Die Musiker-Familien Kempff in Jüterbog, in Potsdam und in der Welt

Zusammengestellt von Chris Janecke, hier derzeitig als Arbeitsfassung vorgestellt, Zwischenstand Februar 2023.
Leserhinweise werden gern gesehen. E-Mail: christoph@janecke.name

Liebe Leserinnen und Betrachter – weibliche genauso wie männliche,

im Folgenden versuche ich einige Lebensstationen der Familien Kempff nachzuzeichnen. Als Quellen nutzte ich die Bücher von Wilhelm Kempff jun. „Unter dem Zimbelstern“ und „Was ich hörte, was ich sah“. Nicht in jedem Falle ist in jener Literatur für die Ereignisse der genaue Zeitpunkt angegeben und es gibt auch Zeitsprünge in den autobiografischen Darlegungen, so dass meine Notizen eventuell nicht für jeden Punkt streng chronologisch stehen. Ferner verwendete ich verschiedene Angaben aus dem Internet (u.a. Wikipedia), las Michael Custodis' „Orpheus in Nöten“ (im Heft „Musik und Ästhetik, 20. Jahrg. Heft 79, 2016) und verarbeitete die wenigen Kurzerzählungen aus dem eigenen Familienkreis, von meinen Eltern. – Ich selber bin zu jung, konnte das damalige Geschehen nicht miterleben. Es ist daher möglich, dass mit den übernommenen Notizen eventuell auch Fehler eingearbeitet wurden.
Es erschien mir als unzureichend, biografische Kurzangaben, die großen musikalischen Leistungen, wie auch die vielen Auszeichnungen für Wilhelm Kempff jun., lediglich auflistend zu reihen. Aus diesem Grund habe ich zu den Erlebnissen der Kempffs, einige ausgewählte größere Ereignisse des Geschehens in Deutschland und der Welt gestellt. So wird der Bezug dazu erleichtert, was außer den persönlichen Höhepunkten in der klassischen Musik in jenen Zeiten, in Politik, Wirtschaft und Technik wichtig schien. Auch soziale Probleme und kriegerische Handlungen erwähne ich. Die Fotos versuchen eine Rückschau auf die Jahrzehnte der Familie Kempff in Potsdam, auch wenn ein größerer Teil der Bilder aus heutigen Tagen stammt – die Orte sind identisch.
Es ist mir bewusst, dass die folgenden Notizen viele weitere wichtige Begebenheiten im Leben der Familien Kempff nicht wiedergeben – andere wissende Menschen mögen diese ergänzen und damit aufwerten. Dafür ist am Ende des Dokuments ein Gästebuch vorgesehen. Es bleibt meinerseits bei einem Versuch, verschiedenes aus dem Leben der Familie Kempff „lebendig“ zu halten. Für uns hat es seine Bedeutung und die Familien Kempff haben diese Erinnerung, gleichsam als eine kleine Ehrung, sehr wohl verdient.
Ich danke für das Verständnis der Betrachterinnen und der Leser für die vielleicht erkannten Unzulänglichkeiten meiner Notizen.
Für eilige Text-Überflieger: Stern-Markierungen (✻) am Zeilenanfang weisen auf Ereignisse hin, die das Leben des Wilhelm Kempff, jun. unmittelbar betreffen.
Die aktuellen Fotos stammen vom Autor. Nicht für alle alten Fotos / Ansichtskarten, darunter Repros (ohne Rückseitenangaben zum Urheber), konnten Fotograf und Verlag ermittelt werden. Druckerzeugnisse, die in allgemeinem Interesse bereits vor Jahrzehnten mehrfach veröffentlicht wurden, bei denen mir aber die genauen Quellen unbekannt sind, stammen aus älteren Zeitungen und Zeitschriften, aus „fliegenden Blättern“ ohne weitere Angaben und werden dem Alter nach als gemeinfrei angesehen.
Falls ich mit der Wiedergabe auf dieser nichtkommerziellen Seite die Rechte eines anderen Menschen unwissentlich berührt haben sollte, erbitte ich eine Nachricht, um die konkrete Quelle nachtragen zu können oder wenn gewünscht, um jenes Bild zu entfernen. –
Doch Schluss nun der Vorrede.

Die Großeltern, väterlicherseits, des Wilhelm Kempff, jun.,
das sind Friedrich Kempff und Helene Kempff, geborene Rautzenberg

Großvater Johann Friedrich Kempff, geboren um 1824, war ursprünglich ein junger Ackermann. Sein Wunsch war es, sich nach dem Abschluss der Dorfschule in Jerichow, auf den Lehrerberuf vorzubereiten. Da aber sein Vater früh gestorben war, musste er für den Lebensunterhalt der Familie sorgen und konnte das Lehrerseminar nicht in früher Jugend besuchen. Seinen Wunschgedanken hatte er also verschieben müssen, ohne diesen jedoch aufzugeben. So hatte er sich auf seinen Pflug ein Haltegestell gebaut, in das er das Evangelische Gesangbuch oder den Katechismus Martin Luthers einspannte und so während der harten landwirtschaftlichen Handarbeit des Tages außerdem mit dem Kopf lernen konnte. Es war ihm wohl bekannt: Bei der Prüfung zur Aufnahme in das Lehrerseminar bestand die Hauptvoraussetzung darin, etliche Kirchenlieder, biblische Geschichten und den Katechismus auswendig zu beherrschen.
Als er 33 Jahre alt war, konnte er sich seinen lang gehegten beruflichen Wunschtraum erfüllen. Am
10. März 1857 fuhr er zur Aufnahmeprüfung in den weit entfernten Ort Dülmen in Westfalen (Rheinland). Friedrich erfüllte dort sämtliche Anforderungen eine Aufnahme sehr gut. Auch nur wenige der weiteren Bewerber konnten so wie er, die kleine Orgel der Lehrerbildungsstätte spielen. Friedrich wurde sogleich zum Studium angenommen.
Während jener Zeit seiner Seminarteilnahme lernte Friedrich Kempff die 16-jährige Pflegetochter des Dülmener Pfarrers Josten kennen: Sie hieß Elisabeth Helene Rautzenberg. Deren Mutter, Hortense geb. Peters, war sehr früh gestorben und die zweite Frau von Helenes Vater, Ferdinand Rautzenberg, war ihr, der Helene, eine märchengerecht böse Stiefmutter, eine wahre Drachin – nur deshalb war das Mädchen Helene, geboren in Mönchen-Gladbach, im Jahre 1841 in das Pfarrhaus nach Dülmen gekommen.
In den beiden jungen Menschen fanden das lebhafte rheinische Blut des Mädchens und das eher nüchtern ernste Wesen des künftigen Lehrers aus der Mark Brandenburg zu einer glückhaften Verbindung zueinander. Das Brautpaar heiratete im Jahre 1860, als Helene 19 Jahre alt war.
Im Anschluss an das Studium wurde Johann Friedrich Kempff im Dorf Garzau, Kreis Oberbarnim im Oderland, der Lehrer, Organist und Kantor. Dort war eine kleinere Gemeinde von etwa 260 Einwohnern nebst deren Seelen zu betreuen.
Drei Kinder entstammten dieser Kempff-Ehe: Friedrich, Wilhelm (von dem bald die Rede sein wird) und Selma – alle drei in Garzau geboren.
Im Alter war Großvater Friedrich gesundheitlich leider sehr eingeschränkt. Er litt vorerst unter einer Augenerkrankung und war nach einer mißglückten Operation, die das Ziel der Heilung zwar verfolgte, bei der ihm aber beide „Augäpfel“ entfernt wurden, verständlicher Weise nun völlig blind. Seinen Lebensabend verlebte er mit seiner Frau Helene in Strausberg im Barnim. In häuslich gewohnter Umgebung fand er sich auch erblindet zurecht.
Nachdem Friedrich Kempff gestorben war, siedelte Großmutter Helene Kempff zu Sohn Wilhelm, dessen Ehefrau Clara und deren Kindern nach Potsdam über. Hier lebte sie im Lehrer-Witwenhaus in der Zimmerstraße 12, direkt am früheren Holzplatz der Zimmerleute oder noch etwas schöner dargestellt: Das Haus befand und befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem Park von Sanssouci.–
Am 21. Januar 1911 starb die Großmutter Helene Kempff, geborene Rautzenberg, in ihrem Zimmer im Potsdamer Lehrer-Witwen-Haus, im Alter von 69 Jahren.

Nun lesen wir etwas über den zweiten Sohn des eben vorgestellten Paares Friedrich und Helene Kempff, und das ist Wilhelm Kempff, sen. mit seiner Ehefrau Clara, einer geborenen Kilian

Robert Ferdinand Gustav Wilhelm Kempff, sen. wurde in Garzau, Oberbarnim, im Oderland, am
28. Februar 1866 geboren. Zu früheren Zeiten gehörte dieser alte slawische Ort Garzau dem Kloster Zinna bei Jüterbog. Etwa 260 Einwohner lebten hier. Wilhelm konnte bereits als Junge übereinstimmend mit Goethe deutlich empfinden: „Vom Vater hab' ich die Statur, des Lebens ernstes Führen – vom Mütterlein die Frohnatur und Lust zum fabulieren.“ So lagen die Vererbungsverhältnisse auch hier. Das vierte Kind in der Familie: Wilhelm jun., (die spätere Hauptperson dieses hier beschriebenen Familienbildes) wird dieses Empfinden weiter ausbauen und variieren indem er sagt, dass sein Vater ein stets ausgeglichenes Wesen zeigte – von großer Gemütstiefe aber wunderbarer Heiterkeit geprägt.

Wilhelm Kempff, sen. hatte, im Gegensatz zu seinem Vater Friedrich, schon in jungen Jahren die Möglichkeit das näher liegende Lehrerseminar in Altdöbern zu besuchen. Altdöbern ist ein 2.000-Seelen-Ort südlich des Spreewaldes, südwestlich von Cottbus. Anschließend begann seine Laufbahn als Dorfkantor in Gollmitz, Kreis Luckau, zwischen Calau und Finsterwalde in der Lausitz gelegen. Etwa 230 Einwohner und deren Seelen waren hier zu betreuen. Der Ort hat seinen Namen vom slawischen Cholm oder Golm, was Berg bedeutet. Beim Ort befindet sich der Brautberg, in früheren Zeiten als Heiligtum der slawischen Göttin Schiwa verehrt. Hier schließt er, der 24-jährige überlegsame dunkelhaarige Wilhelm, am 10. Januar 1890 die Ehe mit der blonden Henriette Clara Kilian. Sie ist eine schlanke, wendige und behände junge Frau.
Gollmitz aber ist für Wilhelm nicht nur überstrahlt wegen der Liebe zu Clärchen – Gollmitz bedeutet auch: Weckruf der Hähne auf dem Kilianschen Bauernhof, das Muhen, Wiehern und Gackern, das Gurren der Tauben. Gollmitz, das ist auch der Lerchengesang in der Feldflur, sind auch die Pilze und Heidelbeeren im Wald – alles in allem: Gollmitz ist ein umfassender Begriff für ein arbeitssames, für alle Sinne lebensfrohes und erfüllendes Landleben.
Bald aber, in seinem 25. Lebensjahr, wurde der junge Lehrer Wilhelm ein Schüler am Königlichen Institut für Kirchenmusik in Berlin. In jener Trennungszeit lebte Ehefrau Clärchen bei den Schwiegereltern in Garzau. Und auch die Gollmitzer Kinder bekamen einen Lehrer-Ersatz. Wilhelm bestand in Berlin die Abschlussprüfung nach einem Jahr intensiven Studiums mit Auszeichnung!
Bereits gleich nach dieser Prüfung im Jahre 1892 hatte Wilhelm die Berufung in das Landstädtchen Jüterbog als Kantor und Organist an der Nikolaikirche sowie als Lehrer erhalten. Das bedeutete für ihn einen Aufschwung aber auch den Abschied von der Lausitz und einen Aufbruch in den Fläming – bedeutete eine Trennung auch von der Vorstellung eines geruhsamen Dorflebens mit etwas Zeit für Liebhabereien, denn in Jüterbog mit rund 7.300 Einwohnern, erwarteten ihn, den nunmehr 26-Jährigen, ein tägliches straffes Programm:

Die Kinder des Ehepaares Wilhelm und Clara Kempff geborene Kilian:

  1. Selma Kempff geboren in Gollmitz und auch dort als Kleinstkind gestorben.
  2. Elisabeth Kempff, genannt Elsa, geboren in Gollmitz, im Jahre 1891.
  3. Friedrich Wilhelm Georg Kempff, geboren in Jüterbog 1893.
  4. Wilhelm Walter Friedrich Kempff, jun., geboren in Jüterbog 1895. Dieser ist unsere Hauptperson.

Zu jener Zeit, als Familie Kempff hier am Mönchenkirchplatz im früheren Mönchenkloster (hinteres Gebäude) lebte, war die Hauswand völlig von Efeu überwachsen. Die Familie wohnte im grünen Gewölbe.

1899
Der Vater Wilhelm Kempff, sen. wird nach sieben Jahren rastloser Tätigkeit in Jüterbog – nach Potsdam, in die zweite Residenz der Preußischen Kaiser und Könige berufen. In Potsdam leben derzeitig etwa 60.000 Einwohner.
Anmerkung: wenn wir hier Wilhelm sen. lesen, wollen wir daran denken, dass er derzeitig erst im
34. Lebensjahr steht.

Das Panorama der Stadt Potsdam. Fast mittig die Nikolaikirche mit ihrer mächtigen Kuppel. Sie ist die künftige Haupt-Arbeitsstelle des Wilhelm Kempff, sen.
Gemalt im Jahre 1872 von einem leider namentlich nicht mehr bekannten Künstler – Ehre seinem Andenken.

So wechselt der Organist Wilhelm Kempff sen., und mit ihm natürlich auch seine Familie, von der Jüterboger Nikolaikirche an die Nikolaikirche in Potsdam.
Diese beiden Nikolaikirchen wurden auf den Plätzen ihrer Vorgänger-Gotteshäuser errichtet, die in beiden Städten Katharinenkirche hießen.

Die zweitürmige Nikolaikirche in Jüterbog.
Der Kuppelbau der Nikolaikirche in Potsdam. Vorn die Havel, dahinter das Stadt-Schloss.

1899 bis etwa 1909
Die Familie Kempff lebt nun im Potsdamer Zentrum, Am Wilhelmplatz No. 10.
Es wohnen im Hause: der Eigentümer und Hauswirt Herr Carl Brisnick. Er führt dort ein Spezialgeschäft für Damenkonfektion und Stoffe. Des Weiteren zwei ältere friedensliebende Fräulein namens Krieger im Rentenalter – leibliche Schwestern, ferner Frau Ida Frentzel mit ihrem Putzgeschäft – also, sie putzt nicht bei anderen Leuten, sondern fertigt auffälligen Schmuck nach neuester Mode für Damenhüte. Dann lebt dort die Witwe Friederike Lieben, geborene Wegner – und nun auch noch die Familie Kempff.

Familie Kempff lebt ein Jahrzehnt, von 1899 bis 1909, am Wilhelmplatz, der mit Linden und Kastanien eingefasst ist. Im Frühjahr blühen die Kastanien prächtig in rot und weiß, die Linden verströmen ihren herrlichen Duft. Bis zur Nikolaikirche ist der Weg für den Organisten Wilhelm ebenso nah, wie zur Charlottenschule für den Lehrer Wilhelm, also einer weiteren Arbeitsstelle – für den Gesangsunterricht der Mädchen.
Quelle: Zeitgenössische Ansichtskarte.

In Potsdam warten, ähnlich wie damals in Jüterbog, bereits zahlreiche Aufgaben auf Wilhelm Kempff, sen.:

Vater Wilhem Kempff, sen. gilt hier sowohl als Chormeister, wie auch als Dirigent.
In die beiden letztgenannten anspruchsvollen Arbeitskreise werden auch die Söhne Georg und Wilhelm, jun. bald als Sänger einbezogen.

Die Jahreswende von 1899 zu 1900 in Potsdam.
Eine Passage aus dem Buch von Wilhelm Kempff, jun. „Unter dem Zimbelstern“:
„Tausende und abertausende von feurigen Raketen waren zum nächtlichen Himmel gestiegen, um die Geburt des neuen Jahrhunderts in das hellste Licht zu rücken. Die ganze Menschheit – von den Grenzen Asiens bis zu den Antipoden – hielt den Atem an, als die Silvesterglocken das Jahr 1900 einläuteten. Damals hätte man meinen können, dass nun wirklich das Nahen eines neuen Zeitalters, des goldenen, sich allenthalben ankündigte. Die Telegraphen summten gleich aufgeregten Hornissenschwärmen und trugen sich von Tokio bis San Francisco die Freudenbotschaften am Neujahrstage zu. Die Vision einer geeinten Menschheit, von Schiller – Beethoven in ekstatischer Schau vorausgeahnt, schien erfüllt zu werden. Das >Seid umschlungen Millionen, dieser Kuss der ganzen Welt<, ließ auf einige Augenblicke vergessen, dass am fernen Horizont für den nüchternen Beobachter der politischen Wetter, sich die ersten Kumuluswolken auftürmten.“ – ...
Doch was wäre die Menschheit wenn sie nicht Anlässe fände, um immer wieder neue Hoffnung zu schöpfen? Im Übrigen prosteten nicht alle Menschen am 31.12.1899 einander zu. Ein Teil der Leute tat es besser genau ein Jahr später, bei der Wende von 1900 zu 1901, bei der Jahrhundertwende. Und wiederum andere Zeitgenossen feierten sehr gerne mit großem Vergnügen das Spektakel zweimal. So war das damals.

1909
Die Familie Kempff wechselt nach einem Jahrzehnt die Wohnung. Sie zieht in einen modernen Neubau nahe den damals recht feuchten Stieffschen Wiesen (an der Moltkestraße), nur ein kurzes Stück entfernt vom „Heiligen See“ und der Königlichen Parkanlage „Neuer Garten“. Vor noch nicht allzu langer Zeit, um die Jahrhundertwende, war dort die Stadt zu Ende. Der Erweiterungswille führte jedoch zum Abriss des dortigen Teils der Stadtmauer. Die Stadt Potsdam dehnt sich aus.

Die bis 1900 begrenzende Stadtmauer und dahinter die Wiesen des Herrn Stieff. Jener Herr Stieff war der Besitzer der Potsdamer Seiden-Fabrik und wohnte in der Behlertstraße, unweit des Heiligen Sees und seiner – nun ehemaligen Wiesen.

Dort, wo noch vor geraumer Zeit die Stadtmauer stand, erheben sich an der Moltkestraße (nach 1945: Hebbelstraße) nun vornehme Neubauten, mit neuzeitlichem Komfort. Dahinter liegen die Wiesen, die nun entwässert, „vorgetrocknet“ und weiter bebaut werden.

Das Kempffsche Klavier aber nahm die dort herrschende feuchte Luft übel und die Familie wollte einer Rheumaerkrankung vorbeugen. Mit der sehr vornehmen und musik-geräuschempfindlichen Nachbarin ist auch nicht gut Kirschen essen. Das alles führt zu einem einschneidenden Entschluss: Nach nur vier Monaten des Aufenthaltes zieht die Familie Kempff fort von dort, zur Kiezstraße 11. – Ebenfalls unweit des Wassers aber etwas trockener. Ein schwieriger Einzug. Die Möbelträger kennen die Familie Kempff ja schon – die Kempffs kennen jene aber auch mit ihrem Gestöhne und Geächze. Nun gut, nicht jede Familie lässt ein Klavier treppab, treppauf transportieren. Man wusste jedoch die Verzweifelungsäußerungen der Arbeiter zu dämpfen, weil die benachbarte Gaststätte „Froschkasten“ in der Kiezstraße 4, unter der bewährten Führung der Witwe Lehmann, probate Mittel dagegen in ihrem Hause führte.

Die (ehemalige) Gaststätte in der Kiezstraße 4, sieben Häuser von der neuen Wohnung der Kempffs entfernt.
Der Eingang zur gastlichen Stätte, (die der Autor noch von innen kennt).
Das Haus Kiezstraße 11 mit der für Familie Kempff noch neuen Wohnung.

Potsdam, Kiezstraße 11. Es wohnen hier: Emma und Agnes Noack. Sie sind leibliche ältere Schwestern, beide noch Fräulein und die Eigentümerinnen des Anwesens wie auch die Vermieterinnen der Wohnungen. Ferner lebt hier Herr Albert Henrici ein eremitierter und alleinsitzender Lehrer. Weiterhin wohnt dort die ehemalige Aufwärterin Klara Gürke, eine große Seele, die wegen einer Wirbelsäulenverkrümmung aber recht klein erscheint, dann der Privatmann David Grauel und der Installateur für Wasser- und Abwasserleitungen, Meister Roman Piasecki. Des Weiteren lebte hier bisher der Hauptmann und Prinz Ottfried v. Schönaich-Carolath mit seiner Schwester. Ein echter Prinz! Mit echter Prinzessin! In dessen vormaligen Wohnbereich zieht nun Familie Kempff ein. – Es ist also eine ganz andere soziale Mischung, als sie die Familie Kempff bis gestern gewohnt war. Mit diesen Nachbarn kommen sie aber gut zurecht und von den anderen wird auch das harmonische Tönen des Klaviers akzeptiert. Täglich kostenlose Konzerte. Insgesamt für alle ein „Glücksfall“.
Das noch druckfrische Adressbuch nennt die gesamte Familie: „Wilhelm Kempff, Königlicher Musikdirektor, Organist in der Potsdamer Nikolaikirche und Gesanglehrer“. Wenn die Kinder Elsa, Georg und Wilhelm jun. auch später aus dem Haus gehen, die Kempff-Eltern werden bis 1934 hier wohnen. Die Wohnung ist gut. – Nebenan in der Kiezstraße 10, befindet sich die Tagungsstätte einer Loge der Freimaurer, die Loge „Minerva“. Gut zu wissen, falls 'mal eine Baureparatur vonnöten ist.
Seit der Zeit, als Vater / Großvater Friedrich Kempff in Strausberg gestorben war, lebt die Mutter von Wilhelm sen., Helene geborene Rautzenberg, in der Potsdamer Zimmerstraße 12, im Lehrer-Witwen-Haus, nur wenige Fußminuten von der Kiezstraße entfernt. Man besucht sich oft und gern.

Das Lehrer-Witwen-Haus in dem Großmutter Helene Kempff mit mehreren älteren Damen zusammen lebt – jede natürlich in ihrem eigenen Refugium. Mit nur wenigen Schritten, durch den „Affengang“, sind die Damen im Park von Sanssoui – was will das Herze mehr – wenn nun auch noch der Friedrich da wär'.

Wilhelm Kempff, sen. unterrichtet seit 1899 jahrelang Gesang in der Charlottenschule. Die Schule begeht im Jahre 1911 ihr 50-jähriges Bestehen.
Zeitgenössische Ansichtskarte, Fotograf und Verlag unbekannt. Repro: Foto-Herrmann, Potsdam. Kleines Bild: Die (ehemalige) Charlottenschule 88 Jahre älter – im Jahr 1999.

Zeitgenössische Zeitungswerbung in Potsdam für jedwede Leistungen.

Ein großer Zeitsprung von 1911 bis 1934! Der Zwischenraum geht dir beim Lesen aber keineswegs verloren, sondern wird mit den später beschriebenen Erlebnissen des Junior gefüllt. Also hier über Wilhelm, sen. viel, viel später:

1934
Seit rund drei Jahren ist Wilhelm, sen. im Ruhestand, ist aber weiterhin in mehreren Ehrenämtern tätig. Nochmals steht ein Wohnungsumzug an. Nun ziehen Wilhelm, sen. und Ehefrau Clara innerhalb der Stadt wieder nahe zu Wilhelm, jun. Von der Kiezstraße 11 in die Große Weinmeisterstraße 33. Wilhelm Kempff jun. wohnt in der Albrechtstraße 58. Die Gärten der Grundstücke liegen „Rücken an Rücken“ beieinander. Man hat also für Eltern, Kinder und Enkel kürzeste Besuchswege. Die Eltern wohnen in einem 2-geschossigen Gebäude, der Sohn verfügt über ein niedrigeres Haus mit einer Mansardetage. Beide Häuser stehen am Rande eines kleinen Neubauviertels, das gerade fertig wurde. Die Siedlung stammt von den Architekten Estorff und Winkler. Die Häuser zeigen einen freundlichen konservativen Stil, der von schlichter Eleganz geprägt ist.

Hier lebt nun das Ehepaar Kempff, sen.

Knapp ein Dutzend Jahre des gegenwärtigen tausendjährigen Reiches noch, niemand ahnt das jetzt schon, und es werden in diesen Gebäuden sowjetische Offiziere wohnen und kein Potsdamer darf zwischen dem Frühsommer 1945 und dem Jahr 1994 diesen streng abgeriegelten, scharf gesicherten Teil seiner Heimatstadt betreten.
Doch das muss Wilhelm, sen. nicht mehr erleben. Der Musikdirektor a. D., Organist, Kantor und Gesanglehrer Robert Ferdinand Gustav Wilhelm Kempff stirbt im Hause Große Weinmeisterstraße 33, am 30. August 1938. Er ist 72 Jahre alt geworden und war 48 Jahre mit Clara geb. Kilian verheiratet. Aus dieser Ehe kamen vier Kinder, von denen drei erwachsen wurden.

Hier nun lesen wir einige Notizen über Georg Kempff, das dritte Kind seiner Eltern. Er lebte in seinen Berufungen als Pfarrer und Kirchenmusiker.

1893

In Jüterbog, am Mönchenkirchplatz, wird am 22. Oktober 1893 das Kind Friedrich Wilhelm Georg Kempff geboren.

1902
Georg ist Mitglied im Liturgischen Chor von Sankt Nikolai in Potsdam, den sein Vater gründete und leitet. Dort ist er einer der 50 Knaben und auch schon sein jüngerer Bruder Wilhelm singt dort seit diesem Jahr mit.

1904
Im Alter von 11 Jahren ist Georg neben dem Vater „stellvertretender Organist“ in der Nikolaikirche Potsdam.

19121918
Von 1912 an studiert Georg die evangelische Theologie in Tübingen, Bonn und Berlin. In Berlin, an der Friedrich-Wilhelm-Universität, belegt er auch das Fach Gesang. Des Weiteren befasst er sich mit Musiktheorie und Klavier an der Berliner Musikhochschule. Mit dem Abschluss der Studienzeit bekommt er somit seine Zeugnisse als Theologe, Pianist, Organist, Sänger (Bariton) und Komponist – und in der Ausübung seiner Tätigkeiten wirkt er auch als Dirigent.

1918
Georg Kempff ist in Reinickendorf, nördlich der Stadt Berlin als Pfarrer tätig.

19231927
Georg Kempff arbeitet in diesen Jahren als Organist in der schwedischen Großstadt Uppsala.

19271930

Georg Kempff ist Pfarrer an der Nikolaikirche in seiner Geburtsstadt Jüterbog.
Anschließend kehrt er kurzzeitig nach Potsdam zurück und wohnt im Ostflügel der Orangerie im Park von Sanssouci, – dort wo auch sein Bruder Wilhelm mit seiner Frau übergangsweise eine Wohnung bezogen hatten.

19301933

Kempff betreut drei Jahre lang die Stadtgemeinde in Wittenberg, dort, wo Martin Luther dreißig Jahre lang gepredigt hatte.

19331959
Georg Kempff leitet das Institut für Kirchenmusik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen und ist somit Universitätsmusikdirektor. Er wird zum Professor ernannt. Es entstehen aus seinem Geist und von seiner Hand, zahlreiche Orgelwerke, Kantaten und weitere geistliche Chormusikstücke.

1935
Professor Kempff lässt sich in Reichenbach, nahe bei Oberstdorf im Allgäu ein Ferienhaus bauen – es wird ein Treffpunkt für die erweiterte Familie, für den Aufenthalt von Freunden und bietet auch Ruhezeiten für kompositorische Arbeit. In Reichenbach leben etwa 200 Menschen. Es gibt keine Straßennamen aber immerhin Hausnummern. Man sieht, als güldene Seltenheit, dort die Sonne am Morgen zwischen den Bergspitzen zweimal nacheinander aufgehen und lebt in einer von Menschen noch wenig berührten Natur.

1957
Georg Kempff arbeitet am Text und an der Musik für sein Oratorium „Die Hochzeit zu Kana“, das im Juli 1964 in Erlangen uraufgeführt werden wird. Es handelt von dem Wunder der Verwandlung von Wasser zu Wein durch Jesus von Nazareth, als bei einer Hochzeitsfeier in dem Dorf Kana am vierten Tag der Feier der Wein zur Neige geht. – Versuch einer Deutung: Jesus setzt ein Zeichen, um den Menschen wortlos zu erklären, dass künftig nicht Mangel und Armut, sondern Lebensfreude, angemessener Wohlstand zum Lebensinhalt eines jeden Menschen gehören soll. Es ist ein Zeichen seiner einzigartigen absoluten Herrschaft über alles Irdische, über die Naturkräfte und -Gegebenheiten, die kein Sterblicher, sondern nur der seit langer Zeit prophezeite und erwartete Messias, der Abgesandte Gottes vollbringen kann, denn nur die göttliche Kraft könne in einem Moment aus einfacher Gediegenheit (trinkbares Wasser) etwas zur ausgewählten Köstlichkeit (Wein) weiter veredeln. Viele der Anwesenden hatten das Wunder dieser Handlung zwar staunend mit den Augen wahrgenommen, den eigentlichen Inhalt, den tieferen Sinn, jedoch nicht mit dem Herzen erkannt. Über dieses Wunder und weitere Zeichen wird im Neuen Testament, im Evangelium des Johannes berichtet.

19591962
Prof. Georg Kempff ist nun als Dozent an der Universität Johannesburg tätig. Dort in Südafrika arbeitet Pfarrer Georg Kempff zusätzlich als Kantor und Organist.

1964
In diesem Jahr wird sein Oratorium „Die Hochzeit zu Kana“ in der Oratorienkirche in Erlangen uraufgeführt.

Aus Reichenbach bei Oberstdorf im Allgäu kommen Grüße von Prof. Georg Kempff und Freundeskreis an die Familie des Autors C. J. nach Potsdam-Babelsberg, in die DDR.

1975
Professor Georg Kempffs Lebenskreis schließt sich In Reichenbach (Allgäu) am
1. September 1975 im Alter von fast 82 Jahren.

Wilhelm Kempff, junior – Pianist und Komponist.

Wilhelm war das vierte Kind seiner Eltern. Es folgen Notizen, die für die Jahre der Kindheit, Jugend und Elternschaft in der Stadt Potsdam, ausführlicher dargestellt werden können.

1895
✻ In der Stadt Jüterbog wird in den Räumen des ehemaligen Mönchenklosters am
25. November des Jahres 1895 Wilhelm Walter Friedrich Kempff geboren.

In dem hinteren Gebäude, dort wo am Eingang das Schild aufgestellt ist, wurde Wilhelm Kempff geboren. Damals war die Fassade allerdings vollständig von Efeu überwuchert.
Jüterboger Bürger halten die Erinnerung an Wilhelm Kempff wach und setzten ihm einen Gedenkstein – aber erst wesentlich später. Posthum.

1899
Der Vater Wilhelm Kempff, sen. wird in die Residenz Potsdam berufen. Das lasen wir bereits. So wechselt er von der Jüterboger Nikolaikirche, an die Nikolaikirche in Potsdam und mit ihm die Ehefrau Clara geb. Kilian und die drei Kinder: Elsa, Georg und Wilhelm. Bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof in Potsdam erhalten sie erste Eindrücke von der neuen Heimat.

Der Bahnhof in Potsdam.
Quelle: Zeitgenössische Ansichtskarte von der Verlagsanstalt Hermann Abraham in Berlin.

Die ersten Eindrücke der neuen Heimat. Fahrt über die „Lange Brücke“, die sowohl die Bahnanlagen, als auch den Fluss namens „Havel“ überspannt, dessen nahen kleineren Zufluss, die „Nuthe“, Familie Kempff ja schon aus Jüterbog kennt.
Zeitgenössische Ansichtskarte.

Mit der Pferdestraßenbahn fahren die Ankömmlinge vom Bahnhof ins Stadtzentrum – geradewegs auf das Schloss des Kaisers und Königs zu. Die künftige Wirkungsstätte des Vaters, die Nikolaikirche mit der großen grünen Kuppel, ist nicht zu übersehen. Ihr erstes Ziel des heutigen Tages ist aber die neue Wohnung. Sie werden kurz hinter dem Schloss, im Stadtzentrum, Am Wilhelmplatz 10 wohnen. Nach vorn schaut man über die Straße auf den grünen Wilhelmplatz, der von Bäumen umstanden ist, nach hinten sieht man über Gärten und Hausdächer zur Heiligengeist-Kirche, die dort am Ende der Burgstraße schon seit 1726 steht.

Die Straße „Am Wilhelmplatz“. Gerade kommt, vierspännig, der Prinz vorbei.
Ansichtskarte
Die Heiligengeist-Kirche. Erbaut im Jahre 1726. Auf der damals neuen Orgel dieser Kirche hatte Johann Sebastian Bach am 8. Mai 1747 ein Konzert gegeben.
Kriegsbeschädigt wurde die Kirche im April 1945, später das Kirchenschiff abgetragen. Der Turm im Jahre 1974 gesprengt. –

✻ Viel neues gibt es zu sehen; schon in den ersten Tagen. Es ist fast so, als wenn der Familie mit ihren beiden Wilhelms der gesamte grüne Wilhelmplatz gehöre, der mit Kastanien und Linden umstanden, einer von Wilhelms nahen Lieblingsaufenthaltsorten in der Kinderzeit sein wird.
Man sieht sich in der Nähe satt an den vielen Schaufensterauslagen. Interessant ist das Schaufenster der Bäckerei Braune in der Nauener Straße 19, wo man fleißig arbeitenden Bäcker-Puppen, elektro-mechanisch bewegt, bei deren Arbeit zuschauen kann.
(Diese Technik funktioniert noch immer – Tag für Tag. Daran kann man sich auch heute, rund
einhundertzwanzig Jahre später noch genauso erfreuen, sagt der Autor Chris. J.) –
Die warmen duftenden Brötchen für Familie Kempff werden früh morgens, in einem weißen Leinen-Säckchen verpackt, beizeiten vom Bäckerbotenburschen an die Haustürklinke gehängt. Man wird also täglich schon am frühen Morgen fröhlich an die leicht braunen Brötchen von Braune erinnert. Für Hauswirt Brisnick bringt der blutjunge Bursche bisweilen bildschönes Brombeer-Brot und bissfrische Brezeln. – Schaut Wilhelm nach hinten aus der Wohnung, also in Richtung der Heiligengeist-Kirche, weiß er jetzt schon, dass der Bäcker Braune dort hinter dem Blücherplatz, in der Burgstraße 42 eine Filial-Verkaufsstelle betreibt. – Zu beiden leckeren Back-Orten nur ein Katzensprung.

Seht euch das mal heute an: Man kann der adretten Jungmeisterin und dem schnauzbärtigen Altmeister in bewegten Bildern bei ihrer backkünstlerischen Tätigkeit zuschauen. Ostern ist nicht mehr weit. So sehen wir, dass auch das Häschen ein bewegtes Leben führt. Der Hase bringt nicht nur Eier, sondern für Südtouristen beispielsweise Butterwecken und Mannheimer, für Norddeutsche eher Schrippen und Vollkornbrot. Hier im nur zweibildrigen Kurzfilm – aber in der Friedrich-Ebert-Straße 101 kann man ihnen zusehen solange man möchte – wenn sich dann Appetit oder gar Hunger einstellen – man steht ja bereits vor der „Backquelle“.

In einer solchen Verpackung wird der Kuchen nach Hause getragen.

✻ Nur e i n e herbe Enttäuschung gibt es für den vierjährigen Wilhelm: So sehr habe er sich auf die kleinen Havelschweine gefreut von denen erzählt wurde und vor seinem geistigen Auge hatte er bereits eine Anzahl der rosa Ferkel sich fröhlich im flachen Wasser tummeln sehen. Aber nun erfährt er: Es gibt hier überhaupt gar keine. Zu allem Überfluss gibt es aber Erwachsene, die über seine schön gefestigte Vorstellung lauthals albern lachen und sich dabei dümmlich auf die Schenkel klopfen – aber als ausgleichenden Trost zeigt man ihm zumindest die majestätisch über das Wasser gleitenden weißen Großvögel mit orangefarbenen Schnäbeln – auch was Schönes, bisher noch nie gesehen.

Weiße Havelschwä(i)ne vor dem Kaiser- und Königs-Schloss und der Nikolaikirche. Ansichtskarte

✻ Wilhelm, blond, schmächtig, vorerst etwas schüchtern, gerät in Potsdam bereits zeitig mit dem Gesetzeshüter, mit der Öffentlichen Ordnung hart aneinander – und das kam so: Wilhelm eroberte sich, wie sollte es auch anders sein, den vor der Haustür liegenden Wilhelmplatz, als ihn der feste Griff eines Schutzmanns am Schlafittchen packt, ihn über die Straße bugsiert und den Knaben im kühnen Schwung auf dem blauen Potsdamer Postbriefkasten arretiert. Ein Platz wie auf einem zu kalten, zu harten Pferdesattel, ohne den warmen Pferdehals als helfenden Halt. Mit dem „Schandarm“ nunmehr auf Augenhöhe. Dieser zwirbelt bei wichtiger Miene die Enden seines Wilhelm-II.-Schnurrbarts, fixiert Wilhelm mit durchdringendem Blick, fingert sein Notizbuch für die Ungeheuerlichkeiten des Tages aus seiner Uniformjacke und beginnt das Verhör: „ ... und auf dem Rasen biste mirnichts dirnichts rumjesprungen – wozu hat man denn det Jrüne mit 'nem dicken Draht wohl injezaunt, wozu? – frare ick.“
Kleinlaut, den Tränen nahe, hebt Wilhelm zu seinem Verteidigungsplädoyer an: „Bei uns – bei uns in Jüterbog ...“ – weiter kommt er in stockend vorgetragener Rede nicht, denn der Gendarm grinste nun breit und gemütlich. „So so, aus Jüterbog biste, aus Jüterbog, ja dann ...“ – machte wohl eine etwas abfällige Handbewegung, befreite Wilhelm vom postalischen Hochsitz und entfernte sich vom Ort des leicht kriminell eingefärbten Geschehens gemessenen Schrittes.

Ihr kennt sie beide: den blauen Briefkasten an der Hauptpost am Wilhelmplatz - Ecke - Am Canal. Auf einen solchen setzte der Schutz-Gendarm den Wilhelm. (Der damalige Briefkasten war allerdings ein vornehmerer und hing an der äußeren Freitreppe des Postamtes, also an anderer Stelle, als das Muster hier im Bild. Das Prinzip stimmt jedoch – die Freitreppe ist dem Autor gut in Erinnerung – aber es gibt diese nicht mehr. Sie wich einer Innentreppe.)

Am Stadtschloss ziehen die vergoldeten Putten die Augen so einiger Besucher, denen das nicht gar zu g'schamig scheint, sehr nahe an sich heran. Manche Leute nennen die Knaben auch Engel – also je nach anatomischer Kenntnis und himmlischem Wunsch. Historiker bezeichnen den Ort als „Fahnentreppe“. Recht so. Man kann auch sagen: Die Königinnen und Kaiserinnen schwebten die Engeltreppe hinab und wandelten anschließend unten im Lustgarten. Eine Auswahl der Könige und Kaiser schritten hingegen die Fahnentreppe hinunter, um die Zeit auf dem Exerzierplatz zu verbringen. Keine großen Widersprüche, keine großen Unterschiede. Örtlich ist das etwa das gleiche Areal.

Ein Volkskommentator der Neuruppiner fliegenden bildschön-bunten Bilderbogenbildungsblätter von Gustav Kühn oder auch benachbarten Comic-Verlagen, hätte wohl solch ein Bild folgendermaßen erläutern können: „For Ihnen, meen allerwertestes Publicum, lasse ick meen geschultet Oore mal über diese vertrackten Verhältnisse jleiten: Hier sieht der geneichte Betrachter also die jüldene Treppe vons Potsdamer Stadtschloss. Nee, Sanssouci is woanders. Aber hier: Ville Joldenes im Zujriffsbereiche. Ick saachte schon andauernd der Vorsicht halber zu die joldijen Jungs: Jungs, sare ick, passt uff ihr unbeflüjelten Engels, damit et keenen beabsichtichten Absturz nicht jibt. –
Allet Jold von det Schloss war bis jestern im Besitze von den Kaiser und Kenich, wat der Wilhelm II. von Hohenzollern is – nu aba fehlt wat, et is einfach wech! Heute isser bloß noch der Eijentümer von det Gestrije, der neue Besitzer sitzt woanders. Wat? Wie? – Nee, nee, det is beileibe keene Vata morgana. Det war schon inne dunkle Nacht passiert oder wie der Franzmann sagt: passé. – Det fehlende Teil oben links vons Treppenkalender steht nu stolz bei dem Wilhelm von Schulze vors Schloss von seine Jartenlaube, nah' bei's Jerümpel. – Ick fühle bei son Kriminalstück ganz innerlicht, dass die Obrichkeit ja nich an jede Ecke von Wert ‘n Schupo uffstelln kann und destawejen hat man jetze jejen jedweden Diebesstahl und schon jejen det Berühren der Fijüren mit die unejalen Foten, det Janze im Stück injezaunt. Spät. Zu spät! Jejen solchet Jesindel, wie dem Schulze, muss man unverzüchlich beikommen. Nu soll man aber bei solches Themata jedweden Wildwuchs beizeiten reißen, vorbeujend anne Wurzel auszieh'n, – wie grade neulicht, ooch son Ding, wie aus'm Tollhaus, is schon 'ne tüchtje Schimpfirade wert: Een Dreikäsehoch ausse Provinz, der ooch zu son Jesochse jehören dut. Der hat doch eenfach det Beschränkende uffn Wilhelmsplatze übersprungen und tat wüticht det janze Kaiserliche Jras zertrampeln, inclusive die Jänsebliemchen – ohne eene Rücksicht uff Valuste an de jute Natur. Ick konzertiere also: Keene Ehrfurcht, keen Jlobe an den Kaiser nich und ooch keen Respekt vor die jöttliche Schöpfung. Wo det hinführn soll? – Wenn det man mal nich so enden dut wie dunnemals mit den Kohlhase seine fürstliche Silberverkutschiererei – is bekannt? Nee? – denn später. – Zum Jlück hat der Jensdarm noch Schlimmeret, in letzter Minute sozusaren, verhindern jekonnt. Ick sare dazu nur – wie auch der Dichter es so richtig sprücht: wehret die Anfänge! Mehr sare ick nich.“
Foto aus dem Jahr 2022

Der Ausschnitt des alten Potsdamer Stadtplans zeigt wesentliche Gebäude, die im Text erwähnt werden und auch deshalb auf dem folgenden Erläuterungsblatt aufgeführt sind. So können wir leicht auf den Spuren des Wilhelm wandeln – wenn wir wollen.

1901 – Wilhelms 5. Lebensjahr
✻ Wilhelm betreibt mit fünf Lebensjahren seine ersten selbständigen Übungen am Klavier nach dem Gehörten, aus dem Gedächtnis, völlig ohne Notenkenntnisse. Noch in diesem Jahr gibt es von ihm die erste Komposition eines Klavierstückes in Ges-dur. Der Vater konserviert das Werk auf Notenpapier ... und es folgen Wochen und Monate mit einer geradezu unheimlich anmutenden rasanten Entwicklung für das musikalische Können des kleinen überaus zarten Wilhelm.

1902
✻ Der Ernst des Lebens, die Schulzeit, beginnt im 6. Lebensjahr. Wilhelm erscheint dieser Vorgang wie die Vertreibung aus dem Paradies. Er besucht die Vorschule des Potsdamer Victoria-Gymnasiums, nach der Kaiserin benannt, in der Kurfürstenstraße. Oft ist ja in der Schule der Ton der Pauker eher rau, barsch, mitunter drohend und der Prügel-Rohrstock wird von manchem Lehrenden recht gern und fleißig genutzt. Abends hüllen Weisen wie das Lied von Paul Gerhardt >Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt' und Felder, es ruht die ganze Welt...< oft des Wilhelms aufgewühlte sensible Empfindungen und seine Gedankenwelt beruhigend ein.

Noch einige Worte zu Paul Gerhardt (1607–1676). Er war ein evangelischer Prediger und einer der bedeutendsten Kirchenlieddichter seiner Zeit, schrieb etwa 140 Texte. Sein Leben begann in Gräfenhainichen, führte ihn zum Besuch der Fürstenschule nach Grimma. Er war als Student der Theologie an der Universität Wittenberg, studierte die Dichtkunst und verdiente nebenbei seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer. Nach dem Examen predigte an der Nikolaikirche in Berlin und betreute einige Jahre die Gemeinde von Mittenwalde. Seine letzte Lebensstation war Lübben am Spreewald. Zu den bekanntesten Liedern gehören auch das Adventslied: Wie soll ich dich empfangen ..., die Weihnachtsweisen: Ich steh' an deiner Krippen hier ..., Fröhlich soll mein Herze springen ..., dann: Befiehl du deine Wege und was dein Herze ... und Sommerlieder wie: Geh' aus mein Herz und suche Freud' ... und: Die güldne Sonne voll Freud und Wonne ... . –
Bald danach entstand das Lied >Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen ...<. Man darf diesen beiden Liedern wohl gern eine verwandtschaftliche Beziehung nachempfinden. Dieser Text stammt von dem Juristen, Journalisten und Dichter Matthias Claudius (1740–1815).

Ähnlich gut zur Stille kann auch ein weiteres Lied, als drittes in diesem Bunde führen: >Abend wird es wieder über Wald und Feld ...<. Diesen Text erarbeitete der Hochschullehrer für Germanistik August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), der viele anspruchsvolle Liedtexte schrieb, darunter auch allseits beliebte Kinderlieder wie: >Alle Vögel sind schon da<, >Ein Männlein steht im Walde< und >Morgen kommt der Weihnachtsmann< ... bis hin zur Deutschen Nationalhymne.
Die Melodie des nachstehend gezeigten Liedes komponierte Dr. Christoph Heinrich Rinck (1770–1856), Kantor, Organist und Universitätsmusikdirektor in Gießen.

Die drei Liederseiten sind entnommen aus dem „Deutsches Kindergesangbuch“ von
D. Paul Zauleck in Bremen, undatiert, Verlag C. Bertelsmann in Gütersloh

✻ Schon zeitig nach dem Schulbeginn gibt es beim kleinen Wilhelm Kempff eine sehnsuchtsvolle Vorfreude auf die langen Sommerferien. In jedem Jahr 35 Tage. – Doch positive Beispiele gibt es auch während des Schuljahres, wenn diese auch seltener sind. So erinnert sich Wilhelm gern an Schulausflüge beispielsweise mit dem Lieblingslehrer Herrn Alfred Leisering in die Ravensberge zum Teufelssee und Moosfenn oder sogar bis nach Paretz.
Der Pädagoge überraschte dort in Paretz sowohl den Orts-Geistlichen, als auch seinen Schüler, als er darum bat, dass Wilhelm ein Musikstück auf der Orgel der Dorfkirche spielen dürfe. Und der Sechsjährige überraschte nun wiederum den Pastor mit seiner inzwischen erlangten Kunstfertigkeit des Orgelspiels. –

Paretz, ein reizvolles märkisches Dörfchen im Havelland. Zeitweiliger sehr beliebter Landsitz von König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise zwischen 1797 und 1810.
Ansichtskarte

In der kleinen Paretzer Kirche: Hinten links die Königsloge gegenüber der Kanzel. Nahe dem Altar die Reste dreier Gemälde, die wohl aus dem 14. Jahrhundert stammen. – Die Glocke wurde 1724 gegossen. Modernisierende Umbauten 1797 von David Gilly. Aus der Zeit um 1797 stammen auch die Kirchenbänke. Weitere Neuerungen 1856 / 57 durch August Stüler, zu denen auch der Kronleuchter gehört. 1864 schuf die Potsdamer Firma Gesell die Orgel. Eine Tonrelieftafel von Gottfried Schadow zum Gedenken an die beliebte Königin Luise, die bereits im Alter von 34 Jahren gestorben war ... und auch im Paretzer Landschlösschen findet man viele Erinnerungen.

✻ Die Nachmittage von Wilhelm sind bereits ziemlich gefüllt. Neben der Schule genießt Wilhelm die Bildung auf dem Klavier am Akademischen Musikinstitut der Frau Ida Schmidt-Schlesicke – eine der Lehrerinnen des Höheren Klavierspiels. In der Hoditzstraße 17 – Ecke – Ebräerstraße residiert sie. Sie kann sich dieser Aufgabe voll und ganz widmen, denn sie ist bereits Witwe. Sie ist streng. Ihre Adlernase, scheint diesen unnachgiebigen Wesenszug zu betonen.
In der Häuserzeile dem Institut gegenüber, steht, natürlich neben weiteren Bauten, das Doppelhaus Hoditzstraße 7 und 8. Im Haus Nr. 8 wurde der berühmte Hermann von Helmholtz (1821–1894) geboren, der später die Mathematik so sehr liebte, verschiedene Erfindungen auf den Gebieten der Optik und Akustik erarbeitete, sich erfolgreich mit der Physiologie, den Lebensvorgängen in der Natur befasste, medizinische Spezialkenntnisse erwarb. Er war also ein sehr erfolgreicher Rundum-Naturwissenschaftler.

Das ist das Musik-Institut, in dem auch Wilhelm Kompositions- und Klavier-Fortbildung erhielt. Die Hoditzstraße heißt seit 1945: Wilhelm-Staab-Straße.

✻ Der erste öffentliche Auftritt des 6-jährigen Wilhelm findet im Hotel Stadt Königsberg statt, in Potsdam, Brauerstraße 1–2. Geboten wird die C-dur-Klaviersonate von Mozart. Das ernsthafte und gekonnte Spiel des Jüngst-Pianisten versetzt das Publikum in Erstaunen. Ein großartiger Erfolg. Diese Leistung hätte sich kaum jemand vorstellen können, hätte jene oder jener es nicht mit eigenen Ohren und Augen aufgenommen, ach was – genießen dürfen.

Das Gebäude des ersten öffentlichen Auftritts des Wilhelms.

Das Hotel „Stadt Königsberg“. Darunter das gleiche Gebäude von der Wasserseite – ein Blick von der Freundschaftsinsel über den Havelarm „Alte Fahrt“. Das Hotel wird von Herr Albin Meier geführt. Auf dem Bild sieht man links die Rückseiten der Seitenflügel des benachbarten „Palais Barberini“, Humboldtstraße 5–6.
Quelle: Zeitgenössische Ansichtskarte

✻ Wilhelm ist inzwischen Mitglied und Sänger im Liturgischen Chor von Sankt Nikolai, den sein Vater gegründet hatte und diesen auch leitet. Wilhelm ist im Chor einer von 50 ähnlich gesinnten Knaben und auch sein um zwei Jahre älterer Bruder Georg gehört dazu. Die Proben finden im Pfarrhaus der Nikolaikirche, Am Alten Markt 4, statt. Eigentümer dieses Hauses ist der Küster von St. Nikolai, Friedrich Brockmeyer (1861–1937), jener mit dem rötlichen Bart. Es wohnen in diesem Hause auch der Superintendent Oberpfarrer Haendler und der Pastor Johannes Reichmuth (1865–1931), der später ebenfalls Oberpfarrer von St. Nikolai wird.
Bei den Veranstaltungen in der Kirche ist es die nebenberufliche Aufgabe des fleißigen Schuhmachers Herrn Thoma aus der Charlottenstraße 36, die Bälge für die Orgel zu treten, also für gehörig frischen Pfeifen-Wind in der Kirche zu sorgen.

Im Jahr 1903

Harte Bedingungen für die Frauen. Sie sitzen auch im Winterhalbjahr in den hölzernen „Kufen“, die nur etwas vor dem Wind, noch weniger vor der Kälte schützen. Hinter ihnen der Kanal auf dem die Frischfischware herangebracht wird, vor sich die Holzwannen und -Bottiche, aus denen die Fische verkauft werden. Hier nehmen die Frauen auch die Bestellungen für Weihnachts- und Silvesterkarpfen entgegen. Frisch und springlebendig müssen sie zur Zeit des Verkaufs sein. Lebende Karpfen werden angeboten, gehörig betäubt – wenn gewünscht, auch geteilt.
Ansichtskarte. Fotograf und Verlag unbekannt (eventuell Max Baur ?). Repro: Foto-Herrmann, Potsdam.

Der Potsdamer Stadtkanal kann aber auch höchst romantische Stimmungen vermitteln. Im Mittelgrund der so genannte „Ladenberg-Steg“.
Foto: Max Baur.
Ein Einschub: Max Baur (1898–1988) ein Bayer, mit seiner Familie zwischen den Jahren 1934 und 1953
in Potsdam lebend und arbeitend. Sehr viel hat er in diesen zwei Jahrzehnten für die zeitweilige
Wahlheimat geschaffen! 1934 bis 1945 wohnte die Familie in der Kaiser Wilhelm-Straße 1 (seit 1945 ist
das Hegelallee 1) und 1945 bis 1953 in der Mauerstraße 5, in schlichterem Ambiente. 1953 gelang der
Familie die Flucht aus der DDR in die BRD.

1903: In Potsdam gibt es immer wieder Neuigkeiten: In der Straße „Am Wilhelmplatz“ wird gleich neben dem Hauptpostamt eine Synagoge für jüdische Gläubige errichtet, die die Hausnummern 1-2 erhält.

1904
✻ Wilhelm darf von nun an die Orgel der Nikolaikirche selbständig nutzen – schon bald wird er acht Jahre alt. Noch scheinen die Finger für das Bedienen der großen Orgel fast zu kurz und die Tastaturen zu lang, kaum reichen die Füße bis zu den Pedalen hinab – es ist also, weiß Gott, kein Kinderspiel: Bach, der Anspruchsvolle, wird von ihm bereits geboten ... und so wird er nach dem Vater und neben dem älteren Bruder Georg, nun der zweite kindliche Organist der Potsdamer Nikolaikirche sein. Ein kleiner Stellvertreter mit großer Verantwortung.

1905
✻ Wenn das Wetter es begünstigt, ist Wilhelm oft auf einem seiner Lieblingsplätze, auf einer Bank am Wilhelmplatz unter Kastanien und Linden zu finden, wo er über das Leben im Allgemeinen und die Musik im Besonderen nachdenkt. Völlig ausschließen lässt es sich dabei nicht, manchmal den ständigen Wiederholungen der verstimmten mobilen Drehorgel, auch „Leierkasten“ genannt, ausgesetzt zu sein. – Gedankenreisen zu verschiedenen Orten und auch in unterschiedliche Problemstellungen hinein, unternimmt er gerne auf seinem getreuen geistigen Pegasus, dem geflügelten Pferd.

Straße „Am Wilhelmplatz“, Teilansicht.

Wir schauen zwar auf unsere Häuserzeile, aber zum Haus Nr. 10 müssten wir den Blick bitte noch etwas nach links (außerhalb des Bildes) wenden. Hier aber schaut ein General auf uns und unser Tun herab. Es ist Baron / Freiherr Friedrich Wilhelm v. Steuben (1730–1794) – ein Preuße in Amerika. Unter anderem gestaltete er maßgeblich die Erfolge der amerikanischen Armee im Unabhängigkeitskrieg gegen das britische „Mutterland“ mit.

„Guten Tag, Frau Leierkastenmann“. Die „Drehorgel“. Eine kleinere Ausgabe mit anderer Technik als die Orgelwerke in den Kirchen.
Ein Pegasus

Wilhelm liebt Gedankenreisen und ist dazu oft auf seinem „Pegasus“ unterwegs. Auf diesem sitzt es sich ungleich besser, als auf dem blauen Briefkasten. –
Diese Ausführung hier ist jedoch natürlich künstlich und ein Ausstellungsstück auf der Brandenburgischen Landesgartenschau im Jahre 2022 in Beelitz.

✻ Es gehört zu diesen Ruhepausen auf dem Wilhelmplatz oder anderen Orts, Freunde zu treffen. Richtige vertraute Freunde. Zu denen zählt Max Masius, der Sohn des Sanitätsrats und auch Stadtrats aus der nahegelegenen Nauener Straße 23, mit dem stets und ständig ein reger Gedankenaustausch stattfindet. Auch gehören gemeinsame Besuche des Pfingstbergs und Abenteuer-Aufenthalte in der Parkanlage „Neuer Garten“ zu den Ausflügen. Sanssouci ja sowieso, wenn auch nicht spannend aber etwas später ist auch der Kaiser-Park Babelsberg auf der anderen Seite der Havel, bei Nowawes, ein begehrtes Ziel.

Viele Ausflugsziele bietet Potsdam den wissbegierigen Jungen. Hier werden mehrere vorgestellt.
Quelle: Zeichnungskomposition von Otto Thomasczek, zum Ableben des Kaisers Wilhelm I. im Jahre 1888.
Otto Thomasczek wurde 1854 in Kassel geboren, lebte zwischen 1888 und 1904 mit seiner Familie in Nowawes bei Potsdam. Er wandte sich dann nach Mühlhausen, wo er bis 1922 blieb und starb 1923 in seiner Geburtsstadt Kassel. Er war wohl mit Nowaweser Vorfahren des Autors Chris. J. gut bekannt.
Lichtdruck der Verlagsanstalt in München.

In der Russischen Kolonie „Alexandrowka“.

Zu den innerstädtischen Wanderzielen der Jungen gehört auch die Russische Kolonie Alexandrowka mit dem Kapellenberg und dem ebenfalls nahegelegenem Pfingstberg.
Anmerkung: Zu verschiedenen Ausfugszielen gibt es vom gleichen Autor einige Beschreibungen. Am
Ende dieser Notizen zum Leben der Familien Kempff, stehen einige Wegweiser, „Links“, um denen
leichter nachspüren zu können.

✻ Zur Schule hat Wilhelm immer den gleichen kurzen Weg: Vom Wilhelmplatz die Charlottenstraße querend, über den Bassinplatz, dann durch die Kreuzstraße laufend und schon ist er an der Schule in der Kurfürstenstraße, nahe dem Nauener Tor.
Ach ja, die Wegstrecke über den Bassinplatz. Da fallen ihm doch gleich die Gastspiele, das vorspielende Musizieren von Bach 1747 und Mozart 1789 ein. Diese Größen der Musik schritten einst auf gleichen Wegen auf denen heute Wilhelm springt.
Wie war das doch gleich? Johann Sebastian Bach (Eisenach 1685 – Leipzig 1750) kam mit der Kutsche von Leipzig nach Potsdam, um die Familie seines Sohnes Carl Philipp Emanuel Bach zu besuchen, die hier in Potsdam wohnte. So traf der 62-Jährige, bei der langen Fahrt tüchtig durchgerüttelt, nach zwei fast schlaflosen Nächten am 7. Mai 1747 hier in Potsdam ein und wollte gern vorerst ausruhen, Schlaf nachholen. Doch für den gleichen Abend wurde er zu dem 35-jährigen König Friedrich II. gerufen, ja, geradezu einbestellt. Jener gab ihm auf der Flöte eine komplizierte Melodie vor, mit dem Auftrag, Bach möge aus dem Stegreif daraus eine vierstimmige Fuge gestalten – das Erfüllen einer solchen Aufgabe war wohl nur sehr schwer möglich, wurde aber von Johann Sebastian trotz großer Müdigkeit und misslicher Stimmung mit Bravour gelöst. Für den nächsten Tag stand für ihn die Aufgabe an, eine sechsstimmige Fuge aus dem improvisatorischen Handgelenk zu schütteln – fast undenkbar – aber auch dieser Auftrag wurde bewältigt! Es liest sich ungut märchenhaft: es war beim König Friedrich II. ähnlich wie dereinst beim Rumpelstilzchen.
Anwesend waren bei diesen Darbietungs-Prüfungen neben dem König die großen Musik-Meister am Hofe wie Franztisek Benda, Carl Heinrich Graun, Johann Joachim Quantz und Carl Philipp Emanuel Bach sowieso. Zum Abschluss der Darbietung des Stoffes schwierigsten Grades gab es erstauntes Geraune, zurückhaltende Beifallsbekundungen. Mit der Art und Weise dieser Äußerungen richtete man sich nach dem König.
Aber Johann Sebastian Bach spielte auch, und diesmal freiwillig, während seiner Aufenthaltszeit in der Stadt an der Havel, für die Potsdamer Einwohner, beispielsweise in der Heiligengeist-Kirche. –
Bald darauf, wieder nach Leipzig zurückgekehrt, erarbeitete Johann Sebastian ohne Verdruss und in Windeseile ein großes, herrliches und ausgereiftes Werk: „Das musikalische Opfer“ und widmete es dem Preußenkönig, übersandte ihm die Noten auf Papier und als Kupferdrucktafeln. Ob Bach darauf eine Antwort, dafür einen Dank oder eine Kosten-Entschädigung vom König erhalten hatte – darüber berichtet die Geschichtsschreibung nichts. – Bereits drei Jahre nach seinem wenig freudvollen Potsdam-Besuch endete das Leben von Johann Sebastian Bach, 65-jährig. –

Und dann kam vier Jahrzehnte später der Wolfgang Gottlieb „Amadeus“ Mozart (Salzburg 1756 – Wien 1791) nach Potsdam. Amadeus war sein selbstgewählter Künstler-Vorname. Er wohnte 1789 beim Hornisten Türrschmidt, im Hause Am Bassinplatz 10, war aber auch beim kunstsinnigen Stukkateur Satory zu Gast.

Am Bassin Nr. 10 wohnte Mozart während seines Potsdam-Aufenthaltes.

Hier komponierte Mozart neun Klaviervariationen über ein Menuett des Jean Pierre Duport, dem Direktor der Königlichen Kammermusik in Potsdam, obwohl dieser Mozart wohl nicht sehr gewogen war. Auch arbeitete Mozart wohl an seinem „Ave verum corpus“, einer Motette in C-Dur für vierstimmigen gemischten Chor, Streichinstrumente und Orgel. Diese war gedacht als ein Gruß an den hingerichteten und gestorbenen Jesus Christus. Das kleine Werk war getragen, verhalten, gedämpft – ohne stimmliche Anstrengung, in einer Stimmung sanfter Ruhe vorzutragen. 1791 soll es die Endreife erreicht haben. –
Mozart wurde vom König im neu erbauten Marmorpalais in dessen Parkanlage „Neuer Garten“ am „Heiligen See“ empfangen. König war, wie oben erwähnt, inzwischen der Neffe des bei Bach genannten Monarchen. Neffe Friedrich Wilhelm II. war ein großer Freund der Künste. Der König tauschte mit „Amadeus“ seine Gedanken über interessierende Musikfragen aus. Der angenehme Besuch währte vom 25. April bis zum 6. Mai 1789. Zum Hierbleiben, zu einer Anstellung kam es nicht. Der Genius Mozart starb zwei Jahre nach diesem Potsdam-Besuch, im Alter von nur 35 Lebensjahren völlig verarmt in Wien und wenig später konnte sich bereits niemand mehr an den genauen Ort seiner Grabstelle erinnern. –
Welchen geistigen Reichtum, Ruhm und Schmuck hätte es der Stadt Potsdam doch verliehen, wie sehr wäre die Residenz dauerhaft geehrt und „beflügelt“ worden, hätten Bach und Mozart hierbleiben können. Was hätten Bach und Mozart der Welt mit ihrem Schaffen noch mehr geben können, wären sie hier unter besseren Lebensbedingungen vielleicht älter geworden.
Das alles bewegt natürlich auch Wilhelm – bereits heute! – ... und schon ist Wilhelm am „Eulengymnasium“ in der Kurfürstenstraße angekommen.

Wilhelm durchläuft auf dem Schulweg auch die Kreuzstraße.

Die Ansichten des Hauses Kreuzstraße 15 von der Straße und vom Hofgelände. Foto von 1994. – In diesem Haus hatte der Schriftsteller Theodor Storm um 1856 für einige Zeit gelebt (und Vorfahren des Autors C. J. ebenfalls). – Vorerst war Theodor tagsüber am Gericht als Assessor tätig aber abends und sonntags hier im Hause bei der Arbeit schriftstellerischer Entspannung. Die Kreuzstraße heißt heute Benckertstraße.

✻ Wilhelm studiert von diesem Jahr an (er ist neun Jahre jung) neben der normalen Schulbildung in Potsdam auch an der Berliner Musikhochschule. Professor Georg Schumann leitet die Hochschule und so ging es zuallererst zu ihm zum Klavier-vor-spielen. Es war jedoch kein vorsichtig probendes Spiel der Prüfung für eine eventuelle Aufnahme – der Wilhelm lieferte ein Konzert ab, „selbstverständlich“ ohne auch nur ein Notenblatt zu nutzen. Das gesamte Konzert hatte er im Kopf. Jede einzelne der Noten und deren tönenden Abfolgen! Vater Wilhelm Kempff fragte den Georg Schumann anschließend, ob sein Sohn nun an der Hochschule zum Musiker ausgebildet werden dürfe. Prof. Schumann erwiderte „er ist es ja schon“ – aber er wolle gern den weiteren Weg für den Sohn ebnen helfen. So wurde Wilhelm gern aufgenommen. Privatunterricht mit zwei Kosten-Freistellen: Klavier bei dem etwas bärbeißigem Karl Heinrich Barth ostpreußischer Herkunft und Kompositionslehre bei dem eher feinsinnigen süddeutschen Mannheimer Robert Kahn (1865–1951, gest. in Biddeden, Kent, England). Außerdem werden weitere Lehrer sein: Paul Graener, Paul Hindemith, Herr Recnizek, Max Schillings und Arnold Schönberg.
Prof. Robert Kahn

Zeitgenössische Potsdamer Werbung

1906 – das 10. Lebensjahr Wilhelm Kempffs
Eine schreckliche Begebenheit, die die Gedankenwelt auch des Wilhelms sehr beschäftigt: Die große Stadt San Francisco in den Vereinigten Staaten von Nordamerika wird in wenigen Sekunden von einem Erdbeben zerstört. –
Wilhelm Voigt, ein armer Berliner Schuhflicker hat aus großer Armut eine große Untat im Sinn. Im Oktober reist er von Berlin nach Potsdam. Dem Alt-Uniformhändlern Berthold Remlinger & Sohn, in der Potsdamer Mittelstraße 3, stattet er einen Besuch ab. Nicht etwa, weil er diese Herren kannte. Nein, der Kunde besorgt sich dort eine noch regelgerechte, gültige Hauptmannsuniform. Nebenan in der Vernickelungsanstalt Finke (auch „Säbelfabrikation und Militäreffekten“) in der Kreuzstraße 22, erwirbt er sodann einen Satz Stiefelsporen. Und das nicht, um etwa zum Kostümfest zu reiten. Nein, ganz und gar nicht. Derart gerüstet treibt er doch tatsächlich dann am 16. Oktober kurzerhand ein paar Soldaten auf und dirigiert sie zu seiner Begleitung per Befehl und Bahn bis zum Rathaus in Cöpenick bei Berlin, wo er den Bürgermeister arretiert und die Stadtkasse mit 3.357 Reichsmark requiriert, die er aber gar nicht etwa erbeuten wollte. „Ein Beifang“, sagt er. Der edle Mut habe ihn mehr nach neuen Ausweispapieren ausschauen lassen, die aber im Rathause leider nicht vorrätig waren. Der Sinn für teutsche Obrigkeitshörigkeit treibt schon seltsame Blüten – dass so etwas überhaupt gelingen kann. Friedrich Wilhelm Voigt soll er zwar heißen, mit einer Unterschrift „Malzahn“ hat er aber die Geldquittung gefälscht.

1907

Der Alte Markt in Potsdam. Wir sehen links das Stadtschloss, rechts die Nikolaikirche.

Ein großes Ereignis von öffentlichem Interesse: Am 2. September nimmt in Potsdam die elektrische Straßenbahn den Betrieb auf und die bisherige Pferdebahn verschwindet aus dem Stadtbild. Bei dieser Gelegenheit kann Wilhelm euch auch noch zeigen, wo der große Baumeister Ludwig Persius geboren wurde, der nach dem Tod seines Lehrers Karl Friedrich Schinkel die Nikolaikirche vollendet hatte. Es ist das Haus Am Alten Markt 12 - Ecke - Kaiserstraße. Ja, dieses Eckhaus, welches wir geradezu im Hintergrund sehen.
Ansichtskarte

Bezüge für die Sitze der Potsdamer Straßenbahnen

Die Polsterbezüge des Gestühls für die Fahrgäste der Straßenbahn tragen das Potsdamer Stadtwappen. Die Sitzfläche erscheint derart vornehm, dass man recht achtsam Platz nimmt.
Im Bild die nachgestaltete völlig neue Webware aus dem Jahre 2016. Diese stammt aus der Common-Gobelin-Manufaktur, Braunsdorf bei Chemnitz, für die historische Potsdamer Straßenbahn.
Foto: Wolfgang Schmidt, Bild: ein Zeitungsausriss.

Und noch etwas: Die schöne alte Glienicker Brücke über die Havel, die Karl Friedrich Schinkel entworfen hatte wurde abgerissen, weil sie für den heutigen Verkehr nicht mehr breit und hoch genug erschien. Sieben Jahrzehnte, nur ein Menschenalter, diente sie als Verbindung der Residenzen Berlin und Potsdam. Das ist eine kurze Zeit, gemessen an dem riesigen Aufwand für Aufbau und Abbruch sowie den Kosten. Nun wird sie von einer modernen Stahlträgerbrücke ersetzt.
Die Zukunft weiß: Diese wird vorerst nur die Hälfte der Zeit der Schinkelbrücke bestehen, da sie am Ende des Zweiten Weltkrieges von deutschem Militär mit Sprengladungen zerstört wird, um die Sowjetarmee aufzuhalten, was aber trotzdem nicht gelingt.

✻ Eine Ankündigung im Potsdamer Intelligenzblatt für den Klavierabend des inzwischen elfjährigen Wilhelm Kempff.

Das Palais Barberini, Humboldtstraße 5-6, steht am Alten Markt in Potsdam, gegenüber dem Schloss und der Nikolaikirche sowie gegenüber dem Alten Rathaus mit dem vergoldeten Atlas auf dessen Turm, der die Weltkugel trägt. Ganz links im Bild, nur angeschnitten, das Hotel >Stadt Königsberg<, in dem Wilhelm bereits vor fünf Jahren, 1902, ein erstes öffentliches Konzert gab.
Trotz der angekündigten Einmaligkeit eines solchen Konzerts spielte Wilhelm aber auch im Konzerthaus in der Kaiser-Wilhelm-Straße (nach 1945: Hegelallee). In einigen Jahren wird rechts neben dem Konzerthaus das Werner-Alfred-Bad errichtet. Das ist dann aber eine weitere und ganz andere Geschichte.

✻ Das Palais Barberini verfügt unter anderem auch über einen Konzertsaal erster Güte. Es war ein anspruchsvoller, sehr gut gelungener Konzertabend, den Wilhelm leistete – und zum Abschluss, „als Sahnehäubchen“, durften Zuhörer beliebige Musikstücke als Wünsche rufen zu denen Wilhelm sofort eine frei erdachte Improvisation spielen wolle. Musik-Professor Martin Gebhardt wählte aus den vielen Wünschen für Wilhelm ein Stück aus und der junge Pianist antwortete augenblicklich mit einer unglaublich bravourösen Bearbeitung – der tosende Applaus des Publikums wollte schier kein Ende nehmen. –
Wer aber war Professor Gebhardt? Er wurde als Königlicher Musikdirektor benannt, war Organist der Königlichen Hofkirche, der Friedenskirche im Park von Sanssouci und er war auch als Gesanglehrer tätig, sowie der Dirigent des „Verein für Klassische Musik“. Seine Wohnung hatte er in der Alten Luisenstraße 73. –
Über sechs Jahrzehnte war ein Vorfahre des Autors Chris J. in diesem Palais Barberini als Verwalter tätig. Der Rudolph Mahnkopf kannte natürlich die Familie Kempff gut und war aktiv im Gesangverein bei Wilhelm Kempff, sen. „eingebunden“, verwahrte auch die großen Musikinstrumente, die nicht in jedem Falle von den Musikern nach der Darbietung mitgenommen wurden.

Prof. Martin Gebhardt war in dieser Zeit Organist der Friedenskirche im Park von Sanssouci.

✻ Aber neben der Musik gab es auch Erholungspausen für Kopf und Finger – notwendige Beanspruchungsübungen für den sonstigen Körper. So streift Wilhelm mit seinem Freund Kempf, der sehr umgänglich ist (er hat nur den „Makel“ dass ihm ein > f < fehlt), im Sommer wie im Winter durch Felder, Wald und Wiesen – darunter durch die Ravensberge, an den Jungfernsee, rund um den Heiligen See – und durch den Schlosspark Babelsberg ... – Kurz: durch ihre wundervolle märkische Heimat.

Mit klammen Fingern hielt Otto Thomasczek, Nowawes, das vergnügliche Treiben auf dem Eis des „Heiligen See“, zwischen der Parkanlage „Neuen Garten“ und dem Stadtgebiet liegend, fest ...
Ansichtskarte, Kunstanstalt Sommer, Berlin
... und Georg Krickel, ein genau wie Thomasczek im Jahre 1854 aber in Potsdam Geborener, sah das kalte Spektakel so ähnlich. 1874–1878 hatte Krickel an der Akademie der Künste zu Berlin die Zeichenkunst studiert.
Quelle: Erschienen als Repro in der Zeitschrift „Unser Potsdam“.

Der Vater des Schulfreundes Kempf ist schwer in Ordnug. Es ist Prof. Dr. Paul Kempf. Er arbeitet als Hauptobservator am Astrophysikalischen Institut. Dort ist derzeitig viel Trubel zur Vorbereitung einer großen Attraktion, denn die Potsdamer Sternwarte erhält ein 800 mm-Fernrohr mit „Stenbeil-Objektiv“, das im kommenden Jahr die Arbeit aufnehmen wird.

Die Kuppelhalle für den Großen Refraktor auf dem Potsdamer Telegrafenberg. Sie hat einen Durchmesser von 21 m und eine Höhe von 18 m.
Fotoquelle: R. Arlt, Astrophysikalisches Institut Potsdam.
Zur Arbeit, für den Blick durch die geöffnete Kuppel, wird das astronomische Linsenfernrohr (Teleskop) geschwenkt und auf das gewünschte Betrachtungsgebiet ausgerichtet. Dieses Gerät ist auch heute (2022) noch, nach 115 Jahren, das Viertgrößte seiner Art auf dieser Erde.
Fotoquelle: Astrophysikalisches Institut Potsdam, refraktor_0190.max-1200x2400.JPG.
Die (untere) Okularseite des Refraktors.
Fotoquelle: Astrophysikalisches Institut Potsdam, refraktor_2550_xl.2e16d0ba.fill-600x600.JPG.

✻ Hier haben die Jungen die Möglichkeit, im Raum des Großen Refraktors ganz privat die nahe gewaltige Technik kennenzulernen, als auch die klitzeklein erscheinenden Millionen Lichtjahre entfernten Sterne zu betrachten, die oftmals um ein Vielfaches größer sind, als unsere Sonne. Von seiner Wohnung in der Leipziger Straße 39 hat es Prof. Kempf wesentlich näher zur Arbeit, als sein Sohn zur Schule. Aber auch andere Jungen sind dabei, so Kurt Henning, dessen Vater wohl mit Rentieren handelt. Rentier steht zumindest unter dessen Namensschild an der Haustür, ferner Fritz Bonte der Klassenprimus und Friedrich Lerche als ein weiterer Bestschüler aus der Victoriastraße 30, dessen Vater ein Geheimer Rechnungsrevisor ist. – Wir vergessen nicht, dass es noch weitere wichtige Menschen am Astropysikalischen Institut gibt und darüber hinaus auch andere Wissende, wie zum Beispiel den Schriftsteller und Volksastronomen Bruno Hans Bürgel (Berlin 1875 – Potsdam-Babelsberg 1948), der nebenan in Nowawes lebt. Dieser schreibt Bücher über das Leben. 22 Bücher sind der spätere Endbestand. 1910 wird sein Werk „Aus fernen Welten“ erscheinen und 1919 kommt „Vom Arbeiter zum Astronom“ auf den Markt, ein Buch über den ersten Teil seines Lebens.

Bruno Hans Bürgel. Schriftsteller und Volksastronom. Zeichnung des Kunstmalers und Grafikers Ernst Grunwald (1894–1972). Jener Grafiker wohnt in „Bergstücken“, im Musiker-Viertel, links hinter dem Bahnhof Drewitz, Mozartstraße 14.
Bruno H. Bürgel befasst sich in seinen Studien und Veröffentlichungen neben der Astronomie mit Geschichte, Pädagogik und Philosophie aber auch mit Sorgen und Freuden der Menschen in deren Alltag.

Blick vom Park Babelsberg nach Potsdam.

Wilhelm kann vom Park Babelsberg in Nowawes auch ohne Fernrohr hinüber zu seiner mächtigen Heimatkirche, jenseits der Havel, sehen. Diese Kirche hat der hochtalentierte Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) gestaltet.
Karl Friedrich Schinkel war Städteplaner, Baumeister (Architekt), Zeichner / Grafiker, Bühnenbildner und Möbelgestalter ... Schinkel bestimmte den Stil des deutschen Klassizismus. Nach seinem Tod bearbeiteten seine Schüler Ludwig Persius und Friedrich August Stüler das Konzept für den Umbau der Nikolaikirche, im Sinne ihres Meisters und mit der ihnen eigenen Kreativität.

Die Ausmalung der Kirche.

Auf dem oberen Bildband sehen wir die vier Evangelisten Markus, Matthias, Lukas und Johannes. Darunter sind die zwölf Apostel dargestellt. Die Altarüberdachung, die uns leider den vollen ungestörten Blick auf das Wandgemälde verwehrt (war der ausdrückliche Wunsch des Königs Friedrich Wilhelm IV.), wird von vier korinthischen Säulen aus gelblichen venezianischem Marmor gestützt.
Bis zur Zerstörung im April 1945 war auch der darüberliegende gewölbte Halbkuppel-Teil mit weiterem biblischen Bildschmuck versehen, der Jesus Christus auf dem Thron, von Engeln umgeben, zeigte. Der Altartisch ist aus Marmor gefertigt, der in einem Steinbruch in Böhmen gewonnen wurde.

Die ursprüngliche Orgel.

Das Orgelprospekt gestaltete Karl Friedrich Schinkel. 1908 wird ein neues Werk, bestehend aus drei Manualen, 29 Registern und einem chromatischen Glockenspiel von der Firma Sauer eingebaut. Wegen des Zeitbezuges ist hier diese Ansichtskarte mit der alten Orgel gewählt worden, an der Familie Kempff tatsächlich langzeitig musizierte. – Das Instrument wurde bei dem Artilleriebeschuss am Ende des Zweiten Weltkrieges zerstört.

Der Taufstein wurde aus schwarzem böhmischen Marmor gearbeitet.
Die innere Kuppel und ihre bildhafte Einrahmung.

Ein Blick von unten zur inneren Kuppel. Eingefasst wird diese von den gemalten Medaillons mit den Propheten Daniel (Maler: Leopold Schulz), Hesekiel (Eich), Jeremia oben rechts (C. Stürmer) und Jesaja, unten rechts (E. Holbein).

✻ Der Laufgang zwischen der inneren und der äußeren Kuppel. Hier hinauf, zu einem Kirchenbesuch der anderen, ganz besonderen Art, kann Wilhelm auch einzelne Schulkameraden mitnehmen, die staunend ein für sie völlig neues Detail aus der Potsdam-Heimat kennenlernten – und auch wir dürfen hier an einem kleinen Ausschnitt teilhaben.

Foto: Hagen Immel, Redaktion: Albrecht Gülzow, Kalenderblatt 2014, SanierungsTräger Potsdam. Herausgeber: Stadtverwaltung der Landeshauptstadt, ProPotsdam.
Der äußere Umgang ermöglicht den Überblick über die gesamte Stadt, die sich zum Teil unter dem Großgrün verbirgt.

Ein Blick vom äußeren Rundgang am Fuße der Kirchenkuppel über die Stadt Potsdam. Jeder der vier Eckpfeiler ist mit einem Engel bekrönt – zu ihnen passen, wenn wir es so wünschen, die Worte William Shakespeares: „Sie kommen noch immer durch den aufgebrochenen Himmel, die friedlichen Schwingen ausgebreitet, und ihre himmlische Musik schwebt über der ganzen müden Welt ...“

Verlassen wir aber die Kirche wieder, so sehen wir gegenüber auf die östliche Längsseite des Schlosses, wo hinter deren Fenstern sowohl die Königin Luise zu Hause war, als auch der große Universalgelehrte Alexander v. Humboldt (Berlin 1769 – Berlin 1859, fast 90 Lebensjahre) zeitweilig seine Zimmer-„Flucht“ hatte.
Der Kronprinz Friedrich Wilhelm, (der spätere König Friedrich Wilhelm II., wir kennen ihn vom Besuch Mozarts), war einer von Alexanders Taufpaten. Jener Prinz lebte im Potsdamer Kabinettshaus, Am Neuen Markt 1. – Alexander v. Humboldt war Forscher, ein Wissenschaftler auf den Gebieten der Physik, Chemie, Mathematik, Geografie, Geologie einschließlich der Mineralogie, Botanik, Zoologie, Physiologie, Klimakunde, Astronomie, Ethnologie und Demografie. Als Naturforscher schuf er einen neuen Stand des Wissens über unsere Welt. Forschungsreisen unternahm er u. a. nach Nord-, Mittel- und Südamerika, durch Asien mit dem Schwerpunkt des russischen Reiches und auch nach Ägypten. Viele seiner botanischen und zoologischen Entdeckungen hielt sein Zeichen- und Maltalent fest. –
Alexanders älterer Bruder, Wilhelm v. Humboldt, wurde nur ein paar Schritte vom Potsdamer Stadt-Schloss entfernt, im Kabinettshaus, Am Neuen Markt 1, geboren. –
Einen Katzensprung weit nur ist es bis zum Geburtshaus des Naturforschers Ernst Haeckel, geboren im Hause Potsdam, Yorckstraße 3.

Am Neuen Markt 1.

Das ist das so genannte Kabinettshaus, Am Neuen Markt 1. Dieses Gebäude gilt als das Geburtshaus u. a. des Prinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm III. v. Hohenzollern (1770–1840) und des Gelehrten Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Heute: Haus der Ingenieur-Akademie.
Wilhelm v. Humboldt war Sprachforscher, Schriftsteller, Kulturwissenschaftler, Diplomat und Minister.
Der Balkon des Hause wird gegen eine möglicher Weise zu große Last, vorsichtshalber von einem kräftigen „Mohrenpaar“ gestützt, hier hellhäutig dargestellt. Im Nachbargebäude links (außerhalb des Bildes, Schwertfegerstraße 8), lebten wichtige Handwerker für die Herrschaften. Deshalb sind beide Häuser mit einem Korridor verbunden. Hier wohnten, als Vertreter jenes Personals, zeitweilig auch ein Schneider-Meister und ein Schuhmacher-Meister, aus der Vorfahren-Verwandtschaft des Autors.
Foto: Oktober 2022.

Ein Haus in der Yorckstraße.

Das Geburtshaus von Ernst Haeckel in der Yorckstraße am Stadtkanal. Ernst Haeckel (Potsdam 1834 – Jena 1919, 85 Lebensjahre). Er hatte das Domgymnasium in Merseburg besucht, dann an den Universitäten Würzburg und Berlin studiert. Er wurde ein Zeichner (wunderbarer Bilder seiner Entdeckungen), Mediziner, Zoologe, Naturforscher sowieso, und auch Philosoph. Ein Freidenker. Forschungsreisen führten ihn nach Ägypten, in die Türkei, zu den Kanarischen Inseln, nach Griechenland, Korsika, Finnland, Russland, Algerien, Kleinasien, Syrien und verschiedene tropische Gegenden. Auch er ein Weltbürger. Er wurde auch „Der deutsche Darwin“ genannt.

Ein Blick in den Stadtkanal.

Nun ein Blick-Schwenk für etwas mehr Kanal – das zweite Teilstück nach der Sanierung von Kriegsbeschädigung und Zuschüttung. Viel der Arbeit wartet noch an anderen Teilabschnitten, bis für den Kanal auf seiner gesamten Länge die ursprüngliche Schönheit wieder erreicht ist.

Die Menschheit interessiert aber noch weitaus mehr als Kirchen-Musik oder Engelflug. Zum Beispiel trachtet sie mehr und mehr danach, sich auch selber durch die Lüfte zu bewegen. Ballons schweben, Luftschiffe fahren, Aeroplane fliegen. Auch für Familie Kempff ist das spannend, ja aufregend. Allein dabei zuzuschauen lässt manchmal die Alltagsaufgaben in den Hintergrund treten.

Ballonwettfahrt

Es sind tollkühne Männer und Frauen die hier ihr Können vorführen. Neben den Brüdern Wright aus den USA werden auch bald Hans Grade (1879-1946), Melli Beese (1886–1925), der Potsdamer Werner Alfred Pietschker (1887–1911, tödlicher Absturz) und weitere Flugpioniere folgen.
Ballonwettfahrt, Schmargendorf bei Berlin, mit internationaler Beteiligung, im Oktober 1908. Ansichtskarte

Ein Nachtrag dessen Nachrichteninhalt rasend schnell um die Erde lief: Am 30. Juni soll ein „Riesenmeteor“ in Sibirien, in der fast menschenleeren „Steinigen Tunguska“ niedergegangen sein. Später wurde von den unglaublichen Verwüstungen berichtet aber gefunden wurde er, der Verursacher der Katastrophe, nie!
Anmerkung: Nähere Hinweise zum Zeitgeschehen findet der Leser auf gleicher Internetseite www.janecke.name unter der Rubrik „Zeitgeschichte“.

1909
Auch dieses Jahr ist wieder sehr ereignisreich!

Eines der Luftschiffe über der Havel.

Graf Zeppelin, er wohnt derzeit in der Potsdamer Stadtheide an der Luisenstraße dicht bei der Havel, stellt nun auch den Potsdamern sein neues Luftschiff LZ 6 vor. Eine ungeheure Attraktion.

Melli Beese (1886–1925)

Melli war mit 25 Lebensjahren die erste deutsche Aviatikerin; erst viel später wird man „Pilotin“ sagen. Sie erwarb zum Abschluss ihrer Ausbildung den 115. deutschen Zulassungsschein für das Führen eines Aeroplanes (Flugzeuges). Die Zukunft weiß, dass sie in der Johannisthaler Herbstflugwoche 1911, den Höhenweltrekord mit einer „Rumpler-Taube“ erringen wird. –
Der Aviatiker Hubert Latham (aus Frankreich) hat Behördenpech bei seinem ersten Überlandflug auf deutschem Gebiet. Er flog die etwa 10 km vom Exercierplatz „Tempelhofer Feld“ in Rixdorf, Kreis Teltow (hier lehrte Turnvater Ludwig Jahn schon vor Zeiten seine Leibesübungen) nach Johannisthal. Hier wird der neue Start- und Landeplatz in dem dafür niedergelegten Forst eingeweiht. Für seine fliegerische Leistung erhielt er von einem Berliner Polizisten eine Ordnungsstrafe „wegen groben Unfugs des sich Bewegens in der Luft“ – und das am Rande aber nicht im Geiste der 1. Internationalen Luftfahrtausstellung. Das hatte der Schupo nicht gewusst.

Flugpionier Latham – Ansichtskarte ohne Nennung von Fotograf und Verlag.

✻ Das Bornstedter Feld bei Potsdam ist Wilhelm gut bekannt – ein ausgezeichneter Platz, um im Herbst die Drachen von den Winden tragen zu lassen. – Nun aber kommen Drachen völlig anderen Ausmaßes: Die beiden amerikanischen Söhne eines Pfarrers, von Beruf sind sie Fahrradmechaniker, Nähmaschinenreparateure, Aviatiker und Aeroplan-Erbauer. Die Brüder Orville und Wilbur Wright sind wieder hier. Sie geben der Bevölkerung schier tollkühne Vorstellungen auf den Exercierplätzen Tempelhofer Feld und Bornstedter Feld.
„Die Maschine fliegt Vollkreise, steigt wohl über 160 m senkrecht empor, stoppt, wendet jäh – später schraubt sie sich langsam auf mehr als 300 m über dem Erdboden, eine noch nie erreichte Höhe, erscheint aus der Ferne wie ein dünnes Insekt. Die Luftschiffe „Zeppelin“ und „Parseval“, die in der Nähe kreisen, nehmen sich dagegen aus, wie riesenhafte Hornissen“. Die Prinzen Sigismund und Karl fliegen als Gäste bei den Orvilles mit ... und auch die Kempff-Kinder ... sind vom Erdboden aus, begeisterte Zuschauer.

Orville Wright im Doppeldecker – Zeitungsreproduktion einer Ansichtskarte.

✻ Der Familie Kempff steht ein Wohnungswechsel bevor. Vom Wilhelmplatz Nr. 10, zur Moltkestraße an den Stieffschen Wiesen. Aber schon nach vier Monaten geht es von dort zur Kiezstraße 11.

Am Potsdamer Stadtkanal. Fotograf: Max Baur, Handabzug: Foto-Herrmann, Potsdam
Stadtkanal-Teilstück im Jahr 2022

Hier ein Bild, mehr als acht Jahrzehnte nach der vorigen Aufnahme in gleicher Blickrichtung aufgenommen. Zwischen beiden Auslöse-Zeitpunkten liegen nationalsozialistischer Krieg und sozialistische Herrschaft. Der Kanal ist danach – bisher auf zwei Teilstrecken wiederhergestellt. Im Laufe des Bestehens des Kanals gab / gibt es also auch trockene Zeiten – doch gern wird er beispielsweise für den sportlichen Leistungsvergleich im Kanusprint geflutet. Mal ist der Kanal ein blaues, mal ein grünes Band – für lebhafte Abwechslung ist gesorgt.

Die Kiezstraße, Wohnkiez der Kempffs, ist zwar vom Stadtzentrum nicht weit entfernt aber man lebt hier bereits am Stadtrand, schon in der Natur. Ein mühelos-kurzer Gang nur bis zum nächsten Havelsee. Die Kiezstraße ist eine ruhige Straße mit zwei Bürgersteigen, zwei Fahrbahnen (Dämmen, sagt man) und dazwischen ein breiter Erdstreifen, auf dem zwei Reihen Linden und Kastanien in bunter Mischung wachsen. – Der Wilhelmplatz mit seinem ähnlichen Bewuchs lässt grüßen.

Die Kiezstraße, nahe dem Zentrum und trotzdem am Rande der Stadt.
(Die Fahrzeuge sahen im Jahre 1909 anders aus.)
Das Haus Kiezstraße 11 mit dem halbrunden Lichteinfall über dem Portal.

In eine großzügige Wohnung zog Familie Kempff ein, wenn auch die Zimmerfenster zur ruhigen Straße zu jeder Tageszeit nach Norden zeigen. – Nach hinten aber, zur besonnten Südseite, schließt sich das Gartengelände an, in dem mittig ein Pavillon steht, mit wildem Hibiskus, der Waldrebe, überwachsen. Hinter dem Garten der Uferweg „Wall am Kiez“, am Steinhof.
Das am „Kellertor“ für den Stadtkanal abgezweigte Havelwasser feiert hier am anderen Ende, dem „Wassertor“, die Wiedervereinigung mit seinem Fluss – das bedeutet, der Stadtkanal mündet hier bei der Kiezstraße an den vorgelagerten Planitz-Inseln in die Havel. Seerosen aller Farben bestimmen den Wasserbewuchs der nahen Umgebung.

Ein Blick durch die beiden Planitz-Inseln auf die große Insel „Hermannswerder“.
Gastwirtschaft „Froschkasten“

Auf der gleichen Kempffschen Straßenseite, kurz vor der Einmündung der Kiezstraße in die Breite Straße, besteht die beliebte Gaststätte „Froschkasten“. (Diese Gaststätte existiert heute nicht mehr. Es wurden in unmittelbarer Umgebung nahe dem Ufer sozialistische Hochhäuser errichtet).

✻ Im Kennenlern-Gepräch mit einem Hausbewohner, dem pensionierten Lehrer Henrici erfährt Wilhelm auch, dass der weltgerühmte Geheimrat Prof. Dr. Johann Gottfried Galle (geboren im Pabsthaus bei Radis nahe Gräfenhainichen am 9. Juni 1812), Astronom, Klimaforscher und Hochschullehrer, seinen Lebensabend hier in Potsdam lebt – am Zielort seiner Wünsche. Wilhelm „kennt“ diesen bereits vom Schulunterricht, aus der Literatur. Es ist also noch Zeit, ihn sogar persönlich kennenzulernen. Das ist das Einfachste, wer hätte das gedacht: Herr Prof. Dr. Galle wohnt den Kempffs schräg gegenüber, im Haus Kiezstraße 17. Zahlreiche Entdeckungen verdanken wir ihm. So hatte Herr Dr. Galle schon am 23. September 1846 von der Berliner Sternwarte aus, einen Planeten entdeckt, dessen wahrscheinliche Position der französische Wissenschaftler Joseph Urbain Le Verrierer vorausberechnet hatte. Galle sah nun diesen große „Stein“, der dann in die Sternenkarte von Carl Bremiker eingetragen werden konnte. Dieser steinerne Planet erhielt den Namen Neptun. Doch noch vieles mehr hat der Nachbar von gegenüber entdeckt, in seinem Leben gesehen ... und manchmal eben, als der erste unter seinen Mitmenschen!

In diesem Haus, Potsdam, Kiezstraße 17, lebte der Geheime Rat Prof. Dr. Johann Gottfried Galle in den Jahren 1897 bis zu seinem Lebensende im Jahre 1910.

Man sollte wissen: Potsdam, das Herrschaftsgebiet des alten slawischen Havelgotts Poztupimi, hatte ursprünglich drei Ortszentren: Den schützenden slawischen Burgringwall im Osten, gerade dort, wo dann viel später der Große Kurfürst seine umfangreiche Weinkellerei einrichtete aber heute die Heiligengeist-Kirche steht, dann westlich orientiert der Fischerkiez am Kiewitt, wo die Kempffs nun unweit der Garnisonkirche wohnen und mittig dazwischen das junge mittelalterliche „zentrale Zentrum“ am Alten Markt, mit der Nikolaikirche. Drei Siedlungskeimzellen mit den späteren Kirchenstandorten für unsere Provinzialhauptstadt.

Drei der Potsdamer Kirchen. Von rechts nach links: Die Heiligengeist-Kirche, mittig die (Kempff)-Nikolaikirche, hinten die Garnisonkirche (auch mit Zivilgemeinde). Ganz links das Alte Rathaus.
Diese drei Kirchenstandorte kennzeichnen die ursprünglichen kleinen Siedlungsgebiete für den späteren größeren gemeinsamen Ort.
Alte Ansichtskarte, Repro: Foto-Hermann, Potsdam

Der Rathausturm mit dem vergoldeten Atlas, der schwer an der Bürde der Erdkugel trägt.
Zu den Füßen des Atlas – das geschäftige bunte Treiben auf dem Alten Markt. Links die Nikolaikirche, geradezu das Alte Rathaus.
Gemälde von W. und A. Thiele 1931. Die Kunstmaler lebten in der Augustastraße 34 (heute: Weinbergstraße. Das Originalbild hängt im Hauptgebäude der Stadtverwaltung Potsdam, Friedrich-Ebert-Straße 79–81.

Die Laufstrecke zum „Eulen-Gymnasium“ ist von der Kiezstraße weiter als bisher. Auf dem Schulweg erinnert, ja ermahnt jeden das Glockengeläut der Garnisonkirche zur vollen Stunde: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ und zur halben Stunde: „Üb' immer Treu und Redlichkeit“, automatisch gespielt – als Zeitzeichen für pünktliches Erscheinen in der Schule oder auch am Essentisch. Das Glockenspiel für andere Weisen, Choräle und Volkslieder, bedient am Spieltisch der Glockenist Meister Baltin. Dazu nutzt er Handgriffe, die vermittels von Zugdrähten die Verbindung zu den 40 Glocken herstellen. Die Ausstattung bestand ursprünglich aus 35 Glocken, die der Niederländer Jan Albert de Grave gegossen hatte. Später kamen noch 5 sehr schwere Bassglocken aus einer anderen Herstellungsstätte hinzu. Herr Baltin ist auch der Organist der Garnisonkirche und er wohnt auch nicht weit entfernt in der Breite(n) Straße 25, das ist sehr schräg gegenüber der Garnisonkirche. Dort ist er außerdem noch der Hausverwalter des Königlichen Witwenhauses, in dem nur Witwen von Predigern, anderen geistlichen Beschäftigten sowie Lehrern wohnen. Dort hat er es relativ gut.
Auf dass mit der Kirchturmuhr alles ordentlich vonstatten geht, steigt Uhrmachermeister Bölke aus der Charlottenstraße 43, täglich hoch in den reichlich 88 m hohen Turm der Garnisonkirche, zieht die Uhr, das Werk eines des früheren niederländischen Meisters auf, justiert und pflegt bei Bedarf. Das Zifferblatt dieser Ein-Zeiger-Uhr hat einen Durchmesser von etwa 2,5 m.

Der Organist und Glockenist der Garnisonkirche, Herr Baltin, geht nun in seine wohlverdiente Ruhezeit. Sein Nachfolger ist Prof. Otto Becker (Breslau 1870 – Potsdam,1954, 84 Jahre alt). Organist war er in mehreren Berliner Kirchen und auch Lehrer an der Musik-Hochschule in Berlin. Nun hat ihn der Kaiser an die Garnisonkirche Potsdam beordert Er wird seine Arbeit bis zum 13. April 1945 ausfüllen, dann fällt auch diese Kirche im Feuersturm der Brandbomben zum Ende des Krieges. Bis zur „Reichskristallnacht“ am
9. November 1938, spielt er auch in der Synagoge Am Wilhelmplatz 1–2 die Orgel, bis jener Tempel mit Brandlegung sinnlos zerstört wird, nicht mehr nutzbar ist.
Bis zu den 40 Glocken im Turm der Garnisonkirche steigt Prof. Becker 365 Stufen und er sitzt dort droben in der offenen 4. Turmetage auch bei winterlicher Eiseskälte am Spieltisch. Für alle Musikstücke müssen die vorhandenen Noten bearbeitet, für die Glocken umgeschrieben werden, denn fast alle diese Stücke werden nicht automatisch, sondern von Hand gespielt. Fast jeden Tag ist der Glockenist dort oben tätig. Besonders lang währte seine Spieldauer, wenn er mal versehentlich eingeschlossen wurde oder wenn er ganz besondere Hörer-Wünsche erfüllte. Natürlich trifft man ihn auch oft im Kirchenschiff und auf der Empore an der Wagner-Sauer-Orgel.

Die Garnisonkirche – die auch eine Zivilgemeinde betreut, in der „Breite Straße“.
Quelle: Ansichtskarte.

Prof. Otto Becker lebt mit seiner Familie in der gleichen Straße wie die Familie Kempff, in der
Kiezstraße 24 a, gegenüber der Gaststätte „Froschkasten“, etwa dort, wo die Kiezstraße am „Kiezpalast“ (Haus Nr. 26 / 27) „geknickt“ wird und in die Breite Straße mündet. Nur wenige Schritte weiter sehen wir die „Moschee“.

Diese „Moschee“ ist kein Gebetshaus. Sie ist die Bauhülle für die große Dampfmaschine, die die Pumpen für Fontänen, Springbrunnen und Wasserfälle im Park Sanssouci antreibt. Das „Minarett“ ummantelt den Schornstein der Anlage.

1910
Im Frühjahr 1910 können die Potsdamer den Halleyschen Kometen beobachten, der erst dann erneut sichtbar „an uns“ vorbeifliegt, wenn Wilhelm Kempff, jun. seinen 90. Geburtstag gefeiert hat. Das zweimalige Erscheinen dieses Kometen kann nicht jeder Mensch erleben. Das übernächste Mal wird er sich pünktlich im Jahr 2061 zeigen. Der Brite Edmund Halley hatte die Zeiten der Wiederkehr des Kometen berechnet und sie traten, nach dem Tode des Astronomen, auch so ein. Der Komet ist ein großer Eis-Stein-Klumpen länglicher Form, von etwa 15 km Länge und ungefähr 7 km Durchmesser. Sein Gewicht beträgt etwa 2 Billionen Tonnen. Da der Komet auf seiner Bahn an der der Sonne zugewandten Seite angewärmt wird, verdampft dort Materie, die von der Sonne angeleuchtet, als sehr langer „Schweif“ zu sehen ist. So verliert er etwa 50 t seiner Masse je Sekunde. Der Komet fliegt mit etwa 55 km/sec. durch das Weltall, das heißt, mit ungefähr 198.000 km/h ist er unterwegs, „um seinen Flugplan zuverlässig einzuhalten“. –
Am 10. Juli stirbt im Hause Kiezstraße 17 der Geheime Rat Prof. Dr. Johann Gottfried Galle im Alter von 98 Jahren. Dessen Sohn, Dr. phil. Andreas Galle ist als Wissenschaftler am Königlichen Geodätischen Institut Potsdam tätig. Er wohnt in der Behlertstraße 36, dort, wo früher der Fährmann Behlert ... aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.

1911 – das 15. Lebensjahr von Wilhelm Kempff, jun.
✻ In diesem Jahr stirbt die Mutter von Wilhelm sen., die Großmutter von Wilhelm jun., Elisabeth Helene Kempff, geborene Rautzenberg, am 21. Januar im Potsdamer Lehrerwitwenhaus, Zimmerstraße 12, im Alter von 69 Jahren. –

✻ Konfirmation des Wilhelm in der Potsdamer Nikolaikirche am Alten Markt. Konfirmationsspruch: „Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme.“
Vater Wilhelm Kempff spielt dazu auf der Orgel, genau an jenem Ort, wo auch schon Carl Philipp Emanuel Bach (Sohn von Johann Sebastian Bach) und Felix-Mendelssohn-Bartholdy musizierten, so auch Prof. Otto Becker, Fritz Werner ... und in deren Folge nun die beiden Kempff-Söhne Georg und Wilhelm.

Schmuckblattrahmen von A. Rich. Janecke gezeichnet und geschrieben. Vom Autor Chris. J. die nachgestaltete Montage.

Am 19. März wird zum ersten Mal der Internationale Frauentag begangen, zu dem Clara Zetkin aufgerufen hat. Dieser wird später auf den 8. März verlegt.
In Potsdam beginnt die Zeit des Luftschiffbaus. Gewählt wird dazu ein Gelände am Templiner See der Havel, im Waldstück „Pirschheide“. Von 1910 bis 1912 entsteht hier auf der Rodefläche die größte Luftschiffhalle der Welt und auf dieser Werft werden in den kommenden Jahren 16 Luftschiffe produziert. Am 9. September 1911 landet hier als erstes Luftschiff die >Schwaben< (LZ 10) und am 9. November 1912 zieht das Luftschiff >Hansa< (LZ 13) in die neue Halle ein. Auch die >Viktoria-Luise< und das Schiff >Sachsen< werden hier zeitweilig stationiert.
Graf Zeppelin, der Erfinder und Entwickler, wohnt in jener Zeit auf dem benachbarten Anwesen „Stadtheide“, an der Luisenstraße, benannt im Andenken an Königin Luise. Die Länge der Straße wird später halbiert und erhält für einen Abschnitt den Namen „Zeppelinstraße“.

✻ Der 15-jährige Wilhelm Kempff tritt im Rahmen eines Hofkonzerts vor dem Kaiserpaar Auguste Victoria und Wilhelm II. mit dem Klaviertrio in g-Moll auf.

Das Kaiserpaar – lauscht ergriffen dem meisterhaften Piano-Spiel des Wilhelm.
Alte Ansichtskarte. Hersteller: E. Bieber, Hofphotograph in Berlin und Hamburg, 1906. Verlag von
Gustav Liersch, Berlin-S.W.

Die Welt erfährt eine riesige Neuheit! Nebenan in Neu-Babelsberg, nahe des Bahnhofs Drewitz, wird auf dem Gelände der bisherigen Kunstblumenfabrik mit der Herstellung von Filmen begonnen, also mit bewegten Bildern ... für Leute zum Anschauen, die nichts weiter, nichts Besseres zu tun haben. Vorn an der Bühnenleinwand steht der Filmerklärer mit dem Zeigestock und daneben sitzt „ein Künstler“ am „Piano-Forte“, der die Wirkung der Bilder mit dramatischen Tonfolgen seiner Wahl begleitet und verstärkt. – Bald erscheint vom Herausgeber „Union“ bereits in jedem Monat ein Filmstreifen von etwa 1.500 m Länge.
Für die Bahnlinie Potsdam – Berlin wird (1911 bis 1914) nebenan in Nowawes ein sehr breiter und etwa 4 m hoher Damm aufgeschüttet, der die Lindenstraße längs aufteilt. Somit entsteht neben der nun zerschnittenen Lindenstraße die Retzowstraße mit neuer Häusernummerierung. Mehrere Brücken sind erforderlich und die Bahnhöfe Nowawes (heute Bf. Babelsberg) und UFA-Stadt Neu-Babelsberg (heute Bf. Griebnitzsee) werden gebaut.

✻ Der brummige Lehrer für Klavier an der Berliner Musikhochschule, Heinrich Barth, stellt dem Vater Kempff ein Ultimatum zur Entscheidung: Entweder soll Wilhelm ein Pianist (nach Barthschem Vorbild) werden oder sich ganz dem Gymnasium widmen. – „Eine weitere Anhäufung trockenen Wissens sei dem Musikanten wenig förderlich und ein Diener zweier Herren“ soll und kann der Wilhelm nicht sein. „Die Hohe Kunst der Musik lerne man weder in Halbheit noch im Alter“. So gibt es mit geforderter Entscheidung schweren Herzens einen Abschied von Barth – für drei Jahre, bis nach Wilhelms Abitur. Wilhelm soll jedoch im Potsdamer Musik-Institut weitere Anregungen, Anleitungen erhalten, als auch Größen seiner Zeit auf dem Gebiet der edlen Musica persönlich miterleben. So war er auch bald hingerissen, ja überwältigt, vom Klavierdargebot des Eugen d'Albert, welcher der Welt unter vielem anderen auch die Komposition der Oper „Tiefland“ geschenkt hat. – Nicht möglich ist es, an dieser Stelle die tiefen und aufwühlenden Gefühle wiederzugeben, die Wilhelm Kempff empfand.

Der Potsdamer Luftschiffhafen wird am 9. September 1911 eingeweiht. An diesem Tag landet hier als erstes das Luftschiff „Schwaben“. – Aber auch auf der Erde gibt es ganz moderne Verkehrsmittel: Motorbusse lösen Pferdebusse ab. – Im Dezember erreichen die beiden Forschergruppen um Amundsen und Scott mit zeitlichem Abstand den Nordpol. Amundsen gewinnt den Wettlauf. Die Männer um Scott erfrieren bedauerlicher Weise auf dem Rückweg, nur wenige Kilometer vor dem Biwak-Stützpunkt.

Ein Ausflugsstop des Busses – ganz ohne Pferde – auf der gerade vier Jahren jungen neuen Glienicker Brücke und genau auf der Städte-Grenze der beiden K.- u. K.-Residenzen Berlin und Potsdam.

1912
Ein schreckliches Ereignis: In der Nacht vom 14. zum 15. April kollidiert das als unsinkbar angepriesene Luxusschiff der White Star Linie „Titanic“ auf seiner Jungfernfahrt im Nordatlantik mit einem Eisberg, der die dicke stählerne Schiffswandung wie eine Konserven-Blechbüchse aufschneidet. Das Schiff sinkt etwa um 2.20 Uhr (New Yorker Zeit), noch bevor andere Schiffe am Unglücksort eintreffen. Von 2.200 Passagieren konnten mit Rettungsbooten und von später eintreffenden Schiffen nur etwa 675 gerettet werden, darunter überwiegend Frauen mit Kindern und auch der Kapitän.

17. April. Ein wunderschöner sonniger Frühlingstag. Um 12.08 Uhr aber beginnt eine totale Sonnenfinsternis. Ein sehr selten zu beobachtendes astronomisches Ereignis. Zum Behufe des ungestörten Beobachtens steigt das Luftschiff „Viktoria Luise“ auf. An Bord der derzeitige Direktor des Potsdamer Astrophysikalischen Institutes, Prof. Dr. Schwarz.

Große Veränderungen für die Potsdamer Nikolaikirche. Das Gebäude wird renoviert und ist daher zu jener Zeit nicht oder zumindest nur eingeschränkt nutzbar. Die Arbeiten ziehen sich bis in das Jahr 1913 hinein. An der Ausmalung sind unter der Regie von Oskar Hoßfeld die Kunstmaler Holbein, Eich, Leopold, Schulz, Stürmer und Friedrich Wichgraf (1853–1939) beteiligt. Dort arbeiten sie teilweise wohl unter ähnlichen Verhältnissen wie einst Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle in Rom. Wichgraf ist einer der Söhne des bekannten und allseits geschätzten Regierungsrates August Wichgraf, der sich unter anderem auch um die Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der vielen Nowaweser Weber kümmerte.

✻ Ein weiterer Höhepunkt – ein Konzert von Ferruccio Busoni (Empoli, Toscana 1866–Berlin 1924, 58 Jahre): „Ich spiele Orgel auf dem Klavier“, sagt er und er prägt manche weitere umwälzende Neuheit – und bald danach gibt es ein Vorspiel des Wilhelm Kempff bei ihm, bei Busoni, in dessen Wohnung, in Berlin-Schöneberg, am Viktoria-Luise-Platz 11, im IV. OG. Ein herrlicher, erfolgreicher Tag bei freundlichen Menschen, dem Italiener und seiner schwedischen Frau – offenherzigen und großmütigen Weltbürgern. –
Auch wird Wilhelm vom Theaterfieber gepackt. Gern und häufig hört und sieht er Aufführungen im Deutschen Theater von Max Reinhardt im Berliner Zentrum. Wenn nur die Bahnfahrten zwischen Potsdam und Berlin nicht wären ... denn ein wenig Zeit muss für das Erledigen von Schulaufgaben bleiben und auch den Schlaf benötigen Körper und Geist.

Berlin, Potsdamer Bahnhof, zeitgenössische Ansichtskarte.

✻ Seit mehreren Jahren pendelt Wilhelm nun fast täglich zwischen Potsdam und Berlin, zwischen Schule / Wohnung, der Musikausbildung und abendlichem Theater hin und her – eine anstrengende, stark belebende aber auch ermüdende Zeit. Gar manchmal wäre es vorteilhaft, hier ein kleines Zimmer zum Übernachten zu haben. Apropos kleines Zimmer: Demnächst soll es eine Reform der Disziplinarordnung für die Studenten geben. In diesem Rahmen soll der „Karzer“ als Erziehungshilfe und Bußort für die ziemlich erwachsenen Studierenden fortfallen. Davon wird Wilhelm weniger betroffen sein, mithin wenig davon profitieren.

Der rege Berliner Bahnverkehr.

Viele kurzen Halte gibt es auf der Strecke – hier während der Rückfahrt nach Potsdam, im Bahnhof Savignyplatz. Alle Lokomotiven dampfen – aber: Fa. Borsig hat in Berlin die erste Diesellok gebaut, die nun bald ihren Probebetrieb aufnimmt.
Zeitgenössische Ansichtskarte.

Im Bahnhof Friedrichstraße – manchmal kam es zu Verspätungen auf Wilhelms Weg zur Musikhochschule. Zeitgenössische Ansichtskarte.

Auch im Potsdamer Königlichen Schauspielhaus, Am Canal, vom Volksmund „Canaloper“ genannt, bietet man Stücke von Berliner Bühnen. Bereits seit längerer Zeit wird dort der „Rigoletto“ gegeben ... und der Zustrom der Interessenten hält an. König Friedrich Wilhelm II. hatte das Schauspielhaus von Jan Boumann d. Ä. errichten lassen (Spielbeginn 1795) und das Haus zum kostenlosen Besuch „Dem Vergnügen der Einwohner“ gewidmet. Ein Jahrzehnt später hatte auch Friedrich v. Schiller eine Aufführung im Schauspielhaus besucht.

Das Schauspielhaus in Potsdam.

Hinter dem Theater steht das Betriebshotel, die „Schauspielerkaserne“, in der Friedrichstraße. Zwischen den Häusern besteht ein kurzer Weg über das Hofgelände. Ansichtskarte.

Das Wohnhotel.

Die Herberge für die gastierenden Schauspieler und Sänger, in der Friedrichstraße 17 und 17a (heute Posthofstraße). Der Fries zeigt „Das Fest der Musen“, geschaffen von dem begnadeten Berliner Bildhauer Gottfried Schadow. Hier ist jedoch nur der Mittelteil des großzügigen Gebäudes mit zwei Aufgängen zu sehen. Insgesamt hat das Gebäude 18 Achsen (so auch die Anzahl der Fenster je Etage in der Straßenfront).

1913

Der Potsdamer Zeppelin-Luftschiffhafen an der Pirschheide, am Templiner See. Ansichtskarte.
Der Hangar – die Halle für das Luftschiff. In den Jahren 1914 bis 1916 werden in Potsdam 16 Luftschiffe gefertigt. Für jedes Exemplar plant man zwei Monate Herstellungszeit.
Ansichtskarte, Repro: Foto-Herrmann, Potsdam.

Die Wissenschaftler Albert Einstein (1879–1955) und Marcel Grossmann (1878–1936) begründen die Relativitätstheorie. –
Der Oder-Havel-Schifffahrtsweg wird nach der Fertigstellung der riesigen Schleuse in Niederfinow bei Eberswalde eröffnet. – 99 Jahre später, im Jahr 2022, wird es die Eröffnungsfeier für einen noch größeren „Hebetrog“ oder „Fahrstuhl“ geben, der seinen Platz daneben findet. Das ahnt 1913 natürlich noch niemand. –
Das Völkerschlacht-Denkmal bei Probstheida, in Leipzigs Süden wird eingeweiht. Es erinnert an die Befreiungskriege vom französischen Joch. Die Bauzeit währte von 1895 bis 1912. – In der Potsdamer Parkanlage „Neuer Garten“ beginnt der Bau des Schlosses „Cecilienhof“ für den Kronprinzen Wilhelm und seine Familie, – besonders für Cecilie. 1917 soll es fertig sein. –
In Breslau findet das Eröffnungskonzert der weltgrößten Orgel statt. Ihren musikalischen Darbietungsumfang bläst sie aus 15.133 Pfeifen! Schier unvorstellbar.

1914
✻ Wilhelm legt neben der Musikerausbildung, im Victoria-Gymnasium, in der Potsdamer Kurfürstenstraße am Nauener Tor (im Volksmund Eulen-Gymnasium) die Abiturprüfungen ab. Er sagt den Eulen adé – lebt wohl!

Das Victoria-Gymnasium. Nach dem Zweiten Weltkrieg in Helmholtzschule umbenannt.
Die Eulen begrüßen jeden Eintretenden – aber ebenso die nur vorüber Gehenden.
(In dieser Schule lernte auch zeitweilig der Autor und später dessen Sohn.)

✻ Nach dem Abiturium setzte Wilhelm Kempff in Berlin das Musikstudium fort. Fortgesetzt wird somit auch die anhaltende tägliche Fahrerei zwischen den beiden Residenzen. – Wilhelm arbeitet an seinem Werk „Hermannschlacht“.

Der Panama-Kanal wird nach 30 Jahren Bauzeit fertig und am 15. August 1914 eröffnet. Er ist rund 81,6 km lang und mit sechs Doppelschleusen ausgestattet. –
Im August hat der sinnlose Krieg begonnen. Dieser wird räumlich und zeitlich derart ausgeweitet, dass man ihn später als den „Ersten Weltkrieg“ bezeichnen wird. –

1915
✻ Wilhelm komponiert seine erste Sinfonie in Es-Dur für Großes Orchester und mehrere Klaviere. –
Das erste Ganzmetallflugzeug der Welt, von Prof. Hugo Junkers konstruiert, wird in Dienst gestellt. –
Herr Sütterlin entwickelt als Auftragswerk aus der gewohnten deutschen Kurrentschrift, die etwas einfachere Sütterlin-Einheitsschrift. Diese wird bis 1941 gelehrt – aber anschließend ausschließlich die Schrift mit lateinischen Buchstaben verwendet. – In der heimatlichen Potsdamer Nikolaikirche sind in dieser Zeit als Geistliche auch der Oberpfarrer Johannes Reichmuth (1865–1931) und der jüngere Pastor Viktor Hasse (1885–1946) tätig. Die nahe Zukunft weiß, dass Viktor Hasse in fünf Jahren, also 1920, die Reichmuth-Tochter Elisabeth (1900–1987) ehelichen wird und dann bald Pfarrer in der Nowaweser Friedrichskirche sein wird.

1916 – Wilhelm Kempffs 20. Lebensjahr
Auch im Deutschen Reich werden kriegsbedingt der Handel und die Versorgung mit Lebensmitteln immer stärker eingeschränkt. Gegen Hamsterkäufe werden Bezugsscheine, Lebensmittelkarten genannt, ausgegeben.

1917
Am 8. März stirbt in Berlin der auch von Wilhelm geehrte Graf Zeppelin: Ferdinand Adolf Heinrich August v. Zeppelin, geboren 1838 in Konstanz am Bodensee, gestorben in Berlin, 1917, Entwickler der Starr-Luftschiffe.
Max Planck erhält den Nobel-Preis für Physik für die Entdeckung des Wirkungsquantums. – Shapley untersucht die Größe des „Sternen-Nebels“ „Milchstraße“, in dem wir Zuhause sind und ermittelt eine Längenausdehnung von etwa 100.000 Lichtjahren. – In Neu-Babelsberg wird die Universum-Film-Aktiengesellschaft, kurz: UFA, gegründet. – In der Leipziger Thomaskirche wird der junge, im Jahre 1898 geborene Günther Ramin, der neue Kantor.

✻ Wilhelm Kempff beendet das Musikstudium an der Hochschule in Berlin. Aufgrund seiner hervorragenden Fähigkeiten und Fertigkeiten verzichtet die Hochschule auf die üblichen Abschlussprüfungen. Er erhält zwei Mendelssohn-Preise, sowohl für Komposition als auch für die Klavierdarbietungen – Stipendien für hervorragende Musiker. –
Noch immer sind es Kriegszeiten. Wilhelm wird für das Militär gemustert. Der Offizier: „Was ist er? Ein Musiker? Kanonen machen heute die Musik, Kanonen!!“, brüllte der Oberst – „es hallte wie ein Peitschenhieb über den Kasernenhof.“
Wilhelm Kempff wird eingezogen – es geht vorerst zur Militär-Grundausbildung zum Landsturmmann nach Groß Breesen. Groß Breesen bedeutet: Großer Birkenwald, ein Dorf bei Guben in der Niederlausitz mit etwa 900 Einwohnern, einem Kriegsgefangenenlager und eben dieser Ausbildungsstätte. Nebenbei einmal wöchentlich nach Guben – zweimal fünf Kilometer Fußmarsch für das Klavier-Begleiten des Gesangs der Ehefrau eines Offiziers im nahezu zivilen Sektor. Das war dem Wilhelm eine große Erleichterung, eine Kraftspende, um den Alltag zu durchstehen. Die militärische Ausbildung in Groß Breesen ist für ihn von nur kurzer Dauer. Man wird ihn wegen „erwiesener Untauglichkeit an den Waffen“ in den rückwärtigen Dienst zum Regimentspostamt abkommandieren. Dort dürfen nur militärisch hoffnungslose Fälle tätig sein – aber er findet dort weitere eher zarter besaitete Musikkundige. –
Uraufführung seiner Komposition „Hermannsschlacht“ zum Text von Kleist. Das Werk wird von den Hörern mit geteiltem Verständnis aufgenommen.–

Wilhelm Kempff, inzwischen 21 Jahre alt, gibt in Frankreich in der Kathedrale Notre Dame de Laon ein Orgelkonzert zur Truppenunterhaltung – zwecks Stärkung der Kampfeskraft der deutschen Soldaten im besetzten Frankreich.
Das Gotteshaus ist ein Werk der Frühgotik. Es wurde in der Zeit zwischen 1155 und 1235 gebaut. Seine Hauptabmessungen betragen 110,5 m x 30,65 m.

Das Mittelschiff der Kathedrale Notre-Dame von Laon, Picardie, Frankreich. Blick nach Osten.
Quelle: Datenbank des französischen Kulturministeriums, eigenes Werk von uoaei1, PA 00115710 / cathédrale, CC By-SA 4.0, Laon_Cathedral_Interior_01.JPG, unverändert. Entnommen bei fr.wikipedia.org.

Die westliche Fensterrose und die Orgel der Kathedrale von Laon, Picardie, Frankreich.
An dieser Orgel spielte Wilhelm Kempff bereits im Alter von 21 Jahren und in späteren Jahren wird er erneut zu ihr zurückkehren.
Quelle: Datenbank des französischen Kulturministeriums, eigenes Werk von uoaei1, PM 02001494,
CC By-SA 4.0, Laon_Cathedral_Organ_01.JPG, unverändert. Entnommen bei fr.wikipedia.org.

Anschließend erleidet Wilhelm Kempff eine fieberhafte Erkrankung im Schauspielerheim von Sedan. Die kompositorische Bearbeitung des „Dona Nobis Pacem“ (Herr, erbarme dich unser), eine als Orgelphantasie geschaffene Fuge, fällt in die Zeit jener Tage.

Der Erste Weltkrieg. Gemälde von Hugo Ungewitter (1869–1947), Standort des Gemäldes unbekannt.

✻ Etwa seit dieser Zeit ist Wilhelm Kempff eng mit dem rund 20 Jahre älteren Potsdamer Gartengestalter Karl Foerster freundschaftlich verbunden. Foerster war 1874 in Berlin geboren worden. Sein Leben wird 1970 in Potsdam-Bornim enden. – Die fruchtbare Inspiration beschränkt sich nicht nur auf die Zeit gegenseitiger Kurzbesuche. Wilhelm nutzt den Aufenthalt in Potsdam-Bornim, Am Raubfang 6, auch zum Komponieren. Hier entstehen die „Blumenstücke“. Überhaupt hält sich Kempff bei der kompositorischen Tätigkeit sehr gern dort auf, wo sein Thema das entsprechende Flair findet – nur allzu natürlich. – Zum Freundeskreis gehören auch der Großonkel des Autors Chris. J.: Oheim Dr. phil. Wernher Bauer (1897–1986), ein Philologe, Volksbuchwart und Staudenzüchter. Auch der Gärtner und Kunstmaler Heinz Schilde, aus Nowawes, Lindenstraße 42, gehört zu diesem Kreis. Jener setzt seine Eindrücke aus Flora und Musik in gemalte Bilder um. Es werden bei angeregter Fachsimpelei nicht nur fleißig Pflanzensamen getauscht, sondern auch vielfältige Gedanken, die aber dann ruhen, wenn Wilhelm Kempff auch dort in Bornim in die Tasten greift, um seine neuesten Weisen, wie auch altbekannte zu Gehör zu bringen.

Die Versorgung der Bevölkerung in der Kriegszeit wird immer schlechter. Vorrätig sind noch Kohlrüben, die es nun in vielfältigsten Zubereitungsarten zu essen gibt.

1918
✻ Debüt des Wilhelm Kempff in der Berliner Philharmonie mit Beethovens G-Dur-Klavierkonzert. – Erste Reise durch Dänemark und Schweden gemeinsam mit Hugo Rüdel und Fritz Weyer. Mehr als 80 Konzerttermine – zwischen Malmö und Lappland, Fahrten von Göteborg bis zur Insel Gotland und natürlich Konzerte in den bedeutenden Zentren Stockholm und Uppsala.
In Falun hat Wilhelm die Begegnung mit der großen Erzählerin und Schriftstellerin Selma Lagerlöf (1858–1940). 1909 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. Zu ihren Werken gehören „Gösta Berling“ und „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“. In Jönköping am Vättersee traf Wilhelm mit Ellen Key zusammen, einer bekannten Reformpädagogin und Schriftstellerin (1849–1926), mit der er auch später in Potsdam zusammenarbeiten wird. Neben vielen anderen Werken schrieb sie 1898 „Missbrauchte Frauenkraft“, 1902 „Das Jahrhundert des Kindes“, 1904 „Über Liebe und Ehe“, 1906 „Der Lebensglaube“, ...
Nach seinem Konzert in Uppsala folgt Wilhelm der Einladung des Erzbischofs von Schweden, Nathan Söderblohm. Auch hier erklang das „Dona nobis Pacem“, als der Krieg für Deutschland schon als verloren galt. –
Auftritt als Piano-Solist in einem Konzert des berühmten Arthur Nikisch. – Wilhelm umrahmt mithilfe der Orgel die Trauung seiner Schwester Elsa mit dem jungen Pfarrer in der Pfarrkirche zu Neuruppin. – Klavierkonzert im Ruhrgebiet, in der Elberfelder Stadthalle. – In der anhaltinischen Stadt Halle an der Saale zelebriert Wilhelm ein Choralvorspiel für das Lied „Ach Gott und Herr“. –

Am 9. November 1918 verkündet Prinz Maximilian von Baden, vom deutschen Kaiser dazu nicht autorisiert, die Abdankung des obersten Herrschers, weil jener schier Unabkömmliche es nicht tat – eigentlich wollte der Kaiser ja noch allen Soldaten danken, floh dann aber am 10. November in die Niederlande. So blieb es beim Abdanken. Ein Güterzug voll mit den notwendigsten Sächelchen zum Überleben folgte ihm aus Potsdam vom Kaiserbahnhof nach, und so auch seine Ehefrau Victoria. Am 11. November 1918 galt der Erste Weltkrieg als beendet – das deutsche Kaiserreich ebenso. Überall in Europa läuteten die Glocken den Frieden ein. In Deutschland nicht. Es gab hier keinen Anlass den vorgesehenen Siegfrieden zu feiern – auch gab es zu wenige Kirchenglocken – waren doch zu viele zu Kanonen und Munition umgeschmolzen worden. –
In Jekaterinenburg, östlich des Ural-Gebirges, wurde die russische Zarenfamilie Romanow ermordet: Zar Nikolaus II., seine deutschstämmige Ehefrau, vormals Prinzessin Alix von Hessen, und deren Kinder.

1919
✻ Die dritte Skandinavienreise auf der Wilhelm Kempff Konzerte in Stockholm, Uppsala, Göteborg und Malmö gibt. Es ist möglich, dass Wilhelm hier und in jener Zeit mit dem finnischen Komponisten Jean Sibelius zusammentraf. (Johan Sibelius, genannt „Jean“,1865–1957).

Rutherford veröffentlicht seine Arbeit über die Möglichkeit des Spaltens von Atomkernen. – Hugo Junkers baut das erste Passagierflugzeug der Welt. Vier Fluggäste finden darin Platz. Es erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 170 km/h. – Es erfolgt die erste Überquerung des Atlantiks mit einem Flugzeug. – Gründung der Bauhausschule in Weimar, eine Einrichtung für Architektur und künstlerische Gestaltung im weiten Sinne. Deren Gründer sind Gropius, Feininger, Itten und Marcks. Zu den Lehrern gehören weiterhin die Grafiker Kandinsky, Klee und andere. – In Potsdam werden die Pferde aus den bisher Kaiserlich-Königlichen Ställen versteigert. – Eine Pandemie von Virusgrippe geht um die Welt und fordert allein schon in Deutschland etwa 196.000 Todesopfer. – Der berühmte Meister Sergej Rachmaninow siedelt von Sankt Petersburg, Sowjetunion, in die USA über.

1920
✻ Die erste Aufnahme eines der Kempff-Konzerts als „Tonkonserve“ – wird als Schellack-Schallplatte gepresst.– Wilhelm Kempffs Reise durch Schweden und Finnland. Der 60-jährige König Gustav verleiht Wilhelm Kempff den Orden „Litteris et artibus“, die höchste Auszeichnung Schwedens für Literatur und Kunst.

Im Monat April wird Groß-Berlin gegründet. 29 Ortschaften setzen jetzt den Namen >Berlin< vor ihre bisherige Ortsbezeichnung. Über Nacht wird Berlin um ein vielfaches größer und demzufolge steigt auch die Einwohnerzahl entsprechend, so, wie diese demzufolge in anderen Landkreisen fällt. – Bei Nauen wird eine Großfunkstation errichtet. Weihnachten 1920 wird von hier aus – bis ... na, soweit wie die Sendeleistung eben reicht, das erste Konzert „über den Rundfunk“ ausgestrahlt.

1921 – das 25. Lebensjahr des Wilhelm Kempff
✻ Die schwedische Königin Viktoria, Ehefrau von König Gustav, rät Wilhelm dringend zu einem stärkenden Erholungsaufenthalt beim schwedischen Hofarzt Dr. Axel Munthe. Der Erholungsort liegt allerdings nicht in Schweden. Italien ist das Ziel und Munthes Grundstück „San Michele“ liegt auf der italienischen Insel Capri. Wilhelm nimmt dieses Angebot dankend an, findet aber erst zwei Jahre später dazu die zeitliche Gelegenheit.

Der erste Tonfilm wird in Neu-Babelsberg gedreht. – Bei Berlin wird die AVUS gebaut, das ist die Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße. Wir dürfen aber später auch sagen: Es ist die erste Autobahn Deutschlands.

Notgeld

Es beginnt der Werteverfall im Finanz- und Wirtschaftssystem. Eine Inflation großen Ausmaßes. Auch die Stadt Potsdam gibt Gutscheine aus – Notgeld. Ob die aufgedruckten Bilder so glücklich gewählt sind, darüber gibt es sehr unterschiedliche Anschauungen.

1922

✻ Wilhelm Kempff vertont in Neapel im April 1922 den alten Spruch:

Geh' ohne Stab nicht durch den Schnee,
geh' ohne Steuer nicht zur See,
Geh' ohn' Gebet und Gottes Wort
niemals aus dem Hause fort.

Notenblatt

Wilhelm widmet dieses kleine Musikstück, selbst aufgeschrieben, seiner musischen Inspiratorin Elisabeth Fischer und übersandte es als Gruß zur Hochzeit der ihm nahestehenden Frida Hoffmann. Auch die Eltern des Autors, Alfred Richard und Anne-Marie Janecke bekamen eine Kopie dieser handschriftlichen Ausfertigung des Meisters als ein Andenken übereignet.

Die Potsdamer Nikolaikirche erhält zwei neue Glocken aus Klangstahl als Ersatz für die vorher im Kriegsinteresse eingeschmolzenen Bronzeglocken. Die musikalische Ausgestaltung der Weihe obliegt selbstverständlich dem Musikdirektor Wilhelm Kempff, sen. und die Festrede zur Glockenweihe hält Generalsuperintendent Dibelius.

Der britische Archäologe Howard Carter, der seit 1894 im ägyptischen Tal der Könige bei Luxor gräbt, findet im November die Grabstätte des Kind-Pharaos Tutanchamun. Die Freilegungen reichen in das kommende Jahr. Nach Sichtung und Bewertung der Grabbeigaben bestätigt es sich, dass unermessliche Schätze freigelegt wurden. Diesmal war Carter Jahrhunderte oder gar Jahrtausende früher gekommen, als die Grabräuber.

1923

Wilhelm Kempffs Aufenthalt in Italien.

Es erfolgt für Wilhelm Kempff nun tatsächlich eine sechswöchige behandelnde Umsorgung bei Dr. Axel Munthe in seinem Haus San Michele in Anacapri auf der italienischen Insel Capri. Natürlich auch dort mit Klavierspiel, gemeinsamen Spaziergängen und ferner zu betreuenden Besuchen bei Dr. Munthes Patientenkreis – im Dreiergespann: Munthe, sein Schäferhund und Kempff.
Ein Rückblick: Dr. Munthe hatte 1890 einen Weinberg mit der zerfallenen Kapelle „San Michele“ erworben und errichtete, – er nur in der Theorie aber mit der großen Tatkraft von Ortsansässigen, das Haus seiner Träume.
Dem Bau des Hauses „San Michele“ diente eine grobe, eher unbeholfene Handskizze des bautechnisch unkundigen Dr. Munthe als „Ausführungsprojekt“. Das Gebäude wuchs nach des Bauherrn Vorstellungen und wohl täglichen Absprachen unter den Händen der des Lesens und Schreibens kaum mächtigen Arbeitskräften aus der näheren Umgebung, die aber gute praktische Erfahrungen für das Errichten einfacher solider Bauernhäuser besaßen. In der Zeit des Hausbaus und der Gartenerkundung fanden sich dort, im Erdboden vergraben, beispielsweise eine kleine noch funktionstüchtige Kanone, die wahrscheinlich die Franzosen 1808 / 1809 zurückgelassen hatten, ein steinernes Medusenhaupt sowie der Kopf einer Steinstatue, die vermutlich den Kaiser Augustus darstellte.
Hinter dem Haus erhebt sich ein Berg, der Monte Barbarossa.

Der Gastgeber

Der schwedische Arzt Dr. med. Axel Martin Fredrik Munthe (Schweden 1857 – Stockholm, Königspalast 1949, 92 Jahre). Das Mosaik im Fußboden des Hauseingangs mahnt: „Hüte dich vor dem Hunde“. Dieser gute Spruch kommt hier für den Besucher etwas spät, denn der liebe Canis empfängt jenen bereits am Gartentor. – Im Laufe von Munthes Leben waren es mehrere Hunde nacheinander. Er mochte besonders Schäferhunde; es durften wohl auch Mischlinge sein. – Dr. Munthe ist jetzt 65 Jahre alt. Er betätigt sich in seinem Umfeld hauptsächlich als Arzt der Armen, ist jedoch zum Verdienen des Lebensunterhalts auch als Modearzt in anderen Ständen wirksam – ein „reizvoller“ Gegensatz, eine Kombination, wie man eine solche seltener findet. Sein Resümee dazu: „Genügsamkeit und Seelenfrieden gedeihen in einer ländlichen Hütte besser, als in einem prunkvollen Stadthause“.
Selbstverständlich ist Dr. Munthe seit 1908 auch immer wieder in seiner Hauptstellung als Leibarzt des schwedischen Königspaares tätig. Einen regen Gedankenaustausch pflegt er mit verschiedenen Größen seiner Zeit. Zu denen gehörten unter sehr vielen anderen auch der berühmte Chirurg Jules Pean (1830–1898), der Bakteriologe Louis Pasteur (1822–1895), die Schriftsteller und Dichter Henry James (1843–1916), der Ire Oscar Wilde (1854–1900), Rainer Maria Rilke (1875–1926), der Italiener Curzio Malaparte – bürgerlich: Kurt Erich Suckert 1898–1957) und nun, ab 1923, auch Wilhelm Kempff (1895–1991) ... alle haben die Gemeinsamkeit zu schreiben und / oder zu dichten. Einige, weil es ihr Beruf ist, andere neben ihrer Hauptarbeit aus Freude am Aufbewahren von Gedachtem und Mitteilungsbedürfnis gegenüber anderen.
Nach einer Netzhautablösung in dem einen und einsetzender Trübung auf dem anderen Auge infolge des „Grauen Star“, schrieb Dr. Munthe „Das Buch von San Michele“ quasi blind. – Aus diesem Buch stammen die Ablichtungen, die Dr. Munthe und das Haus betreffen.

Im linken Bild die einfache rustikale Küche – im rechten Bild „Die Kapelle“, ein Andachtsraum für Zeiten des ruhigen entspannten An- und Nachdenkens.

In Potsdam herrschen am 5. Mai 1923 30°C im Schatten – eine ungewöhnlich hohe Temperatur. Da kommt Capri derzeit kaum mit.

✻ Erstes Konzert Wilhelm Kempffs in Rom. Beim Darbieten von Ludwig van Beethovens „Appassionata“, der Rigoletto-Paraphrase von Franz Liszt und weiteren gewaltigen Werken, rissen bei beiden vorhandenen Flügeln einige Saiten – aber ansonsten war auch dieser Abend ein beglückender Erfolg bei großartigem Publikum.

Regelmäßig werden schon Rundfunksendungen ausgestrahlt aber noch gibt es in den Haushalten nicht viele Rundfunk-Empfangsgeräte, die man bald kurz „Radio“ nennen wird. – Wegen der Stauungen im Straßenverkehr wird es gestattet, die Geschwindigkeit der Kraftfahrzeuge in den Ortschaften von bisher 15, auf 30 km/h zu verdoppeln. Erhöhte Vorsicht ist allseits geboten! – Ein schweres See- und Erdbeben in Japan fordert etwa 100.000 Menschenleben. –
Am 9. November 1923 versuchten Hitler und Ludendorff mit einigen „Getreuen“ in München einen Staatsstreich. 16 Putschisten, vier Polizisten und ein Unbeteiligter wurden bei dem Gerangel mit Schusswechsel getötet. Beide Rädelsführer wurden verhaftet. Schwerste Strafen waren angesichts der Tötungen von Menschen zu erwarten. – A. H. wurde zu fünf Jahren Gefängnis und 200,- Mark Geldstrafe verurteilt. Die Zukunft weiß, dass H. „wegen guter Führung“ im Dezember 1924 in den Genuss einer Amnestie kommt und somit die Freiheit erlangt. –
In Deutschland erreicht die „galoppierende“ Hyperinflation bald ihren Höchststand. Die Banknoten bekommen Aufdrucke in schwindelerregenden Zahlengrößen und diese Werte verfallen sehr schnell, im Verlaufe weniger Tage, in Wertlosigkeit. –
Noch vor dem Ende des Jahres 1923 brach das Währungssystem Deutschlands zusammen.
Im November kosteten 500 g Brot 260 Milliarden Mark, nach dem Währungsschnitt ab 1. Dezember des Jahres, dann 22 Rentenpfennige. Für 500 g Kartoffeln zahlte man im November 50 Milliarden Mark, nach dem scharfen Schnitt der Währungsstabilisierung dann 7 Pfennige. Im November 1923 zahlte man für ein Hühnerei 80 Milliarden Mark, danach im Dezember 11 Pfennige ... und so weiter. Ab 1. Dezember gab es also die Rentenmark, die Goldmark, die Reichsmark. Große Teile der Bevölkerung gelten als völlig verarmt.

Wenige ausgewählte Beispiele für Geldscheine während der Inflationszeit.

19241929
✻ Wilhelm Kempff obliegt das Leiten der Württembergischen Musikhochschule in Stuttgart. Er wird im Jahre 1924 deren Direktor. Unter den Studierenden findet Wilhelm Kempff auch seine künftige Ehefrau. – 1929 führt Wilhelm Kempff dort eine Meisterklasse für Klavier. –
Die Philharmoniker des Leipziger Gewandhauses spielen unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler, Wilhelm Kempffs 2. Sinfonie, als Urdarbietung.

Kunstseide kommt auf den Markt; wohl hauptsächlich für die Damenwelt aber auch für Fall- oder Regenschirme. – Erste Überquerung des Atlantischen Ozeans mit einem Luftschiff, dem ZR 3 (später nach neuer Klassifikation umbenannt in LZ 126).

1925
✻ Es entsteht Wilhelm Kempffs Oratorium „Mysterium von der Geburt des Herrn“, op.22 – auch Felix Draeseke und Martin Frank hatten solch ein Weihnachtsoratorium bereits komponiert.

Die Gebiete Elsass und Lothringen fallen endgültig an Frankreich. – In Berlin, am Potsdamer Platz, wird die erste Verkehrsampel der Welt aufgestellt. – Die Bauhaus-Schule zieht von Weimar nach Dessau.

1926 – Wilhelm Kempffs 30. Lebensjahr
✻ Der Bund der Ehe zwischen Wilhelm Kempff und seiner Klavierschülerin, der Helene (Hiller) Baronin / Freiin von Gaertringen (geboren um 1908) aus dem Württembergischen, wird im Berliner Dom geschlossen. Eine Hochzeitsreise nach Positano in Italien schließt sich an. Sieben Kinder wird das Ehepaar in der Zukunft haben.
Hiller v. Gaertringen wohnt in Potsdam, Breite Straße 8.

Das ehemalige Kaiserlich-Königliche Stadtschloss in Potsdam, Am Alten Markt, wird von 1926 an (bis 1945) der Sitz des Magistrats. – Fritz Lang dreht in den UFA-Filmstudios in Neu-Babelsberg den Film „Metropolis“ über versklavte Menschenmassen in einem gedachten künftig möglichen Staatsgebilde.

1927
✻ Wilhelm Kempff wirkt als Ratgeber für den türkischen Staatschef Atatürk, dem „Vater aller Türken“, bezüglich der personellen Besetzung beim Aufbau der Musikhochschule in Ankara.

Der Brite Sir Alexander Fleming entdeckt (durch Zufall) das Penicillin. – Grippe-Epidemie in Deutschland. – In der Nowaweser Lindenstraße 50 wird das Thalia-Kino eröffnet.

Die elektrische S-Bahn (das „S“ bedeutet Schnellbahn / Stadtbahn. Die freundliche Gedankenverbindung zu einem S-peisewagen wäre abwegig) nimmt zwischen Potsdam und Berlin-Friedrichstraße den Betrieb auf – Auf der Berliner Funkausstellung wird ein so genanntes Fernsehgerät gezeigt: Das ist ein großer Holzkasten, in der Vorderfront ein Fensterchen von 3 x 4 cm (eine Streichholzschachtel ist größer) mit schemenhaften Nebelbildchen hinter den von der Nipkow-Scheibe erzeugten Zeilen. – Opels Rennwagen mit Feststoffraketen als Antrieb, erreicht eine Geschwindigkeit von 230 km/h. – Am Ende des Jahres mehren sich Anzeichen einer neuen Wirtschaftskrise, die von den USA ausgeht – eine Weltwirtschaftskrise.

1928
✻ Wilhelm Kempff komponiert „Die Flöte von Sanssouci“, op. 35

1929
Im Februar in Potsdam - 23°C Frost. – Das Luftschiff LZ 127 „Graf Zeppelin“ umrundet ohne Tankstopp, ohne Erholungs-Zwischenaufenthalte, den Erdball. 24.000 km in 20 Tagen.

✻ Umzug der Familie des Wilhelm Kempff von Stuttgart nach Potsdam, in den Park von Sanssouci. Hier leben sie kurze Zeit in einer der Wohnungen im Ostflügel, dem rechts liegenden Teil, der Orangerie, in diesem 300 m langen Gebäude nahe der Maulbeerallee. Nun übt Wilhelm die Tätigkeit eines freien Pianisten und Komponisten aus. Bald kommt Wilhelms Bruder Georg aus Jüterbog nach Potsdam. An der Nikolaikirche in Jüterbog war er mehrjährig als Pfarrer tätig und wird bald zu vergleichbarer seelsorgerischer Tätigkeit nach Wittenberg aufbrechen. Jetzt, zwischenzeitlich, lebt aber auch er hier in der Orangerie.
✻ Wilhelm Kempff komponiert „Die Flöte von Sanssouci“. Musikalische Gedanken über Potsdam. Der noch sehr bekannte historische Querflötenspieler hatte ihm damals auf dem Schulweg Sorgen bereitet, wenn er an Johann Sebastian Bach in Sanssouci dachte.

Das Gebäude der Orangerie in der Potsdamer Parkanlage Sanssouci.
Ansichtskarte

Die Wirtschaftskrise, die in den USA ihren Anfang nahm, vertieft sich auch in Deutschland. Arbeitslosigkeit, Demonstrationen. Die so genannten „Goldenen Zwanziger Jahre“ sind vorbei.

1930
In die Kinos kommt der UFA-Film „Der blaue Engel“, mit Marlene Dietrich als Lola in der Hauptrolle. – Gezeigt wird auch der Streifen „Im Westen nichts Neues“, ein Stoff über den Ersten Weltkrieg, nach dem Buch von Erich Maria Remarque. – Der Berliner Max Schmeling wird Weltmeister im Boxsport.

1931 – das 35. Lebensjahr von Wilhelm Kempff
Weiterhin Arbeitslosigkeit in Deutschland. Im Januar sind es 4,77 Millionen Menschen ohne bezahlte Arbeit, im Dezember bereits 5,66 Millionen Arbeitssuchende.

Es erfolgt noch einmal ein Wohnungswechsel von der Orangerie zur Kiezstraße in das Nachbargebäude des früheren Elternhauses.

✻ Uraufführung von „König Midas“ am 18. Januar 1931 in Königsberg (Ostpreußen). Das ist die erste Oper von Wilhelm Kempff (op. 33). Es ist eine Komische Oper, aus einem Akt bestehend. Wilhelm verfasste sowohl den Text (das Libretto) und komponierte selbstverständlich die Musik. Wilhelm siedelte dieses Singspiel in Phrygien (in der heutigen Türkei) etwa im 8. Jahrhundert vor Chr. an. Die Handlung: Der von der Natur einfacher gestaltete Hirtengott Pan und der Schönling Gott Apollon geraten gewollt in einen Sängerwettstreit. Ausgerechnet der regierende menschliche König Midas wird als Schiedsrichter auserkoren. Dieser entscheidet nach den Darbietungen den Ausgang des Wettbewerbs nach seinem „Geschmack“ zugunsten des Pan. Dieser freut sich. Apollon, von der Höherwertigkeit seiner eigenen Sangeskunst selbstbewusst überzeugt, rächt sich für diesen freundlichen Urteilsspruch, indem er dem Midas zur Vervollständigung seiner königlichen Richterwürde ein Paar Eselsohren verleiht. – Punktum.
Diese wirklich ganz komische Oper fußt auf namhaften literarischen Vorlagen; es sind aber ohnehin aus zahlreichen Geschichten der menschlichen Geschichte zahlreiche Varianten dieses Themas bekannt.

Das Schauspielhaus in Königsberg.
Foto: Jürgens Ost, dpa

Das Datum der Uraufführung des „König Midas“ ist ein Bedeutendes! Es wiederholt sich just an diesem Tage ein anderes gar schönes Ereignis zum 230. mal – eine kurze Rückschau: Königsberg (Preußen), am 18. Januar 1701. Der brandenburgische Kurfürst Friedrich III., vom Mund des Volkes nachsichtig „der schiefe Fritz“ geheißen, krönt sich hier selbst (weil es kein anderer, höherrangiger tut, zum König
Friedrich I. in Preußen und anschließend fügt er diese Krönungsehre auch noch seiner Ehegemahlin Sophie Charlotte zu – (aha, deshalb gibt es also seit April 1920 den Stadtteil Berlin-Charlottenburg). Auch dieser Friedrich war später tatsächlich ein recht komischer Opa.

Der geschichtsträchtige Ort jenes Geschehens – der Königsberger Dom.
Foto: Richard Dethlefsen, 1907.

✻ Wilhelm Kempff ist einer der Gründer der Sommerkurse für Musik in Potsdam, die im Marmorpalais in der Parkanlage „Neuer Garten“ stattfinden. Neben ihm gehören zu den Gründern: Eugen d' Albert, Eduard Erdmann, Edwin Fischer, Walter Gieseking, Georg Kulenkampf, Ellen Ney und Max von Schillings. Diese Sommerkurse werden hier in Potsdam in der Zeit von 1931 bis 1944 stattfinden können.
In Potsdam arbeiten aber weitere hochkarätige Musiker. Denken wir beispielsweise an Franziska Martienssen-Lohmann und an die Herren Hans Chemin-Petit und Wilhelm Furtwängler. Als Orte der Auftritte bieten sich das Konzertgebäude am Ende der Kaiser-Wilhelm-Straße – vor dem Obelisk von Sanssouci, das Schauspielhaus am Kanal, das Palais Barberini am Alten Markt, die Kirchen oder bei günstiger Witterung auch der Innenhof des Stadtschlosses. Nowawes bietet ebenfalls Aufführungslokalitäten wie Klemms Festsäle oder auch hier die Kirchen.
Der Komponist und Dirigent Hans Chemin-Petit wohnte von 1934 bis 1945 im kleinen weißen Schloss, nahe des Havelufers, im Park Babelsberg und anschließend in der Potsdamer Kapellenbergstraße 12 aber Wilhelm Furtwängler lebte in der früheren Fasanerie im Park von Sanssouci, an der Straße zum Wildpark (nach 1945: Geschwister-Scholl-Straße).

Musikalische Sommerkurse im Marmorpalais des früheren Königs Wilhelm II., am Ufer des „Heiligen Sees“ in Potsdam. Gut geeignete Räumlichkeiten für das Musizieren in hervorragend anregender Umgebung.

✻ „Ich bin kein Romantiker“ – Einladungsblatt für die Ausstellung der Akademie der Künste, Berlin, in Kooperation mit dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Potsdam 2008 / 2009. Foto: v. Dühren und Henschel (1931) © Akademie der Künste, Berlin.
Anmerkung von C. J.: Es handelt sich bei dem Einladungsblatt nicht um die Verwendung des vollständigen ursprünglichen Fotos.

✻ Der große Meister Kempff wohnt nun vorübergehend in der Parkanlage „Neuer Garten“, im Grünen Haus, nur wenige Fußminuten, durch den Park am Heiligen See entlang, vom Marmorpalais entfernt. In diesem Gebäude hatte auch schon der berühmte Landschaftsarchitekt Peter Joseph Lenné (Bonn 1789 – Potsdam 1866) als junger Mann gelebt.

Das Grüne Haus im „Neuen Garten“.

Ein Fernsehbild wird von Manfred v. Ardenne vorgestellt, das die Braunsche Röhre nicht mehr mit der Nipkow-Scheibe, sondern mit einem Elektronenstrahl abtastet. Eine wesentliche Verbesserung. – Am
18. Oktober 1931 stirbt Thomas Alva Edison im Alter von 84 Jahren. Neben vielen Erfindungen bescherte er der Welt auch die nutzbare Anwendung des elektrischen Stroms.

1932
✻ Am 1. Februar 1932 wird Wilhelm Kempff Ordentliches Mitglied der Akademie der Künste zu Berlin.

Palais Arnim am Pariser Platz 4 (zerstört), Sitz der Akademie der Künste bis 1938.
Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-P049294 / Weinrother, Carl / CC-BY-SA 3.0, 1933

Die Akademie wurde im Jahre 1696 vom Kurfürsten Friedrich III. gegründet, über dessen Krönung zum König Friedrich I. wir ja soeben lasen. Die Sektion Musik der Akademie wurde erst 1833 gebildet. Der gegenwärtige (1932) Akademie-Präsident ist Max Liebermann.

Ebenfalls im Februar 1932: Der in Österreich lebende, momentan aber staatenlose Adolf H., ein ehemaliger Häftling und mäßig erfolgreicher Postkarten-Kunstmaler, erlangt die deutsche Staatsbürgerschaft.

✻ Wilhelm K. besucht in Griechenland Delphi, Olympia, Bassae und Mykene. Der Erlöserorden Griechenlands ernennt Kempff zu einem Ordensritter. – Auch auf der östlichen Seite der Ägäis ist der Weltbürger erneut zu Gast. Dort lernt er die ausgegrabene Stadt Ephesos kennen, in der schon der neutestamentliche Apostel Paulus mehrere Jahre gelebt hatte. – Der Klaviervirtuose gibt auch im Jupiter-Tempel zu Baalbek im Libanon ein Konzert.

Yehudi Menuhin

Das Bild zeigt den jungen Violinenvirtuosen Yehudi Menuhin (1916–1999) im Alter von 16 Jahren. Wilhelm Kempff (er ist etwa zwei Jahrzehnte älter) und Yehudi werden später gemeinsam Konzertsäle mit dem Zustrom von Menschen und mit ihrer Musik füllen. Menuhin wird als einer der größten Violinenvirtuosen seiner Zeit auf dieser Erde gelten.

Der Musikliebhaber ist bei neuzeitlichem Komfort nicht allein auf das Hören im Konzertsaal angewiesen. Er kann der Künstler Werke sehr wohl bequem und beliebig oft zu Hause genießen.
Aus der ein wenig „geschüttelten“ Werbung erreicht uns:
Auf unseren „Electrola“-Musikplatten erleben Sie mit großem Kunstgenuss die Werke der berühmtesten Künstler völlig geräuschlos, was eine fascinierende Wirkung auf Sie ausüben wird. Die nie gehörten Töne werden naturgetreu und glockenrein wiedergegeben, wobei der Ton stereoskopisch mitten im Raum steht.

Fast sieben Millionen Arbeitslose werden in Deutschland gezählt.

1933
Am 30. Januar ernennt der greise Reichspräsident Paul v. Hindenburg den Adolf H. zum Reichskanzler. Dieser Vorgang ist bei der Vergangenheit des H. für viele Menschen nicht zu fassen. Weil im Berliner Reichstagsgebäude ein Brand gelegt worden war, findet die erste Sitzung des neuen Reichstages am
21. März 1933 in einem Ausweichgebäude, in der Potsdamer Garnisonkirche statt. – Es beginnt die Schreckensherrschaft des National-Sozialismus. Deutschland tritt aus dem Völkerbund aus, stellt sich außenpolitisch ins Abseits.

1934
Der Reichskanzler H. lässt eine größere Anzahl vo vermeintlichen „Nebenbuhlern“ (wohl etwa 83 Männer), darunter eine Anzahl SA-Angehörige, ermorden. (SA = Schutzabteilung für Partei und ausgewählte Leute der Regierung.)
Im Potsdamer Norden wird von den Architekten Otto v. Estorff (1896–1974) und Gerhard Winkler (1858–1975) eine neue Siedlung mit vorerst 36 Grundstücken mit Gebäuden in dem von ihnen geprägten Landhausstil angelegt. Nach der Fertigstellung zieht Otto v. Estorff selbst in eines dieser Häuser in der Albrechtstraße. Die Gestaltung der Gärten erfolgt vom „Bornimer Kreis“ um den Landschaftsgärtner Karl Foerster.
Das Potsdamer Architekturbüro Estorff & Winkler löst sich 1948 auf, da Otto von Estorff nach der
Beschlagnahme / Enteignung (1945) im Jahre 1948 lieber illegal in den Westteil Deutschlands
übersiedelt. Gerhard Winkler kann erst 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Deutschland
zurückkehren und er geht ebenfalls in die Bundesrepublik Deutschland.

✻ Es erfolgt 1934 für die Kempffs ein Wohnungswechsel in die neu errichtete Estorff-Winkler-Siedlung. Das Kempff jun.-Haus steht in der Albrechtstraße. Das sind nur wenige Schritte bis zum Jungfernsee und der Heilige See ist genauso nah. Die Straße liegt unmittelbar am Rande der Parkanlage „Neuer Garten“ – eine traumhafte Gegend. Ihr Grundstück wird die Familie Kempff aber im Februar 1945 verlassen.

Ein beliebiges Musterhaus im Landhausstil aus der Estorff-Winkler-Siedlung, die sich in ihren Bauten konservativ-solide und schlicht-elegant zeigen.
Hier lässt es sich sehr gut wohnen. Im Garten die derzeitig vier, der später sieben Kinder des Ehepaares Kempff. Foto: Max Baur.

✻ Die Eltern, Wilhelm Kempff, sen. und seine Frau Clara, ziehen aus der Mietwohnung Kiezstraße 11, in das Haus Große Weinmeisterstraße 33. Die Gärten der Grundstücke der Familien Kempff haben eine rückwärtige gemeinsame Zaunlinie – man kann sich auf kürzestem Wege besuchen.
Die Bepflanzung der Gärten in der Siedlung und so auch die der Kempff-Grundstücke plant der Gartengestalter und Staudenzüchter Karl Foerster aus Potsdam-Bornim – ein langjähriger Freund der Familie. Ein Motto als Arbeitsziel: „Es wird durchgeblüht“ – das gesamte Jahr Schönheit im Garten. Und als Lebenserkenntnis fügt Karl Foerster hinzu: „Wer Träume verwirklichen will, muss wacher sein und tiefer träumen, als andere.“ Auch für ihn, Karl Foerster, und bezogen auf sein Schaffen, hat Wilhelm Kempff einige Kompositionen erarbeitet.

✻ Ab 6. Mai erfolgt eine mehrwöchige Konzertreise durch Südamerika. Beginn der Reise in Friedrichshafen am Bodensee mit dem Luftschiff „Graf Zeppelin“. Dieses Luftschiff ist 1934 sechs Jahre alt und hat sich ausgezeichnet bewährt. Es ist rund 237 m lang und hat einen Durchmesser von 30,5 m. Angetrieben wird es von fünf Maybach-Motoren von jeweils 530 PS, die ihm eine Höchstgeschwindigkeit von 110 km pro Stunde verleihen. Hugo Eckener ist diesmal nicht der Kapitän dieser Reise aber er wartet am Landeplatz in Pernambuco mit einem persönlichen Willkommensgruß für Wilhelm Kempff.
Der „Zuckerhut“ am Januarfluss (Rio de Janeiro) und die riesige Christus-Statue beeindrucken auch Wilhelm nachhaltig. Konzert-Auftritte in Brasilien und Argentinien sind vorgesehen. Wilhelm Kempff komponiert das Klavierstück „Serenata Argentina“.

Graf Zeppelin und Dr. Eckener

Linker Bildteil: Graf Ferdinand Adolf August Heinrich v. Zeppelin (* in Konstanz am 8. Juli 1838, † in Berlin am 8. März 1917). Er war Adjutant des Königs von Württemberg, General der Kavallerie, 1890: auf eigenen Wunsch aus der Armee entlassen, Erfinder und Entwickler der starren Luftschiffe, Gründer des Luftschiffbaus in Friedrichshafen am Bodensee. 1895: Patent für ein „lenkbares Luftfahrzeug“. Luftschiff-Kapitän. Seit der Gründung arbeiteten auch diese Männer mit ihm gemeinsam: Alfred Colsman, Karl Maybach, Alfred Graf v. Soden-Fraunhofen, Claude Dornier, Hugo Eckener, Ludwig Dürr und Theodor Kober. Am 2. Juli 1900 fand die Jungfernfahrt seines ersten Luftschiffes, LZ 1, statt. –
Rechtes Bild: Dr. Hugo Eckener (* in Flensburg am 10. August 1868, † in Friedrichshafen am 14. August 1954). Studium der Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Dr. der Psychologie, Luftschiff-Kapitän, Direktor des Luftschiffbaues. Er fuhr die Luftschiffe LZ 126, LZ 127 „Graf Zeppelin“ und auch das letzte und größte Luftschiff LZ 129 „Hindenburg“ (rd. 247 m x 45 m) auf den Transatlantikrouten. Die „Hindenburg“ verbrannte am Landeplatz in Lakehurst, am 6. Mai 1936, wobei 36 Menschen, der 97 Personen an Bord ums Leben kamen. Eckener war auf dieser Fahrt jedoch nicht der Kapitän. Die „Hindenburg“ war (so wie das Schwesternschiff) das größte Luftfahrzeug, dass je von Menschenhänden gebaut worden war.

Das Luftschiff >Graf Zeppelin< über dem Rhein.
Hier speiste auch Wilhelm Kempff mit Appetit.
Die Passagierkabine – für den Tagesaufenthalt – und hergerichtet für die Nachtruhe.

✻ Wilhelm Kempff schließt seine Arbeiten an der Komischen Oper „Familie Gozzi“ (op. 39) ab. Sowohl die Musik, als auch das Libretto erarbeitete Wilhelm Kempff. Das Werk widmet er dem Staatspräsidenten Italiens, Benito Mussolini. Die Uraufführung findet am 28. April 1934 in Stettin statt.
Handlung: Der jugendliche Graf Carlo Gozzi möchte Maria in Venedig heiraten, sie dazu aus / von der Klosterschule „befreien“. Für die Heirat scheint es hinderlich, dass die Familie Gozzi schier hoffnungslos verschuldet ist. Einen möglichen Ausweg sieht man darin: Alle Personen der Familie sind in der Dichtkunst talentiert. Sie könnten die Texte zu einer Komödie erarbeiten, diese dann aufführen und von den Einnahmen den Schuldenberg verkleinern. Wenn Carlo auch noch bereit wäre statt der Maria eine reiche Frau zu ehelichen, schiene die Familie gerettet. ... Das Ganze geht natürlich mit Intrigen und Verstrickungen einher ... Letztendlich werden Carlo und Maria doch getraut, denn die Macht der Liebe siegt über die Jagd nach dem Mammon. ... Und über der gesamten Handlung der komischen Romanze schwebt der Gesang des Gondolieri.

Wilhelm Kempff. Akademie der Künste, Bild_Kempff_00772_001, undatiert, Foto: N. N. (Der Fotograf ist der Akademie der Künste unbekannt.)

Erste Urlaubsreisen mit der Organisation „Kraft durch Freude“.
✻ Es stirbt der Militär und Politiker im Ruhestand Paul v. Hindenburg (geboren in Posen 1847, gestorben auf dem Gut Neudeck in Ostpreußen 1934), am 02. August 1934 im Alter von 78 Jahren. Für die musikalische Gestaltung der Gedenkfeierlichkeit in Südamerika wird Wilhelm Kempff verpflichtet, da er sich in jener Zeit dort aufhält.

1935
In Deutschland wird die Wehrpflicht eingeführt. – Der erste Farbfilm wird gedreht und auch gezeigt. – Ab 22. März ist das Fernsehen nach den Arbeiten von Manfred v. Ardenne nun technisch möglich aber es gibt in der Bevölkerung kaum Empfangsgeräte und ebenfalls kaum Sendungen. – Erste Tonbandgeräte auf dem Markt.
Wilhelm Kempff war als Fahrgast mit dem Luftschiff unterwegs. Andere haltes es anders: Die 28-jährige Fliegerin Elly Beinhorn (1907–2007) ist es, die als Pilotin, allerdings völlig alleine, mit ihrem Flugzeug alle Erdteile besucht. Beispielsweise fliegt sie am Morgen des 13. August 1935 mit einer Messerschmitt ME 108 von Deutschland um 3.30 Uhr Richtung Osten über Istanbul (9.20 Uhr) weit hinaus, tankt auf dem asiatischen Kontinent. Sie tritt sofort danach den Rückflug an und landet um 18.08 Uhr auf dem Rollfeld in Berlin-Tempelhof. Eine großartige Leistung. Ihre Rekorde begannen um 1930 (23- bis 24-jährig) mit den Flugzeugen: bestehend aus einem Metallgestell, die Kabine aus Sperrholz. Fliegen nach Landkarte, mit Kompass und Uhr. – Es gibt so sehr viele Menschen, die so sehr viel können. Übergroße Beispiele für großartige Menschen. –
Ab 15. September werden die Nürnberger Gesetze erlassen. Deren Inhalte bedeuten Abkehr von der Demokratie, Möglichkeit des Verfolgens unliebsamer Bürger.

1936 – Wilhelm Kempffs 40. Lebensjahr
✻ Das Haus am „Neuen Garten“ erfährt mit einem Anbau eine räumliche Erweiterung.
Die erste Reise Wilhelm Kempffs im April nach Japan zur Matsushima, der Kieferninsel. Zehnmal wird er im Laufe der Zeit – bis 1979 – dort gastieren. –

Bürgerkrieg in Spanien nach dem Franco-Putsch gegen die neue linksdemokratische Regierung. Im Laufe von drei Jahren werden etwa 500.000 Menschen als Opfer zu beklagen sein. Deutsche Kämpfer auf beiden gegnerischen Seiten. Franco erreicht die Oberhand und behält diese bis zu seinem Tod 1975. – Im August in Berlin Olympische Spiele – für zwei Wochen eine „tolerante Tyrannei“ der Reichsregierung. – Erster Hubschrauberflug, in Bremen. – Schnellste stromlinienverkleidete Dampflokomotive der Welt in Deutschland. Diese erreicht 200 km/h.

1937
✻ Es stirbt in Potsdam am 19. März 1937 der vormals rotvollbärtige Küster der Nikolaikirche, Friedrich Ernst Heinrich Brockmeyer im Alter von 76 Jahren. Bald vier Jahrzehnte waren er und seine Frau Wilhelmine den Kempffs sehr zugetan ... und Wilhelmine Brockmeyer folgt ihrem Mann am 20. Juni 1937 in die Ewigkeit nach. Sie hatte 78 Lebensjahre erreicht. –

✻ Meister Wilhelm Kempff komponiert ein „Deutsches Schicksal“, Opus 40, eine dramatische Kantate nach Texten von Ernst Wiechert. Uraufführung in Remscheid. Die weitere Darbietung wird aber nach kurzer Zeit (1838) von der Nationalsozialistischen Regierung untersagt. Verboten! Das sollte wohl als deren ernstzunehmende Warnung aufzufassen sein, wenn sich das Verbot auch auf den Text mitbezieht. Vorsicht und Wachsamkeit, Zurückhaltung, Aufrechterhalten bewährter Kontakte, nur nicht anecken, nicht sich und die Familie gefährden. Sich weitmöglich anpassen und etwas fern halten. Man ist kein Widerstandskämpfer aber ein intellektueller Menschenfreund. – Was soll man sich zu Eigen machen, wie könnte man ablehnend handeln? Wo würden sich Grenzbereiche auftun? Es sind Fragen, die für die nächsten Jahre stehen bleiben, möglicher Weise drängender werden. –
Scheinbar lustiger hingegen sollte sich die Neufassung der schwäbisch-alemanischen Fasnet „Die Fastnacht von Rottweil“, Opus 41, ausnehmen, eine karnevalistische Oper in drei Akten (7 Bilder), deren vollständiger Schöpfer selbstredend auch Wilhelm Kempff ist. Dieses Werk wird am 27. November in Hannover aufgeführt. In Hannover, nicht etwa in Rottweil! Dort stand sie vorsichtshalber nie auf dem Spielplan. Dem Vernehmen nach wurde das Stück vom norddeutschen Publikum mit einem artig-verhallendem Beifall verabschiedet. Das gute Stück hat die Spielpläne der Zukunft wenig gefüllt. Nicht immer scheint das Publikum vollauf geeignet.

Japan überfällt China. – Stalin „säubert“ die Sowjetunion mit Mord, Terror und Verbannungen.
✻ Die Nazis befinden über „entartete Kunst“, hauptsächlich in der Malerei. Wilhelm Kempff, der die alten Klassiker unpolitisch interpretiert ist also davon nicht betroffen. –
Das Luftschiff LZ 129 „Hindenburg“ verbrennt in Lakehurst beim Landemanöver während eines Gewitters. Ende der Luftschiff-Ära mit Wasserstoff-Füllungen. – Autorennen auf der AVUS und dem Nürburgring. Geschwindigkeiten bis zu 400 km/h werden erreicht.

1938
Der Verwalter des Potsdamer Palais Barberini, Rudolph Mahnkopf, stirbt am 27. Februar im 90. Lebensjahr in seiner Wirkungsstätte, Humboldtstraße 5–6, am Alten Markt. Er war bei Wilhelm Kempff, sen. aktives Mitglied im Sängerverein, dessen Beitragskassierer, Koordinator der Veranstaltungen, Verwahrer der Großinstrumente für Konzerte und ... . Seine Ehefrau Bertha, geb. Sommer (Großtante des Autors Chris J.) war ihm bereits vor fünf Jahren vorausgegangen. –
Die Villenkolonie und Filmstadt Neubabelsberg wird am 1. April mit Nowawes zusammengelegt. Der neue Name für die Stadt ist >Babelsberg<, so wie der Schlosspark schon immer hieß. Damit verschwindet die bisherige slawische Bezeichnung Nowawes = Neues Dorf / Neuendorf.

✻ Das Leben des Vaters von Wilhelm, Wilhelm Kempff, sen., Musikdirektor, Organist in der Nikolaikirche zu Potsdam, Kantor und Gesanglehrer endet im Haus Potsdam, Große Weinmeisterstraße 33, am zeitigen Morgen des 30. August 1938, im Alter von 72 Jahren. Er war 48 Jahre mit Henriette Clara, geb. Kilian verheiratet.

Professor Robert Kahn (1865–1951, 83 J.) der Kompositionslehrer (1905 ff.) des Wilhelm Kempff, selbst Pianist, ist seit 1916 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, lebte langjährig in Berlin aber seit er aus dem Berufsleben ausgeschieden war, ist sein Wohnsitz ab 1933 bis 1938 in Feldberg (Mecklenburg). Im Dezember dieses Jahres 1938 emigriert die Familie nach England, von den Nationalsozialisten zur Ausreise getrieben. Aus Deutschland vertrieben. Als Mitbürger jüdischer Herkunft steht er nicht auf des Reichskanzlers-Liste der „Gottbegnadeten“ – nach Ansicht des Ver-Führers kennt wohl Jehova keine Gnade für Menschen jüdischer Herkunft, völlig unabhängig von deren aktueller Glaubenssituation. So bleibt dem großen Komponisten, berühmten Pianisten und beliebten Musikpädagogen außer dem Verlust an Heimat, an Hab und Gut, immerhin noch das Leben als höchstes Gut. Deutschland entleert sich planmäßig großer Köpfe. Eine noch mögliche Ausreise wird sich für andere Menschen in absehbarer Zeit dramatisch ändern. Dass sich Prof. Kahn nur mit „unpolitischer Musik“ befasste, fällt nicht ins Gewicht, hat ihm nicht geholfen. Wünschen wir, dass sich W. Kempff dankbar und freundlich seiner erinnerte.

9. November: Reichskristallnacht / Reichsprogromnacht gegen jüdische Mitbürger, Geschäftsleute, Wohnungen, Synagogen und Friedhöfe. Auch die Potsdamer Synagoge, Am Wilhelmplatz 1–2 wird zerstört. Hierin kann Prof. Otto Becker nicht mehr für die jüdische Gemeinde musizieren. (Die Zukunft wird wissen, dass die Ruine der Synagoge 1955 abgerissen wird – nun, die gesamte 1945 zerstörte Straße „Am Wilhelmplatz“ wird abgerissen und später wieder aufgebaut – ohne Synagoge). – Alle Bürger haben einen Ahnennachweis zur Bestätigung ihrer Deutschblütigkeit (Arischer Nachweis) zu erarbeiten. – In Deutschland wird die Kunstfaser „Perlon“ entwickelt; etwa zeitgleich in den USA „Nylon“. – Eine erste Atomkernspaltung gelingt Hahn und Strassmann. – Das Kraft-durch-Freude-Auto wird vorgestellt: Der KdF-Wagen soll demnächst in der neuen Autostadt Wolfsburg produziert werden – für den Kaufpreis von 999,- Reichsmark (RM) . Der nahende Krieg wird dieses Vorhaben zunichte machen.

1939
Am 15. März besetzt Deutschland Böhmen und Mähren. – Am 23. August schließen Hi. und Sta. einen Nichtangriffspakt (der von deutscher Seite in absehbarer Zeit gebrochen werden wird). –
Mit Wirkung vom 1. April wird die Stadt Babelsberg nun nach Potsdam eingemeindet. Der Ort heißt jetzt: Potsdam-Babelsberg. –
Der Organist und Glockenist der Potsdamer Garnisonkirche, Prof. Otto Becker, gibt am 2. April sein letztes Konzert. Werke von Bach und Händel hat er dafür ausgewählt. Es ist sein Abschied vom Berufsleben, er ist 70 Jahre alt. Seine Familie war in die Alexandrinenstraße umgezogen wird aber dort am Ende des Krieges „ausgebombt“. Die Familie bleibt aber am Leben. –
Am 1. September beginnt mit dem Überfall Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg. – Das erste Düsenflugzeug ist eine „Heinkel 178“.

✻ Wilhelm Kempff gibt ein Bach-Konzert, wiederum in der Kathedrale Notre Dame de Laon in Frankreich für deutsche Soldaten zur Hebung der Kampfmoral – gegen die Franzosen.
Anschließend reist Wilhelm K. zu Konzertauftritten nach Afrika und konzertiert in Bou-Saada, Algerien, dann in Angola / Luanda, Mocambique. Auch eine Begegnung mit Prof. Dr. Albert Schweitzer ist in diesen Zeitraum wahrscheinlich.

Der Reichskanzler hatte eine Liste aufgestellt die auswies, welche „wertvollen Menschen“ er keinesfalls bei einen Kriegseinsatz verlieren wollte und dann entbehren sollte. Es war die Liste der „Gottbegnadeten“, so seine Titelfindung, die u. a. nicht als Soldat „ins Feld“ brauchten, vom Wehrdienst freigestellt waren. Zu denen gehörten auch Wilhelm Furtwängler, Wilhelm Kempff und Richard Strauss. Auf jener Liste zu stehen, ehrte nicht nur das übergroße Können, sondern war gleichsam eine stille, eine brustschnürende Verpflichtung zur absoluten Loyalität gegenüber dem Führer, seinen Mannen und deren Taten. Ein Platz auf der Liste war wohl weder Freifahrts- noch Garantieschein. Man hatte also, so man es wollte, Vorsicht walten zu lassen.

1940
✻ Beginn der Zusammenarbeit Wilhelm Kempffs mit dem österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan.

Die deutsche Wehrmacht besetzt ab 5. Juni Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Norwegen. – Die ersten Bomben der Alliierten fallen auf Berlin und Umgebung, so auch auf Potsdam. Der Krieg kehrt langsam zu seinem Ausgangsgebiet zurück.

1941 – das 45. Lebensjahr Wilhelm Kempffs.
In den Niederlanden stirbt am 4. Juni der ehemalige Deutsche Kaiser Wilhelm II. v. Hohenzollern im Alter von 82 Jahren. 22. Juni: Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion. Der Nichtangriffspakt ist nichtig, wurde gebrochen. – Vom 18. Oktober an fahren Güterzüge mit Menschen in die Vernichtungslager. Eine vorherige Auswanderung ist nun nicht mehr möglich.

1942
✻ In den Kriegsjahren gibt es immer wieder hochkünstlerische musikalische Umrahmungen von Rüstungstagungen der Chefs von Betrieben der deutschen Waffenindustrie, zu denen W. Kempff als Akteur bestellt wird und die selbstverständlich ebenfalls und zeitgleich von der NSDAP begleitet oder umrahmt werden. – Ein Bombengeschäft! Tod und unermessliches Leid in den überfallenen Ländern eingerechnet. Der sensible Mensch empfindet das Musizieren in diesem Rahmen wahrscheinlich als einen Spagat oder besser: als schwer auflösbaren Gordischen Knoten. Sollte er als einer der „Gottbegnadeten“, unter dem relativen Schutz der Führung stehend, sich weigern, einen passiven Widerstand leisten, anecken, in Ungnade fallen – oder sich freundlich glatt mitschwimmend auch von diesem Kreise für seine Leistungen geehrt fühlen? – Geben und nehmen. Wilhelm Kempff zeigt, dass er nur und nichts anderes bedenkt, als die unpolitisch erscheinenden Kompositionen, z. B. des Ludwig van Beethoven, in ausgezeichneter Qualität zu Gehör zu bringen. – Wer von den Nachgeborenen möchte viele Jahrzehnte später, ohne den eventuellen damaligen Druck, darüber „gerecht“ befinden? – Dazu, worüber Wilhelm Kempff sich selber wohl kaum öffentlich geäußert hatte? – Trotzdem lässt mich die Frage nicht los: Wie kommt ein genialer Ästhet mit den moralischen und juristischen Problemen zu Angriffs-Kriegen und Verbrechen an der Menschlichkeit zurande, wenn deren unheilvolle Quellen in der näheren Umgebung sprudeln. Es sollte ein Gewissensproblem sein.
Auch ein Konzert im besetzten Frankreich, in Paris steht wieder auf dem Programm. Es ist nicht für die einfache französische Bevölkerung gedacht. –
Vom August bis in den tiefen Winter: Die unbeschreibbar grauenvolle Schlacht bei Stalingrad an der Wolga.

1943
✻ Wilhelm Kempff ist aktiver Teilnehmer des „Grand Festival Beethoven“ in Paris, im besetzten Frankreich aber auch in Ländern der politisch-militärisch Verbündeten

1944
✻ Auch Prof. Kempff wird zum geplant heroischen Vor-Endkampf im „Volkssturm“ verpflichtet, der sich eher als ein flaues Lüftchen erweisen wird. Er soll dazu beizutragen, zumindest mit einer Panzerfaust in den Händen, den Krieg zu gewinnen. Das muss schon sein, sonst droht der Entzug der Lebensmittelkarten und damit der Ernährungsvoraussetzung. –
In der von Deutschland besetzten Normandie landen unter großen Verlusten Alliierte Truppen als Kämpfer gegen die Deutsche Wehrmacht. – Die V 2 („Vergeltungswaffe“), eine Rakete, erreicht eine Geschwindigkeit von mehr als 5.000 km/h. Es wurden davon ca. 1.100 Stück nach England geschossen. Entwickelt wurde dieser Raketentyp von Wernher v. Braun, Max Valier und Arthur Rudolph.

1945
Am 27. Januar wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (im heutigen Südpolen) von der 1. Ukrainischen Armee aufgelöst.

✻ Am 04. Februar 1945 verlässt die Familie Kempff, rund zehn Wochen vor der Zerstörung des Stadtzentrums, die Stadt Potsdam und auch zeitlich vor dem bald folgenden Eintreffen der Roten Armee der Sowjetunion, vor der Beschlagnahme der Wohnhäuser und siedelt zum Schloss Thurnau (Künßberg, Familie seiner Ehefrau) in Oberfranken über.

Vielleicht fürchtete man Besatzer aus dem Osten stärker, als solche aus dem Westen. Was stand zu befürchten? Der bisherige Schutzschirm für den „Gottbegnadeten“, von der obersten Führung des Deutschen Reiches verliehen, fehlte nicht nur plötzlich, sondern konnte sich als hinderlich, ja als gefährlich erweisen. Die enge freundschaftliche Beziehung zu Albert Speer, der nicht nur Groß-Visionen architektonischer Kunst für eine Hauptstadt Germania vor Augen hatte, sondern als Rüstungsminister auch als KZ-Baumeister für Kriegsgefangene und deren Tätigkeit funktionierte. Die herzliche Freundschaft gründete sich doch aber nur auf erhabener Ebene der Kunst, wo sich Architektur und Musik gegenseitig so innig zu durchdringen vermochten und befruchtend sich zu weiterer höchster Blüte aufschwingen konnten. Das natürlich völlig unpolitisch und weit erhaben über irgendwelche moralischen Bewertungsversuche anderer Leute. Wilhelm Kempff musiziert! Andere Leute hatten Bücher geschrieben, an denen man die Einstellung des Autors ablesen wollte. Andere hatten heroische figürliche Darstellungen in Stein gemeißelt – da war zu klären, inwieweit des Bildhauers Gestaltung mit der Gesinnung übereinstimmte – oder andere hatten Filme gedreht, die Zeugnis ablegten. Bei der unbefleckten Klassischen Musik jedoch – wo war diese geblieben, nachdem sie gehört war? Wirkte sie ergreifend, dann bisweilen in den Herzen der Hörer, die wohl an den Komponisten und den Interpreten dachten – ansonsten: der Schall verflogen wie der Rauch. Nichts bleibt, was davon zu prüfen wäre. Alles in allem: Der schwere Reise-Entschluss wurde wohl schnell gefasst und in die Tat umgesetzt.

Dort im Schloss Thurnau lebt die Familie nach dieser Flucht mit weiteren etwa achtzig Personen (Flüchtlingen) zusammen. Für Familie Kempff war das ein wesentlicher Unterschied zur bisherigen Lebensweise, ein Kultur-Sozial-Schock, könnte man meinen. Die Räume des Carl-Maximilian-Baues, wohl eher an eine mittelalterliche Burg erinnernd, als an ein schönes Schloss, waren kalt und schwer heizbar und für die „Wohneinheiten“ gab es naturgemäß auch keinen Wasseranschluss, aber zentralisierte Toiletten, so auch die Kochmöglichkeiten. Es war so, wie es ja schließlich in jener Zeit viele Menschen durchlebten – sofern sie den Krieg überlebt hatten. Dort in Thurnau wurde im Juni das fünfte Kind des Ehepaares Kempff geboren.

✻ Zwischendurch, am 4. April, ist Prof. Kempff aber trotzdem mit den Berliner Philharmonikern zu einer privaten Konzertdarbietung bei Freund Albert Speer in Berlin-Wannsee.

Am späten Abend des 14. April wird das Potsdamer Stadtzentrum angegriffen. Es ist ein etwa 65 km langer Strom von ungefähr 490 Bomber-Flugzeugen der Alliierten, die über der Stadt Potsdam 1.752 t Spreng- und Brandbomben abwerfen, ohne dabei militärische Ziele zu verfolgen. Von den nicht detonierten Bomben, Blindgängern, werden noch sieben Jahrzehnte später Exemplare gefunden, entschärft oder zur kontrollierten Detonation gebracht. – Am 16. und 17. April 1945 werden die Insassen der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück von der Roten Armee befreit. – Die Brücken der Stadt Potsdam werden von der eigenen Wehrmacht gesprengt, was die Rote Armee der Sowjetunion aber unwesentlich aufhält. Zwischen dem 24. und 30. April toben in Potsdam die Straßenkämpfe. Viel von dem, das die Flugzeugbomben nicht erfasst hatten, wird von der Artillerie zerstört. –

Der Einzug der Roten Armee der Sowjetunion in Potsdam und überall im Ostdeutschen Land.
Wir sehen hier eine gedenkende spätere Darstellung. Ein monumentale Mosaikbild: Länge gesamt: 8,40 m. Höhe 2,50 m. Freiluftaufstellung. Hier ein Ausschnitt. Dieser linke Teil misst 4,60 m x 2,50 m. Der rechte Teil des Mosaiks zeigt die friedliche Zukunft auf dem Lande, auf Schiffen, in Fabriken und im Schacht.
Der Name des Künstlers ist auf dem Mosaik nicht zu sehen. Es ist wohl ein Werk des Künstlers Heinz-Karl Kummer (Bernsdorf, OL.1920– Lauchhammer 1987): Holzschnitte, Malerei, Grafik und Mosaike. Der Standort: Vor der Ausbildungsstätte der Staatssicherheit der DDR in Golm bei Potsdam. Deren Benennung bis 1989: Juristische Hochschule der DDR, Eiche. Heute: Gelände der Universität Potsdam, Campus Golm, nahe der Karl-Liebknecht-Straße 24, in 14476 Potsdam-Golm.

Am 1. Mai '45 erschießt der Reichskanzler seine Frau, Eva geb. Braun, und anschließend sich selber. – Am 8. Mai: Bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht. Der 8. Mai wird in der sowjetischen Besatzungszone als Tag der Befreiung begangen. Die Rote Armee feiert diesen Anlass am 9. Mai. – Die UNO wird am 26. Juni '45 in San Francisco gegründet. –
17. Juli bis 2. August 1945: Verhandlungen der Siegermächte des Krieges im Potsdamer Schloss Cecilienhof über die Nachkriegsordnung und damit auch über die Zukunft Deutschlands. Es ist das „Potsdamer Abkommen“, (nur wenige Schritte von Kempffs vorherigen Wohnungen entfernt befindet sich jener Verhandlungsort). –
6. und 9. August: Die USA werfen je eine Atombombe auf Japan über den Städte Hiroshima und Nagasaki ab. Der Zweite Weltkrieg endet. – Im Oktober 1945: Der Nürnberger Prozess beginnt gegen Kriegsverbrechen und Völkermord.

Am 5. Oktober '45 wird der nun nicht völlig politisch unumstrittene Prof. Wilhelm Kempff nach Hamburg eingeladen, um für das British Forces Network auf dem Klavier zu spielen.

Blicken wir kurz zurück: Was geschah in den letzten Kriegstagen und nach dem Krieg mit den alten Schauplätzen des Lebens und Wirkens auch der Familie Kempff?
✻ Die neue Estorff-Winkler-Wohnsiedlung, in der die Kempffs bis zum Februar 1945 gelebt hatten, wurde im April 1945 von der sowjetischen Roten Armee in das entstehende „Verbotene Städtchen“ einbezogen. Das bedeutete: es müssen nach der Beschlagnahme der Grundstücke und deren Gebäude sämtliche Bewohner ihre Häuser / Wohnungen binnen weniger Stunden entschädigungslos verlassen. Das Mobiliar in den Wohnungen, die gesamte Ausstattung bleibt den nun einziehenden sowjetischen Offizieren. Aber diesen gewaltsamen Aufbruch zu diesem Termin erlebt Familie Kempff nicht, denn sie hatten die Heimat in Voraussicht reichlich zwei Monate vorher verlassen. Nach 1945 erhielt die frühere Albrechtstraße die Bezeichnung „Am Neuen Garten“. Das Gelände, also die Häuser mit Gärten, blieben bis 1994 im sowjetischen Militär-Sperrgebiet der Stadt Potsdam ... hinter Blechtoren, Stacheldraht und rund um die Uhr besetzten Wachtürmen. Ein Besuch der Anwesen seitens der Eigentümer oder Mieter war selbstverständlich nicht möglich. – Nach 1994, nach dem Abzug der sowjetischen Truppen in ihr Heimatland, beginnen bald die Sanierungsarbeiten der Häuser und der Gärten und ein Teil der früheren Eigentümer oder deren Nachkommen können die alten Wohnrechte nach fünf Jahrzehnten der Fremdnutzung wieder aufleben lassen. So auch bei Familie Kempff.

✻ Fast die gesamte Straßenzeile „Am Wilhelmsplatz“ wurde zerstört. Allein das Haus Nr.10, mit der ersten Potsdamer Wohnung der Kempffs, blieb beschädigt stehen, war noch bewohnbar. Im Zuge der Vorbereitung eines Wiederaufbaus wurde aber auch dieses Gebäude in den späten 1950-er Jahren abgebrochen.

Die ehemalige Straße „Am Wilhelmplatz“. Foto: Herbert Dörries, 1958.

Blick aus Richtung Bassinplatz zur Nikolaikirche und (ganz hinten links) zur Rückseite des Hauptpostamtes. Die Straße, mit der schon 1938 ausgebrannten Synagoge und den Wohnhäusern, existiert nicht mehr. – Der Wiederaufbau begann in den frühen 1960-er Jahren.

Die Straße „Am Wilhelmplatz“ wurde in schlichter Gestalt wieder aufgebaut. Der Straßenname wurde geändert in „Platz der Einheit“. Ansichtskarte: Fotograf ungenannt, PGH Foto-Studio Potsdam, F 33-69 I/16/12 FuG 006.

✻ Die Nikolaikirche, der Potsdamer Haupt-Wirkungsort der Kempff-Familie, wurde bei den Kampfhandlungen der letzten Kriegstage 1945 von der Artillerie der einziehenden Truppen stark beschädigt und brannte aus.

Die Nikolaikirche im Mai 1945. Foto: Karlheinz Hesener. Davor links: Ein Teil des Stadtschlosses und der Treppenabgang zur Havel.

Der schrittweise Wiederaufbau der Nikolai-Kirche begann gegen Ende der 1950-Jahre, zuerst mit dem Neubau der Kuppel, die um 1960 fertiggestellt wurde. Im Jahre 1981 konnte die Wieder-Weihe als nutzbare Kirche erfolgen. Die zerstörte „Schinkel-Orgel“ war noch nicht ersetzt. Die Potsdamer Orgelbaufirma Schuke schuf ein neues Werk.

Hier ein Foto der Nikolaikirche aus dem Jahr 2022.
Vorne links: der bis 2017 wieder errichtete Baukörper, der äußerlich dem früheren Stadtschloss entspricht, nun aber als Landtagsgebäude, als Tagungsort des Parlaments des Landes Brandenburg genutzt wird.

Eine besondere Erinnerung, gleichsam als ein letzter Gruß – wie ein schmerzliches Lächeln. Es betrifft die Bittschriften-Linde am Potsdamer Stadtschloss in der Humboldtstraße, nahe dem Palasthotel. Auch dieser Baum wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges schwer beschädigt. Die Linde war von einem langsamen Ableben gezeichnet. Im Juni 1947 blühte sie – trotz schwerer Beschädigung zum letzten Mal vor der Fällung ... und mit ihr wurde auch die gesamte Humboldtstraße aufgegeben.
Quelle: Ein aufmerksamer Zeitgenosse, der mir nicht namentlich benannt werden konnte, fotografierte 1947 für uns dieses letzte Blühen des Baumes.

✻ Das Gebäude des Hotels „Stadt Königsberg“, in dem Wilhelm Kempff als Sechsjähriger sein erstes öffentliches Konzert gab, wurde beim großen Luftangriff der Alliierten total zerstört. Nur die Scherbenausgrabung seitens des Autors, sieben Jahrzehnte nach der Zerstörung, weist noch auf die letzte Mahlzeit am Abend des 14. April 1945 hin.
Dieses Grundstück, direkt links neben dem Palais Barberini, wurde zwischen 2018 und 2020 neu bebaut.

Vom Hotel „Stadt Königsberg“ blieb nicht viel mehr übrig als die Grundmauern unter der Erdoberfläche.
Einige Scherben erinnern an die große Zeit des Hotels in der Brauerstraße 1–2.

✻ Das unmittelbar benachbarte „Palais Barberini“, in dem Wilhelm Kempff 1907 als Elfjähriger ein Konzert gab, wurde wie das vorgenannte Hotel am 14. April 1945 total zerstört aber um 2017 in gleicher äußerer Gestalt und in höchster Bauqualität auf Initiative sowie durch Finanzierung des Prof. Dr. mult. Hasso Plattner, Potsdam, als sei erstes Gemälde-Museum wieder aufgebaut.

Der Neubau des Palais im Jahre 2022.

Das neue Palais Barberini entstand sieben Jahrzehnte nach der Zerstörung des Vorgängerbaus, in gleicher äußerer Gestalt aber innen hochmodern – „aus einem Guss“.

Das Schauspielhaus, Am Kanal. Im Jahre 1795 war es unter dem Baumeister Jan Boumann dem Älteren fertiggestellt worden. Der König hatte es „Dem Vergnügen der Einwohner“ gewidmet. –
Es wurde im April 1945 von der Artillerie zerstört, brannte aus. Am 28. Mai 1966 wurde die Ruine des Theaters gesprengt.

Garnisonkirche.

Die Ruine der früheren Hof- und Garnisonkirche (mit Potsdamer Zivilgemeinde). Nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut. 1968 gesprengt . – Spendensammlung 40 Jahre später, in einer inzwischen anderen Gesellschaftsordnung, hier im Jahre 2008. Die Spendenwerbung versinnbildlicht mit erworbenen frischen Ziegeln, die Unterstützung des Wiederaufbaus. Das Für und Wider zum oder gegen den Aufbau macht das Objekt zum jahrelangen Streitfall – es soll ein Ort der Versöhnung sein..

Die neue Spitze für den künftigen Turm.

Das ist die neue Turmspitzen-Garnitur des im Wiederaufbau befindlichen Kirchturmes. Die Wetterfahne an dem Ort der früheren Garnisonkirche. Das Werk zeigt die Sonne, unten die Krone und in der Höhenmitte das Herrschaftszeichen und den schwarzen Preußischen Adler. Momentaner Standort ab etwa 2020, vorerst zu ebener Erde: vor dem Rechenzentrum in der „Breite Straße“ im durchsichtigen Tresor. Nach der Fertigstellung des Turms wird das Werk diesen in luftiger Höhe krönen – und uns dann wesentlich kleiner erscheinen.

Die Heiligengeist-Kirche am Ende der Burgstraße vor und nach dem Angriff.
Quelle: AGAPHI, Potsdam.

Auch das Stadtschloss, weitere Kirchen und vor allem viele Wohngebäude wurden zerstört – hier sind nur jene Gebäude erwähnt, die mit den Kempff-Wirkungsstätten in engstem Zusammenhang standen.

Es ist wahrscheinlich, dass diese Advents- und Weihnachtszeit, vor dem Jahreswechsel 1945 / 1946, auch für Familie Kempff in vielerlei Hinsicht eine ganz besondere war.

1946 – Wilhelm Kempffs 50. Lebensjahr

1947
✻ Kempff schuf die Ballett-Kompositionen „Der Spiegel des Hamlet“ (op. 66). Uraufführung in Hamburg und „Die Krönung der Toten“, die unvollendet blieb.
Am 28. August '47 gibt Wilhelm Kempff ein Konzert in der sowjetischen Besatzungszone, in Potsdam, dessen Erlös dem Wiederaufbau der Nikolaikirche zufließen soll. Sein früheres Haus „Am Neuen Garten“ darf er nicht besuchen. –
Das erste Überschallflugzeug der Welt wird in den USA gefertigt und in den Dienst gestellt. –

1948
31. Januar. Der indische Friedensgelehrte Mahatma Gandhi („die große Seele“), der stets für Gewaltlosigkeit eintrat, wird ermordet. – In Südafrika wird die Rassentrennung (Apartheid) zur weiteren Unterdrückung der dort beheimateten farbigen Menschen eingeführt. – Währungsreform am 18. Juni in den drei Westzonen Deutschlands. Nun gibt es dort die „Deutsche Mark“, statt der bisherigen Reichsmark. Schlagartig werden die Geschäfte mit Waren vielfältiger Art, vor allem mit Lebensmitteln, angefüllt. Auch in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, gibt es bald neues (anderes) Geld aber ein verbessertes Warenangebot nicht. Hier zahlt man allein für Gesamt-Deutschland die Kriegsreparationen an die UdSSR. Die Sowjetunion richtet für 11 Monate eine West-Berlin-Blockade ein. Alle Straßen-, Schienen- und Wasserwege werden gesperrt. Die westlichen Alliierten halten das Leben in der Stadt mit dem Luftverkehr, einer „Luftbrücke“, aufrecht. „Rosinenbomber“ transportieren alles in die Stadt – von Kohlen bis zur Babynahrung – und manche Abstürze von Flugzeugen gibt es leider ebenfalls.

✻ Am 22. November '48: Ein Konzert in Paris. Der Versuch, das zurückliegende Leid mit Gedanken und Emotionen, mit den Schöpfungen der deutschen Klassiker der Musik, an die Vorkriegszeit zu überbrücken.

1949
Als Nordatlantisches Schutz- und Verteidigungsbündnis wird die NATO gegründet. – Beginn des Koreakrieges im Juli. Bis 1953 wird dieser währen. – In Westdeutschland erste Fernseh-Versuchsprogramme. – In diesem Jahr werden aus den bisherigen Nachkriegs-Besatzungszonen die getrennten Staaten: Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gebildet.

1951 – Das 55. Lebensjahr
✻ Großes Konzert des Wilhelm Kempff in London.

Die Volksrepublik China fällt in den Tibet ein. – Weltfestspiele der Jugend in Ost-Berlin, DDR.

1952
Auflösung der „fünf Länder“: Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, aus denen die DDR besteht. Dafür werden als neue Verwaltungseinheiten 16 „Bezirke“ gebildet. – Elisabeth von England wird Königin Elisabeth II. Die Zukunft weiß, dass sie bis zum September 2022 regieren und außer in Großbritannien, das Staatsoberhaupt von 14 weiteren Ländern (ehemaligen Kolonien) sein wird. – Prof. Dr. Albert Schweitzer erhält den Friedensnobelpreis.

1953
✻ Konzertreise durch Italien. Wilhelm Kempff erlebt des Ausbruch des Ätna (volkstümlich Mongibello) auf Sizilien. Vom Flugzeug aus, sieht er die glühenden Lavamassen die Kraterhänge des etwa 3.350 m hohen Vulkans hinabfließen. Der Ätna ist der größte Vulkan Europas und gehört neben dem Kilauea auf Hawaii zu den aktivsten Vulkanen der Erde. Er ist ständig mit dem Ausbrechen „beschäftigt“, so dass dieses feurige Schauspiel den Sizilianern als nahezu alltäglich gilt. –

Der sowjetische Staats- und Parteichef, Diktator Stalin, stirbt im März in Moskau. – In den Tagen um den 17. Juni: Volksaufstand in der DDR. Dieser wird vom sowjetischen Militär, als Schutzmacht der DDR-Regierung, niedergeschlagen und über die DDR das Kriegsrecht verhängt.

1954
In der alten Potsdamer Heimat stirbt am 16. Oktober, 84-jährig, der evangelische Prof. Otto Becker. Er war der Organist und Glockenist der früheren Garnisonkirche und der jüdischen Synagoge, hatte in seinem Leben aber in einer größeren Anzahl von Kirchen gearbeitet. –

✻ Konzertreise des Wilhelm Kempff durch Ägypten. Die Pyramiden, Pharaonin Hatschepsut, Kleopatra und der Nil kommen nicht zu kurz in den „ungeflügelten“ Zeitabschnitten – das sind Zeitspannen ohne Klavier oder Flügel.
Den bedeutendsten französischen Musikpreis, den Grand Prix du Disque, erhält der Künstler für die Schallplattenproduktion der Klavierkonzerte von Franz Liszt.
Am 1. März und im Oktober gastiert Wilhelm erneut in Japan. Er konzertiert auf der Orgel der Weltfriedenskirche in Hiroshima – mit den liebevollen Gedanken, mit der Hoffnung und in dem Glauben, dass es durchaus gut möglich sei, einen umfassenden und dauerhaften Frieden auf der Erde zu erreichen, – wenn alle es wünschen.

1955
✻ Es erfolgt ein Wohnungswechsel der Familie Kempff vom Schloss Thurnau nach Ammerland bei Münsing am Starnberger See in Bayern. Die Familie wohnt dort, in der 500-Seelen-Gemeinde, Wallgraben 16, wohl bis 1986, bis Wilhelm nach Italien zieht (aber erst für 1991 ist wohl nach Angabe dort das offizielle Ende des Wohnens registriert). Ab 1963 gehört zu den Nachbarn auch Vicco v. Bülow (Loriot).
Erstes gemeinsames Auftreten mit dem berühmten Violinen-Virtuosen Yehudi Menuhin. Menuhin galt wie Kempff bereits in seiner Kindheit als ein Ausnahmetalent mit tiefen Empfindungen, hoher Sensibilität und überragender Kunstfertigkeit beim Spiel auf den Instrumenten. Er spielte Violine und Bratsche, war auch als Dirigent tätig – konzertierte als Weltbürger mit den Größten seiner Zeit. 1916 war Yehudi in New York als Kind russisch-jüdischer Abstammung geboren worden. Der Lebenskreis von Yehudi Menuhin wird sich im März 1999 in Berlin schließen. Er wurde knapp 83 Jahre alt.

Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, erreicht in Moskau das Freilassen deutscher Kriegsgefangener. Es sind etwa 9.600 „Spätheimkehrer“ von den bisher noch 1.245.000 vermissten Soldaten. Die meisten Schicksale bleiben ungeklärt. – Abschiede vom Leben: Es starben in diesem Jahr: der Nobelpreisträger für Medizin, Sir Alexander Fleming (Entdecker des Penicillium notatum als Antibiotikum), Thomas Mann, Nobelpreis für Literatur und Albert Einstein, Nobelpreis für Physik. – Der „Warschauer Vertrag“ wird gegründet, ein Freundschafts- und militärischer Beistandspakt der Bruderländer, die den Sozialismus aufbauen. – Die BRD tritt dem Schutz- und Verteidigungsbündnis „Nordatlantischer Pakt“, der NATO, bei.

1956 – Wilhelm Kempffs 60. Lebensjahr
✻ Etwa in jener Zeit mag es gewesen sein, dass Wilhelm in Spanien musizierte – in Granada, wo der frühere Einfluss der Araber, der Mauren, noch heute deutlich zu sehen und zu spüren ist. Man fühlt sich wie ein Gast des Kalifen in der Alhambra zwischen Sarazenen. Auch den Montserrat in Katalonien mit dem Benediktinerkloster, eine Stunde Eisenbahnfahrt von Barcelona entfernt, besuchte Wilhelm Kempff.

Des Winters Kälte: Am Rhein wurden am 11. Februar -34°C gemessen. – Die DDR bildet eine sozialistische Nationale Volksarmee (NVA). – Israel führt Krieg gegen Ägypten. – Am 25. September: Ein transkontinentales Übersee-Unterwasserkabel verbindet jetzt Europa mit Nordamerika. Erstmals kann „man“ miteinander telefonieren. – Aufstand des Volkes in Ungarn. Auch dieser wird von der sowjetischen „Bruderarmee“ blutig niedergeschlagen.

1957
✻ Im Mai ein Aufenthalt Wilhelm Kempffs in Finnland. Wiederbegegnung mit dem Komponisten Jean Sibelius. Jener ist jetzt 92 Jahre alt. Es gibt ein Heimkonzert für dessen kleinen Familienkreis. – Bald darauf, am 20. September, schließt sich der Lebenskreis des großen finnischen Komponisten Jean Sibelius.
✻ Wiederkehr der Kempffs nach Positano (Italien) nahe dem Monte San Angelo mit den vorgelagerten Sireneninseln – mit den Erinnerungen an die Hochzeitsreise im Jahre 1926. Was alles ist in der turbulenten kurzweiligen Zwischenzeit doch geschehen. –
Gründung eines Musik-Kulturzentrums in Positano. Es beginnen dort nun die Beethoven-Sommerkurse – ähnlich wie 1931 bis 1944 im Marmorpalais in der Parkanlage „Neuer Garten“ in Potsdam – eine Fortsetzung, die unter Kempffs Leitung bis 1982 besteht aber weiterhin, auch nach dessen Lebensende, Bedeutung haben wird..

Die asiatische Virusgrippe erfasst ungezählte Menschen auf der gesamten Erdkugel. – Die Römischen Verträge zur Bildung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) werden geschlossen. – Das westdeutsche Segelschulschiff „Pamir“ kentert bei einem Sturm im Atlantik, wegen menschlichen Fehlverhaltens. Aus Gewinnsucht sterben Menschen. –
4. Oktober 1957. Am 4. Oktober beginnt das Zeitalter der Raumfahrt. Ein künstlicher Satellit, ein Trabant, der „Sputnik 1“, wird von der Sowjetunion ins Weltall geschossen und umkreist die Erde. Ein Schock für die USA beim Wettlauf um die Eroberung des Kosmos'. Doch jene folgen sehr bald mit ihren Entwicklungen.

1958
In der Bundesrepublik Deutschland wird die Gleichstellung der Frau gesetzlich festgeschrieben. Zumindest wird es eine theoretische Gleichstellung. – In Schweden wird der erste Herzschrittmacher der Welt eingesetzt.

1959
Vom Revolutionär zum Staatschef. Auf Kuba stürzt Fidel Castro die Batista-Regierung.
Zwei verschiedenen Diktaturen lösen einander ab. Die Bevölkerung wird auf einem bescheidenen Lebensniveau bleiben und das Land politisch vom großen Nachbarn isoliert sein. – Jaques Cousteau bekommt für sein Forschungsschiff „Calypso“ ein Mini-U-Boot. Es entstehen Fotos und Filmstreifen über Meereslebewesen, die bisher noch kein Mensch sah. – Die Kriegsruine des Potsdamer Stadtschlosses wird 1959 / 1960 abgerissen.

✻ Das Japanische Rote Kreuz verleiht dem Ausnahme-Künstler Kempff den Goldenen Verdienst-Orden.
Oft reiste Wilhelm Kempff ins französische Nachbarland, so nach Paris, Lyon, Marseille, Nizza, Monte Carlo, Aix-en-Provence und Laon, um mit der Musik, die freundliche Verständigung der Menschen wieder zu festigen.
Im August nimmt Wilhelm Kempff aktiv am Montreal-Festival in Kanada teil.
Auch in diesem Jahr führt eine Konzertreise Wilhelm Kempff erneut nach Frankreich. Nach zwei Jahrzehnten gibt es in Bordeaux eine zufällige Wiederbegegnung mit Prof. Dr. Albert Schweitzer nach einem Konzertabend, an dem W. Kempff drei Klavierkonzerte bot: Bach, Beethoven und Brahms. Prof Dr. Schweitzer ist Mediziner, Theologe, Musikwissenschaftler und Philosoph. Auch er komponiert und spielt vorzüglich die Orgel und das Klavier. Geboren in Kaysersberg, Elsass-Lothringen, am 14. Januar 1875. Gestorben am 4. September 1965 in seinem Urwalddorf Lambarene, im Staat Gabun (während der Kolonialzeit: Französisch Kongo). Albert Schweitzer wird 90 Jahre alt werden.

Prof. Dr. Albert Schweitzer wird von ungezählten Menschen in der gesamten Welt verehrt.

✻ Gemeinsames Konzertieren mit Yehudi Menuhin (Violine) und Edwin Fischer.
Eine Tournee führt Prof. Wilhelm Kempff durch die DDR zu Konzerten in Berlin, Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig und Potsdam. Das war wohl die letzte Konzertreise durch die alte Heimat im engeren Sinne. Seinen früheren Wohnsitz durfte er nicht besuchsweise wiedersehen – militärisches Gebiet seit 1945. Sperrgebiet – bis zum Abzug der sowjetischen Freundes-Truppen im Jahre 1994.

1960
✻ Eine Konzertreise nach Italien. Venedig im Winter.

John Fitzgerald Kennedy wird mit 43 Jahren der 35. Präsident der USA. –
Allein in diesem Jahr flohen etwa 200.000 Menschen aus der DDR in die BRD.

1961 – Das 65. Lebensjahr
✻ Erneut ein Besuch in Kanada. Vom 16. bis 18. Januar bietet Wilhelm Kempff in Quebec alle Beethoven-Klaviersonaten dar.
Spanien würdigt Wilhelm Kempffs Kunstschaffen für das Aufnehmen der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven auf Schallplatten mit dem „Gran Premio del Disko“.

Die Potsdamer Nikolaikirche ist für den Kuppelaufbau eingerüstet. Insgesamt wird das Beseitigen der Kriegsschäden bis 1980 dauern. –
12. April 61. Der erste Mensch im Weltall: Kosmonaut der UdSSR, Juri Gagarin. Aber auch die USA lassen bald einen Astronauten kurz ins All hüpfen. – Das Schlafmittel „Contergan“ führt in der Bundesrepublik zu erheblichen vorgeburtlichen Missbildungen. – Ab 1. Juli gibt es in der BRD die Anti-Baby-Pille. – Die DDR „blutete aus“; die Bürger liefen ihr fliehend davon – doch damit ist nun Schluss. Ab 13. August '61 werden um Westberlin eine Mauer und Stacheldraht gezogen und entlang der innerdeutschen Nord-Süd-Grenze werden die Anlagen ebenfalls enorm verstärkt, zum Teil mit automatischen Tötungseinrichtungen („Selbstschussanlagen“) gegen die eigene Bevölkerung versehen.

1962
Die DDR führt die Wehrpflicht ein. Das kann zu keinen Fluchtströmen mehr führen. Die vormilitärische Ausbildung der Jugend gab es sowieso schon. Diese wird nun verstärkt. – Kriegerischer Konflikt zwischen UdSSR und China wegen einiger interessanter Inseln. – Hungersnot in China mit geschätzten 30 Millionen Todesopfern. – Algerien wird nach sechsjährigen Kämpfen unabhängig von Frankreich. – Schwere Herbststürme in der Nordsee. Mehrere Schiffe sinken. – In Hamburg gibt es eine schreckliche Sturmflut. Weite Teile der Stadt sind überflutet. –
Die Sowjetunion (UdSSR) beginnt auf Kuba mit dem Aufstellen von Atomraketen – eine Antwort auf die Stationierung von USA-Raketen in der Türkei. Eine weltbrandgefährliche Situation. Nach telefonisch-persönlicher Abstimmung beider Regierungschefs werden beide Vorhaben zurückgezogen.

1963
Die erste Frau im Weltall ist die 26-jährige Walentina Tereschkowa. – Der Dresdener Zwinger, am 13. Februar 1945 zerstört, ist wieder aufgebaut. Die benachbarte Frauenkirche bleibt in dieser Zeit als Kriegsmahnmal ein Trümmerhaufen. – Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) geht in der Bundesrepublik auf Sendung. – In der BRD endet die vierte Kanzler-Periode Konrad Adenauers in seinem 87. Lebensjahr. – USA-Präsident John Fitzgerald Kennedy wird am 22. November in Dallas (Texas) von einem Attentäter erschossen.

1964
✻ Wilhelm Kempff unternimmt eine Konzertreise in die USA. Er gastiert zwischen dem 13. und dem 15. Oktober in der Carnegie-Hall in New York und weiteren Konzertsälen.

Nach dem seit 1946 von Frankreich gegen Nordvietnam politisch ergebnislos geführten Krieg, übernehmen nunmehr die USA die Kriegsherrschaft in diesem grundlosen, sinnlosen Vernichtungs-Kampf – bis auch sie 1975 das von ihnen zerstörte, vergiftete und verbrannte Land fluchtartig verlassen werden. – Seit dem 12. Oktober umkreisen erstmals in der Menschengeschichte mehrere Kosmonauten gemeinsam in einem Raumschiff die Erde. – In diesem Jahr trat eine ungewöhnliche Häufung von Erdbeben rund um den Globus auf.

1965
Am 5. August wird in Berlin, DDR, am Alexanderplatz, mit dem Bau des Fernsehturms begonnen, der 360 m hoch werden soll. Etwa vier Jahre wird die Bauzeit betragen. – In der DDR kommt die „Wunschkind-Pille“ auf den Markt. – Der Wiederaufbau des kriegsbeschädigten Leipziger Hauptbahnhofs, des größten Kopfbahnhofs Europas, ist abgeschlossen. – Am 4. September 1965 stirbt Prof. Dr. Albert Schweitzer in seinem Urwaldhospital in Lambarene, Gabun (zur Kolonialzeit: Französisch-Kongo).

1966 – Wilhelm Kempffs 70. Lebensjahr
✻ Für das Darbieten sämtlicher Klaviersonaten von Schubert, trägt Frankreich dem Künstler Wilhelm Kempff erneut einen „Grand Prix du Disque“ an.

Beginn der grausamen „Kulturrevolution“ in China, die mit ihrem Terror ein Jahrzehnt währen wird. Erneut eine Hungersnot in China mit Millionen Todesopfern. – In Potsdam wird das stark kriegsbeschädigte Schauspielhaus (von Baumeister Jan Boumann d. Ä., 1795) am 28. März gesprengt. –
„Luna 9“ aus der Sowjetunion landet „weich“ auf dem Mond und sendet Bilder der Umgebung. – Das erste Kernkraftwerk Deutschlands geht bei Rheinsberg / Menz (DDR) am Stechlin-See ans Netz. Die BRD folgt mit ihrem ersten Atomkraftwerk drei Monate später. – Das erste Fax-Gerät kommt in der BRD auf den Markt. – In Berlin wird im Dezember „Die Komische Oper“ wiedereröffnet, die im Krieg zerstört worden war.

1967
Israel steht mit Ägypten im Sechs-Tage-Krieg. Anschließend ist das Gebiet von Israel dreimal größer, als vorher – zu ungunsten Palästinas. – Staatsstreich in Griechenland zur Abschaffung der Königlichen Monarchie. – In den USA beginnt die Bewegung der Blumenkinder. „Flower Power“ richtet sich gegen militärische Gewalt und soziale Spannungen. – Die erste Herzübertragung von Mensch zu Mensch in Südafrika, Dr. Banard. – Vom 25. August an gibt es in der BRD Farbfernsehen.

1968
Am 4. April wurde der Kämpfer für soziale Gerechtigkeit für die farbigen US-Bewohner, der Baptistenprediger Dr. phil. Martin Luther King in Memphis, Tennessie ermordet. – Am 4. Juni wird in den USA Senator Robert Kennedy ermordet. –
In Potsdam wird auf Befehl des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und gegen viele Einsprüche, die kriegsbeschädigte ausgebrannte Garnisonkirche (errichtet 1730–1735), gesprengt. Für den starkwandigen Turm reichte ein Sprengungstermin nicht aus. – Heftige Studentenunruhen in Westdeutschland und West-Berlin ... gegen den Vietnamkrieg, gegen den „alten Muff“ in Regierung und Verwaltungen, gegen alte soziale Anschauungen, gegen ... vieles. – Der politische „Prager Frühling“ gibt Hoffnung auf eine Demokratisierung des Sozialismus. Im August wird das Reformbestreben des Volkswillens in der CSR durch sowjetische Militärverbände erstickt. – Auch Deutschland wird von einer Influenza-Epidemie erfasst. – Im Dezember umkreisen drei Astronauten aus den USA zehnmal den Mond und kehren sicher wieder zurück zur Erde.

1969
Der erste bemannte Flug (USA) zum Mond und Landung auf dem Planeten. Eine Acht-Tage-Mission. „Ein kleiner Schritt auf dem Mond – ein großer Schritt für die Menschheit“. – Die Erbsubstanz des Menschen (DNS) wird erforscht. – Die DDR beginnt mit einem 2. Fernsehprogramm und mit dem Farbfernsehen.

1970
✻ Die Deutsche Grammophon-Gesellschaft verleiht dem Musik-Professor für „50 Jahre Tonaufzeichnungen“ das Goldene Grammophon.
In Potsdam-Bornim stirbt der langjährige Freund der Familie Kempff, der Landschaftsgärtner und Staudenzüchter Prof. Dr. Karl Foerster. Eines seiner Lebenserkenntnisse: „Wer Träume verwirklichen will, muss wacher sein und tiefer träumen, als andere.“ Karl Foerster ist Ehrenbürger der Stadt Potsdam. – Der Norweger Thor Heyerdahl überquert mit seinem Papyrusschiff den Atlantik.

1971 – Das 75. Lebensjahr Wilhelm Kempffs
Der riesige Assuan-Staudamm am Nil wird fertig und mit ihm entsteht ein See von 510 x 12,5 km Größe, der die bisherigen jährlichen Überflutungen, vom Nilwasser verursacht, ausgleicht. – Der Potsdamer Stadtkanal wird seit längerer Zeit abschnittsweise zugeschüttet.

1972
✻ Eine Goldene Schallplatte für die Aufnahme der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, schmückt nun die Auszeichnungs-Sammlung Wilhelm Kempffs.

Olympiade in München. Ein Attentat von Palästinensern auf israelische Sportler. Das Eingreifen der Bundeswehr führt zu einem Blutbad. Fünf Terroristen, die neun Geiseln und ein Polizist sterben dabei.

1973
Das Eintrittsgeld für Westler für den Besuch der DDR steigt von 10,- DM auf 20,- DM pro Besuchstag. Ähnlich wie beim Zoo, nur teurer – Im Sommer finden in Ost-Berlin die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten statt. – Chile wird von einem vorsozialistischen Land durch Putsch mit vielen Morden, zu einer Militär-Diktatur. – Die Sowjetunion schickt mit „Lunochod-2“ ihr zweites Mondauto auf den Erdtrabanten. – Nach sieben Jahren Bauzeit wird in Sydney das „Muschelschalen-Opernhaus“ fertig.

1974
Revolution in Portugal mit Regierungswechsel. – In China wird die unterirdische Grabanlage des Kaisers Quin Shi Huang Di aus der Zeit um 2020 v. Chr. wiederentdeckt. Man zählte vorerst, dass jene Grabanlage von ca. 8.000 Soldaten (lebensgroße Tonfiguren) „geschützt wird“. Viel mehr wird es noch zu entdecken geben. – In der BRD kommen Taschenrechner auf den Markt. – In Potsdam wird in diesem Jahr die Heiligengeist-Kirche als Kriegsruine – nicht repariert, sondern nun auch diese gesprengt. – In DDR-Berlin wird auf der Brache am früheren Schlossplatz (Marx-Engels-Platz) der „Palast der Republik“ errichtet (1973 begonnen). – Der Westberliner Flughafen Berlin-Tegel geht in Betrieb.

1975
✻ In diesem Jahr gibt es für Prof. Wilhelm Kempff die Goldene Schallplatte für 250.000 verkaufte Langspiel-Tonträger von Beethovens Es-dur-Klavierkonzert.
Die italienische Kleinstadt Positano in der Provinz Salerno (weniger als 3.900 Einwohner) ernennt den Groß-Meister Kempff zu ihrem Ehrenbürger. Frankreich verleiht Wilhelm Kempff den Orden für Kunst und Literatur.

Der spanische Diktator Franco stirbt. Sein Nachfolger wird König Juan Carlos. – Bürgerkrieg in Angola. – Der Vietnam-Krieg endet nach 29 Jahren mit der Flucht der Amerikaner aus diesem Land. – Jaques Cousteau begibt sich mit seiner Mannschaft und dem Schiff „Calypso“ auf eine archäologische Tauch-Forschungsreise durch den Mittelmeerraum. Auch diese Reise erbringt spektakuläre Ergebnisse.

1976 – Wilhelm Kempffs 80. Lebensjahr
In Kambodscha beginnt ein grausamer Krieg der Regierung (Rote Khmer) gegen das eigene Volk. – Auch in Südafrika schwere Kämpfe: Schwarz gegen weiß, auch farben- und interessen-gemischt. – In China endet mit dem Ableben des Diktators Mao die schrecklich wütende „Kulturrevolution“. – Die deutsche Sylvia Sommerlatt (vormals Hostess bei den Olympischen Spielen, 1972 in München) heiratet den schwedischen Kronprinzen Gustav Adolf, so wird sie unversehens eine Prinzessin. Sie sind beide das künftige Königspaar.

Professor Wilhelm Kempff – ein Gruß an die Eltern des Autors Chris J.
Der Fotograf ist dem Zusammenstellenden nicht bekannt.

Die „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) mordet in der BRD weiter ... damit es in der Welt besser und gerechter zugehen möge. Nach der Politschen Wende 1989, werden die Bürger von der Unterstützung der RAF vonseiten der DDR-Regierung erfahren. – Von Palästinensern wird das westdeutsche Flugzeug „Landshut“ mit 86 Personen entführt und mehrere Tage festgehalten. In Mogadischu (Afrika) kommt es letztendlich zu einer Befreiungsaktion durch eine deutsche Spezialeinheit. Der Pilot kommt leider kurz vorher ums Leben. –
In Potsdam wird am Brauhausberg das Terrassen-Café „Minsk“ in Betrieb genommen. – Die Klement-Gottwald-Straße, das ist vor- und nachher die Brandenburger Straße, wird als Fußgängerzone umgestaltet.

1978
✻ Es erscheint die erste Auflage des Buches von Wilhelm Kempff „Unter dem Zimbelstern“, dessen Titel später den Zusatz >Jugenderinnerungen eines Pianisten< erhält.
Wilhelm Kempff bearbeitete auch viele Lieder. Er schrieb mehrere Ballettstücke, Opern und Konzerte für Klavier und Violinen. Er ersann diverse Stücke von Chormusik, schrieb Noten zu Gedichten, auch zu Sinnsprüchen und vertonte ebenso Texte historischer Dichtungen. So waren die selbstgewählten Aufgaben, von denen hier nicht im Detail berichtet wird, ungewöhnlich breit gefächert.

Sigmund Jähn (Morgenröthe-Rautenkranz 13.02.1937 – Strausberg 21.09.2019) ist der erste DDR-Kosmonaut, der erste Deutsche im Weltall. Er hält sich für eine Woche in der sowjetischen Raumstation „Salut“ auf. – Das erste im Reagenzglas gezeugte Baby wächst in Großbritannien. – Weihnachten: Temperatursturz auf Rügen von +10°C auf -20°C. Starkschneefall. Viele Schnee-Verschüttungen im Land. Der Braunkohleabbau in den Tagebauen der DDR und damit die Stromversorgung, brechen teilweise zusammen.

1979
Der persische Schah Reza Pahlewi wird gestürzt. Im Iran wird ein „Islamischer Gottesstaat“ der Unterdrückung der Bevölkerung errichtet. Zurück in teilweise mittelalterlich anmutende Lebensweisen. Die Macht alter Männer breitet sich statt himmlischer Verhältnisse aus. Frauen werden insbesondere unterdrückt. – Am Jahresende marschieren sowjetische Truppen in Afghanistan ein. In reichlich 20 Jahren wird diese ruhmreiche Armee das Land – selber geschlagen, fluchtartig verlassen. –
Den Südtirolern Habeler und Messner gelingt es, den Mount Everest ohne Sauerstoffgeräte zu besteigen.

1980
✻ Von diesem Jahr an, ist Professor Wilhelm Kempff Ehrenmitglied der Königlichen Akademie für Musik in London.

In Karlsruhe formieren sich „Die Grünen“ als neue politische Partei in der BRD. In West-Berlin wird dagegen als Bezeichnung „Alternative Liste“ gewählt. – Der erste Golfkrieg zwischen Irak und Iran beginnt. – In den USA bricht der Vulkan St. Helens aus. – Algerien: Ein Erdbeben fordert in der Stadt Agadir viele Menschenleben.

1981 – das 85. Lebensjahr von Wilhelm Kempff
✻ Geehrt wird der große Meister Kempff mit dem „Deutscher Schallplattenpreis“ für historische Aufnahmen klassischer Musik. Letzte große Auftritte in Paris (am 18. März), Antwerpen und Brüssel. Danach tritt wegen einer Parkinsonbelastung zwangsweise mehr Ruhe ein. Veröffentlichung des Buches: „Was ich hörte, was ich sah“ – Reiseschilderungen von Wilhelm Kempff. –
Die Sanierung der Potsdamer Nikolaikirche von Kriegsschäden wird in diesem Jahr abgeschlossen. Es findet eine erneute Weihe statt. Die Nikolai-Kirche war die langjährige Wirkungsstätte der Familie Kempff.

Das HIV-Virus wird entdeckt. Die daraus folgende Erkrankung wird im Folgejahr (ab 1982) mit AIDS bezeichnet. – In England heiraten Kronprinz Charles und die 20-jährige Kindergärtnerin Lady Diana Spencer. – Attentate auf den Präsidenten der USA Ronald Reagan und in Rom auf den Papst Johannes Paul II., ebenso auf den ägyptischen Staatschef Saddat.

1982
✻ Der Großmeister Kempff hält noch immer den musikalischen Sommerkurs in Positano ab.

Krieg um die Falkland-Inseln in Südamerika – Argentinien gegen Großbritannien. Große Soldatenverluste auf beiden Seiten. Ergebnis: Es bleibt alles so, wie es vor dem Krieg war. – Die Autobahn Berlin–Hamburg wird dem Verkehr übergeben und damit die Fernverkehrsstraße 5 über Kyritz und Perleberg wesentlich entlastet. Es wird auf dieser Strecke für die Bewohner bedeutend ruhiger.

1983
Ulf Merbold fliegt als erster BRD-Bürger, als Teilnehmer einer amerikanischen Astronautengruppe, ins Weltall. Er ist der zweite Deutsche. – Im Potsdamer K. und K.-Pferdestall, der einstigen Orangerie am Lustgarten, wird das einzige und damit größte Filmmuseum Europas eröffnet. – Der 27. Juli ist der bisher heißeste Tag in Deutschland, seit es Wetteraufzeichnungen gibt. In der Oberpfalz wurden 40,3°C im Schatten gemessen.

1984
✻ Der Bayerische Freistaat würdigt Wilhelm Kempff mit dem Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst.

In der Kriminalistik beginnt man mit DNA-Nachweisen Spuren zu sichern. – Der Dom in Berlin-DDR (am Marx-Engels-Platz, dem früheren Schlossplatz) ist nun vollständig von Kriegsschäden saniert.

1985
Im Februar wird in Dresden die von Kriegsschäden sanierte Semper-Oper wiedereröffnet. Als erste Vorstellung wird „Der Freischütz“, von Carl Maria v. Weber geboten.
Zehn RAF-Aussteiger vom Terrorismus, in der BRD mit Steckbrief gesucht, finden durch die Unterstützung der DDR-Regierung hier Unterschlupf und eine neue Identität. Das erfahren wir aber erst nach Öffnung der DDR-Staatssicherheits-Archive ab 1990, wie manches andere auch. – Auf der Glienicker Brücke, einem Bindeglied zwischen Potsdam und Berlin, an der Grenze zwischen NATO und den Staaten des Warschauer Vertrages, findet der größte Agentenaustausch zwischen Ost und West statt. – In der Sowjetunion heißt nach dem Ableben von Leonid Breshnew, der neue Staatschef: Michail Gorbatschow. – Ein schweres Erdbeben in Mexiko fordert etwa 10.000 Menschenleben. – In der Nacht zwischen dem 24. und 25. Dezember bricht auf Sizilien erneut der Ätna aus.

1986 Wilhelm Kempffs 90. Lebensjahr
✻ Es stirbt Frau Helene Kempff, geborene Baronin / Freiin von Gaertringen, etwa im 78. Lebensjahr. Wilhelm Kempff siedelt aus der BRD nach Positano in Italien in die Casa Virgilio, mit einem herrlichen Terrassengarten versehen, über.
Wilhelm sieht den Halleyschen Kometen zum zweiten Mal in seinem Leben. Das erlebt ein nur geringerer Teil der Menschen. Pünktlich, wie vorausberechnet, stellt er sich zum Besichtigen wieder ein. Auf einer sehr lang gezogenen elliptischen Bahn fliegend, wird der Komet von der Erde aus im Jahre 2061 wieder sichtbar sein.

Hans v. Braunmühl wird ermordet. Auch der schwedische Ministerpräsident Olof Palme, ein Friedensnobelpreisträger, wird getötet. – Eine US-Raumfähre explodiert 74 Sekunden nach dem Start. Sieben Astronauten und eine Lehrerin (als Fluggast – als eine große Auszeichnung gedacht) sterben. – Am 26. April explodiert im sowjetischen Kraftwerk Tschernobyl ein Kernreaktor mit weitreichend-dramatischen Langzeit-Folgen.

1987
Das Wrack des im April 1912 auf seiner Jungfernfahrt gesunkenen Luxusschiffes „Titanic“ wird im Nordatlantik in knapp 4.000 m Tiefe gefunden. Das gibt den Stoff für Filme über die damaligen hochdramatischen Vorgänge. –
Zur 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin wird das im Krieg zerstörte Nikolaiviertel, einschließlich Kirche, am Alexanderplatz in seiner nachempfundenen Gestalt (also „auf alt gemacht“) fertiggestellt, ebenso das Bodemuseum und das Schauspielhaus am Platz der Akademie, (Gendarmenmarkt). Gern hätte man nun auch die frühere Gerichtslaube vom Roten Rathaus wieder aufgestellt, doch diese steht seit 1871 unverrückbar als Geschenk der Stadt Berlin, als bauliches Schmuckstück im Park Babelsberg. Geschenke fordert man nicht zurück ..., sondern man baut eben eine neue Laube in Berlin, die aber anders aussieht. Die Ost- und die West-Berliner begehen die 750-Jahr-Feier wohl gemeinsam – aber streng durch Mauer und Stacheldraht getrennt.

1988
Ein schweres Erdbeben im Kaukasus. Etwa 60.000 Menschen sterben. Ungefähr Bewohner 500.000 werden obdachlos.

1989
Im 40. Jahr des Bestehens der DDR formieren sich ohne staatliche Erlaubnis Bürgerinitiativen für Frieden, Demokratie, Mündigkeit der Menschen, für Freiheit und Umweltschutz ... . – Die staatlich angeordnete Fälschung zu Super-Ergebnissen der Volkswahlen wird aufgedeckt. Montags-Demonstrationen beginnen ... aber nicht nur in der DDR, sondern auch in Polen, der CSSR, in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien gärt der Unmut über die jeweilige „sozialistische Obrigkeit“. – Viele DDR-Bürger stellen Ausreiseanträge oder reisen unerlaubt aus – nach Warschau, Prag oder Budapest. Ungarn öffnet seine Grenzen zu Österreich. – Die DDR öffnet am 9. November ihre Todes-Grenzen „für den uneingeschränkten Reiseverkehr“. – Die Regierung der DDR tritt zurück. – Der Kanzler der BRD, Helmut Kohl, verkündet einen 10-Punkte-Plan zu einer Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. –
Studentenunruhen in China. Massaker in Peking auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. Mehr als 1.000 Menschen sterben dort am 4. Juli und auch etwa 1.000 politische Todesurteile werden pro Jahr gefällt und vollstreckt. – Blutige Unruhen in Jugoslawien. Am 22. Dezember werden der rumänische Staatschef und seine Frau gestürzt und hingerichtet. – Freiheit für Nelson Mandela in Südafrika. 27 Jahre saß er (unschuldig) im Gefängnis.

1990
Am 12. Februar 1990 wird Nelson Mandela der erste farbige Präsident von Südafrika. Die Rassentrennung wird aufgehoben. – In diesem Jahr wird ein internationales Kommunikationsnetz, das „Internet“, in Betrieb genommen.
Der Staat der DDR hört nach vier Jahrzehnten seines Bestehens auf zu existieren. –
Am 1. Juni: Währungsunion. DDR-Bürger erhalten für ihre bisherigen Guthaben / Ersparnisse die bundesdeutsche D-Mark im Verhältnis 2,-- DDR-Mark alt, gegen 1,-- D-Mark neu. Eine Sozialunion ist nicht vorgesehen.
Am 3. Oktober tritt die Bevölkerung der DDR zum Rechtssystem der BRD bei. So gibt es ein wiedervereinigtes Deutschland ... ohne Übernahme und Einbeziehung der guten, fortschrittlich-beispielgebenden Merkmale und auch Gesetzgebungen aus der ehemaligen DDR ... aber mit einer Anzahl von Verwerfungen, die für viele ehemalige Bürger der DDR teils erhebliche Schwierigkeiten und Nachteile mit sich bringen ... Verluste von Arbeitsplätzen, die fehlende Angleichung von Löhnen und Gehältern wird auch 30 Jahre später nicht abgeschlossen sein – anderen Leuten geht es wesentlich besser als vorher. – Blühende Landschaften entstehen bald auf dem ehemaligen etwa 1.400 km langen Grenzstreifen, der sich durch Deutschland zieht.

1991
„Der Warschauer Vertrag“ = „der Warschauer Pakt“, das östliche Militärbündnis löst sich auf. – In den Ötztaler Alpen wird am 19. September ein Leichnam entdeckt, der, wie sich erst später herausstellt, etwa 5.300 Jahre alt ist: „Ötzi“, der Mann, den das Gletschereis frei gab. – Auf dem Balkan ein Bürgerkrieg zwischen Serbien und Kroatien. – Die Sowjetunion zerfällt wieder in eine Anzahl von Einzelstaaten. – Der Irak überfällt Kuwait – Der zweite Golfkrieg. Viele Ölquellen brennen. – In Bangladesh eine riesige Flutwelle. 140.000 Menschen sterben dort. –
Wie in jedem Jahr Unfriede, Krieg und unermessliches Leid auf dieser Erde – so wird es auch künftig weitergehen. –

✻ Der Lebenskreis des Prof. Wilhelm Kempff schließt sich in der italienischen Kleinstadt Positano am 23. Mai des Jahres 1991, in seinem Alter von 95 Lebensjahren. Sein Leben hatte er hochkünstlerisch und intensiv gelebt. Eine Lebenszeit unermüdlicher Arbeit. Die Grabstätte für ihn aber wurde im Waldfriedgarten der Freiherren v. Künßberg bei Schloss Wernstein in Oberfranken gestaltet. Dort ruht der große Meister der Musik aus von seinem inhaltsreichen Leben.
Der Potsdamer Pianist, Organist und Dirigent Werner Scholl (1934–2012) sagte 10 Jahre später über Wilhelm Kempff:
„Wilhelm Kempff besaß einen wunderbar ausgeprägten Sinn für Klang, Stimmen und klangliche Beleuchtung. Seine Interpretation setzte Maßstäbe, die bis heute gültig sind“.

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Nachworte:
Wie wir sahen, wurde in dieser vorliegenden Darstellung des Lebens von Wilhelm Kempff, besonders über spätere Zeiten, nur weniges aus dem täglichen Leben der Familie zusammengetragen, so dass diese Notizen Stückwerk bleiben. Die Kontakteinschränkungen zur Familie Kempff waren auch der damaligen Teilung Deutschlands geschuldet. Einen Kontakt mit Nachkommen versuchte der Autor ... . Daher bleibt es den Wissenden überlassen, zur Ehrung, zum bleibenden Gedenken an die Familien Kempff, diese Notizen in ihren Gedanken oder vielleicht sogar schriftlich zu ergänzen, zu vervollständigen.

Einige weitere kleine Anknüpfungspunkte der Familie des Autors mit der Familie Kempff:
Zwischen 1907 und 1920: Die Tanten des Autors Chis. J., Käte Janecke und Elisabeth Johl hatten im Rahmen des regulären Schulunterrichts in der Potsdamer Charlottenschule, den Musik-Unterricht bei Wilhelm Kempff, sen.

Prof. Georg Kempff besaß in Reichenbach (Allgäu) ein Ferienhaus – es wurde ein Treffpunkt für die erweiterte Familie, auch für den Aufenthalt von Freunden. Aus dieser Zeit (1969) ist ein Kartengruß an die Familie des Autors erhalten geblieben.

Im „Palais Barberini“, Potsdam, Humboldtstraße 5-6, am Alten Markt in Potsdam, gab Wilhelm Kempff jun. als Elfjähriger, am 19. Oktober 1907 ein Konzert. Die Familie Kempff war in ihren Aktivitäten mit diesem Haus jahrzehntelang verbunden. Ein Vorfahr des Autors Chris. J. war über sechs Jahrzehnte der Hausverwalter in diesem Palais: Rudolf Mahnkopf, hat die Kempffs zu den wöchentlichen Proben und Veranstaltungen des Gesangsvereins der Männer, wie auch bei den Konzerten über viele Jahre zu ungezählten Malen miterlebt. Mein Vorfahre Mahnkopf war selber ein aktiver Teilnehmer im Kempffschen Gesangsverein.

An gar manchen Konzerten hatte der Vater des Autors, dann nach der Heirat, beide Elternteile als Hörer teilgenommen. Auch am 28. August 1947 gab Wilhelm Kempff ein Konzert in Potsdam, dessen Erlös dem Wiederaufbau der Nikolaikirche zufließen sollte. Die Eltern des Autors waren hörende Teilnehmer auch an diesem Konzert. Ihnen oblag von der Konzert- und Gastspieldirektion aus, der Potsdamer Kartenverkauf für die Konzerte und das ergab manch' interessante Gespräch mit den Konzertbegeisterten.
Eine Tournee führte Prof. Wilhelm Kempff Ende der 1950-er Jahre durch die DDR zu Konzerten in Berlin, Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig und Potsdam. Das war wohl die letzte Konzertreise durch die alte Heimat im engeren Sinne. Diese Auftritte, auch nochmals in Wilhelm Kempffs Heimatstadt Potsdam, waren große Ereignisse. Zu dieser Zeit sahen die Eltern des Autors den Wilhelm Kempff zum letzten Mal. – Die Grenzziehung mit dem Mauerbau reduzierte die Kontaktmöglichkeiten weiter. Es erfolgte aber das Übersenden eines Andenken-Grußes mit dem Notenblatt von 1922: „Geh' ohne Stab nicht durch den Schnee ...“ und sehr viel später das oben gezeigte Porträt.

Victoria-Gymnasium in der Potsdamer Kurfürstenstraße, am Nauener Tor: Der Autor dieser Zusammenstellung und auch sein Sohn, haben im gleichen Gebäude, so wie Wilhelm Kempff, ebenfalls die Schulbank gedrückt – allerdings erst, nachdem das Gymnasium in Helmholtzschule umbenannt war. Erst viel später also – aber immerhin im gleichen Jahrhundert.

In den genannten und überwiegend nicht mehr vorhandenen Kirchen haben die Kempffs musiziert, lange vor ihnen gastweise auch Bach und Mozart ... und viele, viele andere Könner. In diesen Kirchen hatten über Jahrhunderte hindurch auch Vorfahren des Autors ihre Kindstaufen, Trauungen und Abkündigungen nach dem Lebensende. Während ihres Lebens hörten sie, auch bei allsonntäglichen Besuchen, ungezählte Male dem Orgelspiel zu und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts also auch den Darbietungen der drei Kempffs in der Nikolaikirche.

Und natürlich beging der Autor in seinem Leben auch all die anderen erwähnten Orte in Potsdam und dem Umland, diese sind ihm gut bekannt – nur eben mit dem Zeitverzug einer genau 50 Jahre späteren Geburt – somit entstanden die hier gezeigten Potsdam-Fotos etwa ein Menschenleben später.

Gästebuch

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Weiterführende Worte und Bilder

Im vorstehenden Text sind als Spielplätze und Ausflugsziele für die Kempff-Kinder, deren Schulkameraden und auch vieler anderer Menschen erwähnt:

Für Ausflüge, quasi auf den Spuren von Wilhelm Kempff, bitte den gewünschten Ort anklicken. Es handelt sich um Spaziergänge mit demselben Autor in Wort und Bild.

Des Weiteren können hier nach dem Anklicken betrachtet werden: