchterchen, das Gertrud geheißen wurde. Gertrudchen Schindler. Der Geigenbauerfamilie ging es nicht schlecht. Das ist gut. Aber die Eltern sprachen: „Unsere liebe Tochter soll es später noch besser haben als wir. Deshalb bauen wir ihr ein Haus. Dann hat sie etwas ganz eigenes, dass sie an Kurgäste vermieten und davon ihren Lebensunterhalt ganz friedlich bestreiten kann.“ Sehr weise gedacht, nicht wahr? „Sie selbst aber soll solange bei uns wohnen bleiben können, wie es ihr recht ist. Damit niemand das neue Haus verwechsele, geben wir ihm den stolzen Namen Gertrudis, was im Althochdeutschen (bei den ollen Germanen) soviel bedeuten wollte wie >Speer + Zauber< , denn so ist die Gertrud nun einmal: stark, kämpferisch und bezaubernd. Und hinten, das angehängte -is fühlt sich auch recht germanisch an“. Die Eltern machten nicht weiter viele Worte darum, sondern ließen um 1935 tatsächlich ein sehr schönes Haus errichten. In der Folgezeit versah auch Frau Schindler sen. Vermieteraufgaben im neuen Haus, ihre Tochter Gertrud unterstützend. Die musikalische Gertrud heiratete beizeiten den begabten Musikinstrumentenbauer Stübiger. Der Weg zu ihrem Kennenlernen war nicht weit, denn dieser junge Herr und angehende Schwiegersohn sowie jetzige Vater, arbeitete bereits im Hause der Schindlers, besonders in deren Instrumentenwerkstatt. Man sagt nur dann mit offenem Mund: „welch ein Zufall“, wenn man nicht weiß, wie alles mit allem zusammenhängt und warum die Liebe wohin fällt. Aber ihr seid jetzt klüger oder notfalls nur schlauer – wie ihr wollt – aber doch nur ein bisschen, denn auch in allen Brambacher Familien gehen die Geschichten weiter – mit Freude, auch Leid und neuem Beginn.

So ist das und nun sind wir hier zu Gast bei dieser klingenden Familie. Eine Familie König ist auch zur Kur hier, sie wohnen im Obergeschoss, in dem Zimmer, dem der halbrunde Balkon vorgelagert ist. Von dem Balkon aus kann man natürlich weiter sehen als wir unten. So kann der königliche Blick über die Wiesenanhöhe schweifen, bis über die Bahnlinie hinweg. Wir probieren das mit dem Blick aber auch mal als Gäste bei den Gästen und es werden sogar Fotos mit uns und den Königskindern geknipst. Aber im Vertrauen darf ich euch mal verraten: Der Vater ist überhaupt kein König. Nur einer seiner Vorvorväter hat immer so vornehm getan, fast so, als wäre er ein richtiger. Und deshalb! – Von der Bahnschranke her, hören wir immer mal das Läuten bevor ein Zug kommt.

Nach vorn aus dem Hause tretend, kann man bei schönem Wetter noch viel weiter sehen, durchaus 50 km weit bis nach Oberwiesenthal zum Fichtelberg und darüber hinaus, über die Grenze hinweg hinein in die Tschechoslowakei, bis zum Keilberg.

Gestern bin ich zu allem Überfluss gestürzt und habe mir auf dem Straßenpflaster das rechte Knie aufgeschlagen und die Haut abgeschürft. Sie fehlt jetzt. Sie ist weg. Mutti besorgte aus der Apotheke das gute Wasserstoffperoxid zum gründlichen Reinigen, das mag sie lieber als das brennende Jod. Ich auch. Das Knie tut höllisch weh. Nun liege ich hier mit verbundenem Bein auf dem Bett und das helle Sonnenlicht lacht lockend durch die Fensterläden. Die Eltern sind draußen spazieren. Ich werde jetzt die Zähne zusammenbeißen und den Älteren ganz vorsichtig mit steifem Knie nachstaksen, obwohl es sehr „schringt“, wie Mutti meinen Schmerz ins Medizinische übersetzt. (Bitte das jetzt nicht weiter lexikalisch verfolgen). –

Bald aber sind wir wieder zu Hause in Babelsberg.


Ich helfe meiner Schwester schon wieder. Diesmal beim Erlernen des Schwimmens.

Meine Schwester lernt im Sommer in der Havel schwimmen. In der Badeanstalt auf unserer Babelsberger Seite der Havel – gegenüber vom Turmstumpf der Potsdamer Heiligengeistkirche. Der früheren. Mutti sagt traurig: „Das war der Krieg. Im April 1945, kurz vor Schluss. Es sind grad' fünf Jahre her, als das Potsdamer Stadtzentrum zerbombt wurde“.

Wir Kinder sind da nicht so empfindsam. Für uns ist dieser Zustand, dieses komische sinnlose Aussehen normal. Sieht das doch in Wirklichkeit schon immer so aus. Eine Ewigkeit.

Die erste Stufe der schwesterlichen Schwimmkunst: Trockenübungen auf dem Bauch im Sand. Das ist sehr schwer zu perfektionieren, weil es ja leidlich nur für die Arme geht. Als zweite Stufe: An der Angel schwimmen. Ein Engel an der Angel. Wie sieht das aus? Meine Schwester erinnert etwa an eine zusammengerollte Serviette im Ring. Sie also in einem sich um Brust und Rücken gezurrten Korkplattenzylinder steckend, der die waagerechte Lage im Wasser begünstigt. Die Schwimm-Meisterin, Frau Kanzler mit Namen, braungebrannt, gewellt-struppiges Haar mit der Stimme in der Tonlage eines Grizzly-Bären. Die Meisterin schreitet einen reichlichen Meter über dem Wasser auf der breiten Steganlage trockenen Fußes einher und röhrt die heiser-dunklen Anweisungen hinunter. Diese beiden Partnerinnen sind mit einer Halteleine am Stab verbunden – eben mit „der Angel“, einer Notreißleine.

Ich als Zuschauer, in dieser Kunst noch nicht praktisch unterwiesen, folge meiner Schwester treu – allerdings senkrecht, mit den Füßen auf dem Grund, also bar eines Korkkorseletts und rettendem Angelhaken. Ich gehe also fröhlich hinterdrein. Freiwillig. Immer tiefer. Ohne Kanzlerzwang aber auch ohne deren Verbot.

Und eben dieses flüssige Medium, das mir bald zeigt, wie wunderschön grün es um mich herum wird, entzieht mich gleichsam den Blicken meiner Mutter, die sie vom Ufer aus nach uns schickt. Solches versetzte sie in helle Aufregung, insbesondere, da sie auch selbst des Schwimmens nicht mächtig ist, weil sie's doch mit dem Herzen hat.

(Es ist ja bekannt, dass in früheren Zeiten selbst Matrosen oft nicht schwimmen können sollten, was den Vorteil hatte, dass sie, wenn ihr Schiff unterging, nicht so lange mit dem „Gevatter“ ringen brauchten.)

Hier aber war es anders. Einige große Jungen sollten nach mir gründeln, mich unter Wasser aufspüren, auf den rechten Rück-Weg ins Flachwasser zerren und sie rissen mich dabei aus meinen schönsten grünen Träumen (bat darum allein die Mutti oder war es ein Schutzengel-Auftragswerk?...ich war ja nicht oben dabei, um das beurteilen zu können). Die Dienstleistung der anwesenden rettungsschwimmenden Kanzlerin war aber nicht vonnöten.

Ich habe wohl schwören müssen, nie wieder auf desMeeres“-Grund die Havel zu durchqueren, damit Mutti keine Angst haben braucht, dass ich unter Wasser 'was verträume oder dort gar mit Raubfischen zusammenstoßen könnte.


Weitere Badefreuden

Unser Ziel ist auch heute wieder die oben genannte Städtische Badeanstalt.

Der Weg dorthin ist so einfach wie beschwerlich: Die Rudolf-Breitscheid-Straße (die bis vor einigen Jahren Lindenstraße hieß) hinunter bis zur letzten Querstraße „Alt Nowawes“ (vorher: Wilhelmstraße). Ihr wisst ja: dort in der Nr. 15 hatte früher unser Urgroßvater Runge die Gaststätte „Deutsches Wirtshaus“ und im Haus 24 lebte zeitweilig unser Urgroßonkel Albert Sommer, der Schuhmacher-Meister. Diese Kopfsteinallee „Alt Nowawes“ überqueren wir jetzt. Dann gehen wir vorbei an der Gaststätte „Haushalter“ (früher: „Zum Kaiserpark“) vorbei am Waisenfriedhof und dann weiter auf dem „Schwarzen Damm“ entlang bis zu dessen Ende. Eine fast schnurgerade Strecke, auf der sich fast niemand verlaufen kann.

Der Schwarze Damm ist ein baumloser Weg mit staubigen dunklen Rückständen wie Schlacken von Koks. Ödland, eine großes Brachgelände. Beiderseits des Wegs Schüttkegel aus dem Schutt von Kriegsruinen. Die zerstörten Häuser der Rudolf-Breitscheid-Straße, die vorher auf dem Stück zwischen Alt Nowawes und Glasmeisterstraße standen, liegen wohl auch hier.

So, nun riecht man schon das Wasser – gleich sind wir angekommen am Strand der Havel.

Am gegenüber liegenden Ufer, in Potsdam, liegt an der „Großen Fischerstraße“ die Türksche Schwimmanstalt, seit dem Kriegsende ist es die Russenbadeanstalt, wie sie nun genannt wurde, weil kein Potsdamer Kind dort mehr baden darf. Das wäre für die Roten Armisten zu gefährlich. In Kreisen größerer Jungen wird diese Körperabspülanlage auch kurz „die Mili“ genannt. Jene ist ähnlich der unsrigen gestaltet. Links daneben die bereits erwähnte zerstörte Heiligengeistkirche, deren Rest, der Turmstumpf, noch steht, in der Vorfahren unserer Familie auch ein- und aus gingen.

Vor uns nun, nachdem wir unser Kleines Eintrittsgeld (10 Pfennige) entrichtet und den Quittungsschnipsel entgegengenommen haben, das Geviert der Anstalt. Im Schuppen gibt es das Domizil der Bademeister, wohl auch einen Raum für die Erste Hilfe in Notfällen und einige Umkleidekabinen. Wir ziehen uns aber am Sandstrand auf der mitgebrachten Liegedecke um. Das ist zwar etwas umständlich, weil sehr genierlich aber es geht. Quer vor uns die Uferlinie, zu der zwei breite Holzbretterroste hinunterführen, so dass man später, nach dem Baden, nach abschließender Fußwaschung, sandarmen Fußes zurückkehren kann. Wir gehen immer neben den angebotenen Holzrosten. Vorsicht Fußpilz! Parallel zur Uferlinie, dieses Rechteck begrenzend, im Wasser ein hoher Steg, dessen beide „Querflügel“ zum Strand zurückführen. Der linke Steg ist mit dem Sprungturm verbunden, der mit einem 1-m- und einem 3-m-Sprungbrett ausgestattet ist. Diese Hochstege sind zum Teil noch mit senkrechten Brettern verkleidet und auch diagonal-aussteifende Hölzer behindern freies Schwimmen unter der Steganlage.


Zur Versorgung haben wir immer eine Feldflasche mit (so eine bauchige Armeeblechflasche mit Schraubverschluss und übergestülpten Blechbecher), mit Tee oder wasserverdünntem Sirup oder Muckefuck („Malzkafe-Ersatz-Extrakt“) sowie den gefüllten Brotbeutel. Den Brotbeutel mögen wir nicht so sehr, weil wir damit von den aktuellen Tragebehältern (Campingbeutel) anderer Kinder „optisch abstechen“. Der Brotbeutel stammt aus unserer Mutter „Mädelzeit“ und wurde genutzt, wenn sie „auf Fahrt“ gingen – also zu Fuß wanderten. Dieses Behältnis ist aber praktisch und unzerstörbar, aus grauem groben Linnen und regenfest. Imprägniert.

Wir haben Kartoffelsalat im Marmeladenglas mit. Stullen auch, na klar.

Zum Schutz vor der übermäßigen lieben Sonne haben wir das berühmte, arteigen duftende dunkelbraune „Nussöl“ in der flachen Glasflasche bei uns. Es bräunt notfalls selbst ein wenig, wenn die Sonne mal nicht scheint. Noch heute habe ich das knirschende Geräusch im Ohr, wenn beim Zuschrauben der Flasche „frisch geölter Sand ins Gewinde zwischen Flaschenhals und der schwarzen Duroplast-Schraubkappe geraten war. Und das galt als üblich.

Doch auch jeder schöne Badetag geht einmal zu Ende.

Der Schwarze Damm ist ein Weg, der nicht von Bäumen begleitet wird, auf den die Sonne unbarmherzig herniederprasselt, so dass wir auch nach dem erfrischendem Bad, nun verschwitzt, schwarz eingestaubt und etwas erschöpft wieder daheim eintreffen. In den grob verteilten Schutthaufen am Wege liegen aber bestimmt auch noch verschüttete Schätze, denn die Häuser-Trümmer wurden wohl nicht weiter sortiert. So stoßen wir am Wegesrand auf viele kreisrunde Glasscheiben („Butzen“), etwa 6 bis 7 cm im Durchmesser, die irgendein Unhold als Abfall betrachtet und weggeworfen hat. Damit füllen wir unsere „Turnbeutel“, wie auch den Brotbeutel und schleppen eine ganze Menge davon nach Hause. Sie werden gründlich gewaschen Mutti macht mit uns daraus neue Teeglas-Untersetzer: Zwei Scheiben und dazwischen auf weißem starken Papier (Zeichenkarton) getrocknete Blüten und Gräser, den kreisrunden Rand mit einem Klebebandstreifen eingefasst. Das werden hübsche Geschenke und einige Exemplare bleiben auch bei uns. Bleiben uns jahrelang treu.


Einige der Schlager aus dem Radio der Jahre 1945 bis 1950:


Ach Babett backe Kuchen, das wär' wunderschön

Evelyn Künneke

II: Auf Wiederseh'n :II bleib nicht so lange fort

Ursula Maury und andere

Buona notte, Bambina mio

René Carol und andere

Der Insulaner verliert die Ruhe nicht, der Insulaner liebt keen Jetue nicht, der Insulaner hofft unbeirrt ...

ein Berlin-Lied anlässlich der Berlin-Blockade seitens der UdSSR

Du bist II: die Rose: II vom Wörthersee. Odlijodlijöh.

Maria Andergast + H. Lang

Du und ich im Mondenschein

Ilse Werner

Hoch drob'n auf'm Berg, gleich hinter

Rudi Schuricke + sein Terzett

Ich brauche keine Millionen

Johannes Heesters

Ich küsse Ihre Hand Madame und denk es wär' ihr

Helmut Zacharias

Ich tausch so gerne um

ein Schwarzmarktlied, Bully Buhlan

La Le Lu (ein Kinderschlaflied)

Heinz Rühmann und viele andere

Man müsste Klavier spielen können

Johannes Heesters

Santa Lucia

Vico Torriani

Tennessee-Waltz. Als ich tanzte, mit dem Liebsten

Lonny Kellner // Bärbel Wachholz u. andere

Oh, mein Papa ... aus der Operette „Feuerwerk“

Lyss Assia

Wenn die Glocken hell erklingen sind die Berge voll

Gerhard Wendlandt


... und immer so weiter.

KInderlieder. Wir selber singen ansonsten:

- Im Märzen der Bauer die Rösslein anspannt ... aber auch:

- Komm lieber Mai und mache ... von Herrn Johann Sebastian Mozart gedichtet und komponiert.

- Maikäfer fliege (das schrieb ich schon auf) ... damit war es aber sowieso nicht weit her, denn unser Herr Hauswirt sammelt die Maikäfer, um diese seinen Hühnern als Zusatzkost... – schön viel Eiweiß für die Eier – zu verfüttern. Der Barbar! Zu viele durften es aber nicht auf einmal sein, damit die Hühnereier noch Hühnereier blieben und nicht zu „Windeiern“ wurden.

Wir sammeln ja auch – aber nur zu wissenschaftlicher Beobachtung. Die Schuhverkäufer haben im Frühjahr keine Probleme mit ihrem Leergut, denn wir Kinder brauchen dringend Wohnungen für Maikäfer und dazu sind Schuhkartons hervorragend geeignet. Schön mit Blättern ausgepolstert und in den Deckel ausreichend viel Luftlöcher eingebracht. Nach den Merkmalen des Aussehens der Käfer unterschieden wir beispielsweise Müller, Bäcker und Schornsteinfeger. Nachdem dann in der aufkeimenden sozialistischen Landwirtschaft bald verstärkt mit Pestiziden gearbeitet wird, gibt es kaum noch Maikäfer, werden jene zur Seltenheit.


Wollen wir mal vom Babelsberger Park nach Potsdam, so benutzen wir gern die Seilfähre am Parkeingang bei Familie Ehm / Hapke, die uns nach Potsdam zur Stalinallee hinüber bringt. Später gibt es Änderungen: Zuerst bekommt die Stalinallee (1953) wieder ihren alten Namen „Berliner Straße“. Noch später wird diese tragfähige Fähre eingestellt und durch ein kleines Motorboot ersetzt. Auch ganz schön aber nicht so praktisch. Dieser Motorbootfährverkehr wird ebenfalls eingestellt (aber erst 1978), als die neue Humboldtbrücke dem Verkehr übergeben wird. Diese Fährstelle (Ehm / Hapke) lag etwa mittig zwischen der Humboldtbrücke und der GST-Matrosenstation. Aus dem Gebäude der nicht mehr benötigten Fährstelle wurde zeitweilig ein Kindergarten. (GST = Gesellschaft für Sport und Technik zur vormilitärischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen).


Der Uhren-Alte“.

Nachbarkinder aus unserer Straße bitten mich einmal, bei einem alten Mann die Uhrzeit zu erfragen, weil sie sich selber „nicht trauten“. Ich selbst bedurfte nicht des Wissens um die genaue Uhrzeit, tue ihnen aber diesen Gefallen. Kaum war der Mann von mir befragt, schlug er derb mit dem Stock nach mir – aber daneben. Er war wohl mit dieser Frage öfter unnütz von Kindern geärgert worden und sah auch in mir nun einen bösen Buben. Da bin ich Gutgläubiger auf den groben Scherz der anderen Kinder, den diese mit dem armen Mann trieben, 'reingefallen. Ein Stück Lehre.


Hausarbeiten – Das Einkaufen

Zum Einkaufen der Lebensmittel gehen wir gern in die Karl-Liebknecht-Straße. Mutti sagt immer noch Priesterstraße. Dort ist sie aufgewachsen. Die Straßennamen wissen wir alle in ihrer doppelten Bezeichnung, also Vorkriegsname und Nachkriegsname. Wir brauchen dazu keinen Übersetzer. Auf dem Weg in die Karl-Liebknecht-Straße kommen wir stets an der Linden-Apotheke von Herrn Baron vorbei, der selbst aber kein Adeliger ist. Ein Edelmann vielleicht schon. Wir sehen viele kriegsversehrte Männer, die, vielleicht etwas verschämt, um einige Münzen betteln. An dieser Apotheke sitzt oft einer den langen Tag an die Hauswand gelehnt, dem die Beine in Höhe der beiden Oberschenkel abgetrennt worden waren und deren Stümpfe in Teilen zerschnittener Autoreifen liegen – als Unterlage oder als Ersatzschuhe? Auch dieser bittet – stets aber schweigend nur mit seinen Augen und der bereitliegenden Mütze um etwas Geld. Ob sich viele von ihnen ein bisschen besser fühlen würden, wenn sie mit den Händen noch eine etwas nützliche Tätigkeit vollbringen dürften, wenn ihnen dazu Hilfe, Anleitung und Vermittlung gegeben würde? Wenn man ihnen verdiente Würde wiedergäbe? Sie sind ja zumeist nicht freiwillig als Soldaten in den Krieg gegangen. Sie sind „unverschuldet“ in diese Lebenssituation gekommen, haben befehlsgemäß Leiden bei anderen verursacht, erlitten selber großes Leiden, leiden noch jahrelang, wohl oft unter Schmerzen, körperlichen und seelischen – als ein „gerechter“ Ausgleich? Und sie werden nun teilweise fallen gelassen vom sozialen Staat der den Sozialismus aufbaut? Weil sie dem vorigen Staat zu dienen hatten? Also jetzt sind wir endlich im ganz richtigen schönen Internationalen – der schreckliche aggressive nationale Sozialismus liegt ja noch nicht lange zurück. Ob es den anderen Soldaten „besser“ gegangen war, die hoffentlich möglichst nur einen kurzen Schmerz spürten, bevor schnell eine Ohnmacht sie sanft umgab, eine tiefe Bewusstlosigkeit sie aus dem menschlichen Krieg der Vernichtung in den ewigen Frieden hinüberleitete?

Aber über diesen Fragen steht die Wichtigste mit dem „warum überhaupt?“ Warum gibt es solche schrecklichen Kriege? Wie kann es möglich sein, dass Menschen sich so über andere erheben (wollen, können) Krieg zu führen, sich so über andere erheben, sie in diesen Krieg schicken zu können. Immer wieder und überall. Und warum kann es die Masse der Guten nicht verhindern? Warum machen da so viele (zwangsweise) mit? Fragen, die mir niemand beantwortet. Ich Fünfjähriger habe aber auch niemanden gefragt, sondern das Wesentliche im Kopf und Herzen bewegt.

Also, die Karl-Liebknecht-Straße vereinigt die frühere Priesterstraße und die frühere Eisenbahn-Straße. Daher mussten nach der Umbenennung alle Hausnummern, Stempel, Geschäftsbriefbögen usw. geändert werden. Aber es sollen am Ende der Straße viele neue Häuser errichtet werden, deshalb fehlen in der Straße seit der Neunummerierung in der Mitte ungefähr 50 Hausnummern. So 'was ist selten! Da gibt es dann später wieder vieles umzumodeln. Oder es bleibt so. Wenn wir also an der Apotheke nach rechts um die Ecke in die K.-Liebknecht-Straße einbiegen, kommen wir am Haus 6: Hermann Köhler, Haushaltswaren vorbei. Nr. 11, gleich hinter der Schornsteinfegergasse (früher Bäckerstraße) ist das Haus des Bäckers. Dahinter Radio-„Tauschel“ (er tauscht nichts – es ist nur sein Name – der frühere Tauschil war aus Böhmen eingewandert). Dann Eisenwaren „Balz“ (hat fast alles, was man braucht). Oft bin ich beim Gemüsehändler Buchwald, Nr. 20. Dann kommen wir zu Kurzwaren-Lenius. In der Nr. 24 ist die Möbel- und Sarg-Tischlerei Gericke. Otto Gericke ist ein Verwandter von uns, von meines Vaters Seite.

Wenn wir Lebensmittel kaufen, gehen wir auch oft in die Garnstraße, die von der Karl-Liebknecht-Straße abzweigt, beispielsweise zu Bäcker Günther, linke Seite im Haus Nr. 20.

Ein zeitlicher Vorgriff: Viel später werde ich in der Nr. 18 beim Fahrrad- und Mopedteilehandel ein treuer Kunde sein. Dort gibt es auch den prima Nitro-Reparaturlack in vielen Farben, das Fläschchen zu 90 Pfennigen und eigene Farbwünsche lassen sich ohne Schwierigkeiten bestens „stufenlos“ zusammen mischen. Das weiß ich dann also erst später.


Der Brotkauf

Frau Dora Zentner ist ihr Name aber der Waagenzeiger hätte ihr ohnehin nicht mit einem 50-kg-Ausschlag geschmeichelt. Einem gleichgestalteten männlichen Brotverkäufer (den es dort nicht gibt) hätte man wohl eher eine Korpulenz bescheinigen mögen. Gewichtig wogt sie im weißen Kittel durch den Laden des ehemaligen Weberhauses in der Garnstraße Nr. 17, um die Backwaren zu verkaufen. Blonde Wellen-Wuschel, vom Netz gefangen, volle rosige Wangen. Stets soll ich von dort das besonders gute „Genth-Brot“ mitbringen, obwohl wir ja die Bäckerei Weber mit ihren schönen weiblichen Zwillingen gleich im Nachbarhaus haben. Ein Brot – das sind 3 Pfund, so sagen die meisten Leute, schreiben es aber in einem Kürzel ausgedrückt (das hier auf der Schreib-Tastatur fehlt. Es sieht einem umschlauften großen „U“ ähnlich). Es sollen 1.500 Gramm sein aber solch einen Wunsch trägt kein Käufer vor. Es sind auch 1½ oder 1,5 kg (gesprochen aber üblicher Weise: „anderthalb Kilo“). Das frische Brot duftet wieder so verführerisch, dass ich nicht widerstehen möchte und ich es als Beschaffungs-Lohn oder Wegzehrung vorsichtig ein wenig mit dem Zeigefinger anbohre, um den köstlichen Inhalt zu prüfen, um zu kosten, ob es für die anderen bekömmlich sein wird. Wie mir zu Hause von Mutti weniger freudig und eher traurig mitgeteilt wird, ist das Brot diesmal nicht für uns gedacht, sondern von Muttchen Dyck, unserer Angestellte, bestellt. Oh, oh. Der Kanten, das Endstück wird abgeschnitten. Auch das lehrt mich und geht vorüber. Ansonsten gibt es bei Frau Zentner Schrippen, das Stück für 5 Pfennige oder runde Kuchenbrötchen für 6 Pfennige, die unsere Mutti stets „Mannheimer“ nennt. Genauso schmeckt „Einback“, zusammenhängend wie eine Stange. Das ist Zwieback, wenn er noch keiner ist, also nur einmal gebacken und noch nicht hart, nicht trocken und bröckelig krümelnd. Die „Knüppel“ kosten 8 Pfennige aber die „Schusterjungs“ aus würzigem Roggenmehl, 3 Pfennige. Diese schmecken mir besonders aromatisch-kräftig.

Kuchen gibt es bei Frau Zentner nicht , diesen aber bei Bäcker Günther – drei Häuser zuvor.

Weil wir grade bei den Namen sind – wir essen auch mal Pfannkuchen, das kuglige Gebäck, das auch als „Berliner“ bezeichnet wird, bloß nicht in unserer Berliner Region. Dort aber und nicht hier werden wiederum Pfannkuchen als fladenartiges Flachgebäck im Tiegel oder Tiechel hergestellt, wie bei uns Kartoffelpuffer oder Eierkuchen oder „Plinsen“. So verschieden bäckt jede Region ihren eigenen Kuchen.

Im Hause Garnstraße 15, fast gegenüber der Tuchmacherstraße (früher Auguststraße) gibt es Anstrichstoffe und Tapeten. Weit hinten, ist es das Haus Nr. 3, residiert Radio-Reetz und ebenfalls etwa dort vorher der Elektro-Thomas, ein Berufskollege unseres Großvaters Max Sommer.

Nun geht es die andere Straßenseite zurück Richtung Karl-Liebknecht-Straße: Etwa in Nr. 40 der Betrieb „VEB Deutsche Schallplatte“ (früher Elektrola).

In der Nr. 28 haben Ernst Schülke und Frau das große Stoffgeschäft. In der 26 sind der Verkauf und die Reparaturleistungen von „Schirm-Hamann“ zu Hause. Alles Grundstücke, die mir recht vertraut sind.


Der Milchkauf

Milch kaufen wir meist bei Herrn Krohn (Garnstraße, Haus Nr. 23), der die begehrte Flüssigkeit mit einem zylindrischen Aluminium-Schöpfhohlmaß aus der großen Kanne in unser ¾ l „Industrieglas“ einfüllt. Es ist dies' ein schlankes Glas oder eine sehr weithalsige Flasche aus „krisseligem“ Glas oben mit Glasdeckel, Gummiring und Kipphebelverschluss gesichert. Reicht uns diese Menge nicht aus, nehmen wir auch eine 1-Liter-Aluminiumkanne mit Steck-Deckel und Tragehenkel, auf dem ein Holzgriff aufgezogen ist. Herr Wolfgang Krohn (1928–2012) ist stets milchadrett gekleidet mit weißer glatter Schürze, trägt ein weißes Hemd mit schwarzer Fliege. Er hat schwarzbraunes welliges Haar und trägt eine dunkle Hornbrille. Er sieht mehr so aus wie ein Lehrer oder zumindest wie ein Wissenschaftler. Er könnte auch gut den Namen Milchael, statt Wolfgang, tragen. Den Milchverkäufer sieht man ihm nicht mehr an, sobald er seinen Platz hinter der Kanne verlässt. –

Fisch dagegen erwerben wir in der Verkaufsstelle „Nordsee“, im Eckgebäude Garnstraße / Karl-Liebknecht-Straße. Die hohe Giebelseite des Nachbarhauses zeigt eine verblasst erhaltene farbige Fewa-Reklame aus der Vorkriegszeit: Die Hausfrau beim Waschprozess – natürlich nur mit Fewa.

Auf ihrem Hals trägt sie einen runden Kopf mit einem runden schwarzen Dutt.


Toter Mann und tote Wölfe

Heute sind wir, meine Schwester und ich, in der Wattstraße 2 (frühere Bülowstraße), 3 Treppen hoch, bei „Oma“ Vicum, das ist die Mutter von Tante Luzie, Muttis Schulfreundin. Am Nachmittag trieseln wir noch unten auf dem glatten Asphalt am Rande der sternförmigen Kreuzung und malen auch mit Kreide, gleich gegenüber von der Polizei, wo die Volkspolizisten in ihren dunkelblauen Uniformen, dem schwarzen, lackierten steifen Hut oder auch Tschako-Helm und bewaffnet mit dem Gummiknüppel ein- und ausgehen, um irgendetwas zu ordnen. Sie werden von uns „Butzen“ genannt; in Ost-Berlin heißen sie wohl etwas despektierlicher „die Pupen“. Und der Gummiknüppel – andere Jungen erzählen, dass dieser eigentlich nur eine harmlose Fahrradluftpumpe sei.

Als wir nach dem Spiel dann wieder oben in der Wohnung sind und vom Balkon ein Weilchen nach unten schauen, kippt auf der Straße, dort wo wir gerade noch fröhlich gespielt hatten, ein alter Mann um, der später, nach erst längerer Zeit zugedeckt und dann fortgetragen wird. Das hat unsere vorher ausgelassene Stimmung schlagartig geändert, sehr bedrückt. Das Höchstmaß der Schwermut ist erreicht, als uns Tante Luzie, die uns gern freundlich ablenken und aufheitern möchte, mitten im Hochsommer versucht uns den Kanon beizubringen: „Ein gar harter Winter ist, wenn ein Wolf den andern frisst“. Erst ein gestorbener Mann und dann zum Beruhigen noch einige Wölfe, die sich gegenseitig zu Tode zerfleischen. Das brachte das Fass der Traurigkeit schier zum Überlaufen.


Neuigkeit: In der HO soll es erstmals nach dem Krieg irgendwelche Textilien frei käuflich, ohne Bezugsschein geben! „Zellwolle“ soll als neueste Faser(n) zusammengewebt worden sein. Ist das nun mehr Zellstoff oder mehr Holzwolle oder gar so'n Stoff aus dem die dünne Papierstrippe ist, die so leicht reißt, sich auflöst, wenn sie feucht wird? Hoffentlich schmeckt es den Motten nicht.

Ich selber habe solch ein Kleidungsstück nie getragen, deshalb kann ich hier keinen schönen sachkundigen Erfahrungsbericht geben.


Von Zauleck’s aus West-Berlin bekomme ich eine abgelegte, weil ausgewachsene Lederhose geschenkt. Ein Schmuckstück – abgetragen, zünftig speckig, der Hosenträger-Verbinder mit einem echtem Hirschgeweih-Ring geschmückt. Für mich auf „Zuwachs“. Sie ist noch etwas zu groß. –

Anderes kann man jetzt schon nutzen: Wir haben das Würfelspiel „Wir fahren mit der Eisenbahn“. Unten rechts steht darauf, dass uns die Landschaft mit den Tieren, die Häuser, Bahnhöfe, Züge –also alles – der Herr Jochen Specht gezeichnet hat. Das hat er sehr gut gemacht. Für das Spielen sind eine Menge an Schwierigkeiten eingebaut, so dass man auch anhand hoher „Würfelaugen“ nie abschätzen kann, wer gewinnen könnte.


Hatten wir im Februar unseren Opa August beerdigt, so starb jetzt am 04. Oktober unser Onkel Ferdi, der Stadtbauinspektor Ferdinand Pehlke. Seine Frau Betty ist eine meiner Taufpatentanten. Sie will nun nicht hier alleine bleiben und zieht zu ihrer Schwester nach Hamburg-Großborstel. Ferdis Asche-Urne wird dorthin überführt. Beide werden mir fehlen, ebenso wie das Duftgemisch in ihrer Wohnung nach dem (schwesterlichen Hamburger) Bohnenkaffee und Bohnerwachs. Das wird dann eine reguläre Ausreise, keine illegale Flucht aus der DDRepublik. Eine seltenere Ausnahme.


1951 – Mein 6. Lebensjahr. Zu den Erlebnissen gehören unter anderem:

Spielend lernen

- Auf dem Rücken des Partners mit dem Finger deutlich Zahlen schreiben, die er erfühlen soll.

- Ich sehe was, was du nicht siehst – und das sieht ...(hier folgt die Beschreibung, die Farbe) aus.

- Im dunklen Schlafzimmer Fahrzeuge erraten, das bedeutet: sie nach ihrem Lichtschein an der

Zimmerdecke beziehungsweise an ihrem Geräusch erkennen.


1. Mai mit Doppelfeier

Am 1. Mai wird wie in jedem Jahr der Gründungstag des Geschäftes unserer Eltern gefeiert. Die eigentliche Gründung beging man im Jahr 1926, damals durch unseren Vater als Junggesellen, bzw. mit seinen Eltern und der Schwester Käte. Heute ist wieder ein wirklicher Festtag und draußen scheint die Sonne. Zum ersten mal in diesem Jahr werden die langen braunen Strümpfe verbannt und die weißen Kniestrümpfe hervorgeholt.

Alle fünf Jahre wächst mit einem großen Sprung die Zahl, die vom Geschäftsjubiläum kündet. Diesmal sind 25 Jahre erreicht. Zu diesen Fünfjahres-Etappen wird von nun an zum Andenken ein Familienfoto von fachmännischer Hand in unserer Wohnung aufgenommen, das Aufnehmen zelebriert. Die Vorbereitungen sind ganz schön aufwändig. Meine Schwester hat ihr neues lindgrünes Kleid an, mit der weißgelben Stickerei. Ihr wisst ja wie die Margeriten nun eben einmal aussehen. Ich trage das neue dunkle, so genannte „Hamburger Jäckchen“ (die Stoffreste dafür kamen aus jener Stadt) mit dem weißen Bubikragen.

Nun werden die Kinderköpfe von fotogeschulten Händen zwangsweise so hingebogen, dass sie später auf dem Bild ganz natürlich aussehen. Bitte von jetzt an keinesfalls mehr bewegen!

Die große Attraktion ist, die gesamte Szenerie der gespannt und / oder etwas krampfhaft im dämmrigen Wohnzimmer wartenden Familie mit Hilfe von abzuflammenden Magnesiumoxid-Blitzbeuteln schlagartig in taghelles Licht zu bringen, uns also ins rechte Licht zu setzen, während das geöffnete Fotoapparatobjektiv Bild und Licht willig hereinlässt.

Bei der festlichen Kaffeerunde am Nachmittag sind dabei: Charlotte Dyck, Elisabeth Skirk geb. Johl, Renate Zauleck, Esther Gamon, Luzie Barth, Käte Janecke, Hertha Thomas, Elfriede und Christlieb Albrecht, Gustav und Margarete Hansen und Herr Paul Tietz.


Und genauso oder sehr ähnlich, es überschneidet sich eben, wird von uns auch der heutige Kampf- und Feiertag aller Werktätigen begangen.


Urlaub in der Schweiz

Gleich nach der Maifeier reisen wir, meine Schwester und ich, mit Mutti nach Buckow in die Märkische Schweiz. Nein, richtiger ist, dass erst einmal die gesamte Familie fährt, denn Vati und Tante Käte begleiten uns per S-Bahn bis zum Bahnhof Strausberg, wo wir umsteigen und dort kehren die beiden zu ihrer Babelsberger Arbeit zurück (hatten aber doch ihren Ausflug) – aber für uns beginnt der Urlaub jetzt so richtig. In Buckow am Bahnhof angekommen, müssen wir uns erst einmal nach dem Weg zu unserem Quartier erkundigen. Mutti fragt eine ältere Frau mit Kopftuch, jenes so nach der Art der Trümmerfrauen geknotet oder auch so gebunden, wie es die Witwe Bolte hielt. Und es ist nicht schwer zu finden: Vom Bahnhof ein Stückchen geradeaus, dann die „Neue Promenade“ hinunter, links in die Königsstraße hinein und dann, vor Pfarrhaus und Kirche gleich wieder nach rechts in die Wallstraße. Na bitte. Dort ist es dann das vierte Haus auf der rechten Seite dieses Sandweges. Wir wohnen für die Ferientage also im Haus der Familie Schoene in der Wallstraße Nummer 4. Hierin leben Frau (genannt „Schwester“) Schoene mit ihren Kindern Siegfried und Kriemhild und den Geschwistern Michel (mit Nachnamen), die, es ist ganz traurig, überhaupt keine eigenen Eltern mehr haben. Siegfried und Kriemhild sowie ihre Mutti, stammen aber nicht aus Xanten am Unterrhein wie die echten aus der germanischen Nibelungen-Sage, sondern waren aus Sachsen hergezogen. Auch gut. Dort sind diese bedeutenden Namen ebenfalls manchmal sehr beliebt.

Den wichtigen Wall, den von der Wallstraße, habe ich aber in diesen Ferientagen überhaupt nicht gesehen. Vielleicht war der aber nur früher mal da – auf „der Linie" auf der man dann diese Straße baute. Und zur Erinnerung hat man nur noch den Wall-Namen ... das könnte doch sein! Nich?

Die Ingrid der beiden Michel-Geschwister wird uns etwa ein Jahrzehnt später als junge Frau, als angehende und berühmt werdende Opernsängerin – für uns ganz plötzlich und unerwartet erneut begegnen (wir Unwissenden sagen gern „zufällig“) –. „Marienwürmchen setze dich auf meine Hand ...“ wird sie uns, mit großer Stimme gesungen, unter anderem darbieten. Aber das wissen wir natürlich jetzt noch nicht. Dafür ist die Zeit einfach noch nicht reif.

Familie Meinel aus Potsdam, ist im gleichen Hause, zur gleichen Zeit, wie wir zu Gast. Das heißt: Mutter und Kinder machen Urlaub, genauso wie wir, aber der Vater Meinel hat noch eine kirchliche Jungengruppe zu betreuen. Er also hütet derweil einen Sack Flöhe, wie es der Volksmund mitunter nennt und soll dabei ein strenges aber gerechtes Regime führen.


Von der Wallstraße geht es zur Wohnung der Schoenes vier Stufen hinauf. Somit liegt diese im Hochparterre. Unsere Unterkunft ist so richtig einem Landurlaub angemessen: Wir haben ein hübsches Stübchen eine Treppe höher, unter dem Dach, genauso wie die Meinels, nur auf der anderen Seite des Treppenpodests – müssen, um von unten ins Dachzimmer zu gelangen, die etwas knarrende Holztreppe im Halbdunkel hinaufsteigen. Die Mahlzeiten nehmen wir aber gemeinsam unten in der Küche ein. Der Küchentisch ist mit einer Wachstuchdecke belegt. Über dem Küchentisch hängt von der Decke spiralig ein langes Fliegenfängerband herab.100 cm lang,

4 cm breit. Mit braunem Kleber bestrichen ist diese Zelluloid-Falle, die Lockdüfte ausdünstet. Es handelt sich nach meinem Geschmack um einen Appetit-Zügler. Mich lockt es nicht – aber die armen Fliegen doch gar sehr. Sie tun mir leid.

Aufmunternd wirkt dagegen das wirklich Schoene-Geschirr mit dem herrlich rustikalen Bauernmuster, mit frischen, kräftig farbigen Blumen. Appetit-anregend! Auch die neuen weißen Keramiktrinkbecher mit bunten Bildern geschmückt, die Mutti für uns als Überraschung eingepackt hat, erfreuen uns. Morgens gibt es Milchkafe. Die Buttermilch zwischendurch schmeckt aus den Bechern besonders gut, doch abends den Kräutertee, gibt es wieder in Henkeltassen.

Bevor ich es vergesse: Die Hausmutter heißt auch noch Luise. Schwester Luise. Die Schoene.


Viel haben wir uns vorgenommen – vor allem aber: Tüchtig erholen wollen wir uns. Das ist hier unsere wichtigste Aufgabe.

Und wandern will Mutti mit uns und dabei viel singen, wie eine Lerche, befreit von der Alltagslast, so in den Himmel tirilierend. Schöne Wege gibt es ja genug, hat uns Frau Schoene berichtet. Und viel erfrischende Waldesluft, für die schon früher die Freifrau von Friedland weise vorausschauend gesorgt habe, indem sie die Wälder anpflanzen ließ. Das aber ist schon lange her, eben etwa so lang, wie die Bäume hoch sind. Da können unsere Lungen so recht die heimatliche Ammoniak-Luft ausatmen und für diese Zeitspanne vergessen.

Bei trockenem Wetter und Sonnenschein geht das frohe Wandern, hinein in diesen warmen Monat Mai, auch sehr gut. Wir brauchen wir uns nur aus dem Haus in die Wallstraße nach rechts über die Wallgrabenbrücke bewegen, also auf dem Weg, an dessen Zäunen viel Hopfen wuchert und schon ist man im Volkspark, der früher, noch vor ein paar Jahren, Schlosspark hieß. Das Grafen-Schloss gibt es hier schon seit sechs Jahren nicht mehr, nur noch ein paar ganz alte Ruinenreste davon. Interessant ist der Bach, der sich, vom Griepensee kommend, am Park entlang, zwischen Wald und Wiese, vorerst Richtung Marktplatz und zur alten Wassermühle schlängelt. Ein helles, schnell fließendes und klares Gewässer, gerade fuß- bis wadentief, so dass man ganz herrlich darin spielen kann. Am Boden glitzern und gleißen die perlmuttbeschichteten Muschelstückchen im Sonnenlicht. Unsere märkische Mutti muss gleich anstimmen: „... I hab daraus getrunke, gar manchen frischen Trunk, II: i bin net alt geworde:II, i bin noch allzeit jung“. (So in der Art wird also im Schwabeland angegebe! Zumindescht singt das ihre dort wohnende Freundin so mit einfach abgekürzten Worten und Mutti hat es sich aus lauter Freundschaft auch gleich angenomme, was hier bei uns in der Mark Brandenburg eher etwas seltsam wirkt). Ja, im Urlaub (und mit braven Kindern) kann man sisch ebe noch jünger fühle. Wir kennen den Text und die melodische Weise natürlich selbstmurmelnd auswendig – es ist das Lied, welches so komisch mitten im Satz anzufangen scheint: „ ... Und in dem Schneegebirge, da fließt ein Brünnlein kalt“ ... es muss unbedingt kaltes Wasser sein, damit es sich dann auf „alt“ reimt. Aber Mutti singt es eben in der Nähe des „Buckower Warmbades“. Macht nichts. Kennt ihr es auch?

Auf verschiedenen Spaziergängen und auch kürzeren Wanderungen begleitet uns gern die freundliche alte Hausdame der Familie Meinel. Die Frauen haben sich immer etwas zu erzählen. Wir hüpfen, springen und hopsen dann eben etwas langsam-gesitteter und schweigen etwas mehr.


Wir erleben wohl bald in jeder Ferienstunde etwas Neues, besuchen den nahen Griepensee und wandern auch zum Buckowsee durch den Erlenbruchwald, in dem auch einige Birken zu sehen sind und wo im Unterholz der Faulbaum und die Schwarze Johannisbeere wachsen. In Ufernähe und dort, wo das Licht ausreicht, finden wir Farnkraut und Wasserschwertlilien. Mit etwas Glück sehen wir den herrlich metallisch blau glänzenden Käfer, der die Erlen so sehr mag. In den Bäumen wohnen Stieglitze und Zeisige. Und auch die Libellen halten sich mit ihren Kunstflügen gerne in der Nähe der Bäche auf. In dieser großartigen Welt ist man tatsächlich nur ein Gast.


An einem anderen Tag laufen wir entlang des Flüsschens Stobber zur Güntherquelle und darüber hinaus in Richtung Tornowsee. Auf dem Rückweg haben wir ein Stück vor der Malzmühlenbrücke ungewollt Störche gestört, die auf dem Wege ihr Abendessen suchten – vielleicht zum Beispiel diese Nacktschnecken, denn wer kalte, labbrige Frösche speist, hält vielleicht auch etwas von diesen kaltblütigen „Köstlichkeiten“. Der Stobber-Bach schlängelt sich fußtief durch den Wald, bildet Buchten und formt Sandbänke. Die stark hüglige Landschaft zeigt je nach Feuchtigkeit des Bodens, wechselnde Waldbaumarten.

Aha, und so ungefähr sehen also auch die Alpen in der anderen fernen Schweiz aus?


Zum größten See, das ist der Schermützelsee, ist es ein bisschen weiter. Auch dieser Name erinnert an irgendeinen Krieg, weil dort ein so genanntes „Gemetzel“ stattgefunden hatte. Wir besuchen dort am Schermützelsee mal die Badeanstalt. Das ist da nicht so romantisch, sieht jedoch geordneter aus. Aber es gibt noch mehr Seen, wie den Abendrothsee in der Nähe der Mühle (nur, weil der Mann so hieß, hat der See diesen Namen, nicht etwa, weil genau darin die Sonne versinkt) und es gibt auch den Weißen See. Natürlich zeigt uns Mutti auch den Kurpark zwischen dem Schermützel- und dem Buckowsee, in dem sie ebenso fremd ist, wie jener für uns neu. Dorthin gelangt man einfach, wenn man durch den Park, über die (Schloss)-Parkbrücke, vorbei an der Wannen-Warmwasser-Badeanstalt und über die Stadtmühlenbrücke erst mal in Richtung Freibad läuft.


Wenn man müde ist vom Wandern oder das Wetter regnerisch oder das Gras am Morgen noch feucht vom Tau, soll man besser erst mal in der Stadt bleiben. Dann läuft es sich in der Natur nicht so gut, weil wir es nicht gewohnt sind. Oder genauer: Es läuft sich dann sehr schlecht. Nehmen wir nur alleine schon unseren Wallweg in Richtung Park durch den kühlen Grund. Mit schwarzen Nacktschnecken ist er dann wie übersät, so dass ich gar nicht weiß, wohin ich beim Laufen meine Füße setzen soll. „Der Schneckenweg“, so wird das letzte Stück der Wallstraße von mir genannt. Aber eigentlich gibt es davon viele Wege. Hoffentlich bekommen die Störche viele hungrige Jungen mit gesundem Appetit. Alles Hiersein ist schließlich ein Kampf ums Dasein. Dagegen kann man im Moment nichts weiter machen.


Anstrengend ist für mich, wegen der aufkommenden „langen Weile“, die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst. Zwar findet er bei dem schönen Frühjahrswetter nicht im kalten Kirchen-Raum statt, der gerade von den Schäden des schrecklichen Weltkrieges, also besonders vom 1. Mai 1945, instand gesetzt ist, sondern wird unter freiem Himmel auf grob gezimmerten Bänken (ohne Rückenlehne) abgehalten. So kann ich zumindest den Vögeln zuschauen. Mutti kennt diese Unduldsamkeit bei der mir suboptimal erscheinenden Nutzung meiner Zeit und hat fürsorglich für mich ein Quartettspiel zur inneren Erbauung anderer Art mitgenommen, deren Karten ich aber natürlich „in- und auswendig“ kenne. Es handelt sich heute um das äußerst gesunde und für Laien lehrreiche Kräuter-Quartett. Dass Mutti es mitnahm, war sehr nett. Vor Verzweiflung über das gar zu langsame Voranschreiten der Uhrzeiger, rupfe ich mir einige Haarbüschel aus – eine Art von Selbstkasteiung oder auch meine Buße wegen der zu geringen Anteilnahme am gemeinsamen Loben und Preisen oder der Negierung der an mich gerichteten imperativen Aufforderung: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens“. So habe ich zumindest ein bisschen gegen mich selbst gekämpft. Die Erbauung jedoch liegt für mich dann eher in der Erlösung durch den Ablauf der Zeit. und das in Aussicht stehende gute Mittagessen.


Interessant ist das Pumpen des Wassers am Marktplatz-Brunnen gegen den übermächtigen Durst von Mensch und Tier. Eine große Attraktion – fast schon ein Wahrzeichen für die Stadt. Der Brunnen wurde 1924 errichtet, als ein „Born der neuen Lebenskraft“, wie so schön gesagt wurde. Hier fotografiert Mutti uns, mit Kriemhild und Siegfried, als Beweis, dass wir hier sind und zur lieben Erinnerung für die nächsten Jahrzehnte, wie schön es hier doch war. Wäre doch auf den Bildern auch Ingrids liebliche Gesangstimme mit drauf.


Viele weitere kleine weitere Begebenheiten „am Rande des Weges“ erleben wir in diesen Tagen. Diese Ferien – ein Höhepunkt des Jahres, der uns tief bewegt, der uns viel gab.


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Ein wichtiger Nachtrag zu diesem Urlaubsthema, ein halbes Jahrhundert später von mir notiert:

Was weder unsere Mutti wusste und meine große Schwester erst recht nicht – denn ich „erforsche“ es erst im Jahre 1994: Mutti ging mit uns in Buckow ohne es zu wissen durch „lang' vertraute Gassen“, denn die Altgroßeltern der Reihe ihrer Vorfahren hatten in Buckow gelebt, Friedrich Sommer, als junger Zimmermann tätig, der aus dem Kriegsgetümmel, wohl aus Richtung Frankreich, wieder zu seiner Frau nach Hause, nach Buckow, zurück kam. Nicht mehr als Zimmermann und Kanonier, wie beim Ausrücken oder besser gesagt: auf dem Hinweg, sondern als Invalide – aber noch lebend. Und einige Jahre später, ausgangs des Winters 1809, starben diese beiden Eltern mit 39 und 41 Lebensjahren an einer „hitzigen Brustkrankheit“. Und ihre vier kleinen Kinder, zwischen zwei und elf Jahren ihres Lebensalters, waren plötzlich Waisenkinder. Das zweite dieser Kinder wurde später Muttis Urgroßvater. Er hieß ebenfalls Friedrich Sommer, am 30. Dezember 1800 in Buckow geboren, fand nach dem frühen Tod der Eltern erst in Potsdam, dann nebenan in Nowawes eine neue Heimat, wo er bis zu seinem Lebensende als Schuhmacher-Meister das tägliche Brot für seine vielköpfige Familie erarbeitete. Sein jüngerer Bruder Carl erlernte den Beruf eines Müllers, wurde ein Mühlen-Meister, der sein Leben lang in verschiedenen Mühlen tätig war. Von den beiden Mädchen der vier Geschwisterkinder hoffen wir sehr, dass sie heirateten und doch noch etwas mehr glücklich geworden sind. Ich konnte sie nicht aufspüren, weil sie unter mir unbekannten Namen ihrer Ehemänner weiterlebten. Zumindest konnte ich unserem Mütterlein, zeitlich zurückgehend entdecken, woher denn eigentlich ihre Vorfahren in jener Zeit stammten. Weiter zurück (in den nächsten Ort) konnte ich die Familie Sommer nicht suchend „begleiten“, weil die Kirchenbücher mit üblichen wichtigen Eintragungen im Jahr meiner Geburt verbrannt wurden.


Nun sind wir wieder in Babelsberg. Zu den Schlagern 1951 / 52 gehören: Eine weiße Hochzeitskutsche – Pack' die Badehose ein (von Conny Froboess aus Wriezen, die inzwischen in West-Berlin lebt) – Schütt' die Sorgen in ein Gläschen Wein und viele andere mehr.


Herr Wa., jun. kommt aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Das ist unser Nachbar, den wir bisher noch nie sehen konnten. Also das ist der Zwischenmensch zwischen dem alten Hauswirt Wa. und unseren Nachbarkindern und somit der Sohn vom Eigentümer. Das verursacht eine teils freudige Aufregung in jener Familie, von der auch wir gleich mit erfasst werden. Jetzt also kommt der Mann von Frau Elfriede aus der riesigen Sowjetunion hierher und hat gleich auch in der Familie schon etwas zu sagen. Das ist für die Kinder eine ganz neue Situation. Bisher hat ihre Mutti immer gesagt, was zu tun sei und das meiste hat sie dann ja selbst gemacht. Nun ist plötzlich ein fremder Mann da. Dieser Mann soll aber vor vielen Jahren auch schon mal hier gewohnt haben. Die Kinder sollen zu ihm „Vater“ sagen. Bisher ist aber immer nur von dem „Heimkehrer“ die Rede.


Meine erste Hochzeit

Und wieder posaunt meine große Schwester 'was aus:

Nun ist es soweit: Mein Bruder hält Hochzeit mit der schönen brünetten Moni“. Eingeladen sind auch die Zwillinge der Bäckerei Weber, Monis Bruder Wolfgang ja sowieso, ich und der kleine Hansi. Sogar fotografiert wurde die gesamte Gesellschaft mit Muttis AGFA-Box vor dem Friseur-Wintergarten des Frisiersalons des Herrn Paul Heue.

Ein großes Fest – und doch kein unauflöslicher Bund.

So richtig glücklich sieht Christoph dabei nicht aus – kümmert sich auch zu wenig um seine Braut, seine Frau. Sie ist seine Erste und Einzige – das Eheleben ist für ihn aber offensichtlich noch etwas ungewohnt. Mein Bruder ist mit seinen 6½ Jahren einfach noch zu unreif für so 'was."

Wie wir im Folgenden sehen, hat sich das Thema schon bald nach der großen Feier von selbst erledigt. Ich denke, Monika hat bald zu reiferen Herren aufgeschaut.

Trotzdem bietet lieb' Moni mir großherzig leihweise ihr Fahrrad an, damit ich mich in dieser Kunst üben kann. Eine große Geste. Dieses Angebot nehme ich freudig an und Moni unterstützt mich sogar beim Üben auf auf ihrem großen Vorkriegsfahrrad. Sie hat ein eigenes das funktioniert! Eine Seltenheit! Das von Ihrem Opa steht im Garten, dessen Vorderradfelge mit einem Gartenschlauch bewickelt, da es kaum neue Bereifung gibt. So hat ihr strenger Großvater es nachempfunden, wie es der irische Tierarzt Dunlop einst auch schon versucht hatte. Das Fahren ging bei mir nur im Stehen und das Aufsteigen mit Hilfe einer Betonstufe am Gartenhaus ihrer Großeltern – aber es ging, das heißt, irgendwie wackelte ich vorwärts.


Ein neuer Hausgenosse

Zu uns kommt das gute Struppchen, ein etwas räudig erscheinender grau-schwarzer Drahthaarterrier, aus dem Tierheim stammend, ein ausgezeichneter und energischer Wächter. Er wurde uns vom Tierarzt Herrn Dr. vet. med. Erwin Holtz, der in Potsdam, Nansenstraße 7, eine kleine Tierklinik betreibt, ans Herz und in die Hände gelegt. Falls ihr auch mal einen Hund braucht, er hat die Telefon-Nr.: Potsdam 17 76. Wann der Terri einst das Licht der Welt erblickte bleibt uns verborgen; er kommt als bereits Erwachsener zu uns und auch über sein Vorleben wurde uns nichts näheres bekannt.

Von sowjetischen Offizieren wäre er fast mehrmals in unserem Geschäftsraum grausam erschossen worden, denn Struppi ist allergisch gegen: Ratten, Pferde, Radfahrer und Uniformierte, egal ob harmlose Eisenbahner, freundliche Briefträger oder eben Uniformen der Offiziere. Da schlugen die Emotionen hohe Wellen und er hielt seine Meinung nicht hinter dem Berge, so dass wir mehrfach den bevorstehenden Eintritt eines Herzanfalls befürchteten. Den erstgenannten Uniformträger-Gruppen konnte man positiv zurechnen, dass sie unbewaffnet waren.

Nur das selbstentspannende Herumbrüllen des Militärs in unserem Laden einerseits, das Flehen der Familie andererseits, bewahrte ihn wohl mehrmals vor dem allzu zeitigen Eintritt in den Hundehimmel. Womöglich hatte Struppi traumatische Erlebnisse in seiner Welpen- und Jugendzeit, die wir nicht kennen, die ihn aber zu dem prägten, was er heute darstellt. Auch den Einfluss seiner Ahnen als Erbmasse für sein Wesen können wir nicht beurteilen. Wir wissen viel zu wenig. Ich meine aber: Cobaka-Struppchen selbst hegte im Herzen keinerlei konkrete persönliche Feindschaft zu den sowjetischen Freunden. Diesen tröstenden Hinweis sollten sie doch bitte mitnehmen.

Ein Blick in die Zukunft: Struppi wird dann noch bis 1963 bei uns leben, solange, bis dass der Krebs ihn zu arg zwackte.


Pfingsten

Sehr freuen wir uns auf die Pfingstkonzerte in der Kulturgaststätte „Lindenpark“, zwischen dem Birkenwäldchen und der Stahnsdorfer Straße gelegen. Aber diese Konzerte sind nicht oft im Jahr.

Mutti schmückt die Wohnung immer sehr schön mit Flieder. Schon an der Ladentür stehen Eimer mit Birkenstämmchen. Wohl erst in späteren Jahren kommen manchmal duftende Fresien auf den Tisch. Eine Harmonie der Farben, Formen und Düfte.

Nach dem Mittagessen gibt es grüne Götterspeise, diesen Wackelpudding als Kompott und niemand weiß, woher Mutti das wieder genommen hat. Am Abend dann Zwergenbrot mit Margarine, Petersilie und Frühlings-Eiern. Köstlich. Es ist ein großes Geheimnis, woher das Zwergenbrot, woher diese kleinen Scheiben kommen und wer dieses Brot überhaupt bäckt. Obwohl ich oft einkaufen gehe, hatte ich noch nie den Auftrag „Zwergenbrot“ mitzubringen und doch ist es plötzlich da. Aber nur, wenn es gebraucht wird. Es liegt also nicht einfach so 'rum, weder im Brotkasten, noch sonst wo.

Welche nicht sichtbar verbindenden Zusammenhänge mag es zwischen echten Geheimnissen und zweifelhaften Wundern geben? Wer kann mir das sagen?


Abschiedsgeld“ – „Auf der Flucht“

In dieser Zeit gibt es einige einschneidende kriminelle Ereignisse. Man spricht vom Mord an einer Frau im Birkenwäldchen und munkelt über die Tötung eines Jungen in der Gaststätte „Zum Löwen“, der Ratsschänke. Es besteht für uns Kinder permanent die Vorgabe: „Nimm nichts Süßes von Fremden, gehe mit niemandem mit“. Eines Tages komme ich mit beiden Händen voller Kleingeld ganz verdattert ins Haus, um es abzugeben. Meine Eltern machen sich große Sorgen, ob das vielleicht eine Anlockhandlung gewesen sei und wofür und weshalb überhaupt? Ich weiß nichts. Gar nichts. Wir alle sind ganz aufmerksam aber es ereignet sich nichts weiter. Ich kann nur sagen, dass ein Mann mir vor unserem Haus auf der Straße sagte: „Junge, halt mal schnell die Hände auf“ und dann zum Bahnhofseingang rannte – mehr war nicht. Wahrscheinlich war es nur jemand, der auf dem Weg in den Westen war, sein Ostgeld nicht mehr brauchte und der zum Abschied von der Ostzone noch was Gutes tun wollte, aber nur Jemandem, der ihn nicht verraten würde, bevor er zum Zug eilte. So lief ich ihm versehentlich über den Weg und er schüttete im Vorbeilaufen seine restliche Habe in meine Hände. So etwas ähnliches gab es doch schon einmal: Ja richtig, beim Sterntaler.

Die Republikflüchtigen liefen aber nicht immer nur per Fuß zum Bahnhof sondern kamen auch manchmal mit einem Auto. Am Fahrkartenschalter des Bahnhofs verlangten sie dann: „1 x 30 und zurück“, auch wenn sie gar nicht beabsichtigten, die Rückreise für 0,30 Mark anzutreten. Sie haben nur vorsichtshalber das Doppelte vom Nötigen eingekauft, um die Mitarbeiter der Staatssicherheit (die am 08. Februar 1950 gegründet wurde) oder des Volkes Polizei nicht zu beunruhigen. Zumindest erschien ihnen wohl der vorgetragene Wunsch: „1 x 30 und zurück“, als ein gediegenes Zeichen eines vorauseilenden Schein-Gehorsams, sonst hätte man auch 2 x 30 verlangen können. 0,70 Mark hätte die Fahrt nach Ost-Berlin gekostet, auch ein solcher Fahrkartenwunsch wäre eher harmlos erschienen.


Fliegende Kartoffelschalen

Unsere Kartoffelschalen bringe ich zur „Zeitungsoma Schmidt“. Sie verkauft nicht nur bedrucktes Papier aus dem Kiosk in der Schulstraße, sondern sammelt auch Küchenabfälle, die sie zu Kaninchenfleisch veredeln lässt. Wir sprachen bereits vor einiger Zeit über dieses Thema. Eines Tages, ich dachte wohl gerade zu sehr an die Kaninchen, wurde ich in der Rudolf-Breitscheid-Straße auf der Fahrbahn von einem Auto angerempelt, kam aber mit dem Schrecken davon. Nur die Kartoffelschalen flogen in hohem Bogen aus der Schüssel davon, was wohl aber deren Geschmack nicht negativ beeinflusst hatte. Ich entschuldigte mich beim Autofahrer stammelt, sammelte die Schalen schnell wieder auf und reagierte dabei den Schreck ab. (Im Falle solcher Schreck- und Stress-Situationen mahnte uns unsere Mutti – sofern sie zugegen war – immer erst einmal die Blase zu entleeren, um wieder ruhig und entspannt sein zu können.) Hier war sie nicht dabei und ich hielt es auch für richtig, dieses kurze Abenteuer nicht weiter zu erwähnen.


Kramer

Im Sommer sind wir ab und zu bei Kramers. Die Tochter des Hauses ist aber wirklich schon zu groß für mich. 11 vielleicht. Mindestens. Von ihr lerne ich trotzdem solche Lieder wie: „Die Mädchen aus der Normandie, die küssen so gern ihre jungen Herrn“ und „Ein Mister aus Manhattan kam jüngst in Holland an“ sowie „Atte katte nova“. Nein, nein, es geht hier mitnichten um eine neue plattdeutsche Katze. Ihre Mutti, die Tante Inge, hat es selbst auch mit dem Nordischen. Sie ist Lehrerin für nicht leicht erziehbare Kinder und andere, die es irgendwie schwer zu Hause haben und sie spricht schwedisch. Deutsch auch. Woher sie das nur alles kann? Nun ja, einen Erklärungsversuch gibt es: Ihre Schwester hatte in Nowawes einen jüdischen Mann geheiratet und als die Nazis ihr grauenvolles Werk begannen, reisten sie aus, rissen sie aus, solange noch Zeit war – nach Schweden. Und weil man in der Fremde vielleicht die Muttersprache vergisst, lernte die Schwester Inge hier in Deutschland schnell schwedisch, damit sich die Geschwister zweisprachig Briefe schreiben und sich moralisch stützen konnten. So war das.

So erzählt die Tante Inge mir, dass in Schweden alles sehr sauber ist und man auch so spricht. So sagt man für die Abdeckung der Räder eines Autos zum Beispiel „Radabschirmblech“ – nie aber so etwas extraordinär-anstößiges wie „Kotflügel“ dazu, wie es bei uns in Deutschland üblich ist. Geradezu abstoßend. Und wir denken bei „-Flügel“ weder an Adler noch an Engel, höchstens an Hundeka... Das fällt einem sonst gar nicht auf, wenn man nicht besonders darauf hingewiesen wird. Wir sollten also die Worte prüfen und entscheiden, was wir davon persönlich übernehmen möchten und was lieber nicht, sollen achtsam mit den Worten umgehen, nicht so gedankenlos in den Tag hinein schwatzen. Nicht umsonst heißt es: „Hüte deine Zunge“. Fast alles ist nicht egal oder gleichgültig. Und erst einmal unbedacht ausgesprochen, kann man die Worte nicht mehr zurückholen. Und sie könnten sogar Schaden anstiften oder anrichten.

Interessant ist ebenso von der Lehrerin Tante Inge zu hören, wie manche Eltern Entschuldigungszettel für einen Schul-Ausfall ihres Kindes schreiben. Zum Beispiel wurde ihr da der Zettel der Mutter vorgelegt, auf dem schwerer lesbar geschrieben stand: „Wegen Splintern in Hintern konnte Jaqueline nicht zur Schulen gehn. Gruß Frau Schulze“. Tante Inge weiß daher, dass die Kinder es auf Dauer einfacher hätten – würde man vorerst die Eltern nochmals in eine gute Schule nehmen. Die Gespräche mit ihr sind für mich sehr lehrreich.

Zu ihrem Haushalt gehören neben ihrer Tochter noch ihr Vater, der aber einen anderen Namen hat, nämlich Brandt heißt und der Airdele-Terrier „Akbar“. Dieser Name ist nun aber mal nicht schwedisch, sondern arabisch und bedeutet „Der Große“ – und richtig, dieser ist tatsächlich viel größer als unser Struppchen, obwohl auch er zu den Terriern gezählt wird.


In der Nuthe

Herrliche Sommertage! In dieser Zeit bin ich des Öfteren beim Bootsstand „Havelzweig“ in der Babelsberger Straße (wo auch später mein eigener „Erzfrachter“, der „Fregattvogel“ stehen wird).

Havelzweig hat nichts mit Baumgeäst zu tun, sondern der kleine Fluss „Nuthe“ wird als (Ab-)Zweig der Havel angesehen, was bestimmt nicht ganz richtig ist, denn die Gegenfließrichtung trifft doch zu. Es handelt sich um einen Zufluss: Die kleine Nuthe mündet in die große Havel. Aber wir brauchen an dieser Stelle nicht päpstlicher ... . In der Mündung des Flusses liegen seit dem Krieg halb versunken einige eiserne Lastkähne. Das ist ein ausgezeichneter Abenteuerspielplatz – aber nicht ungefährlich. Doch zurück zum Bootsplatz!

Herr Otto Köthur, ein Mann kleiner Gestalt ist ein Tischler, jetzt aber im Alter ist er also der Besitzer dieses Bootsstandes „Havelzweig“. Er wohnt in der Johannsenstraße 2. Seine Frau ist eine nahe Verwandte von Charlotte Dyck, die tagsüber bei uns im Laden tätig ist, aber dort mit in der Wohnung lebt und schläft. „Muttchen Dyck“, eine sehr freundliche, vom Leben schwer geprüfte Frau, hatte früher glücklich in Danzig gelebt. Im Krieg wurde sie dort aber ausgebombt, hatte ihren Sohn Hans verloren, der als junger Soldat fiel und sie begrub ihren Ehemann, der nach dem Kriegsende auf dem Marktplatz erschossen wurde, eigenhändig im Danziger Garten. Nach der darauf folgenden Ausweisung / Vertreibung (das Gebiet war ja nun polnisch geworden), ging sie ohne Hab und Gut im Treck auf die Flucht, die für sie in Potsdam-Babelsberg endete –.

Ich dagegen habe es als Kind leicht und unbeschwert. Vorerst gebe ich mich hier am Bootsstand fröhlich-verträumt der Romantik hin und unternehme mit einem angeketteten Köthur-Ruderkahn, halb verdeckt vom Trauerweidenvorhang, große Seereisen – nicht ohne angenehme Abenteuer – suche auch nach Schätzen auf dem Meeresgrund. Und es ist eine Lust zu angeln, besonders wenn die Fischlein wissen können, dass man ihnen ohne Angelhaken kein Leid anzutun gedenkt. Der Kater verzichtet deshalb gelangweilt darauf, neben mir für längere Zeit Platz zu nehmen, sieht und hört nicht 'mal so wie ich, den Vögeln zu. Der Enkel der Köthurs, Michael Joachim, wurde im September 1944 in Babelsberg geboren. Zeitweilig besuchten wir die gleiche Klasse in der Schule 17. Er war ein stets Freundlicher. Leider wird er aber nur 32 Jahre alt werden. Wollen wir an ihn denken und ihn hier ehren.

Etwa ebenso wie ich saß mein Vater vor einigen Jahrzehnten in einem Kahn am gegenüber liegenden Ufer des Flüsschens Nuthe, an der Wiesenstraße 20 / 22. Es wiederholt sich manches zu anderer Zeit an gleicher Stelle.


Direkt neben dem Wohnhaus der Köthurs, Johannsenstraße 2, befindet sich eine Fußgängerbrücke, die über die Bahnanlagen führt. Es ist „der Übergang“, im Kindervolksmund eher „der Galgen“ genannt. Er ist eigentlich nicht nur zum darüber Laufen gut: Braucht jemand dringend ein schlechtes Gewissen, dann kann er warten bis eine Dampflok darunter hindurchfährt und kräftig in den Schornstein spucken – so bekommt er den gewünschten Ärger, wenn dann das Feuer im Lokkessel ausgeht. Nicht so schlimm ist es, wenn der Rauch als Strafe einem nur das Gesicht schwärzt. Es gilt das alte Sprichwort: probieren geht über studieren. Vorsicht ist dagegen geboten, wenn Jungs beim Elektrobahn-Betrieb von der Brücke nach unten pinkeln. Das ist weniger harmlos und außerdem unanständig. Lebensgefährlich und sogar verboten. Hier gilt das alte Sprichwort: Vorher studieren, geht über probieren! Eine Etage tiefer, auf der Mühlendamm-Brücke die über die Nuthe führt, geht es dagegen ganz gemütlich zu, nach der Melodie: „Ich steh’ auf der Brücke und spucke in’ Kahn, da freut sich die Spucke, dass se Kahnfahren kann. Hollatrihia, Hollatrio …“. Doch das ist nur schlechtes Volksliedgut – ich selbst mache so'was nicht, denn auch mir soll ja bitteschön niemand ...


Auf den Havelseen

Wir waren aber auch mit größeren Schiffen beschäftigt. Das waren vielleicht Höhepunkte! Gemeinsame Familienausflüge mit den Dampfern „Templin“ oder „Caputh“. Von Potsdam, Lange Brücke, bis nach Caputh für 80 Pfennig „pro Nase“ eine ¾ Stunde Fahrt, mit Halt am Regattahaus, Luftschiffhafen und am Forsthaus Templin. Schon gleich nach dem Ablegen vom Kai wird es ja schon spannend, wenn vor der Eisenbahnbrücke zwischen Planitz-Insel und Kiewitt der lange Schornstein umgelegt werden muss und der Rauch sich ungeordnet verteilt, je nach Windrichtung und natürlich auch in die Gesichter der Passagiere. Während dieses Manövers darf dann auch niemand stehen oder umherrennen. Dann erst ist das interessante Hinunterschauen in den Bauch des Schiffes, wo die Dampfmaschine leise und gleichmäßig arbeitet, zu genießen. Wie von dort die wohlige Wärme zu uns emporsteigt während der Heizer schwitzend die Kohlen in das Feuerloch schippt. Daneben ein riesiger Kupferkessel mit zahlreichen Rohrleitungen und Anzeigegeräten. Noch „familiärer“ schippert es sich allerdings auf dem kleinen Schiff „Nedlitz“.


Die Jahreszeiten vergehen in ihrer geordneten Reihenfolge!


Unser Besuch in der Berliner Staatsoper

Meine Schwester erzählt: „Zum ersten Mal besuchen wir in Berlin die Deutsche Staatsoper, die nicht „Unter den Linden“ steht, sondern zurzeit noch gastweise im Admiralspalast untergebracht ist. Eine riesengroße Weihnachtsüberraschung. Wir sehen und hören dort „Hänsel und Gretel“ der Gebrüder Grimm, mit Musik von Herrn Engelbert Humperdinck. Welch ein einprägsamer Name!

Weil in der Oper aber so viel gesungen wird, was man nicht alles gut verstehen kann, haben wir das Operntextbuch zum Märchen schon wochenlang vorher abends in den Betten mit verteilten Rollen und zum Teil mit verstellten Stimmen gelesen (außer mein Bruder, der ist ja Analphabet und kann nur vom Hören lernen). Genauso also das Librett' im Bett gelesen, wie es dann auf der Bühne gesungen wird, so dass wir natürlich fast alles auswendig können.

Doch Halt!: Zu dieser Zeit der Bettleserei wissen wir noch gar nicht wohin das noch führen könnte. Wir dachten eben nur: Märchenstunde in etwas abgewandelter Form. Die Sache mit dem anschließenden Opernbesuch, das war vorerst noch ein Geheimnis der Eltern“. –

Christoph nutzt die Redepause: „Ich füge mal schnell etwas ein, denn wer weiß schon, ob ich später noch dazu kommen werde. Es war alles sehr interessant und spannend, abgesehen von der bekannten Handlung, aber das Sandmännchen, diese phosphoreszierenden Baumstümpfe im dunklen Wald, der Engelchor, das Taumännchen, natürlich die Hexe – auch sehr schön. Die Hexe, die dem Johannes solchen Gute-Nacht-Gruß zuruft wie: „Schlaf nur, schlaf, du gutes Schaf, bald schläfst du deinen ew'gen Schlaf, hi hi hi“. Sie vermag es eben nicht hinter der Scheinfreundlichkeit ihre wahren Absichten zu verbergen. Wir übersetzen auch den Zauberspruch der Hexe: „Hokus pokus malus lokus, bonus jokus, hokus pokus“. Fräulein Margarethe, die Gutherzige, schafft es hingegen dank ihrer Leibeskräfte, die Unredliche in deren eigenes Fegefeuer zu schicken. Und die wiedererweckten gebackenen Lebkuchenkinder – welche Freude – nicht zu vergessen auch der Vater, nun bereits wieder ohne die alte böse Stiefmutter.

Jetzt wieder meine Schwester, weil sie ja sowieso als Frau viel mehr und anderes bemerkt als ich:

Und da standen wir nun im Opern-Foyer vor dem großen Spiegel: Ich mit dem schönen hellgrünen Kleid mit den aufgestickten weiß/gelben Margeriten (mein ganzer Stolz) und etwas weiter unten die dunkelbraunen langen Strümpfe, am „Leibchen“ angeknöpft. Ach, sah das aber anders aus, als bei den Roben der mir benachbarten Damen. Mein Stolz schmolz. Christoph hatte seinen ersten mausgrauen Anzug an, von Tante Käte fabriziert. Das passt so recht zu ihm. Früher war der Stoff ein Sommeranzug unseres Großvaters Max Sommer. Jetzt ist das „Gute Stück“ erheblich kleiner, sieht aber aus wie neu".

Ein komisches Gefühl beschleicht mich gegen Ende der nächtlichen Rückfahrt: Als wir in der S-Bahn sitzend durch West-Berlin rollen, sind Häuser und Straßen voller farbenfroher leuchtender Reklame. Bald hinter dem Bahnhof Wannsee wird es finster um uns. Wir sind wieder zu Hause.


Mal wieder in West-Berlin

Wieder sind wir bei Zauleck’s in der Steglitzer Schloss-Straße 41. Also bei Krankenschwester Renate Z. und ihrer ehrwürdigen, vornehmen Frau Mutter. Das ist etwas Besonderes. Schon der Weg dorthin. In den winterlichen Straßen ist der Schnee zwischen Fahrbahn und Fußweg zu hohen Wällen hochgeschaufelt. (Unsere Mutti sagt immer „der Damm“ zur Fahrbahn und unser Vati sagt immer „Bürgersteig“ zum Fußweg – obgleich sie ja aus dem gleichen Land stammen. Aus Übermut bin ich einmal über den Schneewall geklettert, so dass ich vom Fußweg aus nicht mehr zu sehen war. So hoch.

Ich bekomme von Zaulecks schon wieder ein Geschenk. Für die bevorstehende Schulzeit eine alte, vom erwachsenen Sohn vor vielen Jahren abgelegte Schulmappe aus richtigem dicken Leder, die meine künftige eigene Schulzeit jahrelang begleiten wird. Es ist eine gute stabile Büchertasche. Ehrwürdig. Dass innen dick mit Tinte der Name „Zauleck“ steht, stört mich nicht, denn ich weiß ja, wie ich heiße und ich nehme nicht an, dass jemand mich eines Diebstahls verdächtigt. Und zur Begrüßung wird sie in Babelsberg mit der feinen Wittol-Schuhpflege-Creme, in Wittenberg an der Elbe produziert, einbalsamiert.

Renate Zauleck wird später heiraten und nach Amerika, in die USA, auswandern. Tschüß.

Auch die sonst so romantische Rückfahrt vom Rathaus Steglitz zum Bahnhof Wannsee, oben im Doppelstock-Bus, werde ich nie vergessen: Ein Mädchen etwa so alt wie ich, fuhr mit ihrer älteren, offensichtlich geistig verwirrten Schwester in diesem fast leeren Nacht-Bus. An der Zielhaltestelle angelangt, wollte dieses große Kind jedoch nicht aussteigen, was die kleine Schwester zur Verzweiflung brachte. An der Endhaltestelle wollte der freundlich-ernste Busfahrer die Polizei um Hilfe rufen. Dass es so etwas traurig-schlimmes gibt – auch im Westen ist nicht alles einfach und gesund. –


In der kalten Jahreszeit heizen wir den Wohnzimmerofen mit Briketts. Für den Vorrat soll der hölzerne Kohlenkasten mit Scharnierdeckel stets gefüllt sein. Der Ofen, der im hinteren Teil des Geschäftsraum steht, ist dagegen ein Allesbrenner. Bei diesem kann auch während des Abbrandprozesses bei Bedarf Brennstoff von schräg-seitlich-oben nachgefüllt werden. Er frisst gern Papier, Holz, Sägespäne, gesammelte Kiefernzapfen, Koks, Anthrazit, Eierkohle und auch Kohlengrus, also „Abrieb“ (schönen Gruß vom Kohlehandel und Vorsicht :Explosionsgefahr – nur in kleinen Mengen hinzugeben) und somit alles, was brennbar ist. Es macht Spaß, ihn mit dem Inhalt der „Schütte“ zu füttern. Man muss nur aufpassen, dass das dunkle Ofenrohr nicht eine zu hell-rote Farbtönung annimmt.


1952Mein 7. Lebensjahr, 1952/53, das 1. Schuljahr


Bekleidung – die Mode der Zeit

Bei Kälte ist es natürlich Pflicht, die guten langen Strümpfe zu tragen, die von der Erdanziehungskraft immer wieder erneut herunter gezerrt werden. Dagegen ward aber ein ekelhaftes „Kraut“ gewachsen: Das so genannte Leibchen. Eine Art gestrickter breiter Leibgurt oder Nierenschützer mit Haltern (Strapsen) für sie Strumpfhaltebänder.

Ist es winterlich gar zu kalt, wird der Unterzieh-Overall (würde ich heute sagen), verordnet, also lange Unterhose, mit langem Unterhemd in einem Stück, als Kombination mit Schlitzöffnungen vorn und hinten, für Groß und Klein. Dieses treu wärmende Monsterchen hieß bei uns „das Trikot“. In anderen Familien wurde es lustig „der Hampelmann“ geheißen.


Ein Erlebnis, das mir fast das Herz im Leibe gefrieren ließ: Es war Winter mit strenger Kälte. Direkt an der Bahnhofsmauer, uns also schräg rechts gegenüber, war im Fußweg ein Kabelgraben gezogen, Sand und Kleinpflastersteine zur zeitweiligen Lagerung direkt an der Mauer angeschüttet. Diese Straßenseite kann man also nicht benutzen. Von unserer Seite sehe ich beim Vorbeigehen auf diesem Sandwall ausgestreckt eine erfrorene schwarz-weiße Katze. Sie wird verletzt gewesen oder gar an dieser Stelle (vielleicht von einem Stein?) getroffen worden sein. Zumindest hätte sich dort kein Tier gestreckt schlafen gelegt. Friede ihrem Seelchen. Dieses Erinnerungs-Bild hat mich nie wieder ganz verlassen. Als ich auf dem Rückweg wieder dort vorbeikam sah ich, dass jemand sie fortgenommen hatte.


Frühling

Schön ist es, wenn nun die Kniestümpfe im Kleidungsangebot erschienen und dann gar die Söckchen. Helle Söckchen mit farbigen Ringeln. Ja, in diesen Jahren unterscheiden wir noch genau zwischen Sonntags- und Alltagskleidung, was sich erst viel später verlieren wird. (Der Begriff Wochenendkleidung kam gar nicht erst auf, denn bis in die 1960-er Jahre wurde ja auch an den Sonnabenden gearbeitet.)


Sommer

Im Sommer werden von der Regierung die deutschen Länder im östlichen Teil Deutschlands aufgelöst und kleinere „Bezirke" gebildet. Zwar wohne ich noch in demselben Hause, ziehe aber gleichsam um, aus dem Land Brandenburg, in den Bezirk Potsdam, dessen Größe ungefähr ⅓ des bisherigen Landes Brandenburg beträgt.

So aber geht es allen. Unsere Verwandten in Wittenberge an der Elbe, bisher ebenfalls im Land Brandenburg wohnend, leben jetzt plötzlich im Bezirk Schwerin ... und so weiter. Das ist moderner, scheint in der Kleinheit viel überschaubarer zu sein und „zerschlägt vor allem die Reste des alten militaristischen Staatsgebildes“. Auf zu neuen Ufern!

Was gibt uns denn so die Zeitung?

Am Montag, den 11. August lesen wir die Pressestimmen unter folgenden Schlagzeilen:


Bald gehe ich in die Schule – aber jetzt noch nicht

Eigentlich heißt es ja, man solle nicht zu spät zur Schule kommen. Nicht eine Stunde, selbst nicht eine Minute. Besser etwas früher da sein, lautet die Devise. So ist es recht. Bei mir dagegen wurde es höchst offiziös anders gestaltet, woran ich überhaupt keine Schuld trage.

Mehr als zwei Wochen waren es, die ich zu spät kam – gleich am Anfang, als in der Schule die Grundlagen des Lebens gelehrt und gelernt wurden – das versäumte ich. Ausgerechnet in diesen Tagen wurde ich „verschickt“. Also nicht direkt als Paket – die Erwachsenen sagen nur so, weil ihnen nichts Treffenderes einfällt. Fast kann ich zu jenem Ziel laufen, von einem höheren Turm könnte ich bis dorthin schauen – aber doch gilt es als eine Art Ausland. Es geht wohl weniger um Luftveränderung, sondern mehr um eine reichlichere Speisegrundlage ohne Lebensmittelmarken, um mich für die Anforderungen der Schule zu stärken. Aber Psst! Es geht nämlich ins Wirtschaftswunderland. Ich reise also von Babelsberg, in der DDR gelegen, mit einer 30-Pfennig-Fahrkarte nach West-Berlin, in dessen amerikanischen Sektor, nach Nikolassee, (Stadtteil Berlin-Zehlendorf, der gleich an Potsdam-Babelsberg grenzt). Das sind abzüglich der langen, langen Zeit der nervigen Grenzkontrolle auf dem Bahnhof Griebnitzsee, etwa 8 Minuten Fahrzeit. In diesem kirchlichen Heim, meinem Ziel, gibt es außer Lebertran auch die „Schwedenspeisung“. Ich soll also beim Klassenfeind des DDR-Arbeiters kostenlos aufgepäppelt werden. – Und Lieder lernen wir, dort und singen diese inbrünstig, die hier – außerhalb des Hauses – kein Mensch versteht. Also ich singe auch und verstehe auch nichts – es ist eben alles ein bisschen sehr schwedisch und dafür wollen wir dankbar sein. So wie mir, muss auch dem einfachen Volk vor der Reformation zumute gewesen sein, wenn der Priester die Messe in lateinischer Sprache zelebrierte und alle mehr oder weniger andächtig auf's Wort lauschten, ihm auf's Wort glaubten – falls sie nicht zu müde waren. Hätte ich doch nur die Tante Inge hier, die so gut schwedisch sprechen kann.

Nur als Beispiel nenne ich euch mal aus meinem Gedächtnis den Anfang einer Liedzeile, die ziemlich gewiss kein Schwede lesen könnte und die geht so:

- Ge hit of de Lufte, det var 'n lullner Bur ...“. Schön, nicht wahr? Gewiss wird das in originaler Orthografie anders aussehen; ich zeige eben nur meinen phonetischen Eindruck zum Lied. Das fleißige Einstimmen darauf, gilt sozusagen als ein Dank an die freundlichen

skandinavischen Lebensmittelspender. Sechzig Jahre später bemühe ich den elektronischen Translator, um den Liedinhalt nachträglich genießen zu können aber das Dolmetschprodukt erzählt mir Märchen in der Art: Gib mir die Lüfte für den Krieg des Lullner Burschen“. Das kann es ursprünglich wohl nicht gewesen sein. Drum bin ich klug

als wie zuvor (Faust).

Oder auch jenes Lied:

- II: „Atte katte nova :II, eh misa, de misa, dulla misa deh. Hexa kolla misa woope…“.

Prachtvoll, dieses finnische Fischerlied! In Wirklichkeit völlig ohne Hexen! Hierbei zumindest konnte ich bald kräftig mit einstimmen, denn dieses Lied hatte ich schon bei Kramers gelernt und jene (vorher) von ihren schwedischen Verwandten

Und dann komme ich, sowohl geistlich, als auch körperlich frisch gestärkt, voller neuer Eindrücke aus einer ganz anderen Welt, doch noch in die heimatliche Schule auf der heimatlichen Scholle.


Schule

Spätsommerlicher Frühherbst. Meine Schwester spricht so weise: „Nun besucht auch Christoph endlich die Schule und ist besser ausgelastet, denn im Kindergarten mochte er ja sowieso weder die Kreisringelspiele tanzen, nicht die Laurentia (geheiratet hatte er ja wie ihr wisst schon im vorigen Jahr die Moni), noch wollte er das laute Wett-Geschrei der Kinder weiterhin ertragen."

Hurra! sage auch ich. Endlich komme ich in die Schule. In die aus roten Steinen gebaute Schule 30 in der Tuchmacherstraße 51, die gleich vorn am Anfang der Straße steht. Es ist hinter dem Eckgrundstück, auf dem das alte Weberhaus (Garnstraße 31) früher als lutherisch-reformierte Schule diente. Meine ist die gleiche Schule, in der unsere liebe Mutti ihr erstes Schuljahr verbrachte. Damals stand das Gebäude aber in der Auguststraße, heute in der Tuchmacherstraße – an gleicher Stelle.

Ich komme als der Neue hinzu, allerdings nicht am 1. September, dem Weltfriedenstag, sondern mit der bekannten Verspätung, am 17. Alle anderen Kinder kennen sich schon untereinander und die Lehrerin, Frau Schollmeier. Nun muss ich alles das „nachbüffeln“, was die anderen Kinder schon längst können und nach dem ersten Tag kennen alle mich – nur ich stehe noch vor einer größeren Anzahl von Unbekannten und das nicht nur beim Rechnen.

Der Klassenraum ist mit drei Reihen von Sitzbänken mit Schreibflächen aus Eichenholz ausgestattet. Das Mobiliar ist unverrückbar zusammengeschraubt. Die Schreibflächen besitzen Aussparungen, in denen die Tintenfässchen versenkt werden, damit diese nicht umkippen können. Die Öffnungen der Aussparungen sind mit einem Scharnierdeckel aus Blech abgedeckt. Unter der Schreibfläche befindet sich eine Ablage für die Schulmappe, für den „Ranzen“. Mein Besitztum ist pflegend gefettet aber jenes war nicht ranzig. Meine Schulmappe ist eine solche, in der innen (ihr wisst das schon) in großen Tintenlettern „Zauleck“ als Eigentumsbeweis geschrieben steht. Alles klar. Ein Erbstück also, keinesfalls ein „Fundstück“. Vor der ersten Bank der Mittelreihe steht der Lehrertisch – in den ersten Jahren noch auf einem Holzpodest, damit wir auch körperlich kleinere Pädagogen hinreichend erkennen können. Die Sitzbänke stehen auf den mächtig breiten Dielenbrettern, die in den Ferien wohl mit einer Terpentin-Ersatz-Öl-Mischung getränkt worden sind – wohl gegen Schädlingsbefall, zur Erhöhung der Haltbarkeit und zur Ästhetik – zeigen sie doch ein gepflegtes Schwarzbraun, ein „sattes“ Aussehen.

Vor uns steht die große Tafel, als freistehender A-Bock auf Rollen montiert. Sie hat zwei schwarze Schiefertafeln, die sich mit Hilfe von Seilzügen übereinander in der Höhe tauschen lassen und können zudem vorn und hinten beschrieben werden. Es stehen also vier Tafelflächen bereit, davon eine mit Karos für das Rechnen und eine mit der Lineatur für die Schuleingangsschrift, also mit Hilfslinien für die Ober- und Unterlängen von Buchstaben. Dank eines Doppelrahmens lassen sich die Tafeln in der Horizontalen um 360° und mehr drehen, dass heißt, auch die Vorder- und Rückseite ist problemlos wechselbar, so dass der Lehrer bereits einen Unterrichtsstoff als Tafelbild vorbereiten kann, ohne dass dieser gleich ablenkend sichtbar ist. Natürlich nutzen später die Schüler (als sie „aufgetaut“ waren) diese Möglichkeit auch, um mit Kreide Totenköpfe und ähnliches als Zeichenhilfe für den Lehrer vorzubereiten. Diese Tafeln kommen in einigen Jahren aus der Mode und modern werden ein knappes Jahrzehnt später Wandtafelmodelle, mit Seiten-Klapp-Flügeln und dann sogar in grünem Farbton. So freut sich darüber auch das Auge.

Zum Mobiliar, allerdings im ersten Schuljahr noch nicht in Nutzung, gehört auch der Kartenständer mit der Halteklaue am oberen Ende, die das Rundholz der Karteneinfassung greifen soll. Manchmal tut es aber auch ein Nagel in der Wand, über den die Kartenhaltestrippe gehängt wird. Vorn in der Zimmerecke an der Tür steht der hölzerne Papierkasten, der im Laufe seines Bestehens wohl schon verschiedene Anstriche über sich ergehen ließ aber trotzdem immer etwas traurig abgeschrammt aussieht.

Als Bildschmuck schaut von der Wand der Tischler Wilhelm Pieck (vormals KPD, jetzt nach dem Vereinigungsparteitag in der SED) mild auf uns herab. Über ihn kursiert ja die Geschichte, dass er schon früher ein so sehr ordentlicher Junge gewesen sei, der seine Sachen immer vorbildlich aufgeräumt hatte. Wenn es so stimmt, konnte er sehr gut die Schalmei und die Fanfare blasen. Eines schönen Tages suchte er und suchte seine Tuba, die er ebenfalls ganz vortrefflich zu spielen verstand, doch er hatte sie so gut fortgeräumt und konnte sich nicht mehr sogleich erinnern – wohin. Ich glaube aber, das gehört so mehr zu den spaßigen Gerüchten. Wo dabei genau die wirklichen Grenzen sind erkennt man nicht immer so leicht. Erst später (also zu meiner Zeit = jetzt) ist er unser erster Ministerpräsident der DDR und er wird auch der letzte mit dieser Funktions-Bezeichnung sein.


Zum Schulbeginn bekomme ich als Ermunterung (für uns alle zur Nutzung) ein schönes Würfelspiel. Es zeigt am Anfang einen Jungen, der das erste Mal den Ranzen trägt … und der dann am Ende des Weges nach acht Schuljahren, fröhlich von der Schule entlastet, ledig der Schultasche, in den nächsten Lebensabschnitt springt. Ob ich das auch so lange durchhalten kann? Acht lange Jahre?

Hier, in dieser Schule, kann ich aber nur ein Jahr lang bleiben, weil dieses Gebäude dann als Hilfsschule für lernschwächere Schüler auserkoren wird. Viel später wird die Schule dann Förderschule genannt. Besonders gefördert werden sehr gute Schüler und auch eher schwache Kandidaten. Für uns Durchschnitts-Menschen aber geht es bloß ganz normal weiter. Auch gut.

Ein tolles Ereignis: Heute war Vati an unserer Schule. Als „Gastlehrer“ sollte er in einer höheren Klasse einen Vortrag über die Eisenherstellung halten und wir (als seine Kinder) durften aus unserem Unterricht heraus und auch dabei sein. Vorher schon hatte er auf die Schiefertafel mit Kreide einen Hochofen mit seinen technischen Einrichtungen gezeichnet. Was er alles schwieriges berichtete weiß ich nicht mehr genau zu sagen aber es war spannend und sah sehr schön aus.


An einem Nachmittag in der Woche habe ich Religionsunterricht. Reli. Bei Fräulein Irmgard Dessin. Die Stunden werden in der Karl-Liebknecht-Str. 23 abgehalten. Mutti sagt zu diesem Kirchengrundstück immer „Priester 18“ aber wir verstehen das und übersetzen uns derartige veraltete Bezeichnungen mühelos ins Moderne. Fräulein Dessin ist eine Nachfahrin von Herrn Oberpfarrer Dessin. Später werden wir Reli bei Herrn Brandt haben, der in der Potsdamer Waldstraße 9, kurz vor dem Beginn der Ravensberge wohnt. Herr Brandt ist kein Feuerwehrmann, deshalb wurde gegen Verwechselungen ihm hinten auch noch das „t“ angehängt. Zu ihm wandere ich über den mit Pappeln gesäumten Horstweg oft mit einem meiner Schulkameraden – und so sind wir eine Reli-Klasse, bestehend aus zwei Jungen vor dem Lehrer. Der Klassenraum ist sein Wohnzimmer. Vor einer halben Generation waren es deutlich mehr Kinder aber „man“ wendet sich, möchte nicht auffallen, tut etwas sozialistischer ... ist eben selbst im Aufbau begriffen. Man schwimmt immer leichter mit dem Strom und deshalb so einige Leute in jeder Gesellschaft auch wieder stromlinienförmig in eine neu veränderte Richtung. Ich werde aber wahrscheinlich von etwas mehr an altgeschichtlichem Wissen nicht dümmer. –

Der Horstweg, auf dem ich laufe, überquert das Flüsschen Nuthe mit einer Holzbrücke. Die originale Stahlbrücke wurde im Krieg zerstört. An dem ersatzweisen Neubau hatte unter anderem auch Herr Erich Füssel (Wichgrafstraße 18) mitgearbeitet, als er aus der Kriegsgefangenschaft kam.


Entspannendes

Außer der Schule gibt es für uns noch andere süße Sachen. Dazu gehörten lose Bonbons, die „Maiblätter“. Das sind in großen Gläsern angebotene grüne Bonbons in der Form von Birkenblättern, oft mit Zucker überstreut, um dem Zusammenkleben entgegenzuwirken. Ebenso „Himbeeren“ – in der entsprechenden Form- und Farbvariante. „Brustkaramellen“, honiggelbe kleine Barren mit Eukalyptus-Geschmack. Alle werden den Gläsern mit kleinen Metallschaufeln entnommen. Des Weiteren gibt es das Stangenbonbon-Erzeugnis „Rox“ in kurze zylindrische Rollen geteilt mit einer farbigen Blüte in der Schnittfläche. Nicht vergessen wollen wir die Platten aus zwei Schichten: weißes und rosa Pfefferminz. Natürlich gibts' auch Lutscher am Stiel oder lange weiße Stangenbonbons mit grade längsverlaufenden oder spiraligen Streifen. Lecker schon beim Ansehen auch die kleinen „chanchierenden“ Bonbon-Kissen, die es später in größerer Abmessung auch als Einportionenfolienkissen für Haarwaschmittel geben wird. Vergleichbar aussehend – aber inhaltlich eben völlig anders. Und Zahnärzte gibt es auch.


Ballwurfspiel

An der Wand der massiv gemauerten Schuppen auf dem Hof finden die Einmann-Ballspiele auch der Mädchen statt. Der Ball wird an die Wand, die sowieso bar jeden Putzes ist, geworfen und dabei ein Vers aufgesagt. Der Ball soll von der Wand abprallen, in die Hände zurückkehren, darf nicht hinunterfallen, sonst erfolgt die Ablösung. Der Text des Verses wird während der Flugzeit des Balls panto und mimisch ausgemalt und dieser lautete etwa so:

Rotes Radieschen – eisernes Füßchen – armer Student – wäscht sich die Händ' – trocknet sich ab – kämmt sich das Haar – geht zum Altar – kniet nieder – betet zu Gott – steht wieder auf – geht munter nach Haus – trinkt ein Glas Wein – schläft selig ein.

Ach wie erhebend! Ich war noch lange beim Üben – alle anderen waren viel größer.


Angina tonsillaris

Im Herbst habe ich wie des Öfteren eine fiebrige Erkältungskrankheit mit einer Entzündung der Rachenmandeln. Das Azoangin, Tabletten, die vor dem Einnehmen aufgelöst werden müssen, dann so aussehen wie ein gesundes Eigelb aber ekelhaftig nach Krankheit schmecken, helfen auch mit Unterstützung des Salbei-Tees nicht schnell genug und nicht ausreichend. Zum Aus-Schwitzen der Krankheit verordnet Mutti eine Tablette Acetophen und eine große Tasse heißen Fliedertees. Das schönste an den Tabletten sind die dunkelblauen Kunststoffschachteln mit Schiebedeckel, fast wie ein verkleinerter Federkasten – (ich erwähnte es früher schon, hier nur erneut wegen der besseren Nachhaltigkeit). Es fehlt uns an einer Sauna. Deshalb wird der Hals mit einem warm-feuchten Wickel versehen. Sodann das Kind im Stück in das Laken und in Decken wie eine Mumie gewickelt und mit dem Federbett warm zugedeckt. Dann wartet dieses Bündel zwangsweise reglos der Dinge, die da kommen sollen. Es sollte so lange heiß sein, bis die Bakterienkolonien, die es sich auf den Rachenmandeln wohl sein lassen, den Hitzetod sterben werden. Also braten soll man im Stück oder schmoren im eigenen Safte. Nach Beginn des richtigen Schwitzens (untrügliches Zeichen: Schweißperlen im Gesicht), kann schon mal der Wecker gestellt werden. Von diesem Zeitpunkt an braucht es noch mindestens eine halbe Stunde bis zur Erlösung aus dieser erstickenden Zwangslage. Dann erst wird die Packung vorsichtig angelüftet und Mutti wäscht das Kind Stück für Stück, was es im Normalfall sonst selber tut. Aber eine Erkrankung ist eben nicht der gewünschte Normalfall. Die Prozedur des Schwitzens ist wohl recht kreislaufbelastend aber anschließend fühlt man sich bedeutend besser, fast wie neu geboren. Zur Versöhnung ob der durchstandenen Qualen gibt es eine große Tasse Milch und dort hineingebracht Weißbrotwürfel, meist mit Zucker oder wenn vorhanden, mit Kunst-Honig angereichert. Eine angenehme Entschädigung.


26. Dezember 1952: Im Westen soll es jetzt „Heimkinos“ für das Wohnzimmer geben. Zumindest hat der Allgemeine Rundfunk-Dienst heute die erste Nachrichtensendung in die wenigen Wohnungen zu diesen Geräten geschickt. Das Fernseh-Zeitalter hat heute für die Bevölkerung in Westdeutschland begonnen (in unsere Familie wird sie genau ein Jahrzehnt später Einzug halten).


Lola missachtet fremde Geschenke

Zum Geburtstag hatte ich ein Töpfchen mit Alpenveilchen (die Winterblume der Wahl) und ein

Töpfchen mit „Glücksklee“ bekommen, die auf dem Fensterbrett in der Küche stehen.

Für das Glück blieb nicht viel Zeit. Solch Umstand trat im Leben öfter ein. Unsere liebe schwarz-weiße Katze „Lola“, dieses räuberisch lebende Untier betrachtete dieses Pflänzchen als willkommene vegetarisch-vitaminöse Anreicherung ihres Speiseplanes und verspeiste „das Angebot“. Es muss ja nicht immer Fisch sein. Mäuse waren nicht zur Hand. Den daneben am Draht eingespießten Schornsteinfeger, so eine Art Tierscheuche und den Glück und Gesundheit verheißenden Fliegenpilz – („verstehe es wer will“, sagte Tante Käte dazu) hat Lola dagegen ungeschoren „am Leben“ gelassen.


Nach dem Weihnachtsfest...

... gab es viel interessantes zu tun. Ich bekam nämlich einen Baukasten von BoB. Also das ist kein amerikanischer Spender mit einem solchen Vornamen, sondern ein Steinbaukasten mit der Bezeichnung „Bauen ohne Bindemittel“ von der Firma Heinrich Huft aus Waldheim in Sachsen. Das Raffinierte daran: Ich brauche im Wohnzimmer überhaupt nicht mit Mörtel hantieren. Jeder der kleinen gebrannten Tonziegel hat oben mehrere Noppen (Erhebungen) und unten die dazu passenden Eindellungen, („Grübchen“). Die herrlichsten Bauwerke kann man damit errichten. Zu den Ziegeln gibt es auch Fenster, Türen, Dachschindeln und was noch fehlt, bastelt man aus Pappe und / oder Holzleisten dazu. (Viele, viele Jahre später wird man im Westen so 'was ähnliches aus leichtem Plast-Material nacherfinden und es „LEGO“ nennen).


Zu den Volks- und Weihnachtsliedern kommen auch viele Schlager. Es gehören dazu:

Blaue Nacht am Hafen

Lale Andersen

Der Bäcker bäckt ein Kuchenherz für

Lonny Kellner

Die süßesten Früchte fressen nur

Leila Negri und Peter Alexander

Egon

Friedel Hensch

Petite fleur, Sag Adieu (kleine Blume)

Sidney Bechet

Tabak und Rum liebt ein Cowboy

Bruce Low

Wir können uns nur Briefe schreiben

Sonja Bach

II: Wunderbar :II, diese Nacht so sternenklar

Zarah Leander


1953 – Mein 8. Lebensjahr, 1953 / 54: Das 2. Schuljahr

Christoph allein zu Haus. Fast.

Also nicht ganz allein, die Älter(e)n sind noch da – aber das erste Mal ohne meine große

Schwester. So, wie ich im vorigen Sommer „verschickt“ wurde, lebt sie jetzt (im Februar und

März) wegen des schönen Reizklimas an der Ostsee, in Boltenhagen, in dem kirchlichen

Wichernhaus“ zur Erholung. Da ist alles ziemlich heilich. Es scheint schon, dass sie dort tatsächlich bereits sehr gereizt ist. Heimweh hat sie auch, denn sie schrieb, dass ihr der liebe Gott gesagt habe, die Eltern mögen sie ganz schnell wieder abholen – und doch muss sie dort bleiben. Janz jemein – weil die Eltern eben nicht immer, wenn es auch noch so nötig scheint, auf Gottes Wort hören. Später erzählte meine Schwester uns, dass es im Essen statt eines Fleischstücks so viele Fettbrocken gab, die die Kinder stark machen sollten, die sie jedoch nicht hinunterwürgen konnten aber auch nicht auf dem Teller lassen durften, weil das eine große böse Sünde wäre. So suchten sich die Mädchen verschiedene irdische Auswege (die ich hier nicht ausführen darf), um dieses Problem zu lösen. Wie sollte ich, bitte, da von hier aus meiner Schwester Trost spenden?


Die neue Königin

Eine ganz richtig lebendige Prinzessin. Kein Märchen! Mein Ehrenwort!

Am 2. Juni 1953 besteigt in London Prinzessin Elisabeth, junge Ehefrau von Prinz Philip den Thron und steigt als Königin wieder vom Thron herab. Mit der Krönungszeremonie wurde sie Königin Elisabeth II. von England. Die Thronfolge überkam sie von ihrem Vater, König Georg VI., der am 06. Februar 1952 gestorben war. Die Lebenszeit von dessen Ehefrau, nun ist sie die/der Königin-Mutter, wird aber sogar bis in das nächste Jahrhundert gehen. und die Regierungszeit der Tochter Elisabeth wird weit in das nächste Jahrtausend hineinreichen. Die Zukunft weiß heute schon, wie weit das sein wird. Für uns bleibt es noch ein Geheimnis – vielleicht so lange, bis wir selber zu den Alten gezählt werden.


Der 17. Juni 1953

Mitte des Monats Juni herrscht eine große Aufregung in der Stadt. Im Land. Ein Aufstand droht. Den Aufständischen wird gedroht. Arbeiter gegen die regierenden Arbeiter. Die Regierung gegen Arbeiter. Die Regierung sagt: Wir sind die Arbeiter und die Bauern. Werdende Sozialisten gegen werdende Sozialisten. Die Volksregierung soll vielleicht durch eine Volksregierung abgelöst werden. Einige sollen vorher stürzen. Manches ist noch jung aber moralisch schon zu alt und hinfällig.

Angefangen haben soll es mit dem Streik der Bauarbeiter in der Berliner Stalinallee. Mehr Arbeitsleistung am Tag für relativ weniger Geld, Neuregelung der Arbeitsnormen soll die Festlegung der Regierung sein, was nicht zu vollen Verständnis führt, nicht zu sofortigem Kuschen führt. „Mann der Arbeit, aufgewacht“! Deshalb rollen gleich sowjetische Panzer gegen arbeitende Menschen durch die Hauptstadt. Das wird effektiver sein, als Gespräche zwischen Genossen und ihren Kollegen. Sowjetische Panzer hier und auch amerikanische Panzer dort – schon mal als Drohgebärde gegen die russischen. Jeder in seinem jeweiligen Stadtteil. Sehr dicht beieinander. Viel Militär und Fahrzeuge der Kasernierten Volkspolizei sind auch in unserer Stadt Potsdam unterwegs. Ostdeutsche Polizei und sowjetisches Militär. Das möchte doch wohl ausreichend sein, um den bedrohten Staat zu stützen. Hören wir, denn es ist wie öfter, schon sehr früh Sperrstunde, „Straßensperre“ und wir freien Bürger der DDR dürfen dann die Häuser nicht mehr verlassen. Die Angst der Regierenden vor ihrem Volk geht um. Auch jetzt wieder lose Blätter. Flugzettel. Aber zwei Tage später ist es äußerlich wieder ruhig. Es soll eine Anzahl von Bewohnern weniger geben, die dem wahren sozialistischen Aufbau im Wege standen, wird leise getuschelt. Harte Worte wie „Lindenstraße 54“ (Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit) und Abtransport nach „Sibirien“ fallen leiser, als vor einigen Tagen die Schüsse gegen die eigenen Bürger.


Näheres, nicht nur um die Ereignisse des 17. Juni 1953, steht in dem Dokument / der Datei Zeitgeschichte 1900 bis 2000 auf der gleichen Internetseite unter der Rubrik „Zeitgeschichte“.


Nun von der mittelgroßen Welt wieder in meine kleine:

Jetzt bekommt mein Federkasten Zuwachs, weil mein Bleistift im Laufe seines Lebens schon ziemlich kurz geworden ist: Eine Bleistiftverlängerung, um den Stift bis zum letzten Stümpfchen sorgsam aufbrauchen zu können. Das ist ein zylindrisches Holz, hohlgebohrt, also eine Hülse, unten geschlitzt, damit sich für eine Klemmwirkung der Durchmesser etwas verringern lässt und darüber ein Ring gestreift der das Ganze zusammenhält – natürlich erst dann, nachdem der Bleistiftrest hineingeschoben wurde. Derartige Probleme lassen sich einfach lösen.


Wir haben es gut,

Dazu trägt auch bei: Wir sehen im Kino den spannenden Abenteuerfilm: „Die Geschichte vom kleinen Muck“. Zwar kennen wir schon das Buch von Wilhelm Hauff aber der Farbfilm ist doch noch was ganz anderes. Es wird darin ja viel aus dem Orient vom Sultanshof gezeigt und berichtet aber wenn wir uns richtig orientieren, wissen wir: Der Film ist komischer Weise hier nebenan auf dem Babelsberger DEFA-Gelände entstanden. Der gesamte Palast ist dort echt aufgebaut und alle Wüstendünen, Scheihks, Wesire, Kalifen und Omane oder wie die heißen, extra hergeholt. Sogar der kleine Muck spricht deutsch, damit wir mehr davon haben. Ein toller Film!!!


Ferien

Zum Beginn meiner ersten Großen Schulferien, für das gute Zeugnis, bekommen wir von den Eltern ein Kaleidoskop (eine Pappröhre mit farbigen Glaselementen, 3 Spiegelflächen und einer Milchglasscheibe) was Mutti gewiss nebenan bei Tante Lene erwarb (Helene Runge, geborene Beerbaum, der Mutter von Muttis Cousin Hellmut Runge, „Schöne Spielwaren und Sportartikel“). Herrlich, welche symmetrischen Muster vielgestaltiger Art sich in vielen Farben dem Auge bieten. Es regt an, gleiches auch mit anderen eingelegten Formen und Farben zu probieren. –

Wir sind auch wieder mal in Berlin und unsere Familie besucht den Zoo, den Zo-ologischen Garten, wie man es richtig spricht. Ein großes Erlebnis. Zum ersten mal sehe ich ausländische Tiere, die man sonst nur aus Büchern kennt. Löwen, Tiger, Eis- und Braunbären, Affen, Elefanten und das Nilpferd „Knautschke“.



Die Spannung steigt auf das Doppelte

1953: Umstellung der Spannung des elektrischen Stromes in den Haushalten von 110 Volt auf 220 Volt. Glühlampen und einfache Geräte werden ausgetauscht, kostenintensive Geräte und Maschinen erhalten zusätzlich eine dicke Kupferspule, möglichst im Holzkasten. Das sind dann so genannte Vorschalt-Transformatoren, die die nun erhöhte Netzspannung auf die alte Betriebsspannung des Gerätes reduzieren.


Der Teppichwetzer

Ich baumele so gerne, auf meinem Stuhl sitzend, mit den Beinen. So denkt es sich besser. Die Beine sind inzwischen aber so lang, dass die Schuhsohlen dabei über den Teppich „schlurfen“. Vorwärts und zurück. Jetzt ist es soweit. Obwohl ich mir ein bisschen Mühe gebe die Beine still zu halten, ist der alte Teppich nun mit einem Loch versehen. Von mir. Ganz ohne Mühe. Schande. Bekannt ist es ja, dass selbst Albert Einstein beim Nachdenken wandern, sich bewegen musste, um die Gedanken leichter spielen zu lassen. Mancher von uns hat so seine Eigenheiten – andere sagen Unarten dazu. Nun klebt Mutti einen viereckigen Flicken drauf. Jetzt aber baumele ich nicht mehr.


Lieblingsgerichte

oder sagen wir lieber weniger streng juristisch: Lieblingsessen. Der Begriff „Leibspeise“ steht nicht in unserem familiären Duden.

Ab und zu können wir uns bei Mutti wünschend etwas bestellen. Besonders natürlich zum Geburtstag. Bei mir sind es immer wechselweise zwei Mahlzeiten, die wenig Ähnlichkeit miteinander haben. Entweder kurze Milchnudeln (oder Milchreis) mit Zucker und Zimt und ein zerlaufendes Margarineflöckchen obenauf oder aber geklopftes, gebratenes Fleisch mit Mischgemüse, junge Erbsen und Mohrrüben. Das Fleisch ist dann meist dann ein Kotelett (wo sind aber überhaupt die Schnitzel zu dieser Zeit?) Unser Vater redet dieses Kotelett stets mit „Karbonade“ an. Dabei war es überhaupt nicht schwärzlich angebrannt. Oder wollte er uns nur verkohlen? Eine Generation später, bei unseren Kindern, werden eher Nudeln mit Tomatensoße an der Listenspitze des Wunschzettels stehen oder Pommes mit Ketchup. Die letzten Begriffe waren zu meiner Zeit völlig unbekannt.


Auch Brausepulver ist eine beliebte Nahrung. Man braucht das Pulver nicht etwa erst kompliziert in Wasser auflösen, sondern kann es besser gleich als schmackhaftes Konzentrat mit dem angefeuchteten Finger aus der Portions-Tüte entnehmen und auf die Zungenspitze platzieren. Dort schmeckt und prickelt es. So praktizieren wir es. Die schwerste Entscheidung bei chronischem Pfennig-Mangel besteht in der Wahl zwischen grünem und rotem Pulver. Rot ist noch mehr 'was für Mädchen. Bei grünem ist die Mengenvorsicht geboten weil es „Waldmeister“ enthält, welches mit der Bezeichnung „Cumarin“ auch freundlich als Rattengift angeboten wird. Man schläft so friedlich ein. Das wäre verfrüht. Der Leistungskalender enthält noch viele unbewältigte Aufgaben und schon Herr Paracelsus meinte: „Die Dosis macht das Gift“.


Selbst weit von uns entfernt lebende Menschen denken an unsere eingeschränkte Nachkriegs-Lebensmittelversorgung. Im Sommer und im Herbst werden in West-Berlin gespendete Lebensmittelpakete aus den USA für DDR-Bürger zur Abholung bereitgestellt (Care-Pakete). „Selbstverständlich“ dürfen diese Spenden nach dem Willen unserer Regierung von den DDR-Bürgern nicht angenommen werden. Bei Kontrollen der Transportpolizei / Grenzpolizei und den Arbeiterkontrolleuren an der Grenze, werden den Bürgern diese Geschenke abgenommen. Ich entsinne mich eines Berichtes, wie ein Maurer einige Schmalzfleischdosen im Mörtel-Rückentragebehälter (Tuppe), versteckt zwischen doppelten Böden, von Westberlin nach Potsdam herüber bringen wollte und auf dem Grenzbahnhof Griebnitzsee alles ausschütten musste. Der wertvolle gespendete Inhalt landete somit gewiss in ganz anderen Bäuchen. Ich meine, eher in den Wänsten jener Leute, die es der Bevölkerung verbieten.

Auf irgendeinem Wege – so wie das „Schicksal“ es eben will, gelangt aus einem jener Care-Kartons eine Konservendose, mit Schmalzfleisch gefüllt, sogar bis auf unseren Tisch. Ein Fest.

Aber nicht nur Care ist uns bekannt – es gibt (in W.-Berlin) weitere Hilfsorganisationen, so beispielsweise die Schweden-Speisung und die Hilfen seitens der Religionsgemeinschaften der Quäker. Für uns DDR-Bewohner – alles verboten.

Dankbar sein darf man aber allein schon für die Gesinnung dieser helfenden Menschen, denn schließlich hatten die Deutschen erst vor einigen Jahren unermessliches Leid über andere Völker gebracht.


Care (Cooperative for American Remittances to Europe) ist ein Zusammenschluss privater Hilfsorganisationen, die zwischen 1946 und 1960 etwa 100 Millionen Lebensmittel-Pakete standardisierten Inhalts für die Bevölkerung nach Deutschland sandte.


Nachrichten aus dem riesigen Land des Großen Bruders

Wir erinnern uns der Liebe des Generalissimus Josef S. zu solchen elegischen Liedern wie: „Such' ich, ach, das Grab meiner Liebsten ... wo bist du, entschwundenes Glück?” Nu isser selbst so weit und jetzt, hoffentlich, wird ihm diese Frage eindeutig beantwortet. Vielleicht in seinem Seelen-Sinne? Wer weiß? Einer Wiedervereinigung steht prinzipiell nichts mehr im Wege, denn im Frühjahr stirbt der sowjetische Staatsführer J. W. Stalin, der in Georgien geboren war und nicht in Grusinien starb. Es hat sich für die Übergangszeit ein schnell gebildetes Nachfolge-Trio gefunden. Oder auch eine Troi. Die Troika: Molotow, Malenko und Chrustschow. Malenko bleibt mir sofort im Kopf haften. Immer wenn ich das sich hurtig bewegende Maschinengelenk von Muttis Nähmaschine sehe, denke ich unwillkürlich an Malenko. Ich brauch' kein Wörterbuch als Gedankenstütze. Die andern beiden muss ich mir erst aktiv einprägen. Es ist Staatstrauer um den Stählernen (sein selbstgewählter Künstlername) angeordnet. Viele sind traurig. Weinen bitterliche Tränen. Auch vor der Kamera im „Augenzeuge“, den relativ aktuellen Nachrichten im Kinofilm-Vorspann. Rahmen der Bilder die ihn uns vor Augen führen, bekommen einen schwarzen Schrägstreifen. Einen Flor. –

Stalin. Die von unserem Staat kurz gehaltene Trauerzeit ist vorbei. Durfte man zu Lebzeiten kein kritisch fragendes Wörtchen sagen ohne dass hochnotpeinliche Verhöre oder Strafen auf dem Fuße folgten, so wird jetzt „freimütig besprochen“, dass auf Stalins Befehle viele, viele hunderte, ja viele tausende Menschen, viele Gute, auch aus dem eigenen Land nach Sibirien verschleppt, zwangsumgesiedelt oder ermordet wurden. So plötzlich hat „man“, also auch die Partei- und Staatsführung der DDR es erkannt, kaum dass die letzten Umarmungen vorbei, die letzten Bruderküsse erkaltet sind. Ein schnelles sich Wenden. Da sage noch jemand, dass es keine Zufälle gibt. Stalins Bild beginnt in der Geschichte schnell zu schwanken. Nach Lenin der Beste der internationalen Sozialisten – eher eine Bestie? Es dauert nicht allzu lange, dann erhält auch unsere Potsdamer Stalinallee wieder den Namen: Berliner Straße. Nur in diesem Falle weiß man zuverlässig wohin die Reise geht.


Besuche in alten Häusern

Heute waren wir zur Hochzeitsfeier bei Tante Luzie in der Heinestraße 11. Das Haus ist innen so vornehm: Dunkles Holz, dunkles gepflegtes Treppengeländer, auf dem Treppenabsatz ein Fenster zum Hof aus farbigen Butzenscheiben, die das Licht nur sehr gedämpft hineinlassen.

Ähnlich vornehm und gedämpft erscheint es mir bei den Besuchen im Pfarrhaus bei Familie Iskraut in der Lutherstraße 1. Dort waren meine Eltern schon, als hier der Schwager von Pastor Wolfgang Iskraut, der Pfarrer Viktor Hasse und Pfarrer Mehlhase (der sonst hauptsächlich in der Priesterstraße residierte) ihren Dienst taten, bis hinein in die vergangene schwärzeste Zeit Deutschlands, als hier viele Antifaschisten der Bekennenden Kirche ein- und ausgingen, zu denen auch meine Eltern gehörten ... auch über den rückwärtigen Gartenzaun fort-stiegen, wenn die Gestapo vorn vor dem Haus stand.


Wieder als Besucher in Berlin

Ein warmer Sommertag. Heute sind wir auf dem Weg zu Tante Dörte und Peter Kühnbaum am Treseburger Ufer 44. Fast eine Weltreise. Mutti möchte als Gruß wohl noch ein Stück Seife mitbringen. In der Drogerie mit ihren verführerischen West-Düften ist vor uns eine andere Kundin dran. Wie anders das alles ist als bei uns zu Hause im Osten. Selbst schon die fremden Geldmünzen, wenige Kilometer entfernt von zu Hause – in einem fremden Land, wo die Verwandten wohnen – alles sehr nah und doch auch merkwürdig fremd, selten, etwa wie an Feiertagen. Ich sehe, wie die Verkäuferin den Preis in die Kasse tippt, aber laut einen höheren Preis zu ihren Gunsten nennt. Bloß ein Versehen, ein Zahlendreher. Schüchtern aber bestimmt mache ich auf den Fehler aufmerksam und bekomme als Lohn eine kleine hellbraune Werbe-Zahnpastatube Biox-Ultra. Mein erster Verdienst wegen positiven Aufmuckens. (Das wird später anders aussehen). Bald aber gibt es bei Kühnbaums auf dem Balkon, unter farbig gestreifter Markise Kaffe und Kuchen. Tante Friedel Liebnow aus Pankow-Heinersdorf, die Halbschwester von Tante Dörte ist auch anwesend.


Kohlen holen

Bei uns werden nicht nur Briketts angeliefert, wir Kinder holen auch welche mit dem Handwagen vom Händler. Warum? Unser „Verschlag“ oder „der Stall“ ist nur klein, er kann also nicht den gesamten Winterbedarf aufnehmen. In den 1950-ern gibt es auch immer wieder Versorgungsengpässe, so auch bei den schwärzlichen Presslingen, so dass eine „Etappen-Versorgung“ notwendig ist, die wir eben zum Teil selber erledigen. Wir holen Kohlen beispielsweise von

Die Briketts werden mit der Gabel / Forke in die hohe drehbare Mulden-Schütte gefüllt, die Feinabstimmung auf der Waage mit Gewichten vollzogen, dann schwenkt der Händler das Gerät über unseren Handwagen, kippt die Schütte nach vorn herunter und lässt „das schwarze Gold“ in den Wagenkasten rutschen, von wo die Kohlen polternd von ihrem Ankommen künden.

Jeweils 1 Zentner ist für uns angemessen. Beim Zentner handelt es sich um eine Maßeinheit, die wohl 1848 ungültig und von der 50-kg-Bezeichnung abgelöst wurde? Und doch ist sie stets aktuell!

Ansonsten bekommen wir in den Nachkriegsjahren auch nasse Rohbraunkohle, später Briketts und für den Eisenofen im Büro, selten und begehrt, die Eierkohle und Anthrazit. Körper und Lunge unseres Kohlehändlers sind natürlich auch schwarz. Auf seine Seele soll es nicht abgefärbt haben.

Das Heizen mit Kohle werde ich knapp 60 Jahre lang, bis zum 21. Dezember 1995 praktizieren. Anschließend werden wir in der neuen Wohnung mit einer Warmwasserheizung, gasbeheizt betrieben, verwöhnt.


Mangelerscheinungen.

Es gibt weitere Aufgaben für uns: Im Hause Ernst-Thälmann-Straße 26 (frühere Großbeerenstraße) gewinne ich meine ersten Erfahrungen im Wäsche-Kaltmangeln, also beim rollenden Wäsche-Plätten bei Raumtemperatur. Die Mangel oder Rolle kann man für eine Stunde Arbeit mieten; sie bleibt dabei aber an ihrem Ort. Diese Mangel besteht aus einem gewaltigen offenen Holzkasten, der mit Megalithen, großen Feldsteinen, gefüllt ist. Die Rollen dieses steinreich belastenden Kastens werden von einem großen Rad angetrieben und jenes wieder von einem Elektromotor, beide verbunden mit einer Pleuelstange, weshalb der Kasten stets vor und zurück fährt. Das sieht ähnlich aus, wie die Kraftübertragung bei einer Dampflokomotive. Fährt der schwere Kasten auf den zylindrischen Rollen über die Wäsche, wird diese dabei von den rollenden Holzwalzen glättet. Das jedoch nur dann, wenn man die Wäschestücke zur Vermeidung von Quetschfalten vorher akkurat eingelegt hat. Nie dürfen die Hände sich zu sehr der Einzugswalze nähern, an die die Wäschestücke übergeben werden, das könnte zu schwersten Unfällen führen. Der fertige Wäschestapel wird zum Schluss in das „Rolltuch“ eingeschlagen, um die Wäsche besser nach Hause tragen zu können.


Solanum Tuberosum – Sättigung für uns. Alle Leute kellern“ Kartoffeln ein.

Es ist in dieser Zeit gar nicht möglich mal schnell ein Kilogramm Kartoffeln aus der Kaufhalle zu besorgen! Erstens werden Kartoffeln nicht kiloweise abgegeben und zweitens ist der Name und die Einrichtung „Kaufhalle“ oder gar „Supermarkt“ überhaupt noch nicht bekannt. Sind Fremdworte unbekannter Art. Netze und Beutel hingegen sind zum Einkauf üblich – im Gegensatz zum Zeitraum 50 Jahre später. Dann gibt es hauptsächlich Plastiktüten, schändlicher Weise zur einmaligen Benutzung. Falls man nicht selber bewusster lebt und handelt.

Aber zurück zum Thema: Wenn also die Kartoffeln im Herbst für alle Mieter kommen, muss ich dabei sein. Die Hausfrauen stehen, soweit sie die Zeit aufbringen, schon mit den Kartoffelkarten in der Hand wartend da. (Kartoffelkarten deshalb: Lebensmittel kann man nicht frei kaufen. Weil sie knapp sind, werden sie je Person und Zeiteinheit eingeteilt, rationiert, zugemessen und von der Karte die jeweils verkaufte, dort aufgedruckte Mengenangabe abgeschnitten). Jene Bürger, die keine Wartezeit mit Plaudern verbringen können, merken die Ankunft später, brauchen nicht drängeln, sind eben zum Schluss dran, bekommen auch ihren Teil. Aber ich bin eben der stellvertretende Platzhalter und Bescheidsager.

Vor der Kartoffelankunft ist es mir aber bange – wenn die Pferde, die die schweren Wagen ziehen unter der Bahnunterführung dann mit den blanken Hufeisen vom stumpfen Asphalt auf die glatten Kupferschlackesteine der Fahrbahn treten und darauf rutschen wie auf Eis – sah und hörte ich sie vor meinen geistigen Augen und Ohren stürzen, weil es ja auch einmal passiert war und ein Polizist den Schmerzen des Pferdes bei dessen Beinbruch mit seiner Dienstwaffe ein Ende bereitete. Und das zweite Pferd musste das alles mit ansehen und anhören.

Meist herrscht um diese Zeit ein beständig mild-trockenes September-Wetter, so dass die Kartoffeln auf den Hof geschüttet werden. Jedem Mieter einen Kartoffelhaufen an einer anderen ausgewählten Stelle des Hofes.

Auch für unsere Familie sind es einige „Zentner“ – die müssen dann reichen bis zum nächsten Jahr um diese Zeit. Vielleicht gibt es vorher auch einige neue Kartoffeln. Es bleibt dabei die ewig junge Frage: Wann werden neue Kartoffeln von ganz alleine alten Kartoffeln? Grenzwerte stehen nicht im Kalender. Jetzt werden die Knollen vereinzelt, ausgelegt, damit sie besser nachtrocknen. Das anschließende Sortieren geht in drei Fraktionen: Die guten Kartoffeln, angehackte Knollen, die zuerst verbraucht werden müssen und sehr kleine Exemplare, die wir zu Pellkartoffeln auswählen. Erst nach dem Trocknen wird „eingekellert“. Angehackt sind verschiedene Kartoffeln daher, weil sie bei der Ernte mit der Handhacke aus dem kleinen angehäufelten Damm gezogen aber dabei auch manchmal, weil noch nicht sichtbar, getroffen werden. Später besorgen dieses „Ausbuddeln“ dann Maschinen hinter dem Traktor. Erst der Schleuderradroder, der immer nur die Kartoffel eines Damms freilegt, man kann auch sagen: mit dem Schwung der gebogenen Stahlzinken freifegt, später der Siebketten-Vorratsroder, der behutsam pflügend unter mehrere Reihen greift, die Kartoffeln und die Steine anhebt und sie über ein Sieb geleitet, nach hinten wieder ablegt. Dabei gibt es kein Gehacktes. Einige Jahre darauf wird die Kartoffel-Vollerntemaschine, die Kombine, als völlig neue Generation auf den Plan kommen, die die Knollen auch gleich aufsammelt und die man komischer Weise ausgerechnet bei uns englisch aussprechen soll. Es wird dann also eine „Kombein“ sein. Das alles werde ich aber erst in einigen Jahren wissen, wenn ich in eine Ausbildung zum Landwirt hinein schnuppere und die Kartoffeln schon vor ihrer Ernte auf dem Acker besuche.

Von den Wintereinkellerungskartoffeln habe ich einige Jahre immer die Keime abgeknipst. Später gibt es dann das Streu-Pulver namens „Keim Stopp“. Wahrscheinlich ist diese Chemie schlimmer, als das Abknipsen. Wir haben einige „Ein-Zentnerkisten“ und eine größere „Horde“ mit schrägem Boden und Austritts-/ Auffangkasten, so dass sich die Kartoffeln selbst in Bewegung halten – beim Nachkullern, wenn welche entnommen werden. Im Winter werden die Kartoffeln nochmals „ausgelesen“, damit möglichst wenig Fäulnis-Ansteckung auftritt, wenn mal eine erkrankt ist.

Der Keller in unserem Miethaus ist insofern unangenehm, als dass durch welche winzigen Ritzen auch immer, dort einige Nacktschnecken ihren Lieblingsplatz haben.


Getränke

An Getränken steht für uns Kinder hauptsächlich Kräutertee bereit, auch Fruchtsirup aus der Flasche, der dann im Trinkbecher auf ein verträgliches Süße-Maß mit Wasser (etwa 1:15 bis 1:20) verdünnt wird. Die Presseaufrufe: „Bürger, beugt Infektionen vor! Nur abgekochtes Wasser trinken“, befolgen wir strikt – wie alles Gute was angemahnt wird.

Auch gibt es mal Malzkafe sowie, um wieder zum Thema zu kommen und das salzig wohlschmeckende „Abgiesswasser“ vom Kochen der Kartoffeln.

Dann nehmen wir gern noch eine spezielle Erfrischung zu uns. Es ist etwas, dass so etwa in der Mitte zwischen zwischen Essen und Trinken liegt: Saure, dicke Milch. Ausgangsprodukt: möglichst Vollmilch. Das ist Milch von der Kuh, deren ursprünglicher Fettgehalt auf 2,5 % Fett reduziert und damit handelsüblich wird. Diese gibt man in eine Schale und rührt etwas Zucker hinein. Das Ganze bedecken wir mit einem Teller und denken am besten nicht mehr daran, vergessen es. Nach drei Tagen erinnern wir uns und schauen nach. Die Milchoberfläche hat eine dichte Schicht („Pelle“) und die Milch ist süß-säuerlich, dick geworden – während unserer Abwesenheit haben Mikroorganismen fleißig daran gearbeitet – eine schmackhafte, gesunde Erfrischung. Achtung!!! Das geht nur mit naturbelassener Milch. Pasteurisierte Milch, „H“-altbar gemachte Milch würde lediglich schlecht werden, ekelhaft bitter schmecken.

Das Thema „Brausepulver“ hatten wir ja schon. Pulver, das auch völlig ohne Wasser genießbar ist.

Denken wir auch ans Winterhalbjahr. In dieser Zeit werden wir abends wieder öfter Brühe von aufgelösten Brühwürfeln trinken. Kleine alte, leere Behältnisse solcher Erzeugnisse haben wir noch von Maggi und Knorr – aus alten Zeiten für den Kinder-Kaufmanns-Laden. Aktuell trinken wir aber eher aufgelöstes Bino. „Koche mit Liebe – Würze mit Bino“, aus dem VEB ...


Speise-Eis

Als Lohn für besondere Leistungen oder bei schönen Anlässen gibt es außer einem extra leckeren Abendessen auch (selten) zwischendurch ein Eis – gleich nebenan in der Bäckerei / Konditorei Weber wird es hergestellt. Schon das Zusehen bei der Vorbereitung der Einzelportion ist ein Genuss – wie die untere Waffel in die Blech-Form (den Portionierer) gelegt wird, die Form mit dem Eisspatel voll des köstlichen Eises gestrichen, Überschüsse mit dem Spatel egalisiert und als Abschluss die Deckwaffel aufgelegt wird – bis wir dann zum Ende dieser Vertragshandlung den fest umkrampften Schatz von 15 Pf als Gegenwert hingeben. Später kommen dann als Variante zur Auswahl der Waffelgebäckform je 2 Muschelhalbschalen hinzu, viel später die Waffelteigspitztütchen, die mit dem Kugelportionierer gefüllt werden. Das geht bedeutend schneller. Schade nur, dass zum Schluß nach dem kühlen Eis, der Waffelgeschmack bleibt.

Unser Vater legt beim Ausreichen des sauer verdienten Geldes (die Eltern verzichten auf eine Portion für sich selber) Wert darauf, dass eine kleine Menge Eis erworben wird – mit der scherzhaften Begründung „sonst verkühlt Ihr Euch noch den Verstand“.

Da wir gerade beim Bäcker und seinen Waren sind: Zu Hause wird Brot wohl nie alt. Hartgewordene Brötchen gibt der Bäcker verbilligt ab. Diese werden zu Hause grob zerkleinert und durch den gusseisernen „Fleischwolf“ gedreht. So entsteht fast vegetarisches Fleisch. Solche Brötchen werden also zu Semmelmehl verarbeitet. Kein Krümchen an Nahrung darf verderben.


Lieder

In der Schule lernen wir die Lieder:

Aber im Radio hören wir auch die kleine Conny aus Westberlin (Cornelia Froboess, ursprünglich aus dem östlichen Wriezen stammend) die uns mit „Pack die Badehose ein“ und anderen Liedern lockt. Auf unserem DDR-Sender des gleichen Radioapparates wird uns dieses Lied bald ebenfalls vorgesungen oder richtiger: nachgesungen, hier allerdings ohne Comics und solches Zeug im Text und auch der West-Berliner Wannsee wurde allgemeingültig zum Waldsee umgedichtet, denn dort, zum Erstgenannten, kann ja nicht jeder hin. So wie wir – auch nicht. Aber von weitem zum Wannsee sehen, das ist möglich. Umgedichtet erhielt das Lied seinen DDR-heimatkundlichen Bezug ... verschwand aber bald wieder von der „Bild- und Hörfläche“.


Lieblingsgeschirr

Hier ist mitnichten die Rede von meinem Großvater und dem Lederzeug seiner Pferde.

Unter allen Tisch-Geschirrteilen ist mir eine vormals großelterliche einzelne Tasse, die demzufolge zu keinem Geschirrsatz mehr gehört, am liebsten. Sie ist meine Lieblingstasse. Eine große, einfache, zylindrische Tasse aus dickwandigem Material. Später wird man in unserer Region sagen – „ein Kaffeepott“ oder im Süden: „ein Haferl“, 300 ml Inhalt. Das für mich Besondere an der Tasse: Sie ist fast weiß aber eben auch nicht völlig, sondern mit einem „Stich“ ins Bläuliche. Sie ist lichtdurchscheinend aber nicht durchsichtig. Sie besteht aus Opalglas. Tante Käte sagte dazu: „Französisch' Glas“. Also – über einen derartigen Schatz verfüge ich! Doch ich muss heute (2016) sagen: Es war einmal, denn leider ging sie irgendeines unguten Tages trotz ihrer Stabilität zu Bruch. Möglicher Weise in meiner Abwesenheit – und ich sah ein solches Modell nie wieder.

Sehr gern mag ich auch unsere rosafarbenen Glas-Kuchenteller, mit dem künstlerischen Muster-Schliff an der Unterseite. Zu den selteneren festlichen Gelegenheiten kommen sie auf den Tisch. Meist werden sie dabei vom Kuchen „fast zugedeckt“, so dass man sie in voller Schönheit selten länger sieht – bleiben also immer etwas Besonderes.


Geschätzte und freundliche Geschäftspartner meiner Eltern, die hier geehrt werden:


Bestrickende Dienstleistungen

Meine große Schwester erlernt das Stricken mit Nadeln. Ich bediene mich derweil mal der Strickliesel, um Seilgestricke zu fertigen; manchmal werden es auch Strickseile. Damit meiner Schwester das Üben nicht so schwer fällt, um also die erforderlich Ausdauer zu fördern, gibt es zur Anregung des Fleißes für sie ab und zu ein so genanntes Wunderknäuel. Wer bei emsigen Stricken dabei das Wollknäuel abrollt, legt dabei kleine Täfelchen Schokolade oder Bonbons frei, die dort, vorerst unsichtbar, eingebunden sind. Aber eben nur, wenn man fertige Knäule geschenkt bekommt. Ansonsten werden ovale „Doggen“ des Wollgarns erworben, die dann über die beiden senkrecht hoch gehaltenen Hände des kleinen Bruders gestülpt werden, der sie straff halten muss und zeitgleich für einen glatten Fadenlauf zu sorgen hat, bei jeder Runde des Knäuelwickels, also fast in jeder Sekunde, so locker kurz in den Handgelenken abgeknickt und sofort wieder streckt, dass die Fadenlage sich beim Aufrollen zum Knäuel gut abnehmen lässt, ohne dass aber eine Fadenlage herunter fällt. Eine verantwortungsvolle und deshalb schweißtreibende Arbeit.


Schon wieder an Kohle denken – eine ständige Aufgabe

Die Fußwege werden zu winterlicher Zeit von den Bürgern selbstverständlich gestreut, abgestumpft. In Ermangelung von Streusand oder gar Kies, nehmen viele Leute Kohleabrieb, den so genannten Kohlengrus, der ansonsten gern mit verfeuert wird. Manche Leute nehmen sogar die Asche der Brennstoffe. Jene schmiert aber gewaltig wenn der Schnee auftaut. Mit solchen versehentlich beaschten Schuhsohlen darf man sich natürlich nicht in die Wohnung trauen.

Bevor die Briketts für die nächste Heizsaison geliefert werden, und das ist meist in der wärmeren Jahreszeit der Fall, werden aus Platzgründen die Reste des Vorjahres noch einmal aufgestapelt und der Grus in kleinen selbstgefertigten Zeitungstüten portioniert.

Ganz wichtig: Fährt der Kohlelastwagen nicht mit gefüllten 50-Kilogramm-Säcken (man sagt aber meist „Zentnersäcken“), sondern mit losen Briketts, die erst beim Abladen mit großen Gabeln in Rückentragekiepen eingegeben werden, gehen wir Kinder mit dem Eimer in der Hand den anfangs hochbeladenen Fahrzeugen hinterher, um die in scharfen Kurven herabgeschleuderten „Rekord-Briketts", diese „Streuverluste“ geschwind zu bergen. Der Autofahrer beachtet das nicht weiter, so dass uns nichts anderes übrig bleibt als die Straßenverschmutzung zu beseitigen, diesen Schatz sorgsam zu Hause im Schuppen einordnen. Das aber kommt seltener vor. Es ist aber ist im Gegensatz zum Aufsammeln der Flugblätter erlaubt. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Verbleib und der Verwertung der Ausscheidungen von Zugtieren. „Pferdeäppel“ sind sehr gefragt für Kleingärten. Der Fuhrwerkslenker braucht sich nicht um die Straßenreinigung kümmern, kann sich getrost seinen anderen Sorgen zuwenden.


Das Jahr neigt sich seinem Ende zu

Zum Weihnachtsfest gibt es für mich einen „Stabilbaukasten“, der mit dem eigentlichen Anlass des Festes zwar wenig zu tun hat, aber ein tolles Konstruktionsmaterial aus Lochstreben, Lochplatten Schrauben, Muttern, Rollen und Rädern bietet, kurz, ziemlich alles, was ein junger Metallbauer so in seinem Leben braucht. So vergesse ich die Welt um mich herum, habe ständig „viel zu tun“ – außer mal schnell beim Geschirrabtrocknen zu helfen oder mit Struppi eine Runde zu gehen, damit er die Bäume gießen kann. Mit dem Baukasten-Inhalt kann man mit oder ohne bildlicher Anregungen die kühnsten Bauwerke ... Türme, Windmühlen, Blechhütten, Lastautos, Krane und sonst 'was bauen. Grenzen setzen eigentlich nur der Finanzhaushalt der Eltern und die eigene Phantasie, sonst könnte man mit Ergänzungsbaukästen ... ach, ein Ende wäre nicht abzusehen. Weil es aber nicht in dieser Art ging, muss ich immer mal wieder ein Wunderwerk abbauen.

Pädagogisch-polytechnische Anregungen für konstruktiv-kreatives Gestalten in bester Form.

Von der Mitarbeiterin der Eltern, von Muttchen Dyck bekam ich sogar auch etwas: Das gerade neu erschienene dicke, 519 Seiten umfassende, Indianerbuch „Die Söhne der Großen Bärin“, von Liselotte Welskopf-Henrich. Ich suche jetzt einige Bilder der Prärie-Indianer und der Landschaft ihres Lebensraumes, um das Buch noch ein bisschen zu ergänzen.

Wenn andere Jungen sagen würden: „Ich habe dies oder jenes >gekriegt<", würde Frau Dyck immer sanft darauf hinweisen, dass man besser sagt, dass man es „geschenkt bekommen“ hat. Sie achtet sehr auf eine gute Sprache (nicht nur wenn es an „Krieg“ erinnert) und ich lerne dankbar dabei auch von ihr. Ihren guten Rat kann man einfach nie „in den Wind schlagen“.


Ach, eh' ich's vergesse: Einige der Schlager des Jahres '53:


Anneliese, ach Anneliese, warum bist du böse auf

Hans Arno Simon und Heinz Woelzel

Bravo, bravo beinah' wie Caruso

Vico Torriani

II: Glaube mir :II meine ganze Liebe gab ich

Komponist Rudi Schuricke

Jambalaja. In Peru, in Peru in den Anden, gibt's

Fats Domino // Gerhard Wendland

Man müsste noch mal Zwanzig sein und so ver-

liebt wie ... Willi Schneider

Was kann schöner sein? Que sera, sera. What ever will be.


Doris Day // Lyss Assia


1954Mein 9. Lebensjahr, 1954 / 55: Das 3. Schuljahr

Winterfreuden

Am liebsten sind wir im Park Babelsberg auf den Rodelbahnen am Flatowturm unterwegs. An der breiten Bahn in Richtung Karl-Liebknecht-Fußballstadion (Karli). Auch auf der schmalen, vereisten und damit sehr schnellen „Todesbahn“, die zu der vorgenannten parallel an deren rechten Rand verläuft, gibt es so manche Schussfahrt. Wegen der Gleichberechtigung besuchen wir aber auch mal den Idiotenhügel für Babys mit der Kurzstrecke am Kutscherhaus unterhalb der Gärtnerei. Im Sommer hatten fleißige Aufbau-Helfer-Hände eine geschwungene Bahn am Abhang vom Turmvorplatz in Blickrichtung Kindermann-Weiher tief eingrabend geschippt. Unter der Brücke hindurch, auf der Kaiser Wilhelm I. mit dem damals künftigen Reichskanzler Bismarck verabredet hatten, dass lieber dieser die kaiserlichen Regierungsgeschäfte übernehmen solle. Ob diese Rodelbahn dem Kaiser in seinem Schlosspark gefallen hätte? Nun vielleicht – wenn der Landschaftsgestalter Peter Joseph Lenné sie eine halbe Generation vorher fachkundig angelegt hätte ... aber für uns nun diese viele Mühe ... und da geht ja nun gar nichts – ich meine: auf dieser neuen Kunstbahn unter der alten Brücke. Schade um die Arbeit, schade ums Geld. Das ist keine richtige Bahn, wenn es auch gut gemeint war. Man hätte die Kinder fragen sollen. Und überhaupt: Wir sind mit den bisherigen Rodelstrecken zufrieden.

Das stille Gleiten auf dem weißen Schnee ist natürlich kein wirklich leises Vergnügen. Wegen Querläufern muss man immer mal wieder laute Warnrufe wie „Bahni!“ oder ähnliches losschicken und zahlreich Kuh- und andere Glocken geben ein Konzert. Das wieder Bergauf-mühen geht leiser und schweißtreibender vor sich. Schnell vergehen diese Nachmittage.

Der Hinweg zum Park ist immer viel kürzer als der Rückweg, wenn man dann doch schon etwas müde, hungrig und mit nassen, halbgefrorenen Strickhandschuhen in der Dunkelheit unter dem trüben Gaslaternenlicht, das nicht mehr als einen traulichen Orientierungsschein abgibt, wieder der heimischen Wohnung zu schleicht. Das Halbgefrorene liebte übrigens der Fürst Pückler so sehr, der in der Nachfolge von Lenné hier ebenfalls manches prächtig gestaltete. Zu Hause angekommen, besteht dann noch die Aufgabe, die Stiefel mit Zeitungspapier auszustopfen, was mehrfach zu wiederholen ist, sobald sich das Papier feuchtgesaugt hat. Schnell trocknen ist wichtig, weil die Stiefel ja wieder benötigt werden, „aber nicht zu dicht an den Ofen, die Hitze macht das Leder hart“. Dass sie täglich zu fetten / zu putzen sind, versteht sich von selbst. Wir möchten das ja auch gern.


Ganz andere Erinnerungsgefühle stellen sich ein, wenn wir, meine Schwester und ich, Tante Käte mit dem Rodelschlitten aus der Pestalozzistraße 10 zum gemeinsam zu begehenden Weihnachtsfest abholen – wenn genug Schnee liegt. Wir froh gestimmt, ausgeruht, warm und trocken. Trotzdem – nicht zu vergessen – eine verantwortungsvolle Aufgabe, bei der man keinen übermütigen Quatsch machen darf. Der Schlitten mit der Käte drauf darf nie umkippen. Man darf ihn, den Belasteten, aus Spaß mit der Leine also höchstens ein ganz kleines bisschen schleudern.


Auf dem Schulhof entstehen in jedem Winter sehr schnell herrliche Schlitterbahnen aus Eis. Es ist unsere wichtige Pausenarbeit, die uns leider unser Schulhausmeister, Herr Roelofsen, immer wieder zerstören muss, obwohl, wie jedes Kind schon weiß, man auf stumpfen Bahnen oder auf dem Teppich viel schneller stolpert und stürzt, als wenn man auf glatten Bahnen schnell, sanft und verhältnismäßig elegant entlang gleitet.


Was wir so lesen

Da ich das Lesen nun flüssig beherrsche, bin ich der „Oma Schmidt“ mit ihrem Zeitungskiosk bis zum Ende, also bis zu dem ihrem, ein treuer Kunde. Nachdem die gute Seele sich aber von ihrem räderlosen Verkaufswagen und bald darauf generell von dieser Erde verabschiedet hat, tritt bei mir eine Versorgungszäsur mit Erzeugnissen der sozialistischen Presse ein. Nach geraumer Zeit wird an gleicher Stelle ein neuzeitlicher Kiosk des Postzeitungsvertriebs aufgestellt. Ach wie modern doch der Neue ist oder sogar postmodern: So mit schrägen Wänden, die nach oben auseinander streben, gelb, schwarz abgesetzt, mit großen Glasscheiben versehen. Mit seinem Aussehen verdrängt er meine bisherigen Eindrücke ein wenig in das Reich der Historie. Dieser Verkaufskiosk wird an jener Stelle aber erheblich kürzere Zeit stehen, als der aufgebockte Schmidt-Wagen. Auf mein „warum?“, gibt es für mich keine Antwort. Es wurde so entschieden.

Die Frösi („Fröhlich sein und singen“) und die „ABC-Zeitung“ durfte ich kaufen sowie hin und wieder auch die Atze und das Mosaik. Manches konnte ich aus meinem kleinen finanziellen Budget selber bestreiten, das ich mit dem Erlös vom Sammeln der Altstoffe wieder auffüllte.

Dort gibt es auch den frechen „Frischer Wind“, den Vorläufer des späteren „Eulenspiegel“.

Unsere Mutti mag besonders Geschichten von Johanna Spyri (wie „Keiner zu klein – Helfer zu sein“ oder „Gritlis Kinder“ – meine chice Großcousine heißt auch Grit –. Oder Schriften von Sophie Reinheimer (für Kinder vermenschlichte Naturgeschichten) oder Bücher von Adalbert Stifter und Peter Rosegger. Ich aber wende mich lieber anderen Werken der Literatur zu. Zu den Büchern, die ich verschlinge, gehören:


und aus Westdeutschland geschickt bekamen wir, meist zu Weihnachten, über mehrere Jahre verteilt:


Für die Pausen beim Lesen in den Büchern haben wir ganz tolle Lesezeichen: Von der Sächsischen Landeslotterie und von der Deutschen Volkskunstausstellung. Diese halten wir genau wie die Bücher sehr in Ehren (das bedeutet, ich besitze diese Lesezeichen auch noch nach sechs Jahrzehnten).


Die Eltern halten die BNN (Brandenburgische Neueste Nachrichten) als Tageszeitung, die nach dem Lesen zu vorzüglichem Toilettenpapier umgestaltet wird (denn Rollenkrepp-Papier haben wir noch nicht. Manchmal gibt es auch „Der Morgen“ (Das Blatt der LDPD – der Liberal Demokratischen Partei Deutschlands, in der DDR).


Radiosendungen

Der Sender RIAS – „eine freie Stimmer der freien Welt“ (Radio im Amerikanischen Sektor – von Berlin) steht ja bei uns gleich nebenan, nur auf der anderen Seite der „Interzonengrenze“. Über Jahre wird die Sendefrequenz des RIAS laut von einem Störsender der DDR überlagert, der nichts weiter sendete, als ein lautes Qui, qui, qui in Form einer akustisch aufgedrängten Sinus-Schwingung – aber wir wollen nun hier mitten im Kalten Krieg nicht auch noch französisch hören oder reden. Dieser Störsender stört also, wie es ja seine Aufgabe ist, das Zuhören erheblich, ganz vortrefflich. Die Regierenden, die nur das Beste wollen und vor allem eine ganz friedliche Koexistenz täglich erkämpfen, ärgern sich viel ärger, als Kinder es tun würden. Trotzdem hören wir in dieser Zeit gerne, weil wir das Stören im Geiste ja herausfiltern, ausblenden oder überhören:


Der 1. Mai ist ja immer ein Festtag. Und heute ein noch ganz besonderer.

Zum Ersten: Es ist der Kampf- und Feiertag der Werktätigen. Was wird hier, wer soll hier immer wieder noch weiter bekämpft werden? Kämpfen sollen doch nur die Arbeiter im Westen gegen die sie ausbeutenden Kapitalisten. Wir protestieren hier auf unserer Seite ein bisschen. Also aus Solidarität mit unseren armen Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite. Die Regierenden drüben (oder die „Bonner Ultras“, wie Walter Ulbricht es so gerne sinnreich formuliert) werden schon seh'n, was sie davon haben. Oder aber: Völker höret die Signale, auf zum letzten Gefecht. Die Internationale erkämpft das Menschenrecht – das läuft in die gleiche Richtung.

Zum Zweiten haben die Eltern das Begehen des Datums der Geschäftsgründung.

Und in diesem Jahr extra drittens: Die Eltern offenbaren uns – wir bekommen von Ihnen ein Geschwisterchen … und das so ganz zwischendurch, noch lange vor Weihnachten, noch im Hochsommer. Nur ob es ein Mädchen oder ein Junge sein wird bleibt noch (allen!) ein Geheimnis.

Na dann nur zu, denn es wird ja auch Zeit – und herzlich Willkommen.


Das Schlafzimmer – heute für uns sturmfreie Bude, denn die Eltern fahren nach Berlin

Im Obergeschoss, welches wir uns mit den Mitmietern, dem Ehepaar „Schubert“ teilen, liegt das gemeinsame Schlafzimmer (ohne Ehepaar Schubert) für uns vier Menschen, das man direkt vom Treppenhaus aus betritt. Deshalb soll man sich beim Schlafen immer etwas leise verhalten. Durch die Fenster in der Haus-Südseite lugt die Sonne und die Lindenblätter winken zu uns herein.

Wir sind hier auf Augenhöhe mit den S-Bahn-Zügen, dem Bahnhof Babelsberg gegenüber. Deren Ankommen und Abfahren stört uns nicht. Wir empfinden es eher als „la musice“. Wären Züge ausgefallen, hätten wir vielleicht nicht schlafen können.

Betritt man unseren Schlafraum und blickt zum Fenster, stehen links die Ehebetten der Eltern darüber an der Wand ein Großbild mit gar lieblichem Elfenreigen auf der Wiese am Wasser mit Schwanengetier, das Ganze gerahmt in Goldbronze. Am Fenster, jetzt wieder außerhalb des Bildes, steht die Frisierkommode mit dreigeteiltem Spiegel. Auf der rechten Seite des Zimmers die Kinderbetten vor einer hölzernen Wandverkleidung mit weißem Farbanstrich. Es ist eine kalte Außenmauer, deshalb die Wandverkleidung. Weiß ist auch das Stahlrohr-Bettgestell, am Kopfende aber mit einem „güldenen“ Ring geziert. Nur deshalb denkt niemand, es könnte aus dem Krankenhaus geliehen worden sein. Den Abschluss des Mobiliars bildet dann der große dreitürige Kleiderschrank.

Fahren unsere Eltern, so selten es auch ist, nach Berlin ins Theater, kann man bei ihrer Abfahrt aus unserem Schlafzimmer im Obergeschoss zur S-Bahn Hinüber- und Herüberwinken. Bei der Rückkehr gestaltet es sich schwieriger.

Zur Erläuterung für Außenstehende: S-Bahn kann Stadtbahn bedeuten oder Schnellbahn, nur mit der MITROPA hat sie nichts zu tun, woran man eigentlich zuerst denken könnte. Wir können also sehr gut prüfen, ob die Eltern auch zuverlässig abgefahren sind, ob „die Luft rein“ ist. Schöne Zeiten. Sonnenbeschienene Sternstunden. – Obwohl: vorher war es bei schönem Wetter etwas schwierig, so zeitig vom Hof hereinzukommen. Es war draußen beim Spielen eben auch sehr schön. – Unser Leben ist einfach rundum schön.

Die Eltern sind nun fort. Danach haben meine Schwester, als die nunmehrige Bestimmerin und ich ein bisschen, die Sachherrschaft über die Wohnung, speziell über das Schlafzimmer mit dem „Sommerbett in der Sonne“.

Mutti hat für uns zum ausgiebigen Abendessen den großen Topf mit Milchbrei bereitet. Milchreis, Grieß oder Milchnudeln (Kurzmakkaroni oder Muscheln) mit Apfelmus, Zucker und Zimt, gehören zu dieser Tradition. Bereitete das Mütterlein diese leckere Mahlzeit zeitig, so kommt der Topf in die Kiste, „Kochkiste“ oder „Katzenkiste“ genannt, eine gedämmte Warmhalteholzkiste, deren Deckel der Aufdruck einer sich putzenden Katze ziert. Putzi eben.

Auch „leicht angesetzter“ Milchbrei unten am Topfboden ist nicht verkehrt, ist willkommen. Kennt Ihr den Kalauer mit dem „Gewürz der Seligen“? (Leicht angebrannt schmeckt manches sehr gut).

Am Abend, sauber gewaschen im Bett, können wir uns genüßlich in unsere Lektüre vertiefen.


Noch ein ganz anderes Möbelstück hat sich den Namen „Sommerbett“ verdient, wenn auch aus einem anderen Grund. Es handelte sich um ein schmales hölzernes „Zieharmonikabettgestell“, das Opa Max Sommer seit der Zeit des Ersten Weltkrieg besessen hatte. Nun steht es bei uns und kann notdürftig einem etwaigen Überraschungs-Schlafgast als Ruhestatt dienen.


Umschul(schw)ung

Das neue Schuljahr bringt eine große Umstellung. „Meine Schule 30“ in der Tuchmacherstraße wird zur Hilfsschule erklärt, für Kinder, die es eben schwerer haben mit dem Lernen und fast alle Schüler müssen sie deshalb glücklich verlassen, werden aufgeteilt. Die nächste Bildungseinrichtung für mich, dann ab September, ist die Schule 17 in der Schulstraße 9, neben meinem alten Kindergarten. So wird der Schulweg noch erheblich kürzer.


Auch dieses Jahr ist wieder mit wichtigen Ereignissen vollgepackt.

Wie ihr ja schon wisst, bekommen wir wahrscheinlich im kommenden Monat, im August, ein Geschwisterkind. Und soviel steht fest: Das Baby soll trotzdem weder Auguste noch August heißen. So heißt doch heute kaum noch ein Mensch, also ein Neugeborener. So was Unmodernes gab's nur früher. Das Baby wird nicht wie wir im Babelsberger Krankenhaus zur Welt kommen. Kinder bekommen ist ja zum Glück meist sowieso keine richtige Krankheit. Mutti ist so sehr abgearbeitet und soll für einige Zeit aus dem Alltag mit der beißenden Ammoniakluft der Lichtpauserei herauskommen. Daher hat die Ärztin für die Dauer von drei Wochen einen Platz im Mütterentbindungs- und -genesungsheim besorgt und ihr diesen verordnet. Darüber ist Mutti sehr froh aber sie macht sich auch Sorgen darüber, wie wir in dieser Zeit versorgt werden. In dieser Zeit wird Tante Käte den Lebensmittelhaushalt bei uns führen. Eine Sorge weniger.

Das Heimelige an diesem Mütterheim sind die ollen Holzbaracken auf dem Krähenberg in Caputh, die wohl seit dem Krieg dort stehen, damals aber anderen Zwecken dienten. Heute gehören die Baracken der SVK (Sozialversicherungskasse) des Bezirkes Potsdam.

Mutti verreist also im Juli für einige Zeit, wenige Kilometer weiter in die Landluft nach Caputh.

Der Heizungsplaner und -Installateur Herr Otto, ein Kunde von Vati, fährt uns mit seinem Auto am Sonntag zum Besuch auf den Krähenberg. An anderen Tagen finden wir Kinder den Weg auch allein mit dem Bus dorthin. Ab Potsdam-Bassinplatz und von dort 8 km weiter bis Caputh, Bahnhof Schwielowsee. 80 Pfennige Fahrgeld oder auch mal mit dem Schiff der „Weissen Flotte“. Ähnliche Strecke, nur nasser, gleicher Preis.


Fahrt ins Thüringer Land

Weil wir Mutti auf dem Krähenberg gut untergebracht wissen, unternehmen auch wir jetzt im Juli, um die Wartezeit abzukürzen, eine Kurz-Reise ins Thüringer Land. Wir sagen immer noch so. Eigentlich müssen wir uns entscheiden, ob wir in den Bezirk Erfurt, Gera oder Suhl reisen wollen aber Thüringen als Landschaft darf man noch sagen, bloß eben nicht Land. Es ist, denke ich, aber nicht so sehr schlimm, denn an den Bezirksgrenzen gibt es auch keine ständigen Pass- und Ausweiskontrollen – höchstens nur mal so zwischendurch – der Ordnung halber.

Machen wir es uns also ganz leicht und sagen: Wir fahren nach Rudolstadt.

Dort in der Stadt (bei der vielleicht mal einer das „ph“ vergessen hat?) wohnt meine 2. Patentante Rosemarie Be. und ihre Familie, nahe der Kirche und unmittelbar unterhalb des Schlossberges der Heidecksburg gelegen. Tante Rosemarie hat mich ja schon am 04. März 1946 in Babelsberg erstmals besucht, um zu sehen, ob sie Pfingsten des gleichen Jahres bei der Taufe meine Patentante sein will. Nun sind wir endlich bei ihr zum Gegenbesuch. Das wurde Zeit! In dieser Familie lebt ein noch kleines, sehr niedliches Kind. Eva-Maria steht in ihrem Geburtsschein geschrieben, wenn auch niemand sie so ruft. Ich denke, so eine kleine Schwester wäre was Schönes. Sie würde einem wohl kaum soviel Vorschriften machen und ihr Bestimmer würde ich nicht sein – bei mir hätte sie „mehr freie Hand“. Aber mit Haut und Haar wäre ich ihr Beschützer! Ich meine – das ginge schon.

Viel sind wir auch mit den Kindern der Familie Bä. zusammen, mit Almut, Adelheid und Peter. Sie sind alle viel größer als ich und ich fühle mich da so wie „das fünfte Rad am Wagen“. Aber das geht noch – alle sind ja lieb und freundlich zu mir. Und doch: Mit Eva-Maria ist es ganz was anderes. Fast wie 'was eigenes.


Schnell gehen diese Besuchstage vorbei und wir sind schon wieder in Babelsberg. Am 16. August ist es dann soweit. Ein sehr anstrengender Festtag. Das neue Familienglied wird in Caputh geboren. Ein ganz sehr niedliches Baby mit kurzen blonden Löckchen ist da heran gewachsen. Er sieht genauso aus, wie sich unsere Eltern im Jahre 1941 ihr erstes Kind vorgestellt hatten. Nun kommt also ein Ebenbild des Gewünschten mit etwas Verspätung, wahrscheinlich als letzter.


Spaziergänge und Ausflüge (manches erwähnte ich schon mal so nebenbei)

Die sonntäglichen Familien-Großausflüge führen uns abwechselungsreich und meist zu Fuß zu einer Anzahl verschiedener Ziele, wenn sich diese auch im Leben mal wiederholen. So wandern wir beispielsweise


Kürzere Spaziergänge unternehmen wir häufiger, beispielsweise


Sehr viele neue Kinofreuden

Ab und zu, also eher selten, dürfen wir ins Kino gehen. Die Sowjetmenschen sagen stets stolz: „Kinotheater“. Das ist würdiger, als die Bezeichnung „Kintopp“. In unserer Straße gibt es zwei Kinos: Das große „Thalia“ gleich fünf Häuser weiter, (viele Leute, die nicht täglich dieser griechischen Muse begegnen, „jeh'n in't Talja" – ooch wenn keene Ferjen sind) und dann gibt es noch die so genannte „Flohkiste“ (ein schlichteres Theater), gerade nur reichlich 200 m weiter. „Union-Lichtspiele“ ist der richtige Name. Für 80 Pfennige darf man das schon mal genießen. Die älteren Kinder gingen vor ein paar Jahren noch für 25 Pfennige. Besonders schön zur Einstimmung auf diesen Filmkunst-Genuss, sind die ausführlichen Programm-Blätter mit Textzusammenfassung, Erläuterungen, einigen Standbildern aus dem echten Film und dem Nennen der Namen der Mitwirkenden. So kann man sich gründlich vorbereiten, wie wir damals vor der Aufführung des Märchens von „Johannes und Margarethe" mit der Hexe in der Staatsoper, welches ja wohl jedes Kind kennt.

Vor dem Hauptfilm werden zuerst Werbe-DIAS gezeigt z. B. „Ob im Kino oder Bus, Casino immer ein Genuss“ (Zigarettenreklame). Dann folgen ebenfalls als Diapositive Vorankündigungen auf die nächsten Filme unter dem Einleitungsdia: „Demnächst in Ihrem Theater“. Dann kommt „Der Augenzeuge“, die aktuell politische Zeitschau, mitunter folgt ein Kurzfilm und dann das Hauptwerk.

Wir sahen in den 50-er Jahren dort z. B.

Jugendliche dürfen ja schon (mit Ausweis) nach Berlin fahren, wo sie dann in West-Berlin beispielsweise im „3-D“-Film „Windjammer“, mit rot-grüner Pappbrille auf der Nase, alles so hautnah spüren, dass man meint, vom Segelschiff im Kinosaal schier überfahren zu werden.

Ein Preis-Vergleich für unsere Kino-Ausgaben: (Annahme: unsere Eltern „verdienen“ am Verkauf eines Fässchens Tinte, das 30 Pfennige kostet, etwa 10 Pfennige, davon frisst das Finanzamt bis zu 80%, denn die Eltern sind ja keine Arbeiter oder Angestellte eines Volkseigenen Betriebes mit festem Lohn/Gehalt, sondern sie sind als selbständig Gewerbetreibende das Relikt einer eher schon weit überholten, verfaulenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung, denen in der DDR eigentlich kein rechter Platz zukommt. Um das vorgenannte Beispiel zu Ende zu führen: es bleiben etwa zwei Pfennige – heute (2016) also weniger als 1 Cent . – Wohnungsmiete, Strom, Essen, Kleidung wollen auch bezahlt werden – und wir Kinder dürfen trotzdem sogar mal für 80 Pf pro Person ins Kino!

(Damals das Fässchen Tinte 30 Pfennige = 0,30 Mark der DDR, „gestern“ 3,- Deutsche Mark der Bundesrepublik, „heute“ 2,50 EURO). So entwickelte sich das im Laufe der Zeit. Aber man kann natürlich nicht nur diese Preise vergleichen, man muss auch die Löhne und Gehälter anschauen und darauf achten, wie sich viele andere Ausgaben zusammensetzen.


Auch bei Onkel Christliebs Familie sind wir zum Kino eingeladen. Zum Heim-Kino. Hier geht es um Stumm-Filme. Nein, nein, es handelt es sich nicht um Filmwerke über den West-Berliner Polizeipräsidenten, namens Stumm. Die Bilder sind brillant; es fehlt nur der gute Ton. Es sind also 0-Ton-Werke. Onkel Christlieb spielt dazu als tönende Untermalung weder das Klavier (wie es früher im Kino üblich war) noch die Orgel, wenn er als Kantor und Organist das auch sehr gut könnte – doch dieses Instrument steht ja reichlich 100 m entfernt in der Kirche. Das macht aber alles nichts, denn die Filminhalte sind uns ja bekannt: Hier ging es um die unterschiedlichen Lebensweisen von Stadt- und Landmaus, dort um „Kegelköpfe“ in dem Filmwerk „Von Einem der auszog das Gruseln zu lernen“ und bald erfreut uns wieder ein Film vom Freibad – besonders wenn der Sprung vom Brett ins kühle Nass mal wieder rückwärts laufend dargeboten wird. Diese Kinematographische Apparatur ermöglicht das. Wir kannten die Filme bald nicht nur in- und auswendig, sondern die Bilderinhalte auch vor- und rückwärts laufend.


Die Schule 17

Diese Schule wird bis zum Sommer 1960 eine „reine“ Jungenschule sein. Mädchen und ihre Eigenschaften lernen wir hier also vorerst nicht kennen. Einen sehr kurzen Schul-Weg habe ich: Die Bahnbrücke unterquert, nach rechts gewandt, zum Zeitungskiosk der „Oma Schmidt“ – mit ihr drinsitzend – gegrüßt, am Bahndamm entlang – vorbei am gegenüberliegenden Hause (Schulstraße 2), von meinem Urgroßvater Carl Heinrich Franz Runge erbaut, danach am Haus der Lehrerinnenschwestern, den beiden Fräulein von Kidrowski ebenso vorbei gehuscht, ferner am Eingangstor des vor Urzeiten von mir besuchten Kindergartens und schon, schwupp, bin ich in der Schule.

Auf dem Hof fegt das Hausmeisterehepaar Roelofsen das erste Laub. Deren lichtarme Wohnung befindet sich im Keller unter der Schule – sie sprechen davon, dass sie im Souterrain leben. Wie es auch nun wirklich sei – darüber will ich nicht entscheiden. Auf dem Hof lagern immer große Haufen feuchter Rohbraunkohle, so wie der Tagebau sie freigegeben hatte und sie vom Regen auch begossen werden. Die Haufen werden von uns auch freundlich Blumenerde genannt. Hinein schubsen dürfen sich die Schüler in die Haufen nicht, denn die Kohle schmiert und die Kleidung sähe dann dementsprechend aus. Das Hausmeisterehepaar hat eine liebe Not damit, das Material im Keller neben ihrem Zimmer leicht vorzutrocknen und mit dem Feuer jener Rohbraunkohle die Unterrichtsräume zu wärmen. Erst später werde ich wissen, dass Herr Roelofsen mit Vornamen Peter Albert heißt, und am 12. Mai 1903 seinen nullten Geburtstag hatte. Seine Frau hieß früher als junges Mädchen Stalinski (die Stahlharte) aber so sieht sie nicht aus und Margarethe, die „Perle“, so heißt sie immer noch. Ein Dreivierteljahr nachdem ich diese Schule verlassen haben werde, wird Herr Roelofsen in dieser Schulhof-Kellerwohnung, Schulstraße 9, am 16. März 1963 sterben. Wir alle wissen das aber jetzt noch nicht.

Doch nun schnell wieder die Zeit um ein Jahrzehnt zurückgedreht in das Jahr 1953.

Meine jetzige Schule ist nicht neu. Sie hat schon eine Geschichte:



Wertvolle Schul- und Bürokrempelchen für Schule und Freizeit.

Was hatten wir damals in den 50er Jahren? Erzeugnisse aus der DDR für die DDR.

Zum Decken des Eigenbedarfs habe ich es nicht weit. Das meiste findet sich unter den Verkaufsmaterialien im elterlichen Geschäft.


Der Schulunterricht führt uns ebenfalls ins Kino. Die Pflichtfilme rufen stets die zurückliegende Kriegszeit den Lehrern in Erinnerung und uns, die wir ja jene Zeit nicht miterlebt hatten, die Ereignisse stets neu mahnend vor Augen. Es ging dabei z. B. um „Ein wahrer Mensch“ (der junge sowjetische Offizier Alexej Maresjew (1916–2001) wird als Pilot mit seinem Flugzeug von den Deutschen abgeschossen und ringt um sein Leben. Nach Amputation beider Beine fliegt er wieder, um im Großen Vaterländischen Krieg die Heimat weiterhin gegen die Deutschen zu verteidigen) oder „Ein Menschenschicksal“ von Michail Scholochow oder „Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse“, „Stalingrad“ und andere.


Die Stummfilme späterer Jahre direkt im Schulunterricht sind nicht ganz so menschlich ergreifend oder nachhaltig, wenn man uns partout vor's schläfrige Auge führt, wie schön sich doch unter osmotischem Drucke das Trinkwasser in schematisch dargestellten Pflanzenstängeln verteilt. – Außerdem müssen wir wider besseres Wissen auch noch „Stengel“ schreiben, weil angeblich der Herr Duden es so gewollt habe, dass man Stange mit „e“ schreibt und niemand es wagte sich dagegen zu wehren. Man kann das einfach so behaupten, denn der Konrad ist ja schon tot und viele seiner Jünger auch. Wenn man es also logisch-richtig schreibt, wird einem das deshalb als Fehler angezählt.

Ein weiteres Beispiel: „DER GROßE DUDEN“, mit kleinem „ß“ dazwischen, weil „man“ sich weigerte, einen solchen (eigentlich heimlich bekannten) Großbuchstaben zu erfinden und diesen, wie auch „seinen kleinen Bruder“ ordnungsgemäß in das Alphabet einzufügen, habe ich nie verstanden (die Schweizer auch nicht). Bis „heute“ nicht, da schon wieder eine Rechtschreibreform hinter uns liegt. Mit solchen kritischen Problemfragen (quasi aus dem Stand des 1. Schuljahres), habe ich über Jahrzehnte jeden hochstudierten Lehrer in die Ratlosigkeit getrieben bzw. davon überzeugt, dass ich für keine Meinung oder Handlung anderer Leute ein Mitläufer bin. Wie es sich immer wieder zeigen wird.


Wichtiges

Unser Brüderchen wird am roten Po mit importierter Penatencreme versorgt. (Hirte und Schaf). Ist das ein angenehmer Duft aus einer schöne Dose. Wie die Dose, so nun auch das Kind. Dufte.


Noch mehr zur Zoologie

Der Krieg, so klärt man uns auf, hält an. Allerdings ist es jetzt nicht der heiße, sondern nunmehr die erkaltete Form, die hitzig betrieben wird. So wird seit 1951 ... auch wieder in diesem Jahr bekanntgegeben, dass die imperialistischen Amerikaner es darauf absehen, den DDR-Bürgen die lebensnotwendige Ernährungsgrundlage, die Kartoffel, zu entziehen. Es seien wieder unberechtigt amerikanische Flugzeuge in den Luftraum unseres Hoheitsgebietes eingedrungen und hätten hier und da Unmengen von Kartoffelkäfern als biologische Waffe abgeworfen und diese hätten den Absturz, wie man jetzt unten deutlich sehen könne, lebend überstanden. Das Ziel sei es, die Volkswirtschaft in die Kniee zu zwingen, den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden zu vernichten. Diese Imperialisten und auch die „Bonner Ultras“, wie Walter Ulbricht sie weise nennt, haben jedoch nicht mit der Findigkeit der DDR-Regierung gerechnet: Insbesondere Schulkinder, verdiente Veteranen und andere Rentner werden aufgefordert, diese imperialistischen und auch vereinzelte eigene Kartoffelkäfer von den Pflanzen auf den Kartoffel-Feldern abzusammeln. Beim Sammeln brauche, aber das ist wohl lediglich ein Gerücht) nicht nach deren Herkunft unterschieden werden.


In der Schlagerwelt brachte das Jahr unter anderem:


Am Tag als der Regen kam

Dalida

Rock around the clock!

Bill Haley and his Comets

Die Revolution in der Schlagergeschichte im April 1954! Der erste Rock’n Roll-Titel.

Umwerfend“, sage ich.

Unsere Tante Käte sagt: „Verrückt und drei macht neun – das ist keine Musik.“

II: Glaube mir :II, meine ganze Liebe gab ich

Maria Mucke

Mr. Patton aus Manhattan // See you later Allig.

Elvis Presley

Wenn Teenager träumen es küsst sie ein Mann

Rick Nelson


1955Mein 9. Lebensjahr, 1955 / 56. Das 4. Schuljahr.

Erholung in Grünheide bei Auerbach im Sächsischen Vogtland

Zum ersten Mal in meinem Leben verreise ich ganz allein – mit vielen anderen Kindern.

Von der Sozialversicherung (SVK des FDGB) werde ich im März für drei Wochen in das Kindererholungsheim Grünheide „verschickt“, so sagt es der offizielle Ausdruck.

Das sollen wir positiv sehen, obwohl die kleine Silbe „ver-“ für mich meist was Abträgliches enthält, wie bei versehen, vergessen, verschneiden, versäumen, verbieten, verteufeln, versehentlich vertauschen, verzweifeln, verzagen, ver... und nicht gefunden, ver-sucht, ver-schickt – ich möchte aber gern auf dem richtigen Weg ans Ziel kommen und mich lieber positiv ausdrücken – und einfach fröhlich reisen also nicht unbedingt ver-reisen.

Ich bin jetzt 9¼ Jahre alt. Die Abreise zur Erholung ist nicht so fröhlich wie gewünscht, die Zugverbindungen weisen größere Zeitabstände auf. Wir, also Mutti und ich, müssen schon am Vor-Abend in Babelsberg aufbrechen obwohl die Fernbahn erst am nächsten Morgen abfahren wird. Warum ist das so? Für die Bevölkerung in unserer Region besteht wohl zu jener Zeit noch die nächtliche Ausgangssperre. Vom S-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße laufen wir also erst durch die Friedrichstraße, den langen Weg durch die Chausseestraße und biegen dann nach rechts in die Invalidenstraße ein. Hier steht der noch kriegsruinöse ehemalige Stettiner Bahnhof, der seit Ende 1950 Nordbahnhof heißt, von dem der Zug in den Süden abfahren soll. Wer weiß, wie das geht?

In der Dunkelheit wirkt die Gegend gespenstisch, zumindest unwirtlich. Früher führten die Gleise von hier stracks in Richtung Ostsee. Ob sie das aber auch nach Süden in Richtung Vogtland wirklich schaffen? Gewiss muss die Bahn irgendwo umkehren oder einen sehr großen Bogen fahren. Einige Stunden hatten wir müde aber zumindest vor dem Schneefall geschützt in dem ziemlich zugig-feuchtkalten, dunklen Fußgängertunnel, auf dem Vulkanfiber-Koffer sitzend gewartet, dösend, halb schlafend. Dieser Tunnel beginnt in der DDR, in Berlin-Mitte und wenn man diesen durchläuft, kommt man in West-Berlin, Stadtbezirk Wedding, wieder auf die Straße. Dieses Gebiet liegt im französisch besetzten Gebiet der Stadt. Irgendwann rief dann eine Frau im Dunkeln zum Sammeln und auch unsere Namen auf. Dabei halfen ihr Taschenlampe und Namen-Listen. Sie war äußerlich mit einem dunkelgrauen Lodenmantel bekleidet, auf dem mit Sicherheitsnadeln ein Rotes-Kreuz-Tuch angeheftet war, damit man sie in der Dunkelheit überhaupt erkennen konnte. So erfuhren wir, wohin wir gehörten, bis dann das Geschiebe zwischen all' den fremden müden Menschen in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden losging und sich der Zug später, nach kurzem Abschied, elternlos in Bewegung setzte. Sehr viele Kinder waren es wohl nicht aus dem Raum Berlin-Brandenburg, wie ich später hörte aber eigentlich nur teilweise verstand. Der Zug hatte mehrfach lange Aufenthalte. Vielleicht waren die Kohlen aufgebraucht oder zu nass – oder es gab andere Ursachen – wir erfuhren es nicht und wir wechselten zwischendurch auch die Bahn. Dass an diesem Tag kein Kind verlorenging, wird mir später als erstaunlich erscheinen. Am Nachmittag, als es bereits wieder dämmerte, kamen wir in Auerbach im Vogtland an. Dort stiegen wir in einen Bus, der uns, inzwischen schon wieder durch die Dunkelheit, nach Grünheide brachte. Das waren aber dann ungefähr nur noch fünf Kilometer Busfahrt. –

Soweit meine Erinnerung an diese Reise. Ob sie wohl leidlich richtig wiedergegeben ist?


Grünheide, mitten im Wald gelegen, gehört zum Ort Schnarrtanne.

Das Gebäude der Erholungs-Anlage, in dem auch ich wohnen darf, heißt Haus Freundschaft“. Nach der Begrüßung und einem Abendessen packen wir die Koffer aus und die Erzieherin prüft, ob nach dem Inhaltsverzeichnis auch alles vorhanden ist. Und schon ist der Ankunftstag vorbei.

Ganz besonders eigen ist dieses Gefühl, das zwar heimatliche aber ganz neue duftende Stück Seife aus der Schale zu nehmen, ähnlich wie die Zahnbürste, die nun, anders als sonst, in einem eigenen Behälter mit Lüftungslöchern liegt. Eine letzte Verbindung zur Heimat und doch ganz anders. Anders ist das alles als zu Hause. Zu Hause mag ich zum Waschen der Hände die braune Glycerin-Seife, die so halbdurchscheinend ist. Zwar habe ich den gesamten Tag nichts getan, falle aber doch müde in das frisch bezogene Bett und hatte um mich herum und in mir ein Gefühl der Fremdheit.

Erst am nächsten Tag können wir so recht erkennen, wo wir uns befinden. Wir wohnen in einem sehr schönen älteren, dunkelbraunen Holzhaus und alles ringsherum ist tief verschneit. Die Nadelbäume ächzen unter der Last des Schnees – oder schnarren sie gar? Auf unseren ersten Spaziergängen erfahren wir, dass die vielen kleinen Bäche trotz des Frostes nicht zufrieren; dazu fließt das Wasser zu schnell.

Grünheide – das ist keine Stadt, nicht mal ein Dorf. Früher, um das Jahr 1700, bezeichnete man damit nur ein Forsthaus, ein Grundstück mit vielleicht 5 bis 8 Personen, die dort wohnten. Seltsam ist das schon: Das Forsthaus mitten im Walde aber sein Name stammt aus der Heide – aus einer eigentlich völlig baumlosen Landschaft wo der Heidrich lebt aber nicht der Forstmann. Hier, im Vogtland, ist es aber nun aber einmal so – also völlig anders.

In der weiteren Umgebung bestehen von alters her bäuerliche Wirtschaften, der Bergbau und eben hauptsächlich die Waldwirtschaft.

Im Jahre 1888 erholten sich hier im Walde erstmals 24 Großstadtkinder und im Jahre 1934 sollen bereits 1.500 Gäste diese Sommerfrische aufgesucht haben. Aber inzwischen waren nicht mehr alle diese Gäste bei der Försterfamilie untergebracht. Zwischen 1940 und 1950 waren es hauptsächlich Kinder, deren Familien im Krieg „ausgebombt“ waren. Ab 1950 begann der Hochbetrieb medizinisch begründeter Kinderkuren – und jetzt gehören auch wir zu den „Luftschnappern“.

Ich habe die altgeerbten schwedischen Winterstiefel von Zaulecks an, mit der speziell gefalteten, beiderseits seitlich angenähten Lasche unter den Schnürsenkeln, bei der kein Schneeschmelzwasser eindringen kann. So etwas hat hier noch niemand gesehen. Es wird im Heim sehr darauf geachtet, dass die Schuhe nach der Heimkehr von den Spaziergängen ordentlich getrocknet und anschließend gut gefettet werden.

Gleich am Tag nach der Ankunft schreiben wir nach Hause, dass wir gut angekommen sind und dass es uns gefällt. Unsere vollständige Absender-Anschrift lautet:


Sozialversicherung

Anstalt des öffentlichen Rechts

Kindergenesungsheim „Grünheide“

Grünheide Kreis Auerbach (Vogtland)


Ich war schon bereit eine Kurzfassung davon als Absender für den Brief zu wählen – aber wir brauchen überhaupt keinen Absender auf den Umschlag schreiben, denn die Heimleitung drückt einen Absender-Stempel drauf (siehe oben). Nur bei den Ansichtskarten kommen sie damit aus Platzgründen ein bisschen in Schwierigkeiten.

Später folgen von mir einige Kurzbriefchen oder Ansichtskarten. Wir haben davon mehrere Sorten: Das Bild vom Haus „Freundschaft“ und das Foto vom Haus „Junger Pionier“ – von diesem eine Sommer- und eine Winterausfertigung sowie eine Karte mit zwei Außenansichten des „Jungen Pionier“, dem Speisesaal und einer Jungenschar im Waschraum. Ich wähle „mein“ Holzhaus aus, im Schnee zwischen den Tannen stehend. Auch meiner ältesten Patentante Elisabeth schreibe ich, versäume aber leider, eine Briefmarke auf dieses kurze kleine Brieflein zu kleben, so dass Tante Elisabeth bei der Aushändigung das Porto und 10 Pf Nachgebühr (Strafe), also insgesamt 30 Pfennige berappen musste, um die Grüße des Patenkindes in Empfang nehmen zu können. Oh, oh! Die Diakonissenschwester Elisabeth Gandert wohnt im Feierabendheim der Schwestern des Oberlinhauses, die zu alt für eine tägliche Arbeit sind. Viele arbeiten sowieso viel, viel länger, als das staatliche Renteneintrittsalter es vorsieht. Ach ja, vor einem viertel Jahr brannte ihr das Weihnachtsbäumchen ab und bei der Erwärmung weinte ein Seitenteil ihres Holzschrankes vor Kummer noch Harztränen. Zum Glück ging es für alle noch glimpflich ab, weil ihr Hilfegeschrei rechtzeitig und laut genug ertönte. Wenn meine Patentante etwas tut, macht sie das eigentlich ganz bewusst. Damit sie im hohen Alter nichts vergisst, legt den Zeigefinger auf jeden betrachteten Posten und kommentiert ihr Handeln: „So, das ist das... und das ist das“ – und „Christoph, hetze mich nicht“ – wenn sie bemerkt, dass ihr Besuchs-Patenkind bei bei diesem zeitraubenden Tun unruhig wird. Ich brauche keinen Mucks zu sagen. Sie fühlt es.


Klar, wir Jungen im Erholungsheim tauschen unsere Erfahrungen aus aber es dauert eine Weile, bis ich bestimmte Worte auch verstehe, die aus den Mündern der Kinder kommen, von jenen, die aus sächsischen Ballungszentren der Industrie zur Genesung hergeschickt worden waren.

Zum Beispiel wusste einer dieser Jungen, dass ein bestimmtes Auto, überhaupt nicht mit Benzin fahren könne, sondern nur mit Euel. „Was hat der geladen“, frage ich, „Uhus und andere Eulen?“

Der läuft nu äbend ega mit Euel“, so oder ähnlich sprach er es, was so ein regional-öliger Begriff für Dieselkraftstoff ist. Das aber war mir dann klar wie dicke Tinte oder auch wie Kloßbrühe und seine wichtige Mitteilung bedeutete quasi "Eueln" nach Athen tragen. Den Verwandtschaftsgrad zwischen ihm und seiner „Oumi“ konnte ich mir noch leicht erschließen. Doch dann wurde es für mich schwierig: Dieses „Ei for bipsch“ (oder so ähnlich) kann man in's Deutsche übersetzen mit: „Sieh mal einer an“ oder möglicher Weise „Na, so 'was aber auch“ oder vielleicht „Na, da schau her“ oder wenn man einfach nur „Aha“ zum Ausdruck bringen möchte, darf man es wohl ebenfalls anwenden. Das musste ich erst gründlich lernen. Dann trieben die Sprachgewaltigen es aber auf die Spitze und es begann mir gegenüber ein richtiges Angeber-Lehrprogramm. So sollte ich, nur als eines der Beispiele, darlegen, was „ä Modschekiebsche“ sei, obwohl es jetzt, im Märzenschnee, überhaupt keine Marienkäfer zu besichtigen gibt. Das habe ich nicht herausbekommen. Manches aber kenne ich inzwischen schon. Diese Lehrstunden haben meine Sinne geschärft, dafür bin ich dankbar – sonst hätte ich viel, viel später zum Beispiel nicht „aus dem Handgelenk“ übersetzen können, was wissende Sachsen beispielsweise unter einer „Berdenacksbrieh'“ verstehen. Für manchen mag das eine vertraute Begrifflichkeit darstellen, für andere eine unverstehbar heimische Vokabel sein, bei der auch kein Konrad Duden hilft. (Hier handelte es sich um den heißen, noch halb flüssigen Kunstharzbrei „Pertinax“, spaßeshalber als „Brühe“ bezeichnet. Wir wissen ja woraus die vorzüglichen Karossen der Pkw „P-70“ und „Trabant“ hergestellt wurden.) Für mich jedoch war manches Dechiffrieren nach diesen Lehrstunden erleichtert.

Insgesamt wurde mir aber recht deutlich bewusst, wie sehr es mir bisher an Bildung mangelt. Man darf es auch nicht an Demut fehlen lassen. Und wie eingangs erwähnt: Eine eher geringe Anzahl von Kindern kam aus der Berliner Region. Man kann einfach nicht von „der deutschen Sprache“ reden – weil es so viele unterschiedlicher Mundarten mit ganz eigenen Wörtern gibt.


Schön und wichtig wäre es ja, wenn ich von Urlaubswanderungen berichten würde, doch da muss ich passen: Im Winterwald dunkelt es schnell und deshalb sind wir vormittags an der frischen Luft.

Dort, wo Bächlein (Rinselwässer) über Kiesel springen und das fließende Wasser an den Rändern Schnee abwäscht, lugt blätterloses Zweiggestrüpp der Blaubeeren hervor. Während der Zeit unseres Aufenthaltes zeigten sich uns aber weder Blaubeeren noch Braunbären.

Bei den Spaziergängen hören wir oft im Wind die Bäume knarren oder schnarren. Daher auch der Name des Ortes „Schnarrtanne“? – und ich dachte es wären Spechte, die da so schnell klopfen. Ach nein, ganz anders: Das Wort Schnarre soll von der Misteldrossel abstammen, soll für sie ein Kosename sein. Der Name der Örtlichkeit bedeutet also: „Der Tannenwald, in dem der Schnarrenvogel oder die Drossel gern zu Hause ist“.

Wegen des hohen Schnees können wir nicht einfach so durch den Winterwald wandern. Die Wälder können nur von den sehr wenigen Erwachsenen auf Schiern begangen werden. Wir gehen nur da entlang, wo vorher ein Schneepflug die Schneemassen zur Seite geschoben hat. Straßen aber gibt es hier im Wald sowieso kaum. Nachmittags, nach Mittagsruhe und Vespermahlzeit wird es draußen bereits wieder dunkel – nur beim Spielen im Gruppenraum ist es hell genug.

Kinder die zu anderen Jahreszeiten hier sind, sehen deshalb mehr von der Umgebung, die sehr reizvoll sein soll.

Eine Anzahl für uns neuer Volkslieder lernen wir hier. Dazu gehört zum Beispiel das mundartliche Lied über den Reh- und Hirsch-Geweihsammler, einen armen Wild-Teil-Dieb, der etwas reicher werden oder zumindest leidlich überleben wollte, der an den Hunger seiner Kinder dachte und dabei knapp an der Gefängnisstrafe vorbeikommt und deshalb so sehr frohen Herzens singt.
Das geht etwa so (auch wenn man es gewiss anders richtig schreibt):

... oder, etwas harmloser ist:

und bei beiden Liedern gehören immer froh juchzend jauchzende Jodler dazwischen, damit es so recht zu Herzen dringt und diese beschönigen ein bisschen gekonnt den Text, wenn es wie oben um Diebstahl und Gefängnis geht. Su sein de Bargleit ebend. Da kann man halt nichts machen.


Bei Kurz-Wanderungen, Spiel und Sport, Essen, Trinken und vielem Schlafen, gehen diese drei besonders kurzen Wochen schnell vorbei und schon sehr bald werden wir wieder auf langen Wegen in die verschiedenen heimatlichen Ecken unseres Landes gefahren.


Was ich jetzt noch nicht wissen kann: Die Erholungszeit in Grünheide ist ein großer Auftakt für weitere, in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren ermöglichte Aufenthaltszeiten in verschiedenen Erholungseinrichtungen. Eine großartige Leistung von Sozialversicherung und Staatlichem Gesundheitswesen der DDR, wie es eine solche wohl nicht von vielen Ländern dieser Erde vorgesehen und ermöglicht wird – verordnet von dem durch die Schulen wandernden Arzt, der alle Schulgebäude und deren Schüler aufsucht und daraufhin wichtige Entscheidungen, in Verbindung mit der Kinder- und Jugendfürsorge trifft. Auch dafür bin ich dankbar.


Altstoffe sind wichtige Rohstoffe!“. Na, na, nicht ganz so roh: Sekundär-Rohstoffe

Pioniere und auch andere Schüler sammeln in den Häusern der Bevölkerung stets Papier, Gläser und Flaschen, Metalle, Alttextilien, Knochen – die DDR ist mit Rohstoffen nicht reich versorgt. „Bonzo sucht Knochen!“ Bonzo ist ein Hund, auf der Rückseite von Schul-Schreibheften abgebildet, der uns hilft olle Knochen für die Seifenherstellung zusammenzutragen –. Wir bieten das Sammelgut den Staatlichen Aufkaufstellen an. Zum An- oder Aufkauf. Bei Metallen legen wir besonderen Wert auf das Bunte aber auch ordinären Eisenschrott, der nicht so rar aber dafür schwer ist und leider zu geringen Preisen gehandelt wird, erfassen wir selbstmurmelnd, denn wir räumen alles auf und kennen die Werbeaktion „Martin braucht Schrott“. Diese Sammelanregung sehen wir auf der vierten Umschlagseite unserer grünen oder blauen Schulhefte: Den Siemens-Martin-Hochofen in der Max-Hütte bei Unterwellenborn. Zum Glück besitzen wir den großen stabilen Handwagen. Wir müssen nur in engen Kurven darauf achten, die Handdeichsel nicht zu sehr einzuschlagen, weil die eisenbereiften Holzräder sich dann in die Bodenplatte und die Seitenbretter des Wagens einschneiden oder einschleifen. Eine Konstruktionsschwäche.

Übrigens hat der Begriff „Altstoffe“ irgendetwas zu altes, herabminderndes an sich, was sie trotz des ihnen innewohnenden Wertes geschmälert erscheinen lässt. Die Regierung erkennt das, und aus diesem Grunde wird später der viel schönere Sammelbegriff „Sekundärrohstoffe“ eingeführt. Also beispielsweise auch für „Sekundärtextilen“ statt „Lumpen“.


Im Friedrichstadt-Palast an der Weidendammer Brücke oder richtiger: Am Zirkus 1, nahe der Berliner Friedrichstraße

Noch vor 10 Jahren war der Palast während der Kriegszeit ein Pferdestall aber jetzt findet hierin wieder Varieté statt, gleich neben dem Berliner Ensemble mit dem rot leuchtenden rotierenden Emblem auf dem Dach. Dort sind Helene Weigel, Bertold Brecht und viele andere Menschen tätig.

Und wir dürfen auch solch eine Varieté-Vorstellung im Friedrichstadt-Palast miterleben.


Am 1. Mai gibt es in diesem Jahr einen großen Familienausflug zur Gaststätte „Fährhaus Caputh“. Muttchen Dyck ist ist dabei.


29. Mai 1955: Meines Bruders Taufe mit den Patentanten und Onkeln: Heidi Z., Charlotte Dyck, Pfr. Hannes Schulz. Darüber schreibt er dann gewiss mehr in seinem eigenen Lebenslauf. Da will ich nicht unautorisiert vorgreifen.


Der Internationale Kindertag am 1. Juni

Wir haben auch diesen Tag schön verlebt. In der Schule lasen die Lehrer Geschichten vor. Am Nachmittag waren wir auf dem Kiefern-Wald-Grundstück des Schulhortes in der Stephensonstraße eingeladen. Bei Sackhüpfen, Büchsenwerfen, Eierlaufen, Kafe und Kuchen sowie frühabendlichem Lampionumzug vergingen die Stunden viel zu schnell.

Nachtrag: Dieses kleine Wald-Grundstück wird im Jahr 2019 bebaut.


Gern sind wir bei unseren entfernten Verwandten in Caputh, zu Gast, in dem kleinen Haus, vor allem aber in dem riesengroßen Garten, der sich zwischen dem Schmerberger Weg und dem Spitzbubenweg, nahe des Caputher Sees erstreckt.


Rummel ohne erschossene Vögel

Seit der Konfirmation meines bedeutend älteren Großcousins Herbert, bin ich öfter mit ihm zusammen. Gemeinsam besuchen wir auf dem Weberplatz den Rummel. Hier gibt es Überschlagschaukeln in Bootsform, elektrische Motor-Scooter (zweisitzige Personenautos) und vieles mehr. Fast alles können wir nutzen. Nur beim Fahren der Motorräder an der senkrechten Wand in der „Zylinder-Arena“ darf man nur Zuschauer sein. Unserer kleinen Bekannten in Thüringen war nicht verständlich, was „Rummel“ bedeuten solle. Ein Fremdwort wollte geklärt werden. Nachdem ich ich ihr so einige Beispiele des fröhlichen Treibens genannt hatte, sagte sie aufatmend: „Ach so, du meinst wohl, Du warst beim Vogelschießen“ ... und dabei war überhaupt nichts von Vögeln oder Schießereien auf diesem Platz. Alles ganz friedlich!

Daran sieht man auch wieder, wie schwierig das mit den verschiedenen Sprachen in unserem Land ist, und dass Mädchen manchmal aber auch alles das fühlen und verstehen, worüber man gar nicht gesprochen hat, was sie überhaupt nicht gesehen haben. So 'was fehlt mir.


Das neue Schuljahr beginnt bald

Die herrliche acht Wochen lange schulfreie Sommerzeit füllt die Monate Juli und August.

Am ersten September geht es wieder los. Ja, warum eigentlich freuen wir uns schon darauf?

Vorfreude ist die schönste Freude – oder ein anhaltender Genuss? Sorgsam wird durchgesehen,

was an Materialien zu ergänzen wäre.

Die neuen Schulbücher werden mit Schutzhüllen aus nicht mehr brauchbarem Lichtpauspapier

versehen, von Vati mit Tusche in Plakatschrift beschriftet.

Bleistifte, Buntstifte werden mit dem neuen Anspitzer frisch gespitzt und der Ratzel bereitgelegt.

Wir besuchen vor dem Schulbeginn auch schon mal unseren Klassenraum. Unser Hausmeister,

Herr Roelofsen, hatte keine Ferien. Er hat den Fußboden mit Terpentin geölt, so dass er staubfrei,

frisch, fett und dunkel aussieht.

Neue Schulbänke stehen im Raum: Tische wie bisher mit fest angebauten Sitzen in einer

festmontierten Linie. Bisher Eichenholz mit eingelassenem Tintenfass und Blechklappdeckel, jetzt

feiner, glatter und rötlich, so wie Mahagoni. Makkaroni sehen dagegen ganz anders aus.


Es war einmal

Das ist hier nicht der Beginn eines schönen Märchens. – Bisher hatten wir einen sehr netten Klassenlehrer. Den Herrn Paetke. Bis Anfang Juli. Jetzt, nach den Großen Ferien haben wir erst mal gar keinen. In der zurückliegenden Zeit ist er von der DDR aus höchstwahrscheinlich vorerst nach Westberlin „gegangen“ und von dort vielleicht ganz woanders hin. Die Kinder dort können sich also schon mal freuen, wenn sie ihn bekommen. Verschiedene Leute sagen über die Republikflüchtigen, dass jene es hier nicht mehr ausgehalten haben. Andere Erwachsene benutzen ganz andere Worte, die später wohl in solchen Sätzen gebündelt werden, wie: „es handelt sich um feindlich-negative Elemente, die die DDRepublik an die Bonner Revanchisten verraten haben und denen man nicht nachtrauern soll. Schade, dass wir sie nicht mehr einsperren können, dafür dass sie lieber woanders leben wollen“. ... und dem Lehrer Paetke werden im Laufe der Zeit weitere folgen.

Meine große Schwester lernte in der Schule noch das schöne Lied:

Wir sind jung, die Welt ist offen, oh du schöne weite Welt. Unser Sehnen, unser Hoffen ...“.

In meiner Altersgruppe stehen solche Lieder nicht mehr im Lehrplan. Vorsichtshalber. Und man soll ja sowieso nicht lügen; man soll es meiden, wo es nur geht!


Zum Beginn des Schuljahres und dann jeden Montag, gibt es morgens vor dem Schulunterricht für alle Schüler den Fahnen-Appell. So ist es angeordnet und vorgesehen.

Als freundliche Begrüßung gibt es den militärisch-gehackt-geschmetterten Befehlsruf: „Stüll-stann, die Auuugen links!“ – (warten, bis etwas Ruhe einkehrt), dabei stilles Zählen der Schüler. Es folgt die Meldung der Gruppenratsvorsitzenden einer jeden Klasse an den Freundschaftspionierleiter, dass soundso viele Schüler zum Appell angetreten seien (das dauert) und jener überbringt dann mündlich das Zählergebnis dem neben ihm stehenden Schuldirektor, ebenfalls im militärisch vorgegebenen sprachlichen Melde-Ritus.

Alles wird begleitet von den üblichen körpersprachlich-zackigen Arm- und Handbewegungen bzw.-Haltungen für das militärische Grüßen und Melden. Der Direktor dankt huldvoll für das Übermitteln der Zahl. Was dieser mit der wertvollen Zahl tun wird, bleibt im Dunkeln, werden doch täglich die genauen Zahlen der Anwesenheit in jedes der Klassenbücher eingetragen. Sodann der Befehl „die Auuugen gradeaus!“ für das Hissen = Hochziehen des Pionier-Wimpels und / oder der FDJ-Fahne mit den Worten: „Heißt Flagge!“ (wenn vorhanden: dabei gern Trommelwirbel). Diesem folgt das „Rührt euch!“ (manche Schüler rühren recht heftig). Dann vielleicht die Rezitation eines passenden Gedichts, die Auswertung der aktuell politischen Lage unter besonderer Beachtung der Untaten der Westdeutschen die gegen den Frieden sind. Später Lob und Tadel für besondere Leistungen und Taten, das dazugehörende Üben von Kritik und Selbstkritik vor versammelter Mannschaft, die spannende Bekanntgabe von Ergebnissen der Altstoffsammlung, die peinlichen Ergebnisse der überraschenden Schultaschendurchsuchung nach Schund- und Schmutzliteratur aus dem Westen (also das ist prinzipiell alles aus jener Herkunftsregion), gefolgt von einem Jugend- oder Arbeiter-Kampflied, wie beispielsweise:

Ich trage eine Fahne und diese Fahne ist rot. Es ist die Arbeiterfahne, die Vater trug durch die Not.“ Oder: „Von all unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut, wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut“ ... oder eben ein anderes bekanntes Werk.

Den Abschluss bildet der Ruf des Pilei (Pionierleiters): „Für Frieden und Völkerfreundschaft – Seid bereit“ und die Pioniere, die FDJ-ler und die anderen Schüler antworten im machtvollen Chor: „Immer bereit“. (Später wird die Formel in „Für Frieden und Sozialismus“ geändert.)

So etwa ist der prinzipielle Aufbau und Ablauf der Veranstaltung, mit leichten Änderungen. Anfangs jeden Montag, dann bald leicht einschlafend, bis die Pionier- und Schulleitung wieder 'mal „von oben auf Vordermann“ gebracht wird – sodann wieder frisch geschärft auflebend.


Schwarzes Sparen

Früher hieß es: „Spare in der Zeit – so hast du in der Not“. Zum Glück ist diese Not vorbei; so hören wir heute froh, optimistisch und der Zukunft zugewandt: „Sparen hilft dem Aufbau – Sparen hilft auch dir“. Getreu diesem Motto wollen wir in unserer Familie nun auch noch sicherer sparen, also nicht nur in Schweinchen, diesen unsicheren Kandidaten oder vielleicht überredbaren Schachteln, sondern im Handtresor der Bank. Dazu lädt uns Vati ein – eine besonders wertvolle Überraschung. Diese gemietete sehr schwere schwarze Sparbüchse, gibt für den eiligen kleinen Bedarf tatsächlich nichts wieder frei. Wenn sie voll Aluminiumgeld ist, dürfte sie nicht wesentlich schwerer sein als im Leerzustand und man kann dann die mühsam gesammelten Schätze in der / auf der Bank für einen Moment bewundern, schwupp, gehen sie als kleine unscheinbare Zahl ins Sparbuch ein und andere Leute arbeiten mit unserem Häufchen der gesammelten Münzen. Außerdem muss man noch mehr sparen, weil ja die Miete für diesen Tresor aufgebracht werden muss. Wir erkennen bald, dass wir nach einem Jahr Spar-Mindest-Laufzeit besser von dieser modernen Sparmethode Abschied nehmen.


Ich allein bin schuld daran?

Meine Tante Käte schwärmt bei meinem Besuch wieder von alten Zeiten. Wir sehen erneut ihre Fotoalben aus früheren Zeiten an, was freudige Erinnerungsbilder in ihr weckt – viele Leute sind da auf den 6 x 9 cm kleinen Fotos zu sehen, die ich nicht kenne, die schon alle längst tot sind. Und auf den Abbildungen noch dazu diese Guten hauptsächlich mit nur stecknadelkleinen Köpfen. Die Tante merkt sehr wohl, dass mich ihr Vortrag nicht so sehr fesselt, meine Neugier auf noch mehr, sich eher in engeren Grenzen hält, obwohl es doch so sehr schön sein mag, nicht nur allein zu schauen, sondern sein Wissen an jüngere Menschen weiterzugeben – wenn einem doch das Herz davon noch so voll ist.


Daran musste ich sofort wieder denken, das hat mir mein Gewissen vorgehalten, als wir nach Kätes Ableben im Jahre 1978 ihre Wohnung ausräumten. Von den Fotoalben war nichts mehr vorhanden. Keine Spur. Auch nichts mehr von den herrlichen farbigen Panorama-Ansichtskarten. Wahrscheinlich hatte sie an einem unguten Winter-Tage eine warme Wohnung gehabt. Ich machte mir Vorwürfe, weil sie diese ihre Erinnerung vielleicht wegen meines kindlich nur subtilen Interesses vernichtet hatte. Jetzt, da ich als Erwachsener mit der Ahnenforschung in unserer Familie begonnen habe, hätte es mich brennend interessiert, diesen Schatz zu bewahren und „auszuwerten“, Fotoanlässe und -Inhalte zu beschreiben. Personen und deren Leben posthum kennenzulernen, zu erwähnen, verblichenes in die Zukunft zu tragen. Nichts war in dieser Hinsicht mehr möglich.


Wir möchten Conrad Röntgen ehren und jene, die seine Entdeckung für alle nutzen, danken.

Alle zwei Jahre sind wir geladene und nutznießende Teilnehmer der Volksröntgen-Aktion, bei der wir in großen grauen Bussen hinter den Bildschirmen stehen und uns mit den von Herrn Conrad Röntgen entdeckten Strahlen den Brustkorb auf Film (im Maßstab 1 : 1) bannen lassen. Das Ziel: Möglichst frühzeitig dem Zerstörungswerk irgendwelcher ungesunden Tuberkel auf die Spur kommen, was einschließlich der eventuellen Patientenbehandlung erfolgreich zu deren Ausrottung in unserem Land führen wird.


Straßenbahn und mehr von unserem Verkehr

Zu unserer Kinderzeit fahren durch Potsdam und Babelsberg die bewährten Vorkriegsmodelle der Straßenbahnen. Was auch sonst? An unserem Haus rollen die Wagen der Linien 4 und 5 sowie manchmal bei Ausfall einer regulären Bahn oder für Sonderfahrten, auch Fahrzeuge mit dem Schild E = Einsetzer (im Sinne von Ersatz) vorbei. Die Strecken gehen von der Babelsberger Endhaltestelle Fontanestraße bei der Linie 4 zum Potsdamer Luftschiffhafen, dorthin, wo es früher den regen Verkehr der Zeppelin-Luftschiffe gab.

Die Linie 5 führt von Babelsberg zum Potsdamer Kapellenberg an der Russischen Kolonie Alexandrowka. Diese ist seit 1826 dem Gedenken der Waffenbrüderschaft und dem verstorbenen Zaren Alexander II. von Russland gewidmet. Nur die Kolonie, die Ansiedlung, nicht die Straßenbahn.

Am Beginn des DEFA-Films „Heißer Sommer“ – im Jahre 1968 wird der Film gezeigt werden, – kann man auch dann noch gleiche Straßenbahnen in Leipzig sehen. In Potsdam wird es in jener '68-er Zukunft modernere Fahrzeuge geben. Diese älteren: vorne und hinten ein Ein- und Ausstiegs-Perron mit Stehplätzen, dazwischen der Wagenhauptteil mit zwei Innen-Türen geschlossen. An den Außen-Türen Emailleschilder mit der Mahnung: „Beim Ausstieg linke Hand am linken Griff“ mit dem entsprechenden Bild einer sich an der Griffstange haltenden Hand, um nicht etwa beim noch Rollen der Bahn, entgegengesetzt der Fahrtrichtung abzuspringen. Abspringen soll überhaupt nicht sein, auch wenn das nun gerade Spaß macht.

Der Fahrerstand ist in Greifhöhe mit zwei handlich-großen Messingkurbeln ausgestattet, die in der Waagerechten gedreht werden. Die linke als Regler für die Fahrgeschwindigkeit mit dem Anzeiger für die Geschwindigkeitsstufe und die Kurbel für die rechte Hand, als Bremskurbel. Ich habe noch das Ratschen der Bremskurbel im Ohr, die sich nach dem mehrfach umrundenden Festziehen, mit einem leichten Linksklick wieder lösen lässt. Ferner gibt es den Startschlüssel und den manuellen Scheibenwischer. Die Außen-Klingel, fußbetätigt, befindet sich unter ihrem Schutzblech, um die versehentliche Abgabe von Warnsignalen auszuschließen. Dann die lange Weichenstellstange, die in ihrer Tüllen-Halterung hängt. Das Ganze – ein Steharbeitsplatz für acht Stunden. Massive Messingschilder, je nach Baujahr mit den Initialen von „Siemens & Halske“ oder „Siemens & Schuckert“, geben den Hersteller dieser Fahrzeuge an.

Den steilen Potsdamer Brauhausberg bis zum Schützenhaus an der Michendorfer Chaussee, befuhren bis zum Krieg die besonders stark motorisierten „Hecht-Wagen“, nach ihrem Aussehen so benannt.

Auch in unserer jetzigen Zeit (1955) kassieren noch Schaffner das Fahrgeld und klingeln nach dem Einsteigen „ab“. Dazu bedienen sie sich einer über den Köpfen längs durch den Wagen reichenden Zugleine, so dass die Schaffner dem Fahrer von jedem Aufenthaltsort im Waggon das Abfahrtsignal mit der Glocke geben können, auch wenn sie beim Kassieren in der Wagenmitte von der Menge der Fahrgäste „eingekeilt“ sind und überhaupt nicht sehen, was sich an den Ausgängen tut. Die Schaffner tragen am Lederriemen vor ihrer Brust die Münzenwechselkasse für 5-, 10-, 20- und 50-Pfennig-Münzen. Den Daumen, schützt ein Gummiüberzug. In der linken Hand halten die Schaffner die Palette mit den unterschiedlichen Fahrscheinblöcken. In der rechten Hand die blanke Lochzange zur Entwertung der Mehrfachfahrscheine (10-er-Karten). Man hat als Schaffner wirklich alle Hände voll zu tun. An der Seite hängt an ihnen außerdem die Aufbewahrungstasche für Geldscheine. Von zwei „markanteren“ Schaffnern sehe ich noch heute (nach mehr als sechs Jahrzehnten) deutlich deren Gesichter vor mir. Das waren Herr Trudchen und die Frau Erna.

Für die Kinder walzen die Räder der gewichtigen Straßenbahn ganz freiwillig immer mal eine ausgelegte Münze zu einem flachen Blechschildchen aus. Ähnliches gibt es als so genannte „Stocknägel“ auch im Laden zu kaufen – hauptsächlich für Urlauber als Andenken, dann aber mit anderen Motiven.


In der Berliner S-Bahn, die ja mit einer ihrer Strecken, bis auf die 30 Jahre dauernde Zäsur zwischen 1961 und 1991 in Potsdam endet, sind bisher die Warnhinweise, die von einem Aussteigen während der Fahrt abraten, in deutsch, englisch, französisch, italienisch und russisch notiert. Erst auf Emailleschildern, später, als diese wohl zu viele Liebhaber gefunden hatten, als Abzieh- oder Schiebebilder gefertigt. Also un-mausbar aufgeklebt. Ab 1991 wurden jene nicht mehr angebracht.


Die Überland-Busse haben ihre Zentrale Abfahrtstelle auf dem Potsdamer Bassinplatz, auf dem ja kein Bassin mehr zu sehen ist. Er grenzt unmittelbar an das Grundstück der Katholischen Kirche „Peter und Paul“ sowie an den sowjetischen Ehrenfriedhof. Hier ist der Ort des „Ersatzherzens“ der Stadt, weil der ursprüngliche, nahegelegene zentrale Platz „Alter Markt“ mit dem Stadtschloss, dem Alten Rathaus, der Nikolaikirche und vielen Bürgerhäusern, nach den Bomben- und späteren Artillerietreffern seit dem Frühjahr 1945, kein zentral nutzbarer Platz als Stadtmitte mehr ist.

Ältere Busse befahren Strecken mit erhöhtem Personenaufkommen mit einem Anhänger an der Zuggabel. Der Schaffner muss zwischen Zugmaschinenbus und Anhänger an den Haltestellen hin-und herspringen um zu kassieren. Moderne Busse wie die neuen ungarischen vom Typ „Ikarus“ haben diese Möglichkeit nicht mehr. Sie brauchen keinen Anhänger schleppen.

Von den elektrischen Oberleitungsbussen (O-Busse), die durch Babelsberg rollen, fahren die meisten „solo“, nur wenige mit einem Anhänger.


Die bildhafte Aufklärung über die Gefahren des Straßenverkehrs wird der Bevölkerung mittels Bilderserien am Negativ-Beispiel der Figur des „Hugo Leichtsinn“ nahe gebracht.


Flugverkehr

An der GAGfAH-Siedlung, der früheren Gemeinnützigen Aktien-Gesellschaft für Angestellten- Heimstätten-Bau, befindet sich nahe der Bruno-Hans-Bürgel-Straße, die nach unserem geehrten Volksastronom benannt wurde eine großen Kiesgrube zur Baumaterial-Gewinnung (später zugeschüttet). Von dem hohem Rand der Grube kann man wunderschön Papierflugzeuge starten oder auch Drachen. Weite Flüge mit den Augen zu verfolgen ist dort günstig.


Kunstgenuss

Meine Schwester und ich waren heute zu Gast bei Frau M. und ihrem Sohn Hans-Jürgen in der GAGfAH-Siedlung, Hans-Jürgen, einige Jahre älter als wir, sollte / wollte uns etwas auf dem Klavier vorspielen. Bis es los ging, dauerte es eine Weile, weil sich der Künstler eine Zeit lang vorbereiten musste. Wir staunten nicht schlecht, ich staunte sogar sehr, wir waren begeistert darüber, mit welchem Temperament und noch dazu völlig ohne Noten er aus dem Kopf längere Stücke, beispielsweise „Die Wut über den verlorenen Groschen“ des Ludwig van Beethoven oder Partien aus der alten Oper „Rübezahl“ darbieten konnte. Eine große Begabung.


Noch mehr Genüsse – Dinge, die das Kinderleben versüßen

Die Ausrücker

Es gibt in dieser Zeit noch gar nicht so viele Autos. Trotzdem stehen immer wieder welche völlig verlassen in der Schulstraße in der Nähe des Bahnhofs. Viele der von auswärts Ankommenden ahnen gewiss nicht, dass sie ihr Fahrzeug genau vor dem Polizeirevier abgestellt haben und gut unter Beobachtung sind. Gewöhnlich werden die abgestellten, herrenlosen Autos nach 2 bis 3 Tagen abgeholt – nicht von ihren bisherigen Besitzern. Dann ist klar, dass der vormalige Eigentümer des Fahrzeugs sein Auto, seine Wohnung, Haus und Hof, alle seine Werte, aus Gründen die nur er genau kennt, verlassen hatte. Vom Bahnhof Babelsberg eine kurze Fahrt mit der S-Bahn und ein Stück hinter der nächsten Grenz-Bahnstation Griebnitzsee, dann schon im amerikanischen Sektor von Berlin angekommen. Also wurde er republikflüchtig oder hat, wie es im offiziellen Sprachgebrauch auch heißt, den Arbeiter- und Bauern-Staat an die Revanchisten und Imperialisten Westdeutschlands verraten.

Öfter seufzte unser Vater: Ach, hätten wir doch solch einen vielleicht kostengünstigen herrenlosen Wagen als Familienkutsche – aber daraus wurde nichts. Die Staatsmacht wusste die Fahrzeuge wohl schon irgendwo gezielt einzusetzen oder mit neuen Papieren, gebraucht zu verkaufen.

Für ein eigenes Fahrzeug reichte das hart erarbeitete Geld der Eltern in ihrem gesamten Leben nicht. Kurz vor dem Krieg waren die erforderlichen 999,- RM (Reichsmark) für einen KdF-Wagen (Aktion: „Kraft durch Freude“) fast zusammen gespart. Dieses Auto sah aus wie ein „Käfer“. Aber noch auf den Fließbändern wurden diese Maschinen dann mit kriegsverwendungsfähigen Karossen versehen, damit sie zumindest den Eindruck eines Geländewagens vermittelten und in der Nachkriegszeit – wir aber davon inzwischen abgeschnitten – entstand in Wolfsburg tatsächlich der zivile VW-Käfer. Die Ersparnisse der Eltern, wie die so vieler Menschen, waren aber ohnehin futsch.



Organisierte sommerliche Ferienspiele

In den Sommerferien nehme ich wieder an den Ferienspielen der Schule teil. Dazu treffen wir Schüler uns im Volkspark Babelsberg. Früher, als der Ort Babelsberg noch Nowawes hieß, war die Bezeichnung „Schloss-Park“. Zu frohem Spiel werden wir mit Schülern anderer Klassen und sogar anderer Schulen zusammengewürfelt. Es ist sehr schön wenn man nicht nur Lehrer sieht. Die Hort-Erzieherinnen, die uns betreuen, haben in den Ferien keine Hortzeit. Sie sind lustig und unternehmen viel mit uns. Die wenigen Lehrer, die wir in den Ferien sehen, sind jetzt gar keine richtigen Lehrer, sondern sehr kameradschaftliche Kumpels. – Nur beim Laufen auf der Straße gehen wir diszipliniert und in Zweierreihen und beim Anstehen in der Schlange zum Essenempfang. Jedes Kind hat dazu von zu Haus einen Behälter oder eine kleinere Schüssel und einen Löffel mitgebracht. Ich habe ein Vorkriegs-„Kochgeschirr“ das ist ein in seiner Grundfläche nierenförmiger Blechtopf mit übergreifendem Deckel, wie er bei der Armee, der Reichswehr, üblich war. Dazu besitze ich den strapazierfähigen Umhänge-Brotbeutel aus Muttis Jungmädel-Wanderzeit für das Frühstück.

Jeden Tag um die Mittagszeit gibt es also warmes Essen. Es wird von irgendwoher in großen doppelwandigen Behältern (Thermophoren) angeliefert. Außen grün, innen Aluminium. Die schnellen Mahlzeiten sind immer wohlschmeckend. Es gibt beispielsweise: Brühnudelsuppe (mal Sterne, mal Buchstaben) oder Weißkohlsuppe, mal Graupen (Kälberzähne), auch Kartoffelsuppe oder Erbsensuppe mit Bockwurst!

Warmen und später kalten Tee in allen Zwischentemperaturstufen können wir den ganzen Tag über trinken.

Wir malen, singen, kneten, vergnügen uns beim Fußball!, Sackhüpfen, Baden, sind eifrig beim Staffelwettlauf, Ballzielwurf, Tischtennis und beschäftigen uns mit kleinen Schnitzarbeiten. Auch eine Schiffsfahrt und das Geländespiel (Schnitzeljagd) stehen auf dem Programm. Höhepunkt ist das Sportfest – ein Leistungsvergleich mit Urkunden für manchen..

Wenn das Wetter mal nicht so sehr schön ist, gibt es ein anderes Programm: Wandern, wir hören vorgelesene Geschichten, lesen aber auch selbsttätig, basteln, kämpfen auf Brettspielen um Siege. Sind fröhlich.

Auch waren wir mal in einem der Häuser im „Neuen Garten“, die im Holländischen Stil am Hauptweg erbaut wurden. Dort steht die große, eine großartige Modelleisenbahnanlage, die mit allen möglichen Landschaften aufgebaut ist. Die Zukunft weiß: Später muss diese weichen, weil das Potsdamer Planetarium jenen Platz beansprucht. Aber nach 1990 wird auch das Planetarium umziehen – in die Gutenbergstraße – und modernisiert am neuen Ort ihre Gäste empfangen.


Der Haarsör

Vor dem Fest werden noch einmal die Haare geschnitten. Wir, Vater und Sohn wirken danach erheblich jünger. Zu diesem Zwecke besucht uns als Haus-Friseur, Herr Walter Becker, Nachfolger von Herrn Sowa. Walter Becker ist also ebenfalls als „Wander-Friseur“ tätig. Er besucht seine Kunden und nicht umgekehrt. Herr Becker ist ein freundlicher, knapp mittelgroßer älterer Mann, der in der Rudolf-Breitscheid-Straße 72 wohnt. Er ist von grauer Gesichtsfarbe mit einer recht großen Nase, diese jedoch rot mit hervor drängenden rot-blauen Krampfäderchen gezeichnet. Diese Nase erfordert es, dass ihr Besitzer sie häufig mit einem schwer nachahmlichen „blubb-blubb-bluff“ sehr geräuschvoll in sein Taschentuch schnäuzt oder mitunter auch schneuzt.

Das Frisieren beginnt damit, den sogenannten Frisierkreppstreifen, nicht unähnlich dem Abschnitt einer Toilettenpapier-Rolle um den Hals zu legen, der verhindern soll, dass anschließend kleine Haarabschnitte die Haut kratzen und pieksen. Ich aber halte es mehr für eine symbolische Handlung mit unnötigem Papierverbrauch. Zu Beginn ward stets die Frage nach der Art des gewünschten Haarschnitts gestellt. Das gehört zum Ritual. Jeder der Anwesenden sieht und weiß natürlich, nach welchem Muster beim vorigen Mal gekürzt worden war. Regelmäßig heißt es dann: Bitte einmal „Kurz“ – für 1,10 Mark, beim Herrn; der gleiche Jungenhaarschnitt für 85 Pfennige. Später lässt mich meine Wahlfreiheit und Entscheidungsgewalt die Bitte „Fasson“ äußern. Erst ein knappes Jahrzehnt später wird es dann der „Rundschnitt“ sein. Das dann aber nicht mehr bei Herrn Becker. Gemütlich ist das bereits pseudohypnotisch wirkende Anlegen des Umhangs, bei dem einem schon fast die Augen zufallen können. Dazu das Klappern der Schere, die selbst im Leerlauf fleißig im Trab gehalten wird, um nicht aus dem rechten Takt zu kommen und dann gar das sanft-monotone Schnurren der elektrischen Haarschneidemaschine. Öfter drückt des Beckers gekrümmter Zeigefinger unter meinem Kinn mich in die Wirklichkeit zurück und den Kopf damit etwas höher.

Die Anzugsordnung des Herrn Becker ist recht interessant – einer Zwiebel ähnlich. Weil ich ja nichts zu tun habe, als den Blick schweifen zu lassen, kann ich hinter den die Schere und den Kamm führenden Händen an seinen Handgelenken genau ausmachen, dass er stets über der schwärzlich behaarten Haut ein langes Unterhemd trägt, dann das buntkarierte Hemd darüber worauf dann im Winter ein, zwei dünne Pullover die Handgelenke umschließen, außen umhüllt von einem älteren Jackett. Im Preis des Haarschnitts ist diese Besichtigung eingeschlossen.

Wenn es an das Ausschaben der Haare hinten am Nacken geht, ist das ein sicheres Zeichen für das Ende der Prozedur und Mußezeit. Den Abschluss bilden stets ein Wischer mit dem breiten, weichen Pinsel über Gesicht und Hals sowie eine parfümierte Puderwolke aus dem Zerstäuber mit Gummiball. Ohne diese Zeremonie geht es nicht. Die neue „Tolle“ ist somit fertig. Muttchen Dyck fragte dann hin und wieder scherzhaft, ob ich denn die Treppe hinuntergefallen sei (und mir dabei die Haare gebrochen und abgestoßen hätte). Bei Gleichaltrigen war da eher die „kahle Bonje“ im Sprachgebrauch.


Schwimmfest

Die offizielle Prüfung meiner Schwimmkenntnisse wird auf dem Freischwimmer-Zeugnis am

13. August 1955 dokumentiert. Die Prüfung nimmt der Schwimmlehrer, Herr Martin, ab. Die Respektsperson erscheint in der Babelsberger Badeanstalt an der Havel, mit weißer Schiffermütze und im weißen Unterhemd zu blauer Trainingshose als Berufsbekleidung.

Die Prüfung besteht aus 15 Minuten des Brustschwimmens im Steg-Geviert der Badeanstalt – es ist so ähnlich wie ein Kreisschwimmen, bloß eben mit Ecken. Aus diesem Grunde kann es noch nicht den echten Kreismeisterschaften zugerechnet werden. Dieser Viertelstunde folgt als krönender Abschluss der Hopser vom niedrigen 1m-Brett des hohen Turmes.

Allerdings muss ich euch gestehen, dass ich mich zu späterer Zeit in einer Zwangslage befinden werde: Es ist mir dann nämlich nicht mehr möglich, euch den Wahrheitsgehalt meiner Ausführungen zu dokumentieren. Und das wird, hier ein kleiner Zeiten-Trick, so kommen:

1958, im 6. Schuljahr, wird unsere Klasse fast geschlossen die Fahrtenschwimmerprüfung ablegen. Es sind nur einige wenige Schüler die sich bis dahin am Nichtschwimmerstatus festhielten und deshalb danach streben sollen, sich vorerst völlig frei zu schwimmen.

Das Doppel-Schwimmzeugnis befindet sich auf einem DIN-A 4-Blatt im Querformat. Die linke Seite trägt den Freischwimmer-Nachweis, der rechte Vordruck ist noch jungfräulich, blütenzart-weiß, unausgefüllt und enthält den Fahrtenschwimmer-Vordruck. Zum Neueintrag sammelt der Sportlehrer die bisherigen Zeugnisse ein. Herr Freydank, unser Sportunterrichtender, sieht aus wie ein alter Germane: Ein Athlet, mittelblondes kräftiges gewelltes Haar, vom vielen Denken eine ebensolche gewellte Stirn, braungebrannt. Helle Augen.

Ein, zwei Tage nach unserer Prüfung des Fahrtenschwimmens ist unser Sportlehrer in den Westen „abgehauen“, „hat sich abgesetzt“ oder ist „getürmt“, beziehungsweise „nach Drüben“ gegangen oder wie man im Sächsischen eher sagt: „Er ist in den Westen gemacht“. Schon wieder einer, – dem Ungezählte folgen werden. Unsere Zeugnisse werden wohl kaum gesucht und schon gar nicht wiedergefunden. Gelten als verloren. Ein Ersatz für die alten wird nicht ausgestellt und Dokumente für die gerade wohlbestandene Prüfung erhalten wir ebenfalls nicht. Es gibt so viele Probleme – da hat der Staat wichtigeres zu tun. Nur deshalb sitze ich heute so vor euch und kann nichts belegen – außer, wenn ihr das mögt, könnte ich euch eine Runde vorschwimmen.


Doch nun wieder schnell zurück in unser 55-er Jahr! Zuhause wartet nach der Freischwimm-Prüfung eine große Überraschung:

Für unsere weißlackierten Stahlrohrbetten erhalten wir eine Bett-Leseleuchte und die sieht so aus: Ein waagerechtes zylindrisches weißes Drahtgestell mit zwei Rundhaken, so dass man diese Lampenbügel gut über das Bettgestell aus Stahlrohr hängen kann, ja, sehr ähnlich wie die Bügel einer Brille auf den Ohren sitzen oder wie das „Haltefragezeichen“ eines Kleiderbügels. Das Drahtgestell ist als Blendschutz zu zwei Dritteln des Umfangs mit einer geschmackvollen Tiefdrucktapete bespannt, die zu besserer Haltbarkeit farblos lackiert ist. Nur nach unten hat das Licht den freien Austritt, denn in dem Gestell ist selbstverständlich auch die Fassung mit Glühlampe installiert. Prächtig. Dankeschön, liebe Eltern.


Gut Holz – Das fröhliche Holzhacken

Im Sommerhalbjahr ist auf dem Hof das Hacken von Holzscheiten für den Winter angesagt. Eingekauft werden Baumscheibenrollen, zumeist aus Kieferbeständen, die dann mit der großen Axt und dem kleineren Beil auf dem Hauklotz zu Scheiten, Scheitchen und Spänen ofenbereit zerteilt werden.

Einmal im Jahr kommt der gute Herr Paul Tietz, ist und isst zu Gast als Holzhacker. Er bessert mit dieser wichtigen Wintervorbereitung seine schmale Mindest-Rente etwas auf und pflegt dabei die Vielfalt sozialer Kontakte. Es ist für mich jedes Mal ein Schau-Fest, verbunden mit der Aufgabe, sobald er mit der Axt außer Reichweite geht – zu einer Pause oder nach seinem Arbeitsende – alles das, was er fleißig zerschlagen hatte, fortzuräumen und im Schuppen aufzuschichten.

In diesem Jahr hat sich der Arme aber wohl bei anderen Leuten leider vertan, selbst ins Bein gehackt, kann also nicht kommen. Und so kommt es, dass ich als einziger in Betracht kommender Sohn meiner Eltern zum Paul-Tietze-Nachfolger werde, was sich für mich aber auf den Einsatz auf „unserem“ Hof beschränkt, denn ich muss ja nicht so viel mit anderen Leuten schwatzen.

Mit der großen Axt geht die Arbeit in diesem Jahr noch nicht aber das handliche Beilchen leistet mir und dem Holz gute Dienste. Erst beschwerlich und aussichtsarm ob der Menge, mit Blasen an den Händen. Später dann nach dem Wachsen der gehackten Haufen die mich umgeben, bin ich rechtschaffen zufrieden mit dem Werk. Kiefer lässt sich ausgezeichnet spalten und die Klinge halte ich stets scharf. Auch verabrede ich mit mir, schwierige Ast- und Wurzel-stücken nur grob zu trennen und die Feinzerlegung im Winter dem Ofen anzuvertrauen.

Das Aufschichten im „Stall“ (ohne Tiere) ist dann eher eine Entspannungsübung und man kann nochmals hübsch das Ergebnis betrachten. Immer mal bei Bedarf eine Querholzwischenlage, damit der prächtige, mehrreihige Stapel nie nach vorne kippt. Und wie das Holz so vor sich hin duftet!


Um das Glück der Vorratswirtschaft voll zu machen: Für 3,- Mark können wir einen Holzsammelschein beim Förster oder richtig: Beim „VEB Forstwirtschaftsbetrieb“ in Potsdam, Am Försteracker, erwerben (Quittung als Ausweis immer mitführen!) und dann, im Sommer den Wald aufräumen, herabgefallene Äste, so genannten „Knack“ oder „Bruch“ ernten, solange die eigene Lagerkapazität und die Lust ausreichen. Da lohnt sich sogar der Weg bis in die Potsdamer Ravensberge (das ist dort, wo die Raben hausen). Wir haben ja den großen Handwagen mit dem völlig zerlegbaren Kasten, der sich für das Bergen solchen, auch überhängenden Transportguts hervorragend eignet. Und ein dicker Strick hilft das Ganze zusammenzuhalten.


Spiele und weitere Neuerungen

Zum Beginn des Schuljahres schreibe ich im neuen Heft immer besonders sauber ... mit der Zeit „legt“ sich das etwas aber für den Deutschunterricht wurde wieder ein gesondertes Schönschreibheft vorgesehen.

Einer aus unserer Klasse hat Streichhölzer mitgebracht, für die man keine Reibefläche einer Streichholzschachtel benötigt. Man kann diese sowohl an der Lederschuhsohle (Gummi geht nicht), als auch an der Fensterscheibe und sonst wo „anreißen“. Wieder so ein kleines Wunder. Die sind nicht im KONSUM oder der HO eingekauft. Ansonsten ist es beliebt, auch außerhalb der Silvesterzeit kleine Knallereien zu veranstalten: Ein hohler Schlüssel, dahinein Pulver von abgekratzten Streichholzkuppen gestopft, ein passend abdichtender Nagel, beides gegen Verlust mittels Schnur verbunden und halbwegs geschickt an die Wand geschleudert (außen, im Freien), ergibt eine wunderschöne Explosion. Bitte nicht weitersagen. Es wird nämlich als verboten verfolgt. Schießen mit Flitzbogen (der Armbrust des kleinen Mannes) aus Plaste, vorn aber statt der Pfeilspitze ein Saugnapf. So bleiben die Pfeile gut an glatten Flächen des Zielobjekts „kleben“ und können niemanden verletzen. Neckbälle am Gummiband gibt es. Selbstgefertigte Blasrohre für Holunderbeeren. Selbstgebaute Katschies haben wir – Katapulte mit Gummizug als Wurfschleuder. Die gute Frau Weiß im Haushaltwarenladen in der Rudolf-Breitscheid-Straße 80 freut sich immer, wenn die aufmerksamen Jungen einzelne Gummiringe für die Einweckgläser ihrer Mütter kaufen. Man soll sie ja nicht damit beunruhigen, dass ihr Geschäft unsere Waffentechnik vervollständigt.

Mode ist es, die Sohlen der Stiefel mit den sechseckigen „Soldaten-Nägeln“ zu versehen. Man steht dann quasi nicht mit der Schuhsohle, sondern mit diesen Spikes auf dem Pflaster und läuft mit entsprechenden Geräuschen. Angeblich verfügt nur noch der eine Schuhmacher-Meister, ihr wisst schon, in der Ernst-Thälmann-Straße, über solch einen alten Vorrat neuer Nägel aus Vorzeiten und hat häufiger Besuch von kauffreudigen Jungen. Den Sohlen tut das in Wirklichkeit gar nicht gut und manchem Untergrund auch nicht.


Beliebt ist das „Klimpern“, das Zielwerfen von Münzen in Richtung Hauswand mit Pfennigen.

Wird beim Werfen die schon liegende Münze eines Mitspielers getroffen, darf diese in den Schatz des Werfenden überführt werden. Mit der Münze die man mit geringstem Abstand zur Hauswand werfend platziert, kann man alle schlechter, mit größerem Abstand gelandeten Münzen ebenfalls als eigenen Gewinn einsammeln. Verwendet werden auch ungültige Altmünzen. Die aus der Kaiserzeit sind stets aktuell. Einigen wir uns auf gültige DDR-Pfennige, gibt es einen doppelten Gewinn, bestehend aus Münzenmenge + Nominalwert.


Septemberbesuch

An diesem Sonnabend wollten wir eigentlich Tante Marianne Seehafer in Berlin, in der Nähe des Schlachtensees besuchen. Vor einiger Zeit hatte sie geheiratet. Deshalb heißt sie inzwischen auch anders. Leider treffen wir sie nicht an, weil sie sich gerade bei, auf oder in einem Weiterbildungsseminar für Lehrerinnen und Lehrer aufhält. Es war „nur“ ihr ganz frischer Mann da, der „Onkel Hans“, ein besonders Freundlicher. Er ist kein Lehrer. Er ist ein Diplom-Ingenieur. Vor der Haustür, am Vorgartenzaun, steht ein interessantes kleines schwarzes Motorrad. Eine NSU, mit der die Beiden so manche dringenden Spazierfahrten erledigen. Einen großen Hund, einen gutmütigen Bernhardiner, haben sie auch. Der hat aber noch nie eine Labeflasche oder ein Fässchen mit Rettungsschnaps getragen, wie es in der Schweiz so üblich ist. Er ist auch noch nie auf diesem Motorrad mitgefahren. Der Hund von Onkel Hans geht an diesem schönen Tag neben uns spazieren, mit traurig wirkenden Augen, obwohl er dazu kaum einen Grund gehabt haben dürfte. Unser Struppi hält stets einen gehörigen Abstand zu ihm.


Vertraute Fremdworte

Brüsche (mit langem „ü“) – eine Beule (am Kopf, beim Zusammenstoß mit...).

Dufte“ – etwa so viel wie „Knorke“ oder „Schau“, also „sehr schön“.

Kienäppel – Kiefernzapfen.

Pesen, wetzen – schnell laufen.


Einige Schlager des Jahres '55

Ganz Paris träumt von der Liebe, denn da ist

Caterina Valente // Nicole Felix

Ich möcht' auf Deiner Hochzeit tanzen

Bully Buhlan

Papa, du bist so reizend, so chic und elegant

Julia Axen

Weißer Holunder blüht wieder im Garten

von Bärbel Wachholz

Zwei Spuren im Schnee führ'n herab aus steiler

Vico Torriani


Solidarität. Wir sammeln weiter – und das ist gut so.

In der Schule wird wieder fleißig gesammelt: Radiergummis, Hefte, Bleistifte usw., um diese in afrikanische oder asiatische Länder zu schicken, wo es die Kinder nicht so gut haben wie wir hier.

Die vietnamesischen Menschen im Krieg.

Wir leben im Frieden. So gehören zum Sammelumfang auch Verbandstoffe. Neu hinzu kommt die Aktion „100 Fahrräder für Vietnam". Ein vietnamesischer Gast erklärt uns in der Schule zu diesem Sammelaufruf, dass die vietnamesischen Menschen nicht damit in ihrem heimatlichen Urwald spazieren fahren wollen. Die Fahrräder werden an den eigentlichen Stellen für Lenker und Sattel mit Führungsstangen für vier rechts und links laufende Helfer ausgestattet, um damit laufend / schiebend die Lasten zur Versorgung der Bevölkerung und der Volksbefreiungsarmee zu transportieren, die unverschuldet im Kampf gegen das übermächtige amerikanische Militär stehen. Er verdeutlicht es uns: Wir sollen keine Fahrräder sammeln, sondern es wird um Geld gebeten für den Kauf, Umbau und Transport der Fahrräder bis nach Vietnam. Das Geld wollen wir in den Aktionen des „Rumpelmännchens“ und somit vom Verkaufserlös der gesammelten Flaschen und Gläser, der Zeitungen, Alttextilien und des Metallschrotts zusammen bekommen. Elterliche Spenden gelten ebenfalls als willkommen. Wir wissen nach dem Vortrag: Was sind schon 100 Fahrräder für ein großes Land, das im Krieg lebt. Viel mehr wird benötigt! So geben wir uns erfolgreich Mühe einen Beitrag zu leisten.




Liebe Leserinnen und Leser,


Dieser Teil-Bericht über das Leben endet hier mit dem Jahr 1955.

Die Fortsetzung „janecke-chris-2“ ist auf dieser Internetseite als Datei

ebenfalls vorrätig und begleitet uns durch die Jahre 1956 bis 1960.


Freundliche Grüße,

Chris Janecke * Potsdam, am 31. Mai 2016