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Zur Ahnenliste „Janecke“ gehörend:


Karl Friedrich August (der Jüngere) Janeke / Janecke

18. September 1869 bis 02. Februar 1950

Leben in: Osterburg (Altmark), Berlin, Nowawes u. Neuendorf = Potsdam-Babelsberg

... und Anmerkungen zu seinen Geschwistern

oo

Pauline Klara Antonie, geborene Dittwaldt

03. November 1872 bis 25. Februar 1933

Lebensorte: Berlin, Neuendorf, Nowawes

... und Informationen zu ihren Geschwistern



Einige Notizen zu unserer Lebenszeit

Ein Beitrag zur Familienforschung und Heimatgeschichte



Autor und Kontaktpartner für Fragen, Meinungen oder Hinweise: Chris Janecke,

Bearbeitungsstand: Januar 2024, E-Mail: chris@janecke.name



Zum Text gibt es einige Bilder – bitte hier klicken.

Bei den oben Genannten handelt es sich um Großeltern des Autors. Wenn du Interesse hast, mehr darüber zu lesen, was sich in dieser Zeit im Leben der Menschen abspielte, so sieh’ bitte auch in die Dokumentationen „Zeitgeschichte“ und „Zeitgenossen“ auf dieser Internetseite.




Die Erinnerung, das ist ein Paradies,

aus dem wir nicht vertrieben werden können.“


Jean Paul




Wegweiser für die Beziehung zwischen den Hauptpersonen dieser Niederschrift und den heute lebenden Personen „Janecke“ des „Familienzweiges“.

Man kann diese Liste auch gern von unten (aus der Gegenwart) nach oben lesen.


Generation

Zeitraum


Namen des jeweiligen Ehepaares

04

1869 bis 1950

Karl Friedrich August Janecke oo

Pauline Klara Antonie Dittwaldt

03

1900 bis 2003

Alfred Richard Janecke oo Anne-Marie Sommer

02

1945 bis

Der Autor dieser Niederschrift – Chris Janecke

01


Die Söhne des Autors

(zu näheren Angaben besteht ein noch gewünschter Datenschutz)


Zu diesen vorgenannten Ehepaaren / Familien findest du unter der Rubrik „Lebensläufe“ einzelne Dokumentationen auf dieser Internetseite.


Worte auf den Weg

Im Laufe der Zeiten sagte man in vielen Familien: „Es wurde früher so viel über die Familiengeschichte geredet. Man könnte noch so vieles aufschreiben und erhalten!“


Tatsächlich aber wurde wohl aus solcher Erkenntnis und jenen guten Vorsätzen seltener etwas verwirklicht. So müssen auch wir uns bei diesen Lebensgeschichten vorerst mit dem vorliegenden, etwas mageren Stückwerk begnügen. Diese Schriften gelten somit als grobe Entwürfe, zu denen gewiss hier und dort Korrekturen erforderlich sind.

Mein Wunsch sind viele, viele Ergänzungen seitens wissender Leser.


Die Notizen zu den Lebensläufen, sofern es sich nicht nur um tabellarische Aufstellungen handelt, lesen sich leider nicht so flüssig, wie es in der Literatur angenehm ist. Aber wir haben hier keinen Roman vor uns. Es handelt sich ja um eine Aufzählung von Familienereignissen (darunter oftmals Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle), die in der Häufung des Erwähnens zwar ermüdend wirken können, jedoch trotzdem im Interesse des Bewahrens aufgenommen wurden.

Also: nur Mut beim Lesen.




Das Ehepaar = Die Eltern

Karl Friedrich August (der Jüngere) Janeke / Janecke

und Pauline Klara Antonie, geborene Dittwaldt




Vater: Gen. 04 / Ahn 8.2


Mutter: Generation 04 / Ahnin 9.3


Die Bedeutung dieser

Familien-Namen:

Ableitungen von Kurzform Jan. -eke, -ecke, -icke ist Verkleinerungs-Suffix: „Der kleine Jan“, Johann, Johannes (hebr.) „Gott ist gnädig, hilfreich“ oder „Gabe Gottes“.

Vom german. Namen Dietwald. diot = Volk + walt = Gewalt, Herrschaft ausüben, verwalten.


Name:



Janeke/Janecke


Dittwaldt


Vornamen:


Karl Friedrich August (der Jüngere)



Pauline Klara Antonie





Deren Eltern (Großeltern):


Vater:

Carl Friedrich August d. Ältere

Janeke / Janecke in

Osterburg (Altmark), Provinz Sachsen



Vater:

Zimmermann Gastwirt

Carl Ludwig August

Dittwald / Dittwaldt aus Massow bei Landsberg (Warthe)

Mutter:

Dorothee Elisabeth

geborene Neumann

aus Schmersau (Altmark)


Mutter:

Alwine Pauline Zinnow

aus Nowawes


Geburt:



Osterburg, Sonntag

18. September 1869, 3 Uhr, nachmittags, ehelich



Berlin, Wilhelmstraße 146, am Sonntag, 03. November 1872, früh um 5 Uhr.



Taufe:

Osterburg, 24. Oktober 1869. Pf. Rathmann. Quelle: KB der St.- Nicolai-Kirche 1869, S. 217, Nr. 99 / 1869.

Berlin, Dreifaltigkeitskirche, am 24. Nov. 1872, Pfarrer König. Die Paten:

1. Tischlermeister Gericke,

2. Lehrer Sotscheck,

3. August Keil

KB der Dreifaltigkeits-Kirche Berlin, Nr. A 438 / 1872.



Konfirmation


Berlin, in der evang. St. Thomas-Kirche am Mariannenplatz, am 30. August 1883, Pred. Kirmss, Nr. 31/1883.




Beruf / Stand:


Fuhrherr, Vertreter, Buchhalter, Geschäftsführer, Verwalter,

im Ersten Weltkrieg Soldat im Gardedragoner-Regiment, Train-Soldat,

Arbeit in der Schankwirtschaft, Kaufmännischer Angestellter



Hausfrau und Mutter von zwei Kindern.


Wohnanschriften vor der Ehe:


Osterburg in der Altmark, Berlin, Rixdorf. Anschriften im Text.



Berlin. Verschiedene Anschriften im Text.


Trauung / Eheschließung:



Standesamt Berlin IV. B Nr. 713 / 1896 am 15. September 1896. Trauung: KB Emmaus-Gemeinde Berlin Nr. 322 / 1896.


Wohnanschriften, gemeinsame:


Berlin, Rixdorf, Neuendorf bei Potsdam, Britz bei Berlin, Nowawes bei Potsdam. Die einzelnen Anschriften befinden sich im Text.



Tod / Gestorben:


Potsdam-Babelsberg, Wichgrafstraße 22, am

02. Februar 1950, 14 Uhr.

Alter: 80 Jahre, 4 Monate, 15 Tage.

Beerdigt: Friedhof Wichgrafstraße am 06. Februar 1950, Pfarrer Iskraut,

KB: Nr. 15/1950 // Standesamt Potsdam-Babelsberg 46/1950.



Nowawes, Wichgrafstraße 22, am 25. Februar 1933, abends 10 Uhr.


Alter: 60 Jahre, 3 Monate, 22 Tage.

Beerdigt: Friedhof Wichgrafstraße, am 01. März 1933.


KB der Friedrichskirche Nr. 23/1933 // Standesamt Nr. 66/1933







Die Kinder der Eltern

August Janecke oo Klara Dittwaldt


Anmerkung: Der Name des Kindes, das die Ahnenfolge in gerader Linie zu den jüngsten Probanden der Familie dieses Zweiges weiterführt, ist fett gedruckt.


Nr.

Familienname:

Janecke

Lebensdaten der Kinder


1


Gen. 03/4.1


Pauline Elisabeth Käthe Janecke



Geboren in Berlin-Kreuzberg am 13. Oktober 1897.

Gestorben in Potsdam-Babelsberg am 12. November 1978.

Sie hatte eine nur kurzzeitige Ehe und blieb kinderlos.


2


Gen. 03/4.2


Alfred August Richard


oo 05./06. April 1941


Anne-Marie Sommer




Rixdorf bei Berlin, Jägerstraße 69 (das ist die spätere Rollbergstraße), 01. Oktober 1900,

um 10.30 Uhr am Abend. Geburtseintrag des Standesamtes Rixdorf 2685/1900.

Taufe: Berlin-Kreuzberg. Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ an der Zossener Straße, am 04. November 1900 um 3 Uhr nachmittags. Paten:

1. Frau Zelm, (Marie Friederike Charlotte)

2. Frau Weiland, (Luise Pauline Marie) Die Patinnen 2 + 3

3. Frau Zocher, (Alma) sind geb. Dittwaldt-Schwestern.

4. Fräulein Zocher.

KB Seite 268, 2132/1900.


Verheiratet mit Anne-Marie Sommer aus Nowawes. In Nowawes am 05./ 06. April 1941.


Gestorben ist Richard in Potsdam-Babelsberg

am 02. März 1983.





Vorworte

Lasst euch, liebe Leser im folgenden Text nicht dadurch beirren, dass sich Klara und August beim Schreiben einzelner Passagen abwechseln. Ihr werdet das wahrscheinlich merken – aber es ist nicht ungewöhnlich ... und im richtigen Leben hat Klara auch sowieso viel mehr zu sagen als der ruhigere August. –

Jetzt, im Jahre 2000 nach der grob datierten Geburt Christi, weile ich schon ein halbes Jahrhundert nicht mehr auf dieser Erde. Daher bitte ich meinen kleinen Enkel Christoph Janecke, oh, er ist ja inzwischen auch bereits 55 Jahre alt, – statt meiner aufzuschreiben, was ihm über die Familie aus unserer Zeit noch erreichbar ist. Zwar zwang meine biologische Uhr dazu, uns voneinander zu verabschieden, als Christoph gerade das 5. Lebensjahr begonnen hatte – aber im Geiste blieben wir verbunden. Für den von mir gewünschten Text sind wenige Bilder und einige Dokumente vorhanden. Gewiss kann solch eine Schrift kein Tagebuch ergeben. Ich meine aber, dass doch noch einige Ereignisse aus meiner Lebenszeit festgehalten werden können, ein Aneinanderreihen von Kurznotizen vielleicht, die „ein Bild unserer Familie während der damaligen Zeit“ vermitteln. Sollten wesentliche Angaben fehlen oder jene Unklarheiten aufweisen, so wird der Junge das schon richtig erforschen.

Gewiss interessiert es Euch auch, was es damals in Politik, Technik, Wirtschaft und Kultur gab, welche Dinge in jener Zeit erfunden wurden, was man in den Naturwissenschaften entdeckte, welche Leistungen die Sportler erreichten. Das alles und noch viel mehr, könnt ihr gern in den Beilagen „Zeitgeschichte“ und „Zeitgenossen“ zu den einzelnen Jahren nachlesen.

Ausgangspunkt der Betrachtungen ist die kleine Kreisstadt namens Osterburg, in der preußischen Provinz Sachsen liegend, die von der Biese durchflossen wird. Sächsisch wird hier allerdings nicht gesprochen, denn man lebt ja nicht etwa im Königreiche Sachsen, wo jene Mundarten gerechtfertigt wären. Die landschaftlich konkretisierende Bezeichnung „Altmark“ erinnert daran, dass es sich um den ältesten Teil der Mark Brandenburg handelt, um die Wiege Preußens sozusagen. Damit beim Namen der Stadt keine Irrtümer entstehen: Osterburg hat nichts mit dem christlichen Auferstehungsfest zu tun. Die Bezeichnung soll nach Angabe der Historiker darauf hindeuten, dass sich im Osten des Ortes eine Burg befindet, das heißt – eine solche befand sich einst dort. Das romantisch anmutende Flüsschen Biese bekommt etwa ab Seehausen die Bezeichnung „der Ahland“ und dieser speist mit seiner Wassermenge nördlich von Wittenberge die Elbe. In jener Region befinden wir uns also. Aber genug der Vorworte – denn nun geht es richtig los:


1868

Hier in Osterburg lebt unter vielen anderen Bürgern, denn die Stadt beherbergt derzeitig 3.500 Einwohner, auch die Familie Janeke. Der Vater Carl Friedrich August Janeke (der Ältere) ist von Beruf Dachdecker aber seit Jahren als Landbriefträger tätig. Seine Frau Dorothee Elisabeth trug vor der Hochzeit den Familiennamen ihrer Eltern „Neumann“. Junggesell Janeke hat als Bräutigam, die Elisabeth einfach aus dem nahegelegenen kleinen Dörflein Schmersau zum Osterburger Traualtar entführt oder zumindest geführt. Solches ereignete sich am 26. Januar Anno 1868. Bei Eis und Schnee.

Zu den Folgen gehörte, dass noch im gleichen Jahre ihr erstes Kind, die Tochter Luise Auguste Hermine geboren wurde. Es ist das Lieschen, das später als Schneiderin in Wittenberge einen Herrn Jochmann heiraten wird. Dieses kleine Mädelchen sollte aber nicht lange allein in der Familie leben, also folgte ich, ihr Bruder, bereits ein Jahr später.


Um uns in diese Zeit meiner Geburt etwas einfühlen zu können, fragen wir uns: Was beschäftigte die Menschen in Osterburg um diese Zeit in ihrem Alltag? Hilfreich bietet die Zeitung, das Osterburger Kreisblatt, viele Artikel und dazu einige Anzeigentexte, von denen ich aus den Jahren 1868/69 einige wiedergeben will. Das Osterburger Kreisblatt ist hier die Erste Lokalzeitung am Orte, erst 1859, vor 10 Jahren, von Herrn Doeger ins Leben gerufen.

Einige Auszüge aus dem Anzeigenteil des Osterburger Kreisblattes:


Stellengebote

Einem unverheirateten Bäckermeister in gesetzten Jahren wird als Werkführer in einer Brodbäckerei eine Stelle nachgewiesen. Hierauf Reflectierende können sich schriftlich melden bei Gottlieb Thiel, Müllermeister.


Lehrlingsgesuch

Einen kräftigen Burschen von rechtlichen Eltern wünscht in die Lehre zu nehmen, Wassermühle Osterburg. Semler.


Lebensmittel

Die Wassermühle Osterburg bietet:

Weizenmehl 0/1, ¼ Ctr., 1 Thlr, 5 Sgr. (Anmerkung: 1 Centner sind 50 kg)

Roggenmehl ¼ Ctr., - - 28 Sgr. (Abkürzung: Thaler und Silbergroschen)

im Ganzen billiger.


Den allseitig gerühmten Liebigschen Fleisch=Extract hält stets am Lager: C. C. Bode.


Gesundheitsmittel – Drogeriewaaren

Beachtenswerth! Unterzeichneter besitzt ein vortreffliches Mittel gegen nächtliches Bettnässen sowie gegen Schwächezustände der Harnblase und Geschlechtsorgane.

Briefe franco. Special=Arzt Dr. Kirchhoffer in Kappel bei St. Gallen (Schweiz).


Benzoe – Seife. - Das anerkannt beste und wirksamste Schönheitsmittel empfiehlt a Stück

5 Sgr., W. Münsberg


Echt englischen Patent=Wasch=Crystall a Packet 1 Sgr. 6 Pf, 12 Packete für 15 Sgr.


Verkaufe den aechten weißen Brust=Syrup vom alleinigen Erfinder und Fabrikanten desselben, Herrn G. A. W. Mayer, Breslau, seiner vorzüglichen Eigenschaften wegen prämiirt auf der Pariser Weltausstellung 1867. Ist nur allein aecht vorräthig in Osterburg in der Expedition dieses Blattes.


Thiere

Am 25. Juni ist mir bei Uchtenhagen ein grauer Hirtenhund zugelaufen. Der Eigenthümer kann denselben gegen Erstattung der Inserations- und Futterkosten bei mir in Empfang nehmen. Handelsmann Dietrich, Flessau.


Eine sehr Milch ergiebige Kuh mit Kalb (echt holländische Race) steht zum Verkauf bei Gutsbesitzer Uderstadt in Heiligenfelde.


Haus und Hof

Einige Tausend alte Dachziegel zu verkaufen. Wo? Erfährt man in der Expedition dieses Blattes.


Mein Wohnhaus nebst Stallung und Garten, bin ich gewillt aus freier Hand zu verkaufen. Schneidermeister Hindenburg, Flessau


Litteratur

Erste und einzige radicale und wohlfeile Hilfe für Geschlechtskranke! Dr. Wunders Belehrungen zur Heilung von Ausschweifungen, Onanie und von Ansteckungen verursachten Störungen des Nerven- und Zeugungssystems, in F. Arndts Verlagsanstalt in Leipzig erschienen.


Die G. Doegersche Buchhandlung bietet die wunderbare Geschichte von dem Mädchen, welches gerne "Küssen lernen" wollte. Preis 2 ½ Sgr.

Ein hilfreiches, ehrliches und wohlfeiles Heilverfahren, dem bereits Unzählige, durch geschlechtliche Verirrungen Geschwächte, ihre vollständige Genesung verdanken. Zu haben bei der G. Doegerschen Hof=Buchhandlung in Osterburg.


Gebrauchsartikel, Materialien

Fernröhren zum Preis von 2 2/3 – 8 Thlrn., Doegersche Hof-Buchhandlung in Osterburg.

Asphalt=Dachpappe die Quadrat=Ruthe 2 ½ Thaler, empfiehlt die Fabrik von Leycum und Co., Brandenburg an der Havel.


Gestohlen!

Zwei Thaler Belohnung sichere ich Demjenigen, der den Thäter, welcher mir in der Nacht vom 6. zum 7. September Aepfel aus dem Garten stahl, so nachweist, daß ich denselben gerichtlich belangen kann. Schmidt


Sonstige Bekanntmachungen

Sonntag, den 14. des Monats von nachmittags 3 Uhr an Tanzvergnügen bei C. G. Fuchs auf dem Fuchsbau in Osterburg.

Am Donnerstage den 18. des Monats, reise ich ins Bad und hoffe in spätestens vier Wochen wieder zurück zu sein. Johann Kiekebusch


Einige Fuder Dung hat abzulassen: A. Heinecke, Gasthof zur Eisenbahn in Osterburg.


Warnung!

Ich warne hiermit einen Jeden, über meinen am Wege von Losse nach Priemern rechts und links belegenen Weideplan zu fahren, zu reiten oder zu gehen. Der Ackermann Besenbiel.


Torf=Verkauf

Auf meinem Ackerplane an der Stendaler Chaussee bei Schiltdorf, steht sehr guter Torf zum Verkauf. Osterburg, den 15. Juni 1868, A. Neumann, Zimmermeister


Solcherlei Angebote und auch Probleme sowie Sorgen gab es viele.

Trotzdem, nun aber weiter in der Geschichte unserer eigenen Familie:


1869

Ich, Carl Friedrich August Janeke (der Jüngere), wurde am Sonntag, den 18. September 1869 gegen 3 Uhr des Nachmittags geboren. Am Sonntag, den 24. Oktober 69 tauft mich der Diakon, Herr Rathmann in der evangelischen Osterburger Nicolaikirche. Als Paten wollen mir beim Aufwachsen treu zur Seite stehen: 1. Frau Fleischer Trauter; 2. August Hübner; 3. Sophie Bandau; 4. der Maurer J. Meier und 5. Frau Bahnwärter Reinecke (also die Frau des Bahnwärters, des einzigen Beamten dieser Schar). Unser Diakonus trägt das alles säuberlich in das dicke schwere Kirchenbuch auf Seite 217 unter der No. 99 ein. Ich bin also das 99. Osterburger neue Menschlein dieses Jahres. Hätte ich doch noch einen Moment gewartet – aber dann wäre ich vielleicht kein Sonntagskind geworden. Mal sehen, ob sich mein Leben so entwickelt, wie es einem „Sonntagskind“ so oft angenehm prophezeit wird.


1871

Nun sind wir Kinder schon zu dritt, denn unser Brüderchen Carl Friedrich Wilhelm Janeke wird am Sonntag, den 10. September 1871 um 2 Uhr früh in Osterburg geboren. Der Prediger Herr Manger tauft ihn im Oktober. Unter den fünf Paten befindet sich auch der Arbeiter Zelm, den er selten sehen wird aber über den wir später noch so einiges reden werden. Unsere Familie wohnt in einem kleinen Häuschen, Melkerstraße, das erst später die No. 10 erhalten wird. Das ist etwa dort, wo gegenüber die Ackerstraße einmündet. In unserem Heim befindet sich an der Straßenfront die Wohnstube, daneben die Mädchenkammer der Luise. An der Straßenfront gibt es keine Tür. Die Fensterbrüstungen sind so niedrig, dass man mit einem Schritt in der Wohnstube sein könnte aber das gilt als nicht statthaft. Die Eingangspforte zum Hof befindet sich rechts neben dem Haus. Der Hauseingang zum Hof gelegen. Vom Hof tritt man zuerst in die Küche. In der Küche öffnet uns geradezu eine Tür den Weg zur Stube, eine Tür nach rechts führt zur Elternschlafkabuse. Auch der Treppenaufgang, hoch zu uns Jungen ins Dachgeschoss, beginnt in der Küche. Die Küche bildet also den zentralen Raum. Das Häuschen hat im Erdgeschoss eine nutzbare Nettofläche von 30 qm. Im Winter sind nur die Wohnstube im Erdgeschoss und der Küchenherd heizbar. Die Wärme verteilt sich spärlich im Häuschen. Eine Treppe höher: Ein Mansardenfenster lässt mäßig Licht vom Hof in das kleine Dachstübchen fallen, in dem auf 13 qm nutzbarer Wohnfläche, grad’ zwei Betten, Schrank und Tisch knappen Raum finden. So ist es auch im Winter auf dem Dachboden, in unserem Reich, eigentlich grimmig kalt. Der Schornstein selbst ist unsere Dachbodenheizung. Wenn man sich mit dem Rücken an ihn lehnt, ist es schon ein bisschen gemütlich und ansonsten haben wir dicke Entendaunen-Betten.

Dieses kleine Häuschen hat aber niemand aus meiner Familie so erdacht oder gebaut – es ist nur gemietet. Im Sommer sitzt es sich schön im Hof auf der Hausbank oder unter dem Baum am Tische.


1876

Ein neuer Lebensabschnitt: Zu Ostern werde ich eingeschult. Zum Schulhaus ist es kein weiter Weg. Ich überquere nur die Stendaler Straße, gehe am Kriegerdenkmal und am Hospital vorbei. Nach wenigen Schritten bin ich an der Sedanstraße 14 (die bis vor wenigen Jahren noch Schulstraße hieß), in dem 1863 gegründeten „Knabeninstitut der Lehranstalten der Brüder Wolterstorff“. Ihr wisst ja, der Name hat in Osterburg einen guten Ruf. Christoph Wolterstorff war hier von 1821 – 1846 als Pfarrer tätig und Jakob (Albrecht Gottfried) Wolterstorff von 1846 – 1856.


1877

Am 22. Juli stirbt in Schmersau meine 2. Großmutter, die Oma Dorothee Elisabeth Neumann, geborene Guhl.


1879

Inzwischen bin ich schon ziemlich groß und fast 10 Jahre alt. Seit langer Zeit streife ich allein oder auch mit Freunden durch die Stadt und erlebe meine kleinen Abenteuer. Heute lade ich Euch zu einem Rundgang durch den Ort ein, auf dem ich Euch einige unserer Sehenswürdigkeiten zeigen und erläutern möchte. Beginnen wir unseren Spaziergang am besten im alten Zentrum meiner Heimatstadt. Hier steht die mächtige Nicolaikirche, deren Entstehung man auf das Jahr 1188 datiert und in der man mich daselbst taufte, als sie bereits 681 Jahre alt war. Wenden wir uns also, oben auf dem Kirchturm stehend, im Uhrzeigersinn einmal um die eigene Achse und schauen, was man in den „Strahlenbündeln der jeweiligen Himmelsrichtungen“ so alles erblicken kann. Umgeben war die frühere alte, das heißt mittelalterliche Stadt mit schützenden Wallanlagen und einer Stadtmauer aus Feldgestein. Noch heute lässt sich diese Ring-Gestaltung gut an der entstehenden „Wallpromenade“ erkennen. Bei fast allen alten Gebäuden handelt es sich um Fachwerkbauten.

Im Norden geht es nach Seehausen und darüber hinaus nach Wittenberge. Wir sehen die „gewaltige Erhebung“ des Donnerberges mit fast 23 m Höhe über dem Meeresspiegel. An der Seehäuser Straße steht die große Wassermühle auf einer Insel, von den „Armen“ des Flüsschens Biese umflossen. Etwas weiter draußen, die Ziegelei des Kaufmanns Niepagen. Wenn wir in Seehausen nach Westen abbiegen, können wir die Richtungen nach Jeggel, Höwisch oder Gagel oder auch nach Bretsch einschlagen – alles bekannte Orte, in denen unsere Verwandten, unsere Vorfahren lebten.

Nordöstlich liegt der Friedhof mit der alten Sankt Martins-Kapelle. Über die Bahnstrecke hinwegführend, verlässt die Straße die Stadt. Wir erkennen eine unscheinbare Anhöhe auf der früher die Burg stand. Über das Flüsschen Uchte würden wir nach etwa vier Kilometern Meseberg erreichen (von hier kamen unsere Verwandten Betke und Giffei) und sehen in die Richtung der Stadt Havelberg, die allerdings schon jenseits der Elbe liegt, über ein Gebiet tief liegender Äcker aber vor allem von Wiesen, der altmärkischen Wische.

Nahegelegene Ziegeleien decken den Baustoffbedarf der wachsenden Stadt. Das Königliche Lehrerseminar siedelte man 1859 in der Werbener Straße an. Dicht bei der Nicolaikirche, also „zu unseren Füßen“, liegen der Große Markt und der Kleine Markt. Im Osten die Wasserstraße mit dem Pfarrhaus, in dem der Herr Pfarrer Rathmann viel für das Seelenleben der Gemeindeglieder tut. Daneben das Postamt, zu dem ich Papá ab und zu begleite oder ihn nach seinem letzten Rundgang des Tages abzuholen suche. Das Gehöft No. 239, mit Eckhaus zur Kirchstraße, gehört Kaufmann Niepagen. Mit der Nummerierung ist es hier recht schwierig. Die Nummern werden so vergeben, wie die Grundstücke für den Häuserbau weggehen. Häuser mit aufeinanderfolgenden Hausnummern stehen deshalb durchaus nicht immer nebeneinander, sondern an unterschiedlichen Stellen der Stadt. Nach der Hausnummer kann man also keine Anschrift aufsuchen, man benötigt eine Wegebeschreibung mit markanten Punkten. (Dieses Verfahren erinnert entfernt an das Register des ersten und damit ältesten Osterburger Kirchenbuches. Hier sind die Geborenen / Täuflinge zwar schon alphabetisch geordnet, allerdings nach ihren Vornamen, nicht nach dem Namen der Familie des Täuflings). Es ist in den Zeiten und im Leben des Einzelnen eben alles ein Lern- und Erfahrensprozess.

In süd-östlicher Richtung finden wir den Bahnhof Osterburg in der Strecke Magdeburg – Hamburg, die im Jahre 1849 eröffnet wurde. Südlich vom Bahnhof, am alten Düsedauer Weg, befindet sich der Judenfriedhof.

Im Süden das Schützenhaus an der Breiten Straße mit seinem Saal und dem Café-Garten zur Wallpromenade gelegen, 1824 erbaut. Hier schießt nicht nur der Schützenverein, sondern auch andere Vereine sind zu Gast und bieten der Bevölkerung mancherlei Vergnügungen. Erst kürzlich brachte die „Osterburger Liedertafel“ einen „Volksliedernachmittag“ zu Gehör. Und das bereits seit ihrer Gründung im Jahre 1864. Der mittelalterliche Ringwall, damals als Schutz für die Stadt gedacht, wurde ab 1850 als Promenade gestaltet und dort auch mit dem Häuserbau begonnen.

In die südliche Richtung geht, wer nach Stendal möchte. Von der Stendaler Straße zweigt im Ort die Melkerstraße ab, dieser Sandweg, an welchem wir wohnen.

Familie Kraberg, die in der Melkerstraße uns gegenüber lebet, besitzt ein wesentlich vorzeigbareres Haus, als es das ist, in dem wir wohnen. Mit ihnen halten meine Eltern gute Nachbarschaft. Diese Freundschaft überträgt sich auch auf uns Jüngere. (Selbst später, wenn ich längst in Berlin oder in Nowawes bei Potsdam leben werde, tauschen wir, abgesehen von den seltenen Besuchen, freundliche postalische Grüße aus). In der Stendaler Straße steht auch der große rote Bau des Hospitals, zu dessen Schutzpatron der heilige Georg gewählt wurde. In diesem ist ein Veteranen-, Alten- und Armenheim eingerichtet. Davor steht das Kriegerdenkmal, dessen Teile 1872 in Tangerhütte gegossen wurden. Es soll an den Ruhm der Kriege Preußens 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1870 / 71 gegen Frankreich erinnern. Einige Schritte weiter meine Schule, „das Knabeninstitut“. Die Schulstraße wurde vor einigen Jahren in Sedanstraße umbenannt – zur Erinnerung an die nämliche Schlacht im vorigen siegreichen Kriege. (66 Jahre später wird sie uns in einer anderen Gesellschaftsordnung, nach einer weiteren Umbenennung, an den kommunistischen Arbeiterführer Ernst Thälmann erinnern).

Zieht es uns nach Westsüdwest, so gelangen wir, wenn wir es wollen, nach Zedau, Flessau, Natterheide Schmersau, Rönnebeck, Späningen und Gladigau. Auch jene sind Orte, in denen früher Menschen aus unserer Familie gelebt haben.

In den Nordwesten führt uns der Weg nach Krumke zu seinem Schloss und den Parkanlagen. In der schnell fließenden Biese, flussaufwärts der Seehäuser Straße, liegt unsere Badeanstalt, das Biesebad. Deshalb haben wir beim Spielen immer frisches Wasser auch wenn mal jemand hineinpinkelt. Neben der Badeanstalt kann man auf der Schwiegermutterbrücke die Biese trockenen Fußes überqueren. Die Werderwiese wird im Winter von der Biese überflutet. Das ergibt ein Eislaufvergnügen ersten Ranges für Groß und Klein. Auch Eistafeln und Eisstangen werden dann hier für die Lebensmittelkühlung geschnitten. Das Restaurant „Fuchsbau“ der Familie Fuchs, ist ein beliebtes Ausflugslokal. Es liegt „im Lausebusch“ an der Straße nach Krevese. Abgesehen von der Bieseniederung, ist „die Höhe“ im Norden und Westen der Stadt mit Laubwäldern geschmückt, trockener als die Wische.


Damit soll es für den heutigen Rundblick genug sein, damit ihr ob der vielen Eindrücke nicht konfus werdet – oder wenn ihr viel davon behaltet, nicht gleich noch klüger werdet, als der Gelehrte Konfuzius.


Wer aber wohnte in diesen erwähnten Stadtgebieten? Eine Menge der Leute natürlich. Bekannt beziehungsweise gut befreundet war unsere Familie unter anderen mit den nachstehend Aufgeführten, so dass deren Familienglieder auch als Kindspaten bei uns in Erscheinung traten. Es gehörten dazu: Elisabeth Gewe, David Gagelmann, Johann Berge, Friedrich Blackstein, Frau Wolterstorff, geb. Koch (Pfarrfrau), Madam Bracht, der Apotheker Herr Rathmann. Fleischer Trauter, Hübner, Bandau, Maurer Meier, Bahnwärter Reinicke, Frau Frank, Frau Koehn, Schuhmacher Berge, Haase, Zimmermann Bartels, Marie Heise, Arbeiter Tiemann, Frau Krause, Ferdinand Heider. – und viele, viele andere.

Eine unmittelbare Verwandtschaft besteht auch zu den Familien Zelm, Giffei und Betke sowie Neumann. Zu Familie Zelm entnehmen wir beispielsweise der Bürgerrolle des Jahres 1864:

„Im Haus No. 282 lebt der Arbeiter Friedrich Zelm mit seiner Familie“. Ja schön, aber wo ist denn das? Die Häuser wurden, wie schon erwähnt, damals in der Reihenfolge der Grundstücksvergabe, ohne Rücksicht auf deren Lage in den Straßenzügen fortlaufend durchnummeriert. Ein heilloses Durcheinander. Wenn man jemanden aufsuchen wollte – sollte man ihn eigentlich persönlich kennen und wissen, wo er wohnt. Die Postboten oder auch Briefträger genannt, somit auch mein Vater und mein Großvater, müssen ein ausgezeichnetes Gedächtnis bewahren. Der Absender der Post soll bisher zur Anschrift möglichst markante Zusatzbezeichnungen auf der Sendung notieren. Diese Art von Hausnummerierung war bei der wachsenden Einwohnerzahl und im Interesse einer schnellen Postzustellung endlich bald als nicht mehr zeitgemäß erkannt. Trotzdem wird man diese Nummerierung erst später (ab 1892) auflösen.

(Anmerkung: Die „Übersetzung" der fortlaufenden Hausnummern in die neue Nummerierung je Straße wieder von „1“ beginnend, befindet sich im Heimatmuseum der Stadt Osterburg).


1880, ich bin 11 Jahre jung

Ein tiefer Einschnitt in meinem doch noch so jungen Leben: Ich siedle zur Vaterschwester, zu meiner Tante Marie Friederike Charlotte (geborene Jahnke oder auch Janeke) und ihrem Mann, Onkel August Zelm über, die seit 1866 in Berlin leben. Ja aber warum eigentlich, fragt man sich. Die Wohnverhältnisse in Osterburg, in der Melkerstraße 10, sind für unsere Familie sehr beengt. Richtig ist es auch, dass Tante und Onkel Zelm, die ja keine eigenen Kinder bekamen, jemanden aus der Verwandtschaft umsorgen wollen, damit aus ihm in der Großstadt „was Rechtes wird“. Da komme ich ihnen gerade recht. So bin ich denn „zum gegenseitigen Vorteil der Großen“ einfach als Pflegekind und Ziehneffe „verborgt“, was mir in den ersten Tagen ganz unheimlich ist, so völlig fort von Eltern, Geschwistern und Freunden in einer großen fremden Stadt, obwohl ich es hier gut habe, schöner ausgestattet, als zu Hause. Tante und Onkel sind lieb und freundlich zu mir. Sie stammen ja ebenfalls aus Osterburg – so sind wenigstens nicht alle Bindungen gekappt.

Außer mir, als Verwandten haben sie noch ein Mädchen, für mich also etwa wie eine etwas entferntere Schwester adoptiert: Martha. Sie heißt jetzt auch Zelm aber ich bleibe bei Janecke.

Tante Charlotte, sie hatte am 12. September 1840 ihren nullten Geburtstag, ist das vierte von neun Kindern von Joachim Heinrich Janeke (Gen. 06 / Ahn-Nr. 32) und seiner Ehefrau Catherine Elisabeth (geb. Betke, 06 / 33) und somit die große Schwester meines Vaters Carl Friedrich August Janeke (der Ältere), der am 14. September 1842 geboren wurde. Tante Charlotte hatte am Sonntag, den 28. Januar 1866 in der Nicolaikirche zu Osterburg den Arbeiter und Kutscher Friedrich August Zelm geheiratet (oder umgekehrt) und war dann zu ihm nach Berlin gezogen. So wohne ich denn bei Tante und Onkel „an Kindes Statt“, in Berlin-Süd (Bezeichnung ab 1920: Stadtbezirk Hallesches Tor, später Kreuzberg SO 36) in der Wrangelstraße 141. Das liegt nahe beim Krankenhaus Bethanien am Mariannenplatz und der Thomaskirche sowie nicht weit entfernt von den Bahnhöfen „Kottbusser Tor“ und „Görlitzer Bahnhof“. Zur Schule brauche ich nur einige Schritte zur Wrangelstraße 128-133, gehen. Die 80. Gemeindeschule von Berlin, ein rotes Klinkergebäude, ist noch fast ganz neu. Sie wurde in den Jahren 1870 bis 1872 erbaut, ist also sogar jünger als ich. (Der Herr Friedrich Heinrich Ernst Wrangel, nach dem man die Straße benannte, lebte von 1784 bis 1877, starb also erst vor kurzer Zeit und war von seiner Profession Generalfeldmarschall).

Zum Kennenlernen der Stadt und zum leichteren Einleben unternehmen Onkel und Tante mit Martha und mir per Pedes und auch mal mit dem Fuhrwerk eine Erkundung der Hauptstadt, ungefähr so, wie ich Euch vor geraumer Zeit von der Turmlaterne der Nicolaikirche meinen Geburtsort Osterburg zeigte. Ach so, Fuhrwerk, ja. Ich hatte wohl bisher noch nicht erzählt, dass Onkel August uns mit seiner Tätigkeit als Fuhrherr ernährt. Ein angestellter Kutscher ist er schon lange nicht mehr. Das zu berichten ist wichtig, deshalb hole ich es hier nach. Und ich unterstütze ihn auch nach meines Leibes Kräften.

Was gibt es aber in Berlin zu sehen – Dinge, die ich in Osterburg kaum erahnt hätte:


Herr Dr. Robert Koch macht die Öffentlichkeit mit seinem neuen Heilmittel bekannt, das er „Tuberkulin“ nennt. Das ist sehr wichtig, denn bisher starb etwa jeder zehnte Berliner vorzeitig, an der Tuberkulose. Deshalb ist auch die Hauptstadt nicht noch größer.


1881

Zu Neujahr gab es eine Sensation! Die erste städtische Telephonanlage wurde ausprobiert – bei der man durch einen hauchdünnen Draht mit weit entfernt wohnenden Menschen sprechen kann. Momentan sind acht Teilnehmer angeschlossen. Ab 1. März gibt es dann das erste Telephon-Nachschlagewerk, was schon 48 Teilnehmer enthält und bald kommen auch schon die genauen Gebrauchsanweisungen für das Telephon, wie:

Ab 1. Juli können dann bereits Gespräche unter 400! Teilnehmern vermittelt werden. Wenn das mit dem Zuwachs so weiterginge – das würde täglich Tausende Kilometer an aufwändigen Botengängen einsparen – und bei den Boten für Arbeitslosigkeit sorgen.


Ich bin jetzt 12 Jahre alt und das Berliner Leben ist schön. Die Schuljahre – werden rückwärts gezählt – daher bin ich mit 12 Jahren im 2. Schuljahr.


Onkel August Zelm ist immer dafür Spaß zu haben und auch selber solche Späße zu bereiten: So findet Jeder im Berliner Adressbuch des Jahres 1881 unsere stolzen Einträge:

Mein Alter steht nicht hinter diesem Spaß. Ja, so hält mir der Onkel lockend mein Ziel vor Augen: Den Besitz starker, treuer, kluger Pferde. Unabhängigkeit von Vorarbeitern oder Firmenbesitzern. Freude an der Arbeit – aber noch besuche ich ja das 2. Schuljahr – wenn ich ihm auch schon oft tüchtig helfe und mein Brot mitverdiene, denn ich will ja in der Fremde meinem Elternhaus keine Schande bereiten.

(Anmerkungen: Dieses vorgenannte Haus Wrangelstraße 141, neben der Thomaskirche, steht heute nicht mehr. Bereits einige Jahre später, um 1890, entstehen statt der genannten 80. Gemeindeschule dort schon wieder neue, weitaus größere Schulbauten).


1882

Große freudige Aufregung! In der Berliner Umgegend werden elektrische Bahnen in den Straßen eingesetzt, so zwischen Westend und Spandau und in Lichterfelde, also vor den Toren der Stadt. Auf dem Kurfürstendamm verkehrt gar ein Siemenssches Elektromobil, ein Autobus. Da sind wir, die beiden Augusts, natürlich mit Besichtigungsausflügen dabei und die Tante muß mit. So etwas Tolles haben meine Eltern und die Geschwister in Osterburg noch nie zu sehen bekommen. Nie! Pferdebahnen werden aber doch noch rund zwei Jahrzehnte ihr Auskommen haben.

Im Winter ist es Mode, sich auf dem Eis des Müggelsees auf Eisseglern zu vergnügen, wenigstens mit Pantinen mit Eisenschienen unter den Holzsohlen oder aber mit Stuhlschlitten angenehme Fahrten zu erleben. Besonders hübsch zumindest für den, der sich schieben lässt, bis es ihm zu kalt wird.


1883

Ostern dieses Jahres beende ich die Volksschule in der 80. Gemeindeschule, Wrangelstraße. Zum Abschluss erhalte ich in Anerkenntnis meiner Leistungen das Buch „Theodor Körners sämmtliche Werke“, feierlich vom Schul-Inspektor Herrn Dr. Berthold, Herrn Rektor Abraham und unserem Lehrer Herrn Klebe als Erinnerungs-Geschenk überreicht. Theodor Körner lebte nur von 1791 bis 1813, da er im Kriege zur Befreiung vom napoleonischen Joch, als Lützower Reiter im Kampfe gegen die Franzosen fiel. Zur mahnenden Erinnerung an die Kriege dient das Monument von Karl Friedrich Schinkel, welches auf dem nahegelegenen Kreuzberg steht (ich erwähnte das schon mal). Ich werde in meinem Leben hoffentlich nie solch einen schrecklichen Krieg erleben müssen.

(August konnte zu dieser Zeit noch nicht wissen, dass es sogar zwei Weltkriege sein werden.)

Im September werde ich eingesegnet, konfirmiert. Der feierliche Akt findet in der Sankt-Thomas-Kirche gegenüber vom Krankenhaus Bethanien am Mariannenplatz statt. In der Gruppe der Konfirmanden bin ich, Carl Friedrich Janecke, am 30. August der 31. Knabe in diesem Jahr, der von Pastor Kirmss eingesegnet wird (die Mädchen werden gesondert gezählt).


Nach Beendung meiner Schulzeit ziehen Tante Charlotte und Onkel August mit mir fort von Berlin, in das benachbarte Rixdorf, zum Wiesenufer No. 13 (später in Maybachufer umbenannt). Es wohnen hier:

E. Jaffé, Holzhandlung; Müller, Holzanweiser; Borowski, Zimmermeister; Zelm, Fuhrbetrieb. Alles Berufe im blühenden Bauwesen der Gründerzeit, die sich gegenseitig prima ergänzen. Nach diesem vorher erwähnten Jux steht mein Name in den folgenden Jahren leider nicht mehr im Adressbuch, weil ich ja keine eigene Wohnung habe.


Was sonst noch geschah:

In Indonesien bricht der Vulkan „Krakatau“ aus – die wohl verheerendste von Menschen aufgezeichnete Katastrophe. Etwa 36.000 Menschen werden ihr zum Opfer fallen.


1884

Schon ein Jahr später (also jetzt, in diesem Jahr) ziehen wir ein Stückchen weiter, schräg gegenüber in die Schinkestraße 14, Ecke Wiesenufer, wo der Onkel auf dem Nachbargrundstück nun so nebenbei noch eine Kohlenhandlung zur willkommenen Erweiterung des Fuhrgeschäftes, als „zweites Standbein“, betreibt. Ich rate ihm dringend, dass es bei dieser Materialart gut wäre, wenn er sich noch für den Ankauf zweier Rappen entschiede und vielleicht für einen Schornsteinfeger als Kutscher. Ich solle nicht so naseweis sein, sagt er zu diesem dunklen Thema und zu meinem schwärzlichen Humor. Ja, ja, der große und der kleine August kommen ganz phantastisch miteinander aus.

(Anmerkung: Der Namensgeber für die Straße, Johann F. Schinke, 1826 bis 1875, war der überwiegend beliebte Dorfschulze, also Bürgermeister von Deutsch-Rixdorf und wird mit dem Straßennamen geehrt und in der Erinnerung „wach gehalten“).


1885

Die Straßen Berlins, also die Fahrbahnen, werden für den allgemeinen Fahrradverkehr freigegeben. Die Proteste über die Gefährdung des Fußgängerverkehrs durch die Radfahrer ebben ab und auch die Besorgnisse der Polizei, dass ihre Pferde scheuen würden, wenn diese eines Radfahrers angesichtig werden, hatten sich lediglich auf Einzelfälle gestützt; ließen sich nicht verallgemeinern.

Die ersten Blinddarm-Wurmfortsatzoperationen werden gewagt, weil bisherige konservative Behandlungen der Seitenkrankheit im Allgemeinen nicht zur Genesung, sondern zum Tode des Patienten führten.

In Mannheim fährt Carl Friedrich Benz mit einem selbst erdachten und selbst gebauten Dreirad-Motorwagen. Das erste sogenannte Automobil auf dieser Erde! (Zumindest der Neuzeit, sollten wir Darstellungen im Alten Testament der Bibel glauben schenken. Dort ist ja an mehreren Stellen bereits von einem auf Rädern rollenden angetriebenen Luft-Gefährt die Rede. Schlagt nach bei Hesekiel und ersetzt den Begriff „Tiere“ durch „Maschinen“, einen Begriff, den es ja damals noch nicht gab).


1886

Am 29. Mai dieses Jahres hätte mein Großmütterchen Catherine Elisabeth Janeke (geborene Betke) in Osterburg eigentlich das Fest der Goldenen Hochzeit begehen können, wenn, ja wenn nicht ihr Mann, mein Großvater, der Dachdecker, spätere Postillon und Landbriefträger, Joachim Heinrich Janeke bereits im Monat nach meiner Geburt. im 62. Lebensjahr, am 27. Oktober 1868 an Magenkrebs gestorben wäre. In seinem Postillon-Beruf hatte er genau wie wir, mit edlen Pferden zu tun. Und deshalb immer wieder auch mit Hunden. Die er nicht sein Eigen nannte – also weniger freiwillige Kontakte. Das hing ihm selbst als Briefträger an – mehrmals an den Hosenbeinen.


1887

In diesem Jahr stirbt am Sonntag, den 10. April nun unsere gerade erwähnte liebe Großmutter Catherine Elisabeth Janeke, geb. Betke, die 1811 in Meseberg (Altmark) geboren wurde und am 29. Mai 1836 in Osterburg, mit Joachim Heinrich Janeke aus Höwisch Hochzeit hielt. Nur fünf ihrer neun Kinder erlebten das Erwachsenenalter, zu denen auch mein Vater und Tante Charlotte gehören. Die Großmutter hat eine Lebenszeit von 76 Jahren erreicht. Der Osterburger Diakon Rathmann spricht tröstende Worte, als wir sie am 13. April beerdigen und registriert unsere Trauerfeier, als die 24. Osterburger Beerdigung des Jahres im Kirchenbuch.

Jetzt bin ich 18 Jahre alt und mache mir Gedanken über meine berufliche Zukunft. Vier Jahre lernte ich bisher bei Onkel August den sachgerechten Umgang mit den Pferden und wurde in den Grundlagen des Wirtschaftens unterwiesen. Wenn ich einmal reich wär’ – Geld hätte für eine vornehme Kutsche, würde ich Vergnügungsfahrten anbieten, vielleicht vornehmlich für Damen, wie es hier in Berlin bereits im Jahre 1822 Simon Kremser tat. Das wäre noch viel einfacher und sauberer – wenn dann auch genügend Kunden kämen. Nun gut – für die nächsten Jahre werde ich weiterhin mit Onkel August zusammenarbeiten. Für die Pferde wünschte ich mir sehnlich Ohrenschützer; ist es doch ganz schön nervenaufreibend, wie stark die eisenumreiften Holzspeichenräder auf dem Kopfsteinpflaster lärmen. Allerdings kann ich mich nicht rühmen, eine Änderung durchgesetzt zu haben. (Erst im Jahre 1904 wird der Vollgummireifen erfunden werden und dann dauert es noch einmal eine Weile, bis er sich durchgesetzt haben wird. Und als er dann leidlich bekannt wird, erscheint schon der aufpumpbare Luftreifen auf dem Plan – eine weitere wesentliche Verbesserung, sofern dieser die Luft auch hält).

In diesen Jahren (ab 1887) wohnen wir weiterhin in Südost, nahe der Stadtgrenze von Berlin zu Rixdorf aber nun im Hause Planufer 94/95, Parterre (verlängertes Wiesenufer). Hierin leben: Freiberg, Fuhrherr; Mosolf, Fuhrherr; Schönknecht, Fuhrherr; Franz, Schmied; Lier, Witwe und Zelm, Fuhrherr. Ihr könnt daran ermessen, es wird gar manches durch die Stadt gefahren.

Auch von hier wird jedoch für alle diese Bewohner ein erneuter Umzug unausweichlich sein, denn das Haus wird im Jahre 1896 abgebrochen und an dieser Stelle ein repräsentativer Neubau errichtet. Das weiß heute aber noch niemand von uns Betroffenen.

Herr Berliner (also, so heißt der Emil wirklich mit Nachnamen) bringt ein Grammophon zum wiederholbaren Abspielen von Schallplatten auf den Markt.

Das Varieté „Wintergarten“ wird eröffnet.


1888

Das Drei-Kaiser-Jahr. Es stirbt im März unser hochbetagter Kaiser Wilhelm I. Sein liberal denkender Sohn, Kaiser Friedrich III, leidet an einem Kehlkopfkrebs und stirbt nach 99 Tagen der Regierungszeit im Juni. Nun ist Wilhelm II unser neuer Kaiser. (Er wird der letzte sein).


1889

Weltausstellung in Paris. Unübersehbares Wahrzeichen: Der 300 m hohe Turm von Gustave Eiffel und ungezählte Neuheiten: Die erste Autoausstellung der Welt, erste Rolltreppe, erste … . In Berlin wird die erste „Kraftdroschke“ eingesetzt.

Wir hören, dass der Kilimandscharo in Afrika zum ersten Mal bestiegen wurde.


1890

Der Kaiser Wilhelm II macht den abgekanzelten Reichskanzler v. Bismarck gegen dessen Willen zum Ruheständler und als Trost auch noch zum Herzog von Lauenburg.


1891

Hochzeit (allerdings nicht meine)! Am 06. April 1891 heiratet in unserer Osterburger Nicolaikirche meine um eineinhalb Jahre „größere“ Schwester Luise Auguste Hermine Janeke (Kirchenbucheintrag 09/1891). Das Paar wird von Luises Taufgeistlichem, (er ist immer noch da) dem Herrn Diakon Rathmann getraut. Vom heutigen Tage an wird sie „Jochmann“ heißen, weil sie den Buchdruckereifaktor Wilhelm Franz Jochmann heiratet. Das gewohnte Monogramm aber bleibt ihr. Jener Franz stammt aus dem Ort Liebau in Schlesien, der im Kreis Landshut liegt. Er wurde dort am 05. August 1867 geboren. Nach der Eheschließung zieht Luise aus Osterburg fort, einige Kilometer gen Norden, nach Wittenberge an der Elbe. Das junge Paar wird in der Mohrenstraße 4 wohnen. Die unverputzten Backsteinhäuser sind dort aber trotzdem nicht schwarzbraun, sondern rot. Das wiederum liegt an der Mineralienzusammensetzung in der Lehmgrube.


1892

Bald kann man zu mir, mit 22 Jahren, „Onkel“ sagen. Meine große Schwester Luise Jochmann bekommt am 29. Mai 1892 ihr erstes Kind, das die Eltern Martha Ella Berta nennen. (Viel später, also wenn das Marthchen dazu reif genug ist, wird sie den freundlichen Eisenbahnbetriebsschlosser Karl Giese heiraten).

In meiner Geburtsstadt Osterburg werden erstmals Straßenlaternen aufgestellt (51 Stück), die mit Petroleum betrieben werden. Auch beschäftigt man dort jetzt vier, statt bisher zwei Nachtwächter. Das Wachtlokal befindet sich im Rathause. Die Wächter kontrollieren auf nächtliche Ruhe und Ordnung. Für das Kontrollieren des Wachpersonals sind auf den Rundgängen in vier Wachrevieren Kontrolluhren angebracht. Die Wächter sind jetzt aber nicht mehr mit Hellebarde (der piekenden und helmspaltenden Waffe) und Horn ausgestattet, wie weiland unser Vorfahr Christoph Heinrich Betke, als er hier seinen nächtlichen Dienst versah, sondern heute mit Seitengewehr, Notpfeife und Polizeigewalt.

Auch beginnt man in diesem Jahr in Osterburg die fortlaufende Grundstücksnummerierung abzuschaffen und wie andernorts schon lange üblich, die Hausnummerierung für jede Straße mit „1“ beginnend, neu zu vergeben. Wie vernünftig, wenn es auch die Alten irritieren mag.

In diesem Jahr zählte man in der Stadt Osterburg 4.300 Menschen, 239 Pferde und 334 Rinder.


Anmerkung: Im Berliner Adressbuch dieses Jahres ist ein A. Janecke, Buchhalter, aufgeführt, wohnend in N., (also im Norden der Stadt, im späteren Wedding) Pankstraße 24b, eine Treppe hoch. Leute meiner Nachkommen werden erst in 100 Jahren darüber rätseln, ob ich das vielleicht war – oder auch nicht oder ein unbekannter Namensvetter. Einen neuen Anlass zum Schmunzeln gibt es doch immer wieder – „grabt nur danach …“).



1893

Am 26. Januar begehen meine Eltern August und Elisabeth Janeke in Osterburg ihren Ehrentag der silbernen Hochzeit – über die Hälfte jener Jahre, die sie verlebten, ohne meine Anwesenheit.

In Hamburg sterben bei einer Cholera-Epidemie etwa 9.000 Menschen, kurz bevor Herr Behring die Entwicklung seines Heilserums zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hat. Herr Benz und seine Mannen stellen den ersten Autobus her.


1894

Mein Onkel August Zelm hat seinen Fuhrbetrieb nunmehr in die Steinmetzstraße 47 verlegt (später wird diese Straße in Kienitzstraße umbenannt). Er ist bereits Eigentümer dieses Hauses und besitzt sogar schon einen der modernen Telephonanschlüsse: Rixdorf No. 58! So kann Tante Charlotte Aufträge annehmen, während wir unterwegs sind. August beherrscht dieses Wirtschaftsrechnen vorzüglich.

Zu Pfingsten unternehmen wir wieder einen gemeinsamen Ausflug. Diesmal soll’s nach Pankow geh’n; in die Schönholzer Heide.

In Frankreich wird eine Apparatur zum „Vorführen laufender Bilder“ vorgestellt, der Kinematograph.


1895

In Berlin-Süd, Kottbusser Damm 34, betreibt Herr Karl Ludwig August Dittwaldt eine Gaststätte (wird somit als Restaurateur bezeichnet – bitte aber nie mit einem Bilderfälscher verwechseln). Er ist auch Eigentümer dieses Hauses. Von Beruf ist er eigentlich Zimmermann und Polier, kam aus Dechsel und Massow im Kreis Landsberg an der Warthe. Schon vor rund zwei Jahrzehnten aber hat er die Bauarbeit an den Nagel gehängt, um sein Heil hinter dem Tresen zu suchen und fand es dort wohl auch. Die Dittwaldts hatten bis vor zehn Jahren eine Schankwirtschaft in der Oranienstraße 174. Als der Kottbusser Damm angelegt und bebaut wurde, zogen sie 1885 in den Neubau („das Dittwaldtsche Haus“, noch ohne erteilte Grundstücksnummer). Soweit meine Vorrede. Nun aber das Wichtigste!

Er, Herr Dittwaldt, hat gemeinsam mit seiner Ehefrau Alwine Pauline (geb. Zinnow, die aus Nowawes bei Potsdam stammt) ein ganz liebreizendes Töchterlein: Pauline, Klara Antonie, die am 03. November 1872 in Berlin geboren wurde. Nichts scheint klarer, als dass sie nur kurz „Klara“ gerufen wird.

Klara ist drei Jahre jünger als ich, jetzt also 22 Jahre jung. Sie hat noch vier Geschwister:

Die älteren:

- dann kam die Klara. Und hernach die jüngeren:

Fast hätte ich es in der Eile vergessen zu erzählen: Seit kurzem bin ich mit meinem Klärchen verlobt. Das Zusammensein mit ihr ist eine Lust. Auch ihre Eltern sind „eine Seele von Mensch“. Ich wohne ja seit einiger Zeit dort hinter der Restaurantküche in der Gäste-Dachkammer als unter-mietender Verlobter und werde im Berliner Adressbuch derzeitig als „Vertreter“, bald aber auch bis 1899 als „Schankwirt“ vermerkt, weil ich allen Dittwaldts hilfreich unter die Arme greife.

Und schon wieder werde ich Onkel bei Jochmanns und nun auch bei „Neu-Borries’“. Das schafft! Dieses zweite Jochmann-Kind wurde in Wittenberge am 03. Februar geboren und Walter Erich Franz geheißen. Diesmal ist sogar bereits meine Verlobte Klara Dittwaldt als eine der Patentanten ausgewählt und sie hat dabei schon mal geübt „Ja“ zu sagen. Am 23. März 1895 wird Kurt, Sohn meiner künftigen Schwägerin Hedwig Borries (geb. Dittwaldt) geboren. Nun gehöre ich schon mal fast zur neuen Dittwaldt-Familie und deshalb darf ich es wohl ruhig erwähnen.

Aus der weiten Welt:

Die Brüder Otto und Gustav Lilienthal begannen mit ihrem Mechaniker Paul Beylich hier ganz nah in Lichterfelde, später in Krielow / Derwitz bei Groß Kreutz und dann vom künstlichen Fliegeberg bei der Heinersdorfer Ziegelei, mit Versuchen des Fliegens mit Gleitern aus einem Weidenzweiggestell, mit Leinwand bespannt.

Eine neue Kirche wird in Berlin eingeweiht: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

In Probstheida bei Leipzig wird mit dem Bau des Völkerschlachtdenkmals begonnen, das an die Befreiungskriege 1813 – 1815 erinnern wird. Der Architekt ist der Berliner Bruno Schmitz.


1896

Von Mai bis Oktober haben wir im Treptower Park die Gewerbeausstellung (in Wirklichkeit ist es ja die leider verhinderte Weltausstellung) mit großartigen Exponaten - ich erinnere nur an Siemens’ nun schon zweite elektrische Parkbahn für die Besucher. In der gleichen Zeit läuft auch die „Große Gartenschau“, ist mehr so das Damenprogramm, als „florales Gegengewicht“ zur Technik.

In den Rhinower Bergen im Westhavelland verunglückt unser Flugpionier Otto Lilienthal am 09. August tödlich. Wirbelbruch. Nur Paul Beylich war zu jener Zeit bei ihm.

Mein geschäftstüchtiger Onkel August Zelm hat inzwischen auch das Haus Steinmetzstraße 57 erworben. Hier wird er auch bis zum Jahre 1900 wohnen. Wollt Ihr mit ihm telephonieren, so lasst Euch, wenn das Frollein vom Amte sich mit der Frage „Hier Amt, was beliebt?“ meldet, von ihr mit Rixdorf No. 58 verstöpseln.

Das 3. Wittenberger Kind meiner Schwester Luise heißt Wilhelm Franz, geb. am 22. Juni 1896. (Noch kann niemand ahnen, dass sein Leben schon in der Jugend mit 23 Jahren enden wird).


Am 15. September heiraten wir, also das Klärchen und ich (miteinander), im Berliner Standesamt IV. und in der evangelischen Kirche der Emmaus-Gemeinde, die am Görlitzer Bahnhof steht. Als Trauzeugen haben wir meinen Onkel August Zelm (inzwischen 56 Jahre alt) und Vater / Schwiegervater August Dittwaldt (59 Jahre alt) ohne erhebliche Schwierigkeiten feierlich gewinnen können. Da sind wir nun drei Augusts zusammen. Es hätte nur gefehlt, dass auch Klara mit Zweitnamen Auguste heißen würde – dem ist aber nicht so. Hilfsweise hätten wir im August heiraten können aber nun wurde es eben der Monat September. Unsere Eheschließung wird beim Standesamt als No. 713 / 1996 registriert und anschließend an die Trauung, in der geschmückten schwiegerelterlichen Gaststätte Kottbusser Damm 34, festlich begangen. Das bedeutet geschäftlichen Totalausfall, denn alle anderen sonst üblichen Gäste haben heute Ruhetag (oder sitzen bei der Konkurrenz).

(Anmerkung: Beim Aufgebot war für August Janecke noch die Anschrift des großen Miethauses Kottbusser Damm 16/17 angegeben, die ansonsten nicht sichtbar in Erscheinung trat. Vielleicht zur Untermiete, wahrscheinlich nur kurzzeitig, denn in das offizielle Adressbuch fand dieser Wohnaufenthalt keinen Eingang).

Für frühere Urkunden ist unser Familienname mal als Jahnke, mal als Janeke, auch als Janecke und sogar „hyperkorrekt“ als Ganecke, eben so nach Gehör aufgenommen worden. Damit ist nun Schluss. In unserer Heiratsurkunde, nach der sich alle später auszustellenden amtlichen Dokumente richten werden, ist nun eindeutig „Janecke“ fixiert worden und der Carl/Karl wird bitte endgültig ganz modern mit „K“ geschrieben.

Etwas eigenwilliger war es bei der Familie von Klara oder ganz deutlich gesagt: war es mit meinem Schwiegervater! Alle Leute aus seiner Verwandtschaft, die in der Neumark, im Raum Landsberg, in Massow, Dechsel und Umgebung lebten und dort blieben, schrieben sich „Dittwald“. Allein mein Schwiegervater, setzte sich ab, als er nach Berlin kam und schrieb sich (in allen Urkunden) „Dittwaldt“ und übertrug diese noch schönere Schreibweise dann natürlich auch auf alle seine lieben Kinder. Na ja, er hätte dabei noch herzhafter an's Werk gehen können, denn der ehrbare Name kommt ja aus dem Germanischen als Vorname Diet/Ditt – walt (Volk und Gewalt/Verwalten). Als Bedeutung könnte man sagen: „Alle Gewalt geht vom Volke aus“. Was ich eigentlich sagen wollte: Er hätte auch „Dietwalt“ schreiben können, wäre auch nicht falsch gewesen..

Die Emmauskirche, unsere Trau-Kirche, steht unweit meiner früheren Wohngegend, Mariannenplatz, Manteuffelstraße, Wrangelstraße und etwa in gleicher Entfernung zur neuen Oberbaumbrücke, die über die Spree führt. Diese Brücke erinnert mich in ihrer trutzigen Bauweise immer wieder an Bauten meiner altmärkischen Heimat. Denken wir nur allein in Stendal an das Tangermünder- und das Uengelinger Stadttor. Bei dieser Brücke gerate ich geradezu ins Schwärmen. Weshalb aber trägt sie jenen merkwürdigen Namen „Oberbaum“? War das ein Politiker oder gar ein preußischer Kriegsherr? Darüber wissen die wenigsten Leute Bescheid. Diese Brücke dient nämlich nicht nur dem Verkehr, der darüber rollt, sondern sie ist auch gleichzeitig ein Wassertor. Mit einem Baum, der allerdings heute nicht mehr grünt, sondern zurechtgeschnitten an der Kette im Wasser liegt, kann man hier den Oberlauf der Berliner Spree, beispielsweise zur Nachtzeit, sperren. So gibt es flussabwärts das Gegenstück, die Unterbaumbrücke am Ende des Schiffbauerdammes.

Vorerst leben wir weiter im Hause der Schwiegereltern, Berlin-Süd, Kottbusser Damm 34.

(Diese Gegend wird ab 1920 der Stadtbezirk „Hallesches Tor“ heißen aber noch später die berühmteste Bezeichnung „Kreuzberg“ / SO 36 erhalten).

Nachrichten aus der weiten Welt:

Wilhelm Conrad Röntgen fertigt in dieser Zeit Fotoaufnahmen vom menschlichen Skelett (also innerhalb des Körpers), mit den von ihm neu entdeckten X-Strahlen. Es beginnt der Bau der ersten Berliner Untergrund-Bahn-Strecke. Das Kyffhäuserdenkmal bei den Burgruinen Kyffhausen, ihr wisst schon: im kleinen Kyffhäusergebirge, (Architekt Bruno Schmitz, Berlin) ist fertig gestellt und wird festlich eingeweiht.





(Sinngemäße Nachgestaltung) B


Eintrag der Eheschließung Nr. B 713 / 1896


des Standesamtes IV in Berlin





Berlin, am 15. September 1896



Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschienen heute

zum Zwecke der Eheschließung:



1. Der Geschäftsführer


Karl Friedrich August Janecke,


der Persönlichkeit nach anerkannt,

geboren am 18. September 1869

zu Osterburg in der Altmark,


wohnhaft in Berlin, Kottbusser Damm 34.




2. Die Haustochter


Pauline Klara Antonie Dittwaldt


der Persönlichkeit nach anerkannt,

geboren am 03. November 1872 zu Berlin,

wohnhaft in Berlin, Kottbusser Damm 34








Seite 2 (Angaben fehlen)










Seite 2


Als Zeugen waren zugezogen und erschienen:




3.

der Persönlichkeit nach durch anerkannt

Jahre alt, wohnhaft in



4.


der Persönlichkeit nach durch anerkannt

Jahre alt, wohnhaft in



    Der Standesbeamte richtete an die Verlobten einzeln und

    nacheinander die Frage:ob sie die Ehe miteinander eingehen wollen.

    Die Verlobten bejahten diese Frage und der Standesbeamte sprach

    hierauf aus, daß sie kraft des Bürgerlichen Gesetzbuches nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute seien.

Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben


gez. August Janecke


gez. Klara Janecke, geb. Dittwaldt


gez.


gez.



Der Standesbeamte


gez.




Randbemerkung:





Nun aber lasse ich Klara erst einmal zu Worte kommen:


Einige Notizen zu meiner bisherigen Lebenszeit“,

sagt Pauline Klara Antonie Dittwaldt


In unserer Familie gibt es eine Schar von fünf fröhlichen Kindern: 1865 in Berlin geboren wurde Marie. Sie ist die Reifeste von uns. Hedwig wurde 1871 geboren, natürlich in der gleichen Stadt. Dann kam ich, Klara, 1872 ebenfalls in der Hauptstadt Deutschlands geboren. Max ist ein Berliner aus dem Jahre 1875 und außerdem unser Lieblingsbruder.

Das Nesthäkchen heißt Alma und erblickte 1876 das Licht Berlins.


Meine Mamá heißt Alwine Pauline und vor ihrer Heirat im Jahre 1864 trug sie den Familiennamen Zinnow. Sie stammt aus dem Ort Nowawes, wo sie auch heiratete. Sie wurde dort in der Friedrichskirche mit meinen Vater, den Zimmermann Carl Ludwig August Dittwaldt, der aus Massow im Kreis Landsberg an der Warthe nach Berlin eingewandert war, getraut. In späteren Jahren wird mein Vater seine Tätigkeit wechseln und eine Gastwirtschaft betreiben aber dazu später mehr.


1872

Am Sonntag, den 03. November 1873 wurde ich geboren. Wir wohnten (Anmerkung: nachgewiesen ab 1866) im Berliner Süden, in der Wilhelmstraße 146, Hof I, fast direkt am Belle-Alliance-Platz. In diesem Hause wohnten außer uns: Baumann, der Tapezierer; Geschke, Seidenwirker; Gräbert, Seidenwirker; König, ein Kaufmann; Jannoch, Tischler; Kreisch, Tischler; Rienitz, Gürtler (der aber keine Gürtel herstellt, sonders Metallbleche verarbeitet); Miehlnickel, Schneider; Büttner, Wittwe; Girnau, Leihamtsbeamter; Jannoch II, Lithograph; Jannoch III, Wittwe; Krepper, ein Calculator; Rienitz II, Maler.

Wir Geschwister verlebten eine frohe Kindheit. Unsere Mutter kümmert sich liebevoll um uns. Unser Vater hat als Zimmererpolier immer viel zu tun, denn in Berlin ist stets Bau-Hochsaison.


1873

Am 18. Februar 1873 stirbt im 70. Lebensjahr mein Großvater, der Zimmermann und Kirchenälteste Johann Friedrich Wilhelm Zinnow in seinem Haus in Nowawes, Priesterstraße 7, so dass ich ihn nicht mehr bewusst kennen lernen kann.


1875

Unser Vater, jetzt 38 Jahre alt Jahre, gibt nun die raue und gefährliche Zimmermannsarbeit, wie das Einziehen von Balken und Fußböden bzw. Decken, das Errichten von Dachstühlen bei Wind und Wetter, auf und richtet vom Geld der Ersparnisse eine Schankwirtschaft in der Berliner Oranienstraße 174 ein, wo wir nun auch wohnen. Es ist hier aber nicht so ruhig wie in der vorigen Wohnung, denn manche der Mitbewohner lärmen doch bei ihren Tätigkeiten ganz erheblich. Mitmieter von uns sind: Meinhardt, Möbelfabrik, im Erdgeschoss; Hornburg, Seiler; Albrecht, Töpfer; Dittwaldt, Schankwirt – ist ja klar- auch im Hochparterre; Krüger, Plätterin; Lieder, Bildhauer; Mertin, Tischler; Müller, Silberarbeiter; Pöpping, Schneider; Schulz, Bildhauer; Schulz II, Konditor; Trepplin, Drechsler; Stolzenwald, Buchdrucker.


1878

Meinem 1873 genannten Großvater folgt in den ewigen Frieden nun seine Frau, meine Großmutter Sophie Friederike, geborene Rohde am 18. Dezember 1878 in ihrem 78. Lebensjahr.


1879

Wir begehen meine Einschulung.


1885

Unsere Familie zieht in die ganz neue Straße „Kottbusser Damm“, in den für uns eben fertig gestellten Neubau, als das „Dittwaldtsche Haus“ bezeichnet, denn Hausnummern werden erst später vergeben. Dieses Haus ist dann mein eigentliches und endgültiges Jugendheim, das Eigentum meiner Eltern. Das Haus besitzt sechs Etagen. Unsere Wohnung liegt in der Belle-Etage, also im 1. Obergeschoss. Unsere Eltern vermieten im ersten Jahr die anderen Wohnungen an: Harendt, Bodenmeister; Huth, Tischler; Krause, Gürtler; Schubert, Tischler; Hentschke, Schutzmann; Jahn, Gürtler (der aber später Schaffner bei der Elektrischen sein Brot verdienen wird); Kulk, Schlosser und Wernike, Tischler.

In diesem Jahr geben wir auch die Oranien-Schankwirtschaft auf und die Eltern eröffnen hier im Erdgeschoss unseres Hauses Kottbusser Damm 34 eine schöne neue Gaststätte für dieses Neubaugebiet.


1887

Mein Schulabschluss und meine Konfirmation. Ich bin jetzt schon 14 Jahre alt.


1895

Mitten der neunziger Jahre, ich bin nun bereits großjährig, hatte schon meinen 22. Geburtstag gefeiert, lerne ich August Janecke kennen. Er ist knapp drei Jahre älter als ich aber ganz anders veranlagt als ich – nicht so temperamentvoll und sprühend wie ich, sondern mehr überlegsam, sensibel und zurückhaltend. Man sagt ja, dass Gegensätze sich anziehen können, wenn sich nicht gerade Gleich zu Gleich gesellt.

Schon früh war er aus seinem altmärkischen Elternhaus fortgezogen (worden), lebte hier in Berlin bei Tante und Onkel Zelm – aber jetzt bei uns, im Raum hinter der Gaststätte und arbeitet als Vertreter und hilft schon am Abend in der Gaststätte mit aus.


1896

Am Dienstag, den 15. September haben wir, also August und ich, im Standesamt IV. geheiratet und ließen uns in der Emmaus-Kirche trauen. Trauzeugen waren mein Vater August Dittwaldt und der Ziehvater (Onkel meines Mannes) August Zelm. Eine eigene Wohnung haben wir aber noch nicht. Bei meinen Eltern lebt es sich auch recht kostengünstig, denke ich. Nur heiße jetzt aber nicht mehr Dittwaldt, sondern auch Janecke.


1897

In Osterburg in der Altmark stirbt am 20. April mein Vater Carl Friedrich August Janeke (der Ältere), viel zu zeitig im Alter von nur 54 Jahren. Er war in Osterburg, am 14. September 1842 geboren worden und übte den Beruf eines Postboten / Landbriefträgers aus. Im Gegensatz zu seinem Vater und mir hatte er nichts weiter mit Pferden zu tun aber dafür wie wir wissen, mit Hunden. Das bringt der Beruf so mit sich. Schade, dass er nicht mehr die Geburt unseres ersten Kindes miterleben kann. Osterburg zählt inzwischen 4.500 Einwohner.

Sonntag, der 13. Oktober. Ein anstrengender Tag. Klara hat in dem Hause ihrer Eltern um 1.00 Uhr des Morgens unser erstes Kind zur Welt gebracht. Ein Mädchen. Wir wollen sie Pauline Elisabeth Käthe nennen. Käthes Taufe findet am Mittwoch, 03. November in der Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ an der Zossener Straße, nachmittags um 3 Uhr statt. Nun sind wir schon eine richtige Familie. Dokumentiert wird dieses Ereignis im Taufbuch 1897 der Kirche, S. 263, No. 2091. Die Taufpaten sind Eretier, Anweiser (z. B. bei der Holzauktion); Weiland, Restaurateur (mein Schwager); Zelm, Fuhrherr (also August, mein Ziehonkelvater).

Mein jüngerer Bruder, der Zimmermann Wilhelm Janeke (er bleibt dieser Schreibweise ohne das „c“ treu) hat auch das Elternhaus verlassen und wohnt nun in Wittenberge, in der Schützenstraße 25, auf dem Grundstück des Städtischen Gaswerkes. (Jene Straße wird nach dem 2. Weltkrieg ein Teilstück der Rathausstraße bilden).

In dieser Zeit wird auch Johannes, zweiter Sohn meiner Schwägerin Hedwig Borries (geb. Dittwaldt) geboren.



(Sinngemäße Abschrift) A


Geburts-Anzeige und -Eintrag Nr. 2527 / 1897


des Standesamtes in Berlin



Berlin, am 18. Oktober 1897


Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute,

der Persönlichkeit nach durch Heiraths-Urkunde anerkannt,



der Geschäftsführer

Karl Friedrich August Janecke


wohnhaft zu Berlin, Kottbuser Damm 34,

evangelischer Religion, und zeigte an, dass von der


Pauline Klara Antonie Janecke geborenen Dittwaldt,

seiner Ehefrau, evangelischer Religion,


wohnhaft bei ihm, zu Berlin, in seiner Wohnung,

am 13. Oktober des Jahres 1897, vormittags um ein Uhr

ein Kind weiblichen Geschlechts geboren worden sei,


welches die Vornamen


Pauline Elisabeth Käthe


erhalten habe.



vorgelesen, genehmigt und unterschrieben


gez. August Janecke


Der Standesbeamte

In Vertretung


gez. Gerlach



Randbemerkung: Geheiratet in Nowawes Nr. B 182 / 1926.



Schulze-Scan : A K Jan 1897-218 Sinngemäße Abschrift: Chris Janecke






Sinngemäße Abschrift des Eintrags von Geburt und Taufe „A“ des Kindes

Pauline Elisabeth Käthe Janecke

aus dem Kirchenbuch der Kirche „Zum Heiligen Kreuz“, Berlin-Südost, Zossener Straße

- Taufbescheinigung -


Ort / Jahr / Seite / lfd. Nummer


Berlin, 1897,Taufbuch Seite 263, No. 2091

Familienname und Vornamen (Taufnamen) des Kindes


Janecke, Pauline Elisabeth Käthe

Ort / Tag und Stunde der Geburt,

ehelich / unehelich


Berlin, am 13. October 1897, um 1 Uhr

ehelich

Vater:

Zu- und Vornamen des Vaters, dessen Stand / Beruf / Gewerbe


Janecke, Carl Friedrich August,

Geschäftsführer

Mutter:

Zu- und Vornamen der Mutter, auch deren Stand


Janecke, geborene Dittwaldt, Pauline Clara Antonie

Wohnung der Eltern


Berlin-Südost, Kottbuser Damm 34

Ort und Tag der Taufe / Konfess.


Berlin, am 03. November 1897

Name des Predigers

(des Pastors / des Pfarrers)



Die Namen der Taufzeugen ....

... auch Kindspaten oder Gevattern genannt

1.

Eretier, Anweiser

2.

Weiland, Restaurateur

(Ehemann der Schwester Marie der Kindsmutter).

3.

Zelm, Fuhrherr

(Ehemann der Tante -Vaterschwester- des Bräutigams)

Notizen im Kirchenbuch

(Randbemerkungen)


-

Anmerkungen des Abschreibenden




Erfasst aus dem Kirchenbuch von Christoph und Martin Janecke, in Berlin-Kreuzberg, am 24. Juni 1993.

(Klammererläuterungen) wurden vom Abschreibenden hinzu gesetzt.



1898

Es ist schon bedeutsam, wie oft die Leute (so ja auch wir) umziehen, den Wohnort wechseln. Nur als eines der vielen Beispiele das neue Haus meiner Schwiegereltern, Kottbusser Damm 34. Hier wohnten allein in den Jahren 1896 – 1898:


Anz

1896

1897

1898

01.


Eigentümer: Dittwaldt, August, Gastwirt

Die Gaststätte im Erdgeschoss, die Wohnung in der Belle-Etage darüber liegend


02.

Graffold, G., Tischler

Bärecke, Werkführer

Donat, E., Bildhauer

03.

Lehmann, Th., Witwe

Grandejus, Brauereiarbeiter

Eretier, F., Anweiser,

(der Pate bei Käte wurde)

04.

Link, G., Maler

Janecke, August, Vertreter

Greiner, L., Glasbläser

05.

Rosenberg, J, Kaufmann

Lehmann, Witwe

Ehling, C., Tischler

06.

Zacharias, A., Stellmacher

Maske, O., Metallarbeiter

Tischischak, H., Schmied

07.


Rohr, G., Brauereiarbeiter

Weigt, F., Agent

08.


Thiel, E., Handelsmann


09.


Weitphel, A., Witwe


10.


Zacharias, A. Stellmacher


Insgesamt besitzt das Haus Wohnungen für 10 Familien; ist also nicht zu jeder Zeit völlig ausgelastet.


Ein Schreck fährt durch die Depeschen: Die österreichische Kaiserin Elisabeth „Sisi“ ist von einem Attentäter mit einer Feile tödlich ins Herz gestochen worden und stirbt.

An Altersschwäche stirbt unser märkischer Dichter Theodor Fontane.

Im Mai findet die erste Probefahrt eines Autobusses mit Elektro-Akkumulatoren-Betrieb statt.


1899

Unsere zwischenzeitliche Anschrift ist: Fuhrherr Janecke, Rixdorf, Steinmetzstraße 61, mit meinem eigenen Pferde-Fuhrgeschäft; nur einen kleinen Steinwurf weit entfernt von der bisherigen Bleibe, Kottbusser Damm 34 und nur wenige Häuser neben Zelms, die in der Steinmetz 57 leben.

In Wittenberge wird als viertes Kind meiner Schwester, Luise (geb. Janecke), also den Jochmanns, am 25. August 1899 Rudolf Ernst Paul geboren.

Das große Rixdorf erhält endlich das Stadtrecht, als kleine Schwester von Berlin. Das erste Berliner Kinotheater wird in der Münzstraße eröffnet.


1900, was für ein Jahr!

Seit dem Herbst wohnen wir als Familie eigenständig und größer, als bei den Eltern/ Schwiegereltern und besser als in der Steinmetzstraße, nun zwar noch in der Stadt Rixdorf, Kreis Teltow aber in der Jägerstraße 69, I. Das ist ebenso nahe am Tempelhofer Feld und der Hasenheide, wie vorher von Berlin-Südost aus zu diesen Orten. Eigentümer des Hauses ist der Steinsetzermeister Taubert.

(Anmerkungen von C. J.: Es ist die Straße, die 1912 in Rollbergstraße umbenannt wird, wegen der rollenden Steine des Kieses der „Rollberge“. Das sind Ränder eiszeitlicher Gletscherbetten, die zur Baustoffgewinnung abgetragen werden. Dort, immer auf der Höhe, standen früher die Windmühlen des Ortes Rixdorf. Das Rollberggebiet bekommt als neuen „Nachbarn“ ein Rollfeld, weil der alte Exerzierplatz „Tempelhofer Feld“, zu einem Flugplatz umgebaut wird. Auch die Jägerstraße wird umgebaut. Als letzte Häuser der enorm verkürzten Straße werden am Ende des 20. Jahrhunderts dort nur noch die Häuser 23 und 24 als originale Bauten aus der Gründerzeit stehen und im Jahre 2005 zeigt die Straße überhaupt keine Altbauten mehr.)


Hurra, ein Stammhalter ist da! In einer sehr schweren Geburt (das Kind blieb in Steißlage) wird Klara in unserer Wohnung am Montag, den 01. Oktober gegen zehneinhalb Uhr am Abend von einem Jungen entbunden. Alfred August Richard soll er heißen. Der Standesbeamte registriert die Geburt unter Rixdorf 2.685 des Jahres 1900. Auf diese Namen wird er dann auch am Sonntag, den 04. November in der Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ am Blücherplatz / Zossener Straße in Berlin getauft, nachdem der Rixdorfer Pfarrer nach seinen Überlegungen schnell noch schriftlich einer Taufe in Berlin stattgegeben hatte. (Diese umständliche Bürokratie – all diese Laufereien).

So, Richard aus Rixdorf also. Gestattet mir bitte an dieser Stelle einige Worte zum denkwürdigen Ort, der im Laufe der Zeit einige Namenswandelungen erfuhr. So war zum Beispiel Richardsdorp der ursprüngliche Name des Ortes. Dieses Böhmisch-Richardsdorf wurde 1734 vom König Friedrich Wilhelm I (dem Soldatenkönig) gegründet. Eine Kolonistensiedlung zwischen Richardstraße und Kirchgasse, vorwiegend für böhmische Einwanderer. Der Richardplatz mit der Bethlehemkirche und der Schmiede war hingegen die einstige Dorfaue vom benachbarten Deutsch-Richardsdorf. Aber auch Richertstorp war einige Zeit die übliche (eher niederdeutsche) Bezeichnung. Auch gut. Bis etwa 1876 schrieb man Ricksdorf aber 1896 bereits Rixdorf. Im Jahre 1800 zählte man im Dorf 714 Seelen. Heute, im Jahr 1900, hat das gemeinsame „böhmisch-deutsche Dorf“ namens Rixdorf, also besser diese Stadt Rixdorf, die im Kreis Teltow liegt, 76.800 Einwohner, ist also tatsächlich mehr, als nur zwei Dörfer.

Zwischen Weihnachten und Neujahr sind die gegenseitigen Verwandtenbesuche an der Tagesordnung. Der knapp dreijährige Sohn Johannes von Borries’ (nicht adelig) berichtet uns ganz aufgeregt mit sich überschlagender Stimme, dass er vom Weihnachtsmann „ne Raufsteige und Druffsitze“ bekommen habe. Bei dem anschließenden Betrachtungsgang kommt ein stattliches Schaukelpferd zum Vorschein.

Aber auch von anderen Leuten gibt es etwas zu berichten:

Graf von Zeppelin baut sein erstes starres Luftschiff, also ein solches mit Aluminiumgerippe, das auch ohne Gasfüllung seine Form behält. Schon wieder hatte Paris die diesjährige Weltausstellung ausgerichtet. Der Kristallpalast war und ist eine der vielen Sensationen. Ein elektrischer Versuchszug verkehrt zwischen Wannsee und Zehlendorf. Es erscheint als Briefmarkendauerserie die „Germania“. Von jetzt an werden auch in Wildau Lokomotiven gebaut, unter dem Firmennamen „Schwartzkopff“. In Preußen starben in diesem Jahr mehr als 36.000 Menschen während der Diphtherie-Epidemie.


1901

August Zelm lässt nun mit 61 Jahren seinen Fuhrbetrieb „langsam auslaufen“ und hat in der Rixdorfer Steinmetzstraße 115 (die später Kienitzstraße heißen wird) eine Gaststätte (als Eigentümer) übernommen behält aber seine Wohnung Steinmetzstraße 57. Es geht ihm gesundheitlich leider durchaus nicht bestens. Der Wechsel, eine günstige Altersvorsorge, etwas mehr Gemütlichkeit, scheint ihm aber zu bekommen. Natürlich ist seine Frau, meine Tante Charlotte am Wirtschaften in der Gaststätte sehr stark beteiligt. Sie ist die tragende Säule des Geschäfts; auch sie ist 61 Jahre alt.

Geboren wird am 20. Oktober 1901 in Wittenberge das fünfte und damit, wie wir später wissen werden, das letzte Kind der Jochmanns: Für „Luise Ida Clara“ entscheiden sich meine Schwester und ihr fleißiger Mann. Bei der Haus- und Grundstückserfassung in der Stadt Wittenberge wurden im Jahre 1900 an die 1.246 Häuser gezählt.

Zelms bekommen zum Jahresende eine neue Telephonnummer. Es ist jetzt in Rixdorf bereits die No. 462. Die Anzahl der Teilnehmer wächst enorm. Welch ein Aufschwung!


1903

Mein guter Onkel August Zelm, der Fuhrherr und Schankwirt, ist in der Rixdorfer Steinmetzstraße 115, am Abend des 12. Februar in seinem 63. Lebensjahr gestorben. Sein Herzleiden hatte ihm doch schon seit geraumer Zeit recht zugesetzt. Am 16. Februar begleiten wir ihn auf dem Neuen Jacobi-Friedhof zu seiner letzten Ruhe.

Tante Charlotte will aber die Gaststätte weiterführen, so sie ihr nicht über den Kopf wächst.


Mein Schwippschwager Alfred Zocher, also der Mann meiner Schwägerin Alma, geb. Dittwaldt, fungiert in seiner Profession als Bahnmeister bei der Elektrischen Straßenbahn. Er wohnt jetzt in Schöneberg, Fritz Reuter Straße 1, IV Treppen hoch.


Auf dem neuen Zweit-Grundstück der Dittwaldt-Schwiegereltern in Britz, Werderstraße 53, kann ich mein Fuhrgeschäft unterbringen, günstiger als in der Steinmetzstraße 61. Die Werderstraße 53 war 1900 noch Baustelle des Tischlers Fricke aus Rixdorf. Das Grundstück mit dem Neubau wurde aber bald von meinem Schwiegervater August Dittwaldt gekauft.

Alfred Zocher erzählt mir, dass für die 1901 in Neuendorf bei Potsdam, gegründete nagelneue Firma „Neuendorfer Kalk- und Mörtelwerke ein Verwalter gesucht wird. Herr F. Russow, Wiesenstraße, Tel. Nowawes – Neuendorf No. 150, ist der Besitzer. Noch in diesem Jahr wird Schwager Alfred statt dieses Herrn Russow sogar Inhaber der „Neuendorfer Kalk- und Mörtelwerke“. Alfred wohnt nur wenige Schritte von dort entfernt – Neuendorf, Potsdamer Straße 8, rechts neben dem „Deutschen Wirtshaus“ der Familie Ulrich, Nr. 9 und somit auf der Ecke Charlottenstraße, der späteren Glasmeisterstraße und der Bismarckstraße, der späteren Johannsenstraße. Diese kurze „Potsdamer Straße“ wird bald zu einem Teil der Wilhelmstraße umbenannt). Auf diesem Grundstück Nr. 8 befindet sich ein weiterer Teil des Betriebes für Kohlen, Steinguterzeugnisse und Baumaterial, als „zweites wirtschaftliches Standbein“ der Kalk- und Mörtelwerke.

Dort in Nowawes-Neuendorf gab es in diesem Jahr die 150-ste Wiederkehr der Einweihung der Friedrichskirche. Die Predigt wurde von Oberpfarrer Koller in Anwesenheit des Kronprinzen Friedrich Wilhelm gehalten.

In Wittenberge (Prignitz) wird in diesem Jahr das Singer-Nähmaschinenwerk gegründet.


1904

Dort, wo ich bereits mein kleines Fuhrunternehmen unterhalte, können wir in dem schönen Neubau in Britz, Werderstr. 53, nun sogar eine Wohnung beziehen. Wir haben hier die Telephonnummer: Rixdorf 466. (Die Britzer Werderstraße wird später in Wederstraße umbenannt – wieder ähnlich zwar, aber doch ganz anders als vorher, das kümmert uns dann nicht mehr. Carl Weder lebte von 1840 – 1914. Er war ein Großgrundbesitzer in Britz).

Am 06. Juni 1904 stirbt unser trefflicher Vater und Schwiegervater, der Zimmermann und Gastwirt Carl Ludwig August Dittwaldt im Alter von 67 Jahren. Er wurde in Dechsel im Kreis Landsberg (an der Warthe) geboren und wanderte als junger Handwerker nach Berlin ein.

Von Britz ziehen wir wegen des verlockend erscheinenden Arbeitsangebotes meines Schwagers nach Nowawes-Neuendorf, Wiesenstraße 20–22, (mit Telephonanschluss Nowawes No. 32). Kalk- und Mörtelwerke. Dort soll ich als geschäftsführender Verwalter dieses Betriebes, „das männliche Mädchen für alles“, mit Einkauf, Verkauf, Buchführung usw.) tätig sein. Alfred Zocher hat den Betrieb inzwischen erweitert. Jetzt werden zusätzlich Baumaterialien, Steinguterzeugnisse und Kohlen gehandelt. Die kurze Wiesenstraße, ein idyllisches Fleckchen Erde, zieht sich an dem Flüsschen Nuthe entlang, das ähnlich groß, wie die Biese in Osterburg ist. In der Wiesenstraße sind auf der Wasserseite vorerst kaum Grundstücke belegt. Die Landseite ist noch völlig frei. Wir wohnen direkt auf dem Betriebsgrundstück. Zu schade eigentlich für einen solchen Betrieb.

Für die Kinder (Käte sechseinhalb Jahre, Richard dreieinhalb Jahre jung), ist dieses Wassergrundstück mit viel Natur natürlich grundsätzlich ideal, wenn auch wegen des stark strömenden Flüsschens, der vielen Fahrzeugbewegungen auf dem Grundstück, des Umschlags schwerer Massen und der Verarbeitung des ätzenden Kalks nicht ungefährlich. Da müssen wir gut auf der Hut sein. Großen Spaß bereitet es den Kindern, auf langen Brettern von den Kiesbergen hinab zu rutschen, obwohl dann schon mal verschiedentlich Holzsplitter im Hinterteil zu beklagen und aus jenem zu entfernen sind. Das operieren wir. Wie manchmal beim Pferd, so auch beim Kinde. Klara blutet dabei das Herz aber nassforsch spricht sie in ihrer Berliner Art dem Kinde Trost und sich selber Mut zu, indem sie so etwas sagt wie: „Unjeschicktet Fleisch muss eben weg“ oder wenn solch ein Unfall „sehr ungelegen“ kommt: “Da wird doch gleich der Hund inne Pfanne verrückt“. Ja, ja so ist die Gute – aber dabei nicht etwa burschikos-grob, sondern mit lieblichstem Gesichtsausdruck.

Eine weitere Attraktion für die Kinder bilden die späteren Bootsfahrten auf der Nuthe mit unserem Punt, den wir wegen seiner Bauform auch gerne „den Sargdeckel“ nennen. Auf dem Grundstück Wiesenstraße No. 28–32 wohnt seit 1899 der schnelle Eisproduzent und Eishändler namens „Fix“. Also, er heißt wirklich so. Georg Robert Paul Fix ist sein Name, Tel. Nowawes-Neuendorf No. 130. Er stellt Stangeneis zur Lebensmittelkühlung her und handelt damit, bringt die Eisstangen zu den Kunden. Wir freunden uns bald mit diesem Nachbarn an. Frau Fix heißt Luise Marie und ist eine geborene Naumann (geboren in Britz am 26. Sept. 1864. Sie hatten damals in Britz an ihrem 28. Geburtstag, dem 26. Sept. 1892 geheiratet. Ihre Naumann-Vorfahren stammen wohl aus Britz bei Berlin, im Kreis Teltow – also fast unserer alten Heimat Rixdorf. Käte besucht die neuerbaute Charlottenschule in Potsdam, in der gleichnamigen Straße. Der Name erinnert uns alle an das 3. Kind von Königin Luise und König Friedrich Wilhelm III, „Charlotte“ (1798–1860). Diese wurde nach der Heirat mit Großfürst Nikolaus, dem späteren Zaren, unter ihrem neuen Namen Alexandra Fedorowna, später Mitregentin des riesigen russischen Reiches, blieb also uns Preußen nicht auf Dauer, sondern nur mal so besuchsweise erhalten. Eigentum des Paares aber war z. B. das väterliche Geschenk des Blockhauses Nikolskoe, neben das bald die Kirche Peter und Paul auf der Höhe nahe der Pfaueninsel gesetzt wurde. Die Nowaweser Einwohner sprechen dieses Kleinod gerne „Nikolsköö“ aus. Es möchte jedoch eher nach russischer Art „Nikolsko(j)e“ geheißen werden, was bedeuten will: „dem Nikolaus gehörend“.

Unsere Einkaufsstrecke für den täglichen Bedarf, einschließlich des Marktes, ist hauptsächlich die Priesterstraße in Nowawes-Neuendorf.

Fragte mich doch heute ein Kunde, der sich besonders redselig gab aber wohl eher ein Frechling ist, als er hörte, dass ich frisch aus Berlin zugereist bin, was der Name „Janecke“ wohl bedeute. Also erst „Ja“, dann „nee“, na wat denn nu, ulkte er etwas deplaciert herum. Ich klärte ihn sachlich aber kurz darüber auf, dass es sich um eine Ableitung von dem Vornamen Johannes handele, der ja in verschiedenen Varianten in der gesamten Welt verbreitet ist, egal ob schon in biblischen Schriften über das Heilige Land, bis hin ins heutige Skandinavien oder ebenso in slawischen Gebieten. Dort würde der Name wahlweise als Vor- oder Familienname genutzt. Auch in Deutschland sei er nicht selten; im Norden seine Verbreitung allerdings erheblich stärker, als im süddeutschen Raume. Bloß eben: Nicht alle schlichten Leute kennen diesen Namen.


1905

Am Sonntag, den 19. März startet unser Haus- und Hoffest unser „Herrenabend“ schon am Vormittag – bei Bier und guter Laune. Heute geh’n wir’s lockerer an als sonst aber zumindest der Stehkragen gehört zur Anzugsordnung.

Alfred Zocher (früherer Bahnmeister der Elektrischen in Berlin) hat das Kalk- und Mörtelwerk nun nach etwa drei Jahren der Inhaberschaft wieder abgegeben. Walter Langkau, für den ich in Berlin früher schon viele Fuhren erledigte, übernimmt den Betrieb als Eigentümer. Langkau ist bisher in der Gewerberolle als Kaufmann in Treptow, Köpenicker Landstraße 50 eingetragen. Als Inhaber des Kalk- und Mörtelwerkes fungiert jedoch derzeitig Ernst Wilke.


1906

Zu Ostern, im März 06, kommt Richard mit fünfeinhalb Jahren in die Schule. Platz findet sich für ein Jahr vorerst in der Oberlin-Schule, bis das neue Kommunale Schulhaus in der Priesterstraße fertig gestellt ist, worauf er sich schon sehr freut, denn der bisherige tägliche Umgang mit den teilweise schwerstbehinderten Kindern, scheint ihn seelisch arg zu belasten.

Meine Tante Charlotte (geb. Janeke) ist umgezogen. Im Telephonbuch könnt Ihr sie jetzt finden unter: Zelm, Charlotte, Gastwirtin, Rixdorf, Richardstraße 7 – 8, Tel. Rixdorf 1141. Das große Miethaus steht gegenüber der (späteren) Berthelsdorfer Straße. Wenn ich sie besuche, gehe ich gern durch die Kirchgasse und das alte böhmische Dörfchen.

Die Nowaweser Umgebung haben wir inzwischen auf ausgedehnten Sonntagsspaziergängen schon weitgehend erkundet. Es gehören beispielsweise dazu: Der Park von Sanssouci, der Neue Garten mit dem Heiligen See. Auch Ausflüge nach Caputh und Petzow sowie nach Ferch (mit dem Dampfschiff) unternahmen wir. Selbst die Ravensberge sind uns nicht mehr unbekannt. Seltener aber gern besuchen wir das Gasthaus „Rindfleisch“, in der Großbeerenstraße Ecke Jagdhausstraße, in Richtung Gütergotz, nahe dem alten Jagdschloss Stern gelegen, das auch vegetarische Gerichte führt. Es handelt sich nämlich nicht um einen „Werbenamen für eine potenzielle Einseitigkeit der Gaststätte“, sondern der Eigentümer heißt mit seinem bürgerlichen Familiennamen nun eben so.


1907

Umschulung: Der neue Schulkomplex wird am Dienstag, 09. April eingeweiht. Von der Wiesenstraße bis zur neuen Schule, der Gemeindeschule I für Jungen, in der Priesterstraße 24 und Friedrichkirchplatz 13 (Rückseite des Grundstücks), hat Richard ein ganzes Stück zu laufen. Der Rektor ist Herr Ritter, der Klassenlehrer Herr Trinkaus – ein verständiger Mann, der uns gefällt. Die Klassen 7 bis 4 wird Richard hier in Nowawes absolvieren.

Unter großem Jubel löst in Potsdam am 02. September 1907 „Die Elektrische“ den Pferde-Straßenbahnbetrieb ab. Das Ding fährt richtig, leise brummend, ohne Zugtiere davor, staunen manche Leute, die beispielsweise noch nicht in Berlin waren.

Familie Weiland sendet uns eine Neujahrskarte, auf der sie, also Gustav, seine Frau Marie (die älteste Schwester von Klara) und Sohn Georg in ihrer Gaststätte zu sehen sind. Eine hübsche Familien-Werbung, auch mal wieder zu ihnen zu kommen (nur Sohn Bruno fehlt noch auf dem Bild).


1908

Es kommen die ersten Kolben-Füllfederhalter in die Geschäfte. Trotzdem wird noch längere Zeit mit dem einfachen Eintauch-Federhalter geschrieben werden.


1909

Meine verwitwete Schwiegermutter Alwine Pauline Dittwaldt, geb. Zinnow, konnte und meine Frau wollte die Häuser Kottbusser Damm 34 und Werderstraße 53 nicht mehr alleine bewirtschaften. Marie und ihr Mann Gustav Weiland kaufen der Mutter am 01. April 1909 beide Gebäude ab und ihre anderen erbberechtigten Geschwister werden ausgezahlt. Marie ist Klaras älteste Schwester. Die vorgenannte Mutter Alwine Pauline Dittwaldt selbst wohnt später bis zu ihrem Lebensende bei Tochter Marie (Weiland) in Zehlendorf, Düppelstraße 11.


1910

Unser Richard ist am 01. Oktober 10 Jahre alt geworden. Von uns erhält er eine Eisenbahn in der üblichen Spurweite „0“, die echt mit Feuer und Dampf fährt. Eigentlich viel zu gefährlich für ihn, so dass ich ihn bei seinem frohen Spiel ernsthaft unterstützen muss. Von Onkel Max Dittwaldt aus Deutsch-Eylau bekommt er das Sammelwerk der Brüder Grimm „Sagen des Deutschen Volkes“. In beiden Fällen handelt es sich um echte Klassiker.

Unsere sonntäglichen Ausflüge führen uns mal an der Havel entlang über Moorlake und Nikolsko(j)e, bis hin zur Pfaueninsel, zum Forsthaus Templin oder nach Sacrow zur Römerschanze.


1911

Inzwischen unternimmt Richard auch alleine Bootstouren mit unserem Punt. Manchmal geruht auch Käte noch mitzufahren, sofern sie nicht den „Flitz“ hat, sich dafür als zu erwachsen vorzukommen oder sich dafür als zu vornehm zu halten. Oft nimmt Richard auch seinen Lesestoff mit ins Boot, hinter den lichtbrechenden Vorhang der Trauerweide, um zu schmökern. Hoffen wir, dass es nie „zur großen Wässerung der Weltliteratur“ kommt. Im Hochsommer war aber eine gemeinsame Rettungsaktion vonnöten, als der Kahn bei Niedrigwasser unter der Brücke, quasi der Kreuzung mit der „Kaiser-Wilhelm-Straße“ auf die Steine aufsetzte und von den Kindern weder vor- noch zurück bewegt werden konnte. Ja, es gilt immer noch das alte Fahrensmann-Wort, dass man mindestens eine Hand hoch Wasser unter dem Kiel haben sollte. In unserer Nowaweser Wiesenstraße siedeln inzwischen als Nachbarn in No. 24 – 26 Fa. Wolter, Zementwaren und der Tischler Hoffmann. Mein Chef, Walter Langkau, ist nach SO 33, Am Treptower Park 21 umgezogen und ich werde bald nach Berlin geholt. „Schon wieder ein Umzug“, entsetzt sich Klara, „da steht man nu wieder da, wie d’ Kind beim Dreck“.

Meine gute Tante Charlotte Zelm ist auch noch einmal umgezogen. Sie lebt nun in Rixdorf, Nogatstraße 2, Telephon Rixdorf 9138. Es ist das Eckhaus zur Rübelandstraße. Das sind nur reichliche fünf Fußminuten von der bisherigen Richardstraße entfernt. Es ist eine ruhige Gegend. Später wird dort, wenige Schritte weiter, der schöne Koernerpark angelegt, aber das erlebt sie nicht mehr, denn noch in diesem Jahr stirbt sie mit 71 Jahren.

Meine Geburtsstadt Osterburg hat jetzt 5.146 Einwohner. Der derzeitige Bürgermeister ist Herr Hilliges. Er ist bemüht, ein neues Geschichtsbuch über die Stadt zusammenzustellen, da ja alle historischen Akten bei dem Großen Stadtbrand von 1761 verbrannt waren. In Osterburg gibt es (für nur wenige Jahre) einen neuen „Janecke“. Dieser ist jedoch dort nicht geboren worden, sondern zugezogen. Herr Paul Janecke, ist Dienstvorsteher des Bahnhofs. Er wohnt auch im Bahnhof (Wilhelmstraße 11, der späteren Bahnhofsallee 11). Am 17. April 1911 wurde ihm ein Sohn: Heinz Paul Fritz Robert Janecke geboren. Er scheint aber nicht eng mit uns verwandt zu sein. Ich habe vorher noch nie von ihm gehört. Ein Zweig seiner Vorfahren soll wohl in Magdeburg gelebt haben.


1912

Wir laden all unsere Habe erneut auf den Wagen und ziehen mit dem Wohnungsinhalt am Neujahrsfeiertag, den 01. Januar wieder der Arbeitsversetzung nach, die für mich die Aufgabe eines Firmenbuchhalters mit sich bringt. Es war für uns also kein Neujahrsfeiertag – und gleich nach Weihnachten das Packen. – Wir leben jetzt im vornehmen Britz, in der Hannemannstraße 32a. Die gesamte Häuserzeile ist fast neu; erst nach 1909 fertig gestellt. Im Erdgeschoss, rechts vom Eingang, erhalten wir eine schöne Dreizimmerwohnung mit zwei Balkonen in bester Umgebung. Der Hof ist wunderschön als kleine Parkanlage gestaltet, die Gegend ruhig und freundlich. In diesem Hause wohnen: Manthei, W. als Verwalter, Dalichow, ein Kaufmann aus Jüterbog; Graupner, von Beruf Zimmermann; Grunschewski, Fr. Oberwärter; Janecke A., Buchhalter; Konrad, W. und Wölk, W., sowie Neumann, C., alles Straßenbahnschaffner; Majewski H., Buchdrucker; Paulenz, M., Schneider; Schmidt, H., Lehrer; Wuttke, Fabrikarbeiter und endlich Schuch, W., Kaufmann - dessen kleine Tochter „Püppi“ gerufen, unseren Richard verehrt.

Das Haus links neben uns, Nr. 33, ist das Eckhaus (zur späteren Pintschallee), mit der Gaststätte „Zum Goldenen Löwen“. Auf der dem Hause gegenüberliegenden Straßenseite erstreckt sich das ruhige Gelände des Kreis-Krankenhauses mit seinen Parkanlagen, also haben wir keine direkten Wohnbauten im Blickfeld. Herr Prof. Dr. Heinrich Riese (1864 – 1928) ist Chef des Krankenhauses.

Am 28. März 1912 stirbt in Wittenberge mein Schwager der Buchdrucker Franz Jochmann in der Mohrenstraße 4 im Alter von nur 44 Jahren. Nun steht meine Schwester mit den fünf Kinnings alleine da, von denen das Jüngste gerade 10 Jahre alt ist. Im Frühjahr wird Käti hier eingesegnet. Richard besucht jetzt die III. Gemeindeschule von Britz (Klasse 3). Als ich heute vom Dienst kam, begegnete mir Klara recht verstört. Richard sei mit geschwollenen Fingern aus der Schule gekommen. Und das sei so gekommen, erzählte Richard: Irgendein Schüler habe aus Spaß eine kleine Missetat vollbracht. Der Lehrer habe die Schüler aufgefordert, dass der Urheber der großen Ungehörigkeit sich melde, was aber nicht zum augenblicklichen Erfolg führte. Um das Erinnerungsvermögen der Schüler zu wecken und zu stärken, nutze er seinen üblen aber üblichen Spruch: „Ein klei-nes Ver-giss-mein-nicht“. Bei jeder Silbe ließ er, durch die Bankreihen laufend, die Spitze seines Rohrstocks über die auf den Tischen ausgestreckten Finger wippen aber bei der letzten Silbe schlug er unbarmherzig zu, um seinen Unmut abzureagieren. In den meisten Fällen trafen diese Schläge natürlich den „falschen“, den unschuldigen Schüler. Er hatte die potenziellen Empfänger seiner Strafen wohl nur selten vorher ausgezählt. So galten ihm seine Treffer wohl eher als gottgewollt. Klara meinte noch ganz aufgeregt zu mir: „Der Herr Lehrer is wohl mit’m Klammerbeutel jepudert“ – aber dann eher lakonisch mit resignierendem Unterton zum Sohn, ob dieses „Gottesurteils“, das ihn ohne sein Verschulden getroffen hatte: „Ach, Junge – lass doch den Heiden toben. Wart's nur ab, et kommen wieder bess're Tage“.

Wir beobachten des Öfteren gemeinsam die Zeppelinschen Luftschiffe, die am Himmel brummend vorüberziehen und auch die ersten Motorflugzeuge die uns überfliegen, so zum Beispiel mit dem Aviatiker Latham. Dieser wurde noch vor einigen Jahren, als er vom Tempelhofer Feld nach Johannisthal flog, vom dortigen Gendarmen mit einer Strafe belegt – wegen groben Unfugs! Hier einfach rumfliegen wollen! So neu war damals das Fliegen. Im September wird das Schulsystem in Britz neu geordnet. Viele Kinder, so auch Richard, werden zur Auflockerung der Verhältnisse von der bisherigen III. Gemeindeschule, an den jetzt fertig gestellten Neubau, die I. Gemeindeschule, Britzer Damm 162, übergeleitet. Hier besucht er die Klassen 2 und 1, womit dann sein gesamter Volksschulbesuch Ostern 1915 zu Ende gehen wird. Der Wechsel tat ihm gut. „Et kamen bess're Tage“ – wie vorausgesagt.

Die Orte Rixdorf, Britz, Buckow und Rudow werden zusammengefasst und heißen von nun an „Neukölln“. Die Stadt Berlin schluckte vor Zeiten bei der Zusammenlegung den Namen der Schwesterstadt Cölln. So haben wir nun in lieber geschichtlicher Erinnerung zumindest wieder „Neukölln“. Unsere alte Rixdorfer Jägerstraße wird in Rollbergstraße umbenannt.

In meiner altmärkischen Heimatstadt stirbt nun auch mein Mütterlein Dorothea Elisabeth Janeke/Janecke (geborene Neumann aus Schmersau) am 15. September im Alter von 74 Jahren im Altenheim „Spital Sankt Georg“, in der Stendaler Straße.

Grüße aus Osterburg senden uns zu dieser Jahreswende unsere Nachbarn von Gegenüber – Familie Kraberg aus der Melkerstraße 9 sowie auch meine Schwägerin Marie aus Zehlendorf. Ihr Mann Gustav (Gastwirt Weiland) ist dort Eigentümer des neuen Mietshauses Düppelstraße 11/11a (nach 1915 in Nr. 20 umnummeriert. Aus Nowawes lädt uns Familie Staats ein. Sie leben jetzt in dem neu errichteten Hause Havelstraße 28, nur wenige Schritte von unser Wiesenstraße 20–22 entfernt, in der wir von 1904 bis zum Ende des vorigen Jahres 1911 wohnten.


1913

Richard ist heute mit Klara in Steglitz. Er schreibt uns einen langen Brief vom Besuch des dortigen Botanischen Gartens. Er ist sehr schön geschrieben, wir werden ihn aufbewahren (Anmerkung von C. J.: und dieser Kinderbrief existiert auch nach über 100 Jahren noch).

Am 17. November stirbt meine Schwiegermutter Alwine Pauline Dittwaldt, geborene Zinnow (aus Nowawes stammend) im Alter von 70 Jahren in Zehlendorf bei Weilands. Damit haben unsere vier unmittelbaren Vorfahren die Lebenden verlassen und wir bilden nun die „Spitzengruppe“, wir sind „die nächsten“, obwohl unsere Kinder uns noch lange brauchen werden.

Mit uns im gleichen Hause, Hannemannstraße 32a, wohnt auch die Familie Schuch, ich erwähnte es bereits. Herr Schuch ist Kaufmann, Frau Schuch bekleidet sogar eine Funktion als Abgeordnete. Ihre kleine Tochter „Püppi“ verehrt unseren doch nun schon größeren, zwölfjährigen Richard. Auf die Frage, was sie an ihm denn so Besonderes fände, antwortet sie ob seines schon umfangreicheren Wissens: „Na der Richard ist doch meine große Denke“.


1914

In diesem Jahr wurde in meiner altmärkischen Heimat am 13. und 14. Juli die Strecke der Kleinbahn: Osterburg - Deutsch Pretzier eingeweiht. Sie führt von Osterburg über Schilddorf – Storbeck – Klein Rossau – Rönnebeck – Orpensdorf / Natterheide – Schmersau – Gladigau – Book – Kleinau – Dessau – Sanne / Kerkuhn – Schernikau – Vissum – Klein Garz – bis nach Deutsch Pretzier. Viele Haltepunkte auf der nicht sehr langen Strecke. In Osterburg beginnt die Kleinbahn auf dem Bahnhof; etwas südlich der Großen. Mein Schwager Max Dittwaldt, der Reichsbahn-Inspektor, sendet unserem Richard zum 14. Geburtstag ein „Neues Vortragsbuch – Vom Guten das Beste“ für das Entwickeln einer guten Rhetorik. Na, denn man los! Richard will schon mal vorerst einen „Verein für deutliche Aussprache“ gründen. Er hat beileibe nicht die Berliner Mundart seiner Mutter angenommen, die oft recht flott, schnodderig, scheinbar leicht über Tiefen hinweggeht. Käte haut dagegen voll in die mütterliche Kerbe. Gerade schallt ihr Ruf durch die Wohnung: „Da kiekste, wie der Pup inne Laterne“, weil sie wohl meinte, ihr Bruder Richard hätte einen ihrer lustig springenden Gedanken nicht schnell genug erfasst.

Es beginnt der Krieg. Am 09. Oktober erhalten wir Feldpost von Schwager Alfred Zocher. Er wurde abkommandiert Richtung Osten, vorerst mal nach Graudenz an der Weichsel (100 km südlich von Danzig). Auf die planmäßig kurzen, schnellen Kriegshandlungen wurde die Bevölkerung mit viel „Hipp Hipp Hurra“ und „Jeder Schuss ein Russ’ – jeder Stoß ein Franzos’“ oder ähnlichen markigen, kraftvoll-sinnlosen Losungen vorbereitet. Sogar auf neuen Kleinkindertellern sehen wir in bunten Bildern, wie schön es im Kriege ist – aber erst dann, wenn das Kind brav isst. Ob es seinen Vater je wieder sieht?

Mein jüngerer Bruder Wilhelm Janecke aus Wittenberge dient als Kanonier bei der Infanterie.

Unsere Tochter Käte „dient“ im Kriege in der Schreibstube des Militärs in einer Kaserne und ich diene dem Vaterlande momentan noch als Buchhalter.


1915

Nach Ostern tritt unser Richard als Lehrling für Zeichnen und Retusche in die Graphische Kunstanstalt Baudouin in der Berliner Alexandrinenstraße 35 ein, was wohl seinen Neigungen entspricht, soweit man es heute einschätzen kann. Die Lehrzeit soll vom 01. April 1915 bis zum 01. April 1919 währen. Also wird er ein Verfechter nicht nur der deutlichen Aussprache, sondern auch der deutlich schöneren Schrift. Käte lernt in dieser Zeit den Beruf einer Putzmacherin. Also, nicht etwa Mörtelmischerin für Fassadenputz noch Putzfrau ist sie, sondern mit der Schmuckgestaltung von Damenhüten befasst. Darauf soll man als Laie erst einmal kommen.

Soldatenschwager Alfred Zocher schreibt uns aus Hanau am Main am 24. März, wo er derzeitig als Feldwebel stationiert ist. Aha, hat man von Graudenz aus kommend, den Rückwärtsgang eingelegt? Nur gut so. Er ist jetzt in der Ersatz-Kompanie 3 des Eisenbahnregimentes No. 2. (Sozusagen von der Straßenbahn zur Reichsbahn befördert. Auch ein Aufstieg). Für ihn sei es noch unbestimmt, wann er wieder ins Feld rückt. In „das Feld der Ehre“, wie es in der Zeitung steht. Am 10. August schreibt uns Klaras Neffe Kurt Borries. Dieser dient in der 1. Kompanie der Reserve-Brigade des Jäger-Bataillons 15. (Er verfügt allerdings nicht über Erfahrungen in der Forstwirtschaft).

Richard wird am 14. März in Britz konfirmiert. Recht feierlich. Schön die Umgebung der Kirche mit großen Linden bestanden. Genau wie auf dem Schulgrundstück, nur sind es dort noch junge Bäumchen. Wir Eltern schenken ihm ein in Leder gebundenes evangelisches Gesangbuch mit seinem eingeprägten Namenszug. Sein Onkel Max Dittwaldt aus Deutsch-Eylau hat ihm als Erinnerung an diesen Tag eine Taschenuhr geschenkt. Schwager Max ist in jeder Hinsicht sehr verständig und äußerst großzügig.


In meiner alten Osterburger Heimat stirbt unser Nachbar von gegenüber (Melkerstraße 9), der Ackerbürger Friedrich Kraberg. Geboren war er am 3. März 1843 in Flessau (war also im Jahr nach meinem Vater geboren), ist nun am 23. Mai mit 72 Jahren aus dem Leben geschieden und am 26. Mai von Pf. Stephan beerdigt worden, (Reg.-Nr. 1915 Nr. 42).


Ein erneuter Wohnungsumzug, von der Britzer Hannemannstraße 32a, zurück nach Nowawes steht an! Aus diesem Grunde mussten wir Richards Lehrverhältnis bei Herrn Baudouin in Berlin auch zum 30. August auflösen. Ab September 1915 wohnen wir in Nowawes am Friedrichkirchplatz im Hause Mittelstraße 7/9, gerade gegenüber der Gaststätte „Billardheim“, Mittelstraße 6. Unser Hauswirt ist hier Herr Bosse. (Später, um 1930, wird die Mittelstraße in Wichgrafstraße umbenannt).

Die jüdischen Fabrikanten Benno Orenstein und Arthur Koppel gründeten 1899 in Neuendorf, nahe dem Bahnhofe Drewitz eine Fabrik für leichte Lokomotiven. Im ersten Jahr betrug die Anzahl der Leute über 420 Arbeiter und Angestellte, die vorerst etwas mehr als 100 Maschinen im Jahr produzierten. Besonders imposant ist innerhalb des Werkes die sinnreiche örtliche Führung der Zulieferungen anzuschauen: Die Zubehörteile kommen aus zwei Reihen von Maschinenhallen, die um die Endmontagehalle angeordnet sind. Jene zylindrische Halle mit kreisrundem Grundriss für den Endzusammenbau der Loks im Mittelpunkt (der "Zirkus"), wird von einer freitragenden Kugelkalotte überspannt. Mit 50 Metern Durchmesser sei sie wohl die größte zu dieser Zeit auf unserem europäischen Kontinent, hörte ich. Ein zukunftsweisendes Unternehmen, das viele neue Arbeitsplätze sichert.

Hier nimmt Richard nun eine Ausbildung in der Lokomotivbau-Konstruktion auf, mit den Zielen, erst Maschinenbauzeichner, dann Teilkonstrukteur zu werden. Das Lernen und Arbeiten im konstruktiven Lokomotivbau wird bis 1921 andauern. Neben der praktischen Ausbildung lernt er an der Gewerblichen Pflicht-Fortbildungsschule in der Wichgrafstraße 2. In diesen Jahren bin auch ich bei der Firma Orenstein und Koppel, allerdings mit kaufmännischen Aufgaben in der Offertabteilung, beschäftigt.

08. Dezember. Unser schreibfleißiger Schwager Alfred grüßt aus seinem Einsatz in Poniewicz. Als Eisenbahner ist er dem Streckenarbeitertrupp zugeteilt. Das beiliegende Bild zeigt ihn nicht in Arbeitsuniform, aber mit Auszeichnungen und Unteroffiziers-Degen. Er bittet um Päckchen mit Speisesalz – eine sehr begehrte Tauschware für andere Lebensmittel.

Apropos Streckenarbeiter: Es sei eine erlebte Begebenheit eingefügt, um uns die Stimmung in dieser Zeit etwas aufzuheitern. Also: Zwei Frauen sitzen in Berlin im stehenden Zug. Draußen geht eine Streckenläuferin der Bahn im vorgegebenen 60 cm-Tippelschritt vorüber, bekleidet mit einem Überzieher, einer weißen Wachstuchpelerine. Frau 1, kopfschüttelnd, mehr zu sich selber: „Na, Meechn, mit die weiße Weste mittenmang de dreckjen Schien’?“ Frau 2, aufklärend: „Nee, nee Hertha, det is doch mehr sone Art Tarnbekleidung, damit se der Zuch besser sehn dut.“


1916

Für Richard bedeutet die Lehre bei Orenstein und Koppel oft ein hartes Brot. Hat er zum Beispiel eine komplizierte Konstruktionszeichnung vom Lokomotivbau auf Transparent in Bleistift gefertigt und sie wird für gut befunden, „darf“ er sie mit Ausziehtusche schwarz „ausziehen“. Ist die Tusche kaum getrocknet, kommt der Auftrag, die schöne Zeichnung auszuradieren, so dass man weder Tuschelinien noch Beschriftung auf dem Transparentbogen mehr erkennen kann. Natürlich darf er mit dem Radiermesser kein Loch schaben, dann beginnt die Schinderei ganz von vorne. Zum Üben. – „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ und „Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt“. Gute Zeichnungen für die Fertigung werden auf Karton übertragen, oft farbig gezeichnet bzw. wegen der besseren Haltbarkeit auch auf strapazierfähiges Leinen aufgeleimt.

Da habe ich es in der Offertabteilung einfacher. Wenn wir für unsere kaufmännischen Arbeiten nicht die Schreibmaschine nutzen, schreibe ich die wichtigen Sachen per Hand mit der schwarzen Eisengallustinte und die Alltagsaufzeichnungen mit dem Kopierstift.

Entspannung bringen uns gemeinsame sonntägliche Ausflüge, soweit die Zeit reicht. Bei aller Heimaterforschung bleibt aber der nahe Park Babelsberg unser Lieblingsspaziergebiet. An die Personenzüge, die im Monat Maien vom Baumblütenfest in Werder an der Havel zurück nach Berlin fahren, werden vorsichtshalber Güterwaggons mit Strohschüttung angehängt, denn gar mancher Passagier ist des jungen süßen Obstweins übervoll.

Käte ist mit dem Nowaweser Leben in ihrer jetzigen Entwicklungsphase wie’s scheint nicht so recht zufriedenstellend ausgelastet. Allzu gern fährt sie ganz wichtig mit der Dampfbahn nach Berlin, um ihre Basen zu besuchen und vor allem wohl ihre Vettern zu nutzlosem Tändeln bei Stelldicheins aufzusuchen. Da wären zuvörderst wohl Weilands Georg und Borries’ Kurt zu nennen, die beide rund zwei Jahre älter sind, als unser Mädel. Nun gut, aus dem Backfischalter geht sie langsam hinaus und mir soll’s schon recht sein, dass sie sich in der Welt umschaut, wenn sie ihre Aufgaben darüber nicht vernachlässigt.

Auch ich bin nun zum Kriegsdienst eingezogen worden. Als ich klein war, witzelte mein Vater gern, dass ich nie mehr zum Militär brauche, weil ich, 1869 geboren, ja schon im Krieg 1870 / 71 gegen Frankreich, als „Einjähriger“ dabei war. (Zur Erläuterung: Ab 1813 gab es in Preußen die Möglichkeit, als Einjährig-Freiwilliger in einer verkürzten Form den Wehrdienst zu leisten, eben 1 Jahr lang, statt der sonst üblichen 2 – 3 Jahre. Der Einjährige musste sich dafür aber auf eigene Kosten ausrüsten und versorgen. Daher kam ein solcher Dienst nur für Söhne wohlhabender Familien in Betracht. Eine weitere Voraussetzung war ein guter Abschluss mindestens der mittleren Schulreife. Das war für manchen Wohlhabenden dann schon eine größere Hürde).

Ich diene also nun in Wirklichkeit weder als Freiwilliger, noch als Einjähriger, sondern im
1. Garde-Dragoner-Regiment (der schweren Kavallerie), und in der Tätigkeit als Trainsoldat. Ihr wisst ja, die Berliner Kaserne befindet sich unweit unserer früheren Wohnorte, gleich südlich des Belle-Alliance-Platzes. Trainsoldaten sind Männer für Transportaufgaben, sind Führer von Pferden, die unter manch anderem auch die Aufgabe haben, Wagen oder Geschütze (vorzugsweise durch unwegsames, schweres Gelände) zu manövrieren. Die Pferde allerdings bücken sich selten im Schützengraben. Ich bin also auch in vorderster Linie, ohne vordergründig selber auf einen Gegner zu schießen. Bei allem Schlechten ist das gut, weil ich ja den größten Teil meines Berufslebens mit diesen schönen, sensiblen Tieren verbracht habe, die jetzt für Kaiser und Vaterland oftmals zerschunden werden. So kann ich zumindest einigen, neben sachgerechter gemeinsamer Arbeit, zeitweilig Trost und Hilfe geben. Unsere Veterinäre, so welche da sind, ziehen mich auch oft zu den Operationen als Helfer hinzu, soweit verletzte Tiere nicht den Gnadenschuss erhalten müssen. Solche Aktionen können einem das Herze im Leib zerreißen. Nur gute Tiere habe ich bisher gesehen aber viele schlechte Menschen, von den grausamen Erlebnissen im Kriege ganz zu schweigen.

In dieser Zeit gehen solche weisen Sprüche um, wie:

Spiele nicht mit Schießgewehr – denn es könnt’ geladen sein.

Quäle nie ein Tier zum Scherz – denn es fühlt wie du den Schmerz.

(Witzbolde vertauschen mitunter die zweiten Satzhälften miteinander). Diese einfachen Wahrheiten gehen einem nicht aus dem Kopf, drehen sich im Kreise, wenn es mitunter an Abwechselung fehlt.


1917

Unsere Familie nutzt die Möglichkeit, in eine größere Wohnung in der gleichen Straße umzuziehen. Wir leben jetzt, ich momentan ja nur urlaubsweise, in einer Dreizimmerwohnung, im Parterre rechts, im Hause Nowawes, Mittelstraße 22, bei dem Hauswirt Töpfermeister Max Lüscher (Tel. 246).

Nun finden wir, ich mit 48 Jahren, hier hoffentlich unsere endgültige Heimstatt. Ab 04. Mai ist Richard ehrenamtlich Helfer in der Kinderkirche bei Pfarrer Viktor Hasse zur Betreuung einer Jungengruppe. Diese Nebenbeschäftigung wird bis 1930 andauern. Seinen 17. Geburtstag hatte er in seiner Gruppe mit „20 kleinen Geistern“ gefeiert. Der Richard hat es ja mit der Kirche, nicht nur so sonntags zum Mitlaufen, sondern als ständig aktiver friedlicher Streiter.

Im Oktober '17 schreibt uns mein Bruder Wilhelm, der Kanonier, (der in Friedenszeiten als Zimmermann in Wittenberge, Schützenstraße 25 wohnt) anlässlich Richards Geburtstag. Seine Grüße als Soldat kommen aus dem Festungs-Lazarett in Metz, mit dem Namen „Blandinenstift“ (ich las natürlich hoch erfreut zuerst Blondinenstift, was ja auch nicht ganz verkehrt schien, da die Einrichtung nach der seligen Ordensschwester benannt ist. Aber nur an ihren richtigen Vornamen und ihre guten Taten sollen wir denken).

Doch gleich der Ernst: Es hat meine Bruder Wilhelm erwischt aber er ist am Leben geblieben.


Zur Weihnachtszeit 1917 erhalte ich Kurzurlaub, wechsele also vom Kriegsdienst zum kurzen Minnedienst. In unserem Hof entsteht ein Foto von mir im Schnee mit Uniformmantel vor dem Schlafzimmerfenster. Man weiß ja nie – wird es als letztes Andenken auf dem Nachttisch stehen müssen? Unser Schwager Kurt Borries ist inzwischen zum Oberleutnant befördert worden, ich aber bleibe lieber unten. Viel zu essen gibt es in der Heimat nicht in diesem „Kohlrübenwinter“. Seit langem gibt es nur Nahrungsmittel auf den „schmalen Lebensmittelkarten“. Adé ihr schönen Träume von Weihnachts-Urlaubsfestschmaus und so.


1918

Unsere Käte nimmt an einem Schneiderkurs teil und will auch (neben dem Putz – denn wer lässt sich heutzutage schon putzen?) eine derartige Tätigkeit aufnehmen. Richard belegt zusätzlich an der Technischen Lehranstalt Nowawes vier Semester Technische Kurse in der Weiterführung seiner Ausbildung zum Techniker bei Direktor Herrn Schenk und den Lehrern Prof. Lipp, Kutta, Möbius und Scheferling. Gleichzeitig beginnt er den fünfsemestrigen Kurs in Kunst- und Plakatschriften. Da hat er mit den verschiedenen Abendausbildungen, die ja zeitlich nebeneinander laufen und den Hausaufgaben, ein gerütteltes Maß zu tun; neben der Lehrzeit am Tage bei Orenstein und Koppel, die ja noch anhält. Er hat die Zeichen der Zeit erkannt, dass jeder aus sich das Beste machen muss, was ihm möglich ist.

Am 28. April kommt aus Frankreich eine Karte von Bruno Weiland (in erster Linie schreibt dieser seiner Base Käte). Die Karte enthält allerdings keine neuen, geschweige denn wirklichkeitsnahen Nachrichten, sondern den lapidaren Hinweis: „Leider kann ich mich wegen des Papiermangels nicht weiter ergehen“, dafür lesen wir zwei fette Stempel von der Überwachungsstelle: „Geprüft“ und „Die Post wird bevorzugt befördert, wenn der Soldat deutlich schreibt und sich kurz fasst“. Klar, schreibt man (dem Zensor) nichts Wesentliches. Das Wichtigste ist doch – wir wissen, dass der Absender lebt.


21. September: Georg Weiland (der ältere Bruder des obigen) und seine Frau Dorothea aus Berlin-Südende, Potsdamer Straße 31, zeigen uns die glückliche Geburt ihrer Tochter Gisela an (endlich hält mal ein moderner Vorname Einzug in die Verwandtschaft).


Im Jahre 2015 von meinem Enkelsohn Chris Janecke nachgetragen:

Leider blieb Wilhelm Janecke nach der Verwundung im Vorjahr und Wiedererlangung

seiner Diensttauglichkeit nur vorläufig am Leben, denn er stirbt als Soldat (Kanonier) im Kampfeinsatz am 12. September 1918, zwei Tage nach seinem 48. Geburtstag, zwei Monate vor Kriegsende.

Quelle: Genwiki. Verlustlisten Erster Weltkrieg, Ausgabe 2099, 1918-09-12,

Seite 26.209, der Datenbank von wiki hinzugefügt 2014-07-04.

Weitere Anmerkungen zu Kriegstoten am Ende des Lebenslaufes.


Wie es auf den damaligen Kriegsschauplätzen aussah, darüber gibt es viele Berichte, eine Menge Literatur. Denken wir beispielsweise an

- „Erziehung vor Verdun“, von Arnold Zweig oder an

- „Im Westen nichts Neues“, von Erich Maria Remarque.


Es ist mir nicht bekannt, sagt Chris Janecke (2015), ob die Angehörigen des Wilhelm Janecke von dessen Schicksal überhaupt je erfahren hatten oder ob er für sie als vermisst blieb. Wilhelm war nicht verheiratet (seine Heimatanschrift: Wittenberge, Schützenstraße 25, in der Kriegszeit somit verwaist). Seine Eltern waren bereits altershalber gestorben. Es gab nur noch die Schwester mit Familiennamen Jochmann in Wittenberge und den Bruder August, ebenfalls im Krieg sowie dessen Familie in Nowawes bei Potsdam lebend. Eine direkte Nachricht von der Front an die Verwandten in der Heimat erscheint somit zumindest zweifelhaft.

Der Neffe des Kanoniers Wilhelm, Richard Janecke (der Vater des Chris Janecke, des Schreibers dieser Zeilen), wusste nichts vom Soldatentod des Onkels. Er meinte, die Spur des Wilhelm habe sich am Kriegsende verloren. Eigentlich wollte er schon lange nach Amerika auswandern. Vielleicht habe er diesen Lebensplan kurzentschlossen verwirklicht? Das tatsächliche dramatische Lebensende des Wilhelm, ein Schicksal das er mit Millionen anderer teilte, wurde den Nachkommen seiner Familie wahrscheinlich nun erst nach 100 Jahren bekannt.

Er war eines der Opfer, die „auf dem Felde der Ehre für Kaiser, Volk und Vaterland fielen“ und diese Darstellung bedarf der Korrektur um sich der Wahrheit zu nähern. Es war keine Ehre auf diesem Feld. Es war ein Kampffeld unsinniger Aggression im überfallenen benachbarten Land. Es war kein Einsatz für das Volk, etwa um heimatliche Werte zu verteidigen. Wilhelm und seine Kameraden fielen nicht einfach, sie wurden erschossen, zerfetzt von den Verteidigern ihrer französischen Heimat. Hätten sie sich aber diesem Kampf verweigert („alle sind Brüder“), so wären sie auf Befehl von den eigenen Leuten getötet worden.

Einfach gesagt: Es war kein Dienst fürs eigene Vaterland, sondern ein militärisch befohlener Dienst für die Profitinteressen der Rüstungsindustrie, für das Interesse des Machtanspruchs des Preußischen Königs und Deutschen Kaisers.

Und was wurde aus diesem Desaster gelernt? Viel zu wenig! Die Geschichte beschreibt es ausführlich.–



Richard bekommt am Ende seiner Zeit in der Gewerblichen Fortbildungsschule als Anerkennung von Fleiß und lobenswertem Betragen die „Hütte“, das dreibändige Taschenbuch des Ingenieurs, als Prämie. Das ist doch was!

Der Krieg geht zu Ende – am 11. November 1918, um elf Uhr am Vormittag – doch was kommt danach auf uns zu?


1919

Am 31. März hat Richard nun die Lehrzeit bei „Orenstein und Koppel“ im Lokomotiven-Konstruktionsbüro beendet. Am 01. Juli stirbt nach schwerer Krankheit in Wittenberge, in der Stein-Hardenbergstraße 17, meine ältere Schwester, die Schneiderin Luise Auguste Hermine Jochmann (geborene Janeke) wenige Jahre nach ihrem Gatten, im Alter von nur 51 Jahren. Luise wurde in Osterburg am 16. März 1868 geboren. Am 04. Juli findet die Beisetzung in Wittenberge statt. Ihre fünf Kinder sind jetzt zwischen 17 und 27 Jahren alt. Und haben nun schon beide Eltern verloren.


1920

Berlin wächst am 27. April über Nacht zur Großstadt heran. Nach der Eingemeindung von 93 Umlandorten aus den Kreisen des Brandenburger Landes, wird die Fläche 13 mal größer, als ihre Ausdehnung bisher betrug, wird die deutsche Hauptstadt nach New York und London nun die drittgrößte Stadt dieses Erdballs.

Bisher konnten wir unsere Hauptstadt mit gesunden, flinken Beinen ja schnell durchmessen. Laufen wir in Gedanken ein Kreuz: Wenn wir nur etwa 4-5 km Fußgängertempo in der Stunde zugrunde legen, sind das auf dem Längengrad vom Humboldthain im Norden, bis zum Alexanderplatz im Zentrum reichlich viereinhalb Kilometer, darüber hinaus in den Süden bis zur Hasenheide nochmals 4,5 km, also ein Nord-Süd-Fußweg von 9 Kilometern in 2 Stunden.

Von West nach Ost auf dem Breitengrad beträgt die Distanz von der Gasanstalt an der Ortsabgrenzung gegen die Gemarkung Charlottenburg bis zum Alexanderplatz etwa sechseinhalb Kilometer und von dort nach Osten bis zum Bahnhof Frankfurter Tor nochmals knappe 5,5 Kilometer. Auch diese Berlin-Querung hat man in 2 ½ Stunden bewältigt. Will man aber künftig „Groß-Berlin“ durchlaufen, muss man sich schon auf einen tüchtigen Tagesmarsch einrichten, wie es sich wohl nur Wenige vornehmen werden.


15. Mai 1920: Unser Sohn Richard lädt uns als ehrenamtlicher Mitarbeiter der „Technische Vereinigung Nowawes 1919“, zum ersten Stiftungsfest ins „Deutsche Wirtshaus“, Wilhelmstraße 15 ein. Unser Sohn lädt uns ein – das ist doch schon 'was.


1921

Wieder eine Hochzeit! Meine kleine Nichte Martha Ella Berta Jochmann (älteste Tochter meiner verstorbenen Schwester) schließt in Wittenberge den Ehebund mit Karl Wilhelm Giese aus Groß Pankow, Kreis Ostprignitz. Er ist Eisenbahnwerkstättenschlosser im Reichsbahnausbesserungswerk, das im Jahre 1875 in Wittenberge errichtet wurde. Nun, da werden dann ja Großnichten und/oder Großneffen zu erwarten sein (und zwei Mädelchen kommen dann auch später).

Am 15. September begehen Klara und ich den Tag unserer Silberhochzeit. 25 teils schwere, unruhige Jahre liegen hinter uns. Aber auch manch' Schönes war darunter. Klara zählt nun 48 Lenze und ich werde in drei Tagen 52 Jahre alt. Viele Grüße und gute Wünsche werden uns persönlich übermittelt oder treffen postalisch ein.

Klaras Neffe, Kurt Borries, studiert in Tübingen Philologie. Mit ihm gemeinsam sein Vetter Wernher Bauer. Sie verbringen viel Freizeit mit ihrem gemeinsamen Freund Hugo Höppener (genannt Fidus, Maler, Graphiker). Alle verehren sie Hölderlin als Meister.

Richard wechselt vom konstruktiven Lokomotivbau nun ebenfalls in die Offertabteilung der Lokomotivbaufabrik.


1922

Mein Schwager Max Dittwaldt, der als Eisenbahner in Deutsch-Eylau wohnt, ihr wisst schon, das liegt im Ermland an der Masurischen Seenplatte, rund 80 km südlich des Frischen Haffs, ist von den Auswirkungen der Versailler Festlegungen nach dem Weltkriege hinsichtlich der neuen Grenzregelungen in Westpreußen betroffen. Will er kein polnischer Staatsbürger werden, so muss er diesen Landstrich verlassen. Sein Eylau wird dann bald Ilawa heißen. Nun wird er sich im ostpreußischen Königsberg ansiedeln. 140 km Luftlinie weiter nach Nordosten (auf der Straße mag der Ortswechsel reichlich 200 km ausmachen). In Königsberg erhält er auch sofort eine Stelle als Reichsbahnamtmann. Er bezieht dort eine Wohnung in der Bachstraße 25a, im Erdgeschoss.


1923

Im Mai zeichnet Richard unsere Nowaweser Friedrichskirche für das Titelblatt einer Schrift zur Erinnerung an das 75jährige Bestehen der Kinderkirche, das am 04. Juli gefeiert wird.

Der 21jährige Gustav Büchsenschütz dichtet und komponiert in der Jugendherberge bei Wolfslake das Lied „Märkische Heide“.

Das hört sich alles recht freundlich an, dabei steckt Deutschland im festen Würgegriff der Hyperinflation, einem unbegreiflich starken Abstürzen der Geldwerte. Es kosteten bisher und jetzt:


Ausgewählte Artikel

1914

Geldeinheit: Pfennig(e)

1922

Geldeinheit:

Mark

1923, im November

Geldeinheit:

Milliarden Mark

Brot, 1 Pfund (500 Gramm / ½ Kilogramm)

14

24

260

Fleisch, 1 Pfund

90

1.200

3.200

Butter, 1 Pfund

140

2.400

6.000

Kartoffeln, 1 Pfund

4

80

50

Zucker, 1 Pfund

24

450

250

Hühnerei, 1 Stück

8

180

80

Fassbier, 1 Glas

13

60

150

Streichhölzer, 60 Stück

1

20

55


Das „Währungskarussell“ dreht sich immer schneller, Löhne zahlt man erst wöchentlich, dann täglich (z.B. aus dem Wäschekorb) aus, weil das Geld nun schon wenige Stunden später nahezu wertlos ist. Die tägliche Neufestsetzung der Preise für Lebensmittel und andere Güter erlangt „Normalität“. Die Anti-Wucher-Polizei geht um.

Im Dezember 1922 wurde 1 US-$ mit 7.350 Deutschen Mark aufgewogen. Am 20. November 1923 kostete 1 US-$ dagegen 4,2 Billionen Deutsche Papiermark. Danach kam der Währungsschnitt: 10 Milliarden der bisherigen oder besser gesagt, der momentanen Deutschen Mark, sind neu 1 Rentenpfennig (Goldpfennig) wert.

––

Für einen weiteren Eindruck zur Inflation lasse ich Herrn Dr. phil. Eugen Roth (1895–1976, ein Leben in München) zu Wort kommen.

	In seinem Buch „Lebenslauf in Anekdoten“, im Carl-Hanser- Verlag, München, 1963 	erschienen, wird er schreiben:
Im Jahre 1923 war tiefste Inflation – falls es jemand vergessen haben sollte; die Milliarden- und Billionenscheine wurden in Säcken herumgefahren, ohne alle Vorsichtsmaßregeln, ergraute Bankräuber schauten kaum hin, und selbst der blutigste Anfänger wusste: so schnell konnte er gar nicht davonlaufen wie das Geld.
Damals täglich einkaufen zu müssen, war eine Qual für die Hausfrau; selbst wenn sie das soeben erst empfangene Geld so rasch wie möglich in Ware umsetzen wollte und in aller Frühe auf den Markt und in die Geschäfte eilte – ihre Milliardenscheine hatten nur noch Pfennigwert, und mit halbleerer Einkaufstasche, verzweifelt und oft weinend, kam sie zurück, ratlos, was sie mittags auf den Tisch setzen sollte. Dabei war es nicht so, wie's im Kriege gewesen war, als man auf seine Marken kaum etwas bekam und man schon glücklich war, ein paar gefrorene Dorschen, nach einer Stunde Anstehens, noch ergattert zu haben – im Gegenteil, alle Marktstände, alle Auslagen waren (beispielsweise in München) voll der besten Dinge, und offenbar gab es Leute genug, die sich die feinsten Leckerbissen kauften. Aber wer kein Geld hatte – und der spät ausbezahlte Lohn für einen Monat ehrlicher Arbeit war eben kein Geld mehr –, dem blieb der Schnabel sauber. Dumm genug waren all die braven Leute – und sind's heute wieder und werden's morgen noch einmal sein –, die noch in alten Begriffen lebten, die jammerten, dass der Dollar so steige, statt zu begreifen, dass nur die Mark ins Bodenlose sang, die Leute, die noch dem Pfennig nachliefen, während schon die Straßenbahn mit zwölfstelligen Ziffern umsprang und Banklehrlinge sich mit Millionenscheinen Zigaretten anzündeten.
Viel gescheiter waren übrigens auch wir nicht, ausgenommen vielleicht mein jüngster Bruder (namens Roth), der so manchen Handel rasch abzuwickeln verstand, der freilich für uns schon an der Grenze des Unerlaubten zu tänzeln schien. Aber eines Tages bekam ich von einem Studienfreund aus Aarau für ein paar Zeitungsbeiträge sage und schreibe einhundert Schweizer Franken geschickt – ... Diesen Schein ließ ich wechseln und einen Bruchteil des Geldes, zehn Franken, gab ich meiner Mutter: sie sollte, im Bewusstsein, nur acht Mark in der Tasche zu haben, sich in der nächsten Bank jene Berge von Papiergeld einlösen, die dem jüngsten Kurs entsprachen – und dann eilends ihre Einkäufe machen, unbeirrt von den verrücktesten Preisen, die verlangt werden würden. Und nicht einen einzigen Geldschein dürfte sie wieder mit nach Hause bringen. ... und reich beladen kam sie heim, bestürzt über die Fülle – und mit rechtem Maß gemessen, war alles so lächerlich, so unglaubwürdig billig gewesen, viel, viel billiger als je in der goldenen Friedenszeit. ...(ja, wenn man das richtige Geld hatte).
Bald aber  kam das Ende des Spuks und der Bann war gebrochen. Zuerst kam die Rentenmark und dann die Reichsmark und es zogen wieder normale Finanzverhältnisse ein.
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1924

Bisher fuhr man, wie nun seit 86 Jahren üblich, mit der Dampfbahn nach Berlin. Die erste Berliner elektrische Schnellbahn oder auch Stadtbahn genannt, sagen wir also kurz S-Bahn, nimmt in diesem Jahr den Betrieb auf. Der Dampf aber wird noch eine Weile gebraucht werden: Allein „Orenstein und Koppel“ stellen in diesem Jahr 10.000 Dampf-Lokomotiven her und wir kümmern uns fleißig um die Angebote, damit der Absatz im In- und Ausland floriert.


1925

Im August machen Richard und Otto Müller Urlaub. Mit den Fahrrädern rollen sie durchs märkische Land. Am 09. August grüßen sie aus Mittenwalde, wo sie im „Deutschen Haus“ (gibt es überall) übernachten, am 12. August senden sie eine Karte aus Burg im Spreewald, nach einer Kahnfahrt von Lübbenau aus und von der Mittagsmahlzeit im „Restaurant Wotschofska“. Am 30. September lädt uns Klaras Cousine Johanna Sotscheck aus Berlin, Bethanienstraße 7, zu sich ein, da wir sowieso zum Geburts-Gedenktag von Klaras Mamá (Alwine Pauline Dittwaldt) in Berlin sind. Wilhelm Kümmel und seine Frau Margarete, die künftigen Schwiegereltern von Käte, nebenan aus der Turnstraße 43, senden Richard ihre Glückwünsche zu seinem 25. Geburtstag.

Eine hässliche Weihnachtsüberraschung: „Die rückgehende Auftragslage und der damit verbundene ständig zurückgehende Beschäftigungsgrad zwingen uns weiterhin zur Verringerung des Verwaltungspersonals“, schrieben uns die Herren Fanselau und Luttermöller vom Vorstand der Lokomotivfabrik „Orenstein und Koppel“. Es werden sowohl Richard, als auch ich, zum Jahresende arbeitslos. Nicht uns alleine trifft dieses Schicksal ohne eigenes Verschulden. Die Angebotsabteilung, in der wir tätig sind, wird restlos aufgelöst. Wir könnten darüber lange lamentieren, wie ungerecht wir diese Situation finden, doch würde das nichts ändern. Es ist unausweichlich. In der Zukunft wird es sich erweisen, dass es wegen des weiteren Niedergangs der deutschen Wirtschaft meine letzte Arbeitsstelle war – mit erst 56 Jahren. Ein rundes Jahrzehnt waren wir beide bei der Firma beschäftigt. Richard, er ist jetzt 25 Jahre alt, bewirbt sich sofort fleißig bei allen möglichen Stellen.


1926

Richard erhält eine zeitbegrenzte Aushilfsstelle beim Stadtbauamt im Nowaweser Rathaus. Bürgermeister Walter Rosenthal, der von 1922 bis 1933 als Chef der Stadtverwaltung die Geschicke des Ortes wesentlich mitbestimmt (eine längere Zeit wird ihm nicht gegeben, weil er jüdischer Herkunft ist), stellt ihn ein. Unsere zierliche Terrierhündin „Lumpi“ darf ihn täglich auf’s Amt begleiten. Zeitgleich baut sich Richard nach Feierabend einen kleinen Betrieb auf, um sein eigener Herr zu werden und sich vor einer weiteren Entlassung somit selbst zu schützen. Er umreißt vorerst seine Angebotspalette so: „Technisches Büro für Verwaltung, Industrie, Gewerbe und Handel, mit Lichtpausen, Vervielfältigungen, Fotokopien, Kunst- und Plakatschriften“. Aus diesem Grunde rücken wir in der Wohnung sehr zusammen und stellen ihm unser bisheriges schönes Wohnzimmer als Arbeitsraum zur Verfügung. Wir haben das gemeinsam reiflich überlegt, bringt die Veränderung doch für uns alle bedeutende Einschränkungen. So wird aus unserer Dreizimmer-Wohnung eine Zweiraum-Wohnung. Unser bisheriges Schlafzimmer wird zu einem sehr beengten Wohnzimmer und wir schlafen gemeinsam mit Käte im bisherigen so genannten Kinderzimmer.

Wo sollte Richard auch anderweitig einen Gewerberaum bekommen und woher dafür die Mietkosten nehmen. Auch ist er, das dürfen wir bei den Betrachtungen, der räumlichen Unterstützung nicht vergessen, derzeitig der einzige Verdiener in der Familie - falls sein Geschäft dann richtig „laufen wird“. Ich werde 57 Jahre alt und bei dieser Wirtschaftslage kaum noch eine neue Arbeit bekommen können. Eine Aussicht, die räumliche Situation wieder etwas zu entspannen besteht ja, da Käte wohl im Herbst heiraten wird und dann das Haus verlässt.

Am 01. Mai ist es dann soweit und Richard gründet offiziell seine Firma, das „Technische Reklamebüro“ – mit erläuternden Detailangeboten wirbt er mächtig, kommt er doch schließlich nicht umsonst aus der Offertabteilung. Er hat den recht eingängigen Nowaweser Telefonanschluss 7980 (ausgewählt). Außerdem wird er ehrenamtliches Mitglied der „Technischen Nothilfe“, deren Zentrale sich in Potsdam am Luisenplatz in der alten Hampelschen Kaserne befindet.

Aus Wittenberge erhalten wir Besuch. Meine schöne Nichte Martha (geb. Jochmann) und ihr Mann Karl Giese kommen mit ihren Töchtern.

Unsere Käte kommt nun unter die Haube. Die Heirat findet am 06. November statt. Das Kirchenbuch der Friedrichskirche weist sie als die 51. Trauung im Jahre 1926 aus. Ihr Bräutigam ist der grundsolide Techniker Wilhelm Paul Richard Kümmel. Er wurde am 16. 10. 1895 in Nowawes geboren, ist also fast genau zwei Jahre älter als Käte.

Die Hochzeit erleben als Gäste mit:

Wenn’s nur gut geht. Man sagt nicht umsonst: „Das Kätchen mit’m Zopp, hat ein Rädchen in dem Kopp“ und manchmal dreht es sich eben recht eigensinnig in diesem Dickkopf oder sie will mit jenem mitunter partout durch die Wand. Nun, gut – man soll nicht unken. Sie haben eine Wohnung in der Wichgrafstraße 6, über der Gaststätte „Billardheim“ bekommen (also eine Treppe hoch, die Tür geradezu); gegenüber unserer früheren Wohnung in der Nr. 7/9.


Hoppla, wie traurig – uns’ Kätchen hat’s mit’m Kümmel nicht ausgehalten. Beide gehen schon wieder solo ihre Wege, das heißt, die Tochter kehrt zu uns zurück.

Wichgraf hatte in Nowawes eine Webschule eingerichtet, um durch Qualifizierung den Bildungsstand der Arbeiter zu erhöhen, manches Leid durch bessere Berufschancen zu mildern. In diesem Gebäude, Wichgrafstraße 2, hat auch Richard viele lange Lernabende verbracht, allerdings, wie uns allen bekannt, natürlich nicht mit Webarbeiten. Die Unterrichtsfächer wurden im Laufe der Zeit verändert.


1928

Am 13. und 14. April überqueren die Flieger Köhl, v. Hünefeld und Fitzmaurice den Atlantischen Ozean, erstmals von Ost nach West und werden auch im Potsdamer Luftschiffhafen sowohl stürmisch, als auch mit allen Ehren empfangen.

Im Mai ist Käti ist zu Besuch in Düsseldorf, Herrmannstraße 4, bei Tante Alma Zocher (geb. Dittwaldt) und ihrem Mann Alfred. Unsere Tochter Käte sieht ihrer Tante Alma sehr ähnlich. Sie sendet von dort einen Gruß zum Muttertag an Klara, der es gesundheitlich schon langzeitig nicht gut geht. Sie kann schon fast nichts mehr sehen. Aber auch in Düsseldorf sieht es um ihre Schwester nicht gut bestellt aus. Am 26. Mai stirbt Alma, die Jüngste der fünf Geschwister, das frühere Nesthäkchen, im Alter von nur 52 Jahren. Nun muss Alfred irgendwie alleine klarkommen.


1929

Der Helferkreis der Nowaweser Kinderkirche unternimmt seinen fröhlichen Jahresausflug in diesem Jahr mit dem kleinen Motorschiff „Froh“ über die märkischen Gewässer.

Das große Börsenkrachen am 24. Oktober in New York, am „schwarzen Freitag“, zieht den Beginn der Weltwirtschaftskrise nach sich, die sich auch bei uns schnell und anhaltend auswirkt.

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Dr. phil. Eugen Roth  (1895–1976, München) berichtete im Spätsommer 1929 für die Zeitung über die Jungfernfahrt des Luftschiffes „Graf Zeppelin“. Sinngemäß führte er aus: Das Wetter war zu jener Zeit ungünstig, der Aufstieg des Luftschiffes in Friedrichshafen am Bodensee verzögerte sich Tag um Tag. Aber an einem sonnigen Morgen war es soweit. Der graue Riese wurde aus der Halle gezogen, er schwebte bereits, von vielen schwäbischen Soldaten an den Leinen gehalten – und noch mehr Soldaten sperrten den Platz ab gegen das herbeigeeilte Volk. Die Honorationen waren bereits alle vorher in der Halle eingestiegen.
Luftschiffskapitän Lehmann leitete von der Erde aus das Abflugmanöver – er, ein so sehr Freundlicher, der später 1936 beim Brand des Luftschiffes „Hindenburg“ in Lakehurst, USA, ums Leben kommen wird.
In dieses bereits startklar schwebende Luftschiff stieg ich (Roth) über die Strickleiter als letzter Fahrgast ein und nach mir nur noch der Erste Offizier. Kommandant des Luftschiffes war Dr. Eckener.
Dr. Roth stieg nach diesem Jungfernflug nicht geordnet aus, sondern sprang bereits vor der Halle aus dem noch schwebenden Schiff, um mit großem Zeitvorsprung als erster Reporter die Zeitungen vom Sonderpostamt aus telefonisch mit einem Exklusivbericht versorgen zu können, der in der Redaktion sofort mitstenografiert wurde. Nach langer Zeit, sehr spät, wurde dann die Telefonzelle auch für andere Reporter frei.


1930

In meiner alten Osterburger Heimat stirbt nun auch unsere Nachbarin von gegenüber (Melkerstraße 9), Anna Marie Luise Kraberg, geborene Krüger, die nun schon seit fast 15 Jahren im Witwenstand lebte. Geboren war sie am 17. August 1853, starb am 08. März 1930 mit 76 Jahren und wurde den 11. März von Pf. Stephan beerdigt (Reg. 1930, Nr. 15).

Und so geht es mit den Nachrichten aus Osterburg gleich weiter: Bertha Amalie Frieda Niepagen, die zusammen mit ihrem Mann Robert, dem Kaufmann Niepagen, das große Eckhaus, Wasserstraße 10/Kirchstraße hatte, ist jetzt verstorben. Sie wohnte aber schon lange Zeit in der Sedanstraße. Geboren war sie wie mein Vater 1842 und starb jetzt am 18. April mit 87 Lebensjahren. Beerdigt hat Pfarrer Walter sie am 21. April. (Reg. 1930, Nr. 20) Ihr Ehemann Karl Georg Robert Niepagen musste ja schon vor langer Zeit gehen. Er war in Osterburg am 14. Juli 1835 geboren und starb am 08. April 1906 mit 70 Jahren, wurde damals am 11. April 1906 von Pfarrer Walter beerdigt (Reg. Nr. 1906 Nr. 31).


Am 01. Oktober begehen wir groß den 30. Geburtstag unseres Sohnes, zu dem er für die sangesfreudige Gesellschaft eigens eine „Liederzeitung“ herstellt. Zu seinen Gästen gehören: Der Ingenieur Reinhold Matzke, Siemensstraße 1, der wie wir bei Orenstein und Koppel beschäftigt war, Adolf Lüscher, der Sohn unseres Hauswirts, Anton Bernhart - Krüger, der aus Tirol stammt, Otto Müller, Günter Zweig mit Ursula Zweig, Karl Henke, Christlieb Albrecht, der künftige Organist vom französischen Dom zu Berlin (sein Elternhaus steht aber hier in der Priesterstraße), Hermann Kloppe von der Wichgrafstraße Nr. 18, gleich nebenan. Natürlich ist unsere Tochter Käte auch dabei – jene Genannten zumindest, haben sich unterschriftlich in der Festschrift „verewigt“.

Ich nehme an, dass unsere Käti wohl auf eine eheliche Verbindung mit Herrn Reinhold Matzke hofft. (Anmerkung: Die Zukunft wird zeigen, dass sich solche Träume in Luft auflösen werden). Klara zählt nun 58 Jahre. Leider geht es ihr zunehmend schlechter und kein Mediziner scheint ihr richtig helfen zu können. Ich selber habe mein 61. Lebensjahr beendet.

In dieser Zeit wird in Nowawes unsere Mittelstraße in Wichgrafstraße umbenannt.


1933

Am 25. Februar stirbt nach langem Leiden meine liebe Frau Klara im Alter von erst 60 Jahren in unserer Wohnung. Am 01. März tragen wir sie gegenüber im Kirchgarten zu Grabe. Das Leben wird einsamer, obwohl Käte mich und Richard umsorgt.

Nach Klaras Ableben bleibt in der Wohnung mit der Raumaufteilung und den Aufstellorten des Mobiliars, prinzipiell alles beim Alten.

Und auch in Osterburg: Es stirbt die 15-jährige Tochter Ilse unseres Schuhmachermeisters Emil Looff am 13. Mai. Am 17. Mai begräbt man sie mit der Trauerfeier, die von Pf. Stephan gehalten wird. (Reg: C Nr. 32 / 1933).


1934

Unser Richard erhält vom stellvertretenden Ortsbürgermeister von Berlin-Wannsee, Herrn Bernhard Beyer (12. Mai 1858 – 11. Juli 1940), mit dem er väterlich-freundschaftlich verbunden ist, die von jenem geschriebene Broschüre seiner Erinnerungen über Stolpe, Kohlhasenbrück, Wannsee, Zehlendorf.

Sehr früh verstorben ist in Königsberg die Frau meines Schwagers Max Dittwaldt, geborene Goeritz.


1937

Im schönen Frühling, am 27. März, verlobt sich Richard mit Fräulein Anne-Marie Sommer, der Tochter vom Mechaniker und Elektrotechniker Max Sommer aus der Priesterstraße 68. Ich denke und hoffe, das wird länger halten, als bei Käti.

Max Dittwald geht in Königsberg nochmals eine Ehe ein, mit Gertrud May, Tochter eines Pfarrers aus dem ostpreußischen Schlobitten.


1938

Im neuen Adressbuch werde ich nun als „Ruhegeldempfänger“ aufgeführt, damit es alle Welt weiß: Er ist ein alter Krauter. Ja, ich bin tatsächlich seit September 1934 regulär Rentner. In diesem Jahr werden die Orte Neuendorf und Nowawes offiziell zusammengeführt, wenn man auch seit der Jahrhundertwende ja schon oft „Nowawes-Neuendorf“ schrieb. „Wir heißen jetzt Babelsberg“. Dem Adolf und seinen Pg (Parteigenossen der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“) hat der böhmische, der slawische Name Nowawes nicht mehr in das Deutschtum gepasst. In diesem Jahr müssen auch wir den „Arischen Nachweis“, den „Nachweis über unsere Deutschblütigkeit“ erbringen. Herr Pfarrer Hasse hilft uns dabei, weil an eine Anzahl von Pfarrämtern wegen der Bitte um Kirchenbuchauszüge geschrieben werden muss. Bei uns klappt es ziemlich gut, andere versuchen ganz verzweifelt Angaben zusammenzukratzen. Unsere Zusammenstellung wird später den Grundstock für die Ahnenforschung in der eigenen Familie bilden – aber an derartige Liebhabereien denkt zurzeit natürlich niemand. Da gibt es ganz andere Sorgen.


1939

01. April: Lange hat die Stadt Babelsberg unter diesem neuen Namen man nicht gerade eigenständig existiert, denn schon nach einem Jahr werden wir nun nach Potsdam eingemeindet aber heißen zumindest noch Potsdam-Babelsberg. Vielleicht wäre es noch etwas länger gegangen?

Am 02. April: Abschiedskonzert von Professor Otto Becker, dem Organisten und Glockenisten der Potsdamer Garnisonkirche, am Palmsonntag um 20.00 Uhr. Er wird Werke von Bach und Händel zu Gehör bringen.

Im Juli verbringen die Verlobten Richard und Anne-Marie einen Kurzurlaub an der See.

Im Herbst beginnt schon wieder ein Krieg! Haben wir nicht an den Auswirkungen des vorigen noch immer genug zu tragen – abgesehen von den Menschen in den anderen Ländern?


1940

Mein Reichsbahnschwager Max aus Königsberg, schreibt oft und treu, über alles, was uns Menschen in dieser Zeit bewegt. Zu Ostern liegen in Königsberg noch immer Schneeberge in den Straßen, so schreibt er, doch bei seiner Tochter Christel Sauerlandt „Im Winkel“ ist der Frühling mit seiner Blütenpracht schon voll eingekehrt. Anfang der Woche war er auf einer Dienstreise in Danzig. Wegen des Krieges sind die Züge, die in weit geringerer Anzahl als früher eingesetzt werden, hoffnungslos überfüllt, was das Reisen zur Strapaze werden lasse.


1941

Unser Sohn und Bruder Richard heiratet. Das wurde ja aber auch hohe Zeit – war aber seine Entscheidung. Die Trauung durch Pfarrer Viktor Hasse findet in der Babelsberger Friedrichskirche statt. Wo auch sonst – und das während des Kindergottesdienstes, weil beide, Braut und Bräutigam, als Helfer je eine Kindergruppe in diesen Reihen haben. Dazu gestaltete Richard wieder ein eigenes Liederblatt. Zu den Hochzeitsgästen des jungen Paares zählen – das können wir in der Hochzeitszeitung lesen: Die Brautmutter Margarethe Sommer, der Brautvater Max Sommer (Priesterstraße 68), Betty und ihr Mann Ferdinand Pehlke, der sowohl Stadtbaurat aber auch Patenonkel der Braut ist (Priesterstraße 57). Zum Bräutigam gehören leider nur noch ich und Käte. Dann der Traupfarrer des Brautpaares Viktor Hasse und seine Frau Elisabeth (geborene Reichmuth, Lutherstraße 1), der Bruder Hans Hasse als Fronturlauber. Der Potsdamer Architekt Paul Muster, der Organist Christlieb Albrecht mit Ehefrau und Lehrerin Elfriede (geb. Michel) aus der Priesterstraße 23, den Sommers gegenüber im alten böhmischen Schulhaus wohnend, Luise Hasait aus der Sommer-Verwandtschaft (Potsdam, Charlottenstraße 106), Emma Hönow und Anton Bernhart (einzeln). Ehepaar Dittwaldt aus Königsberg, Bachstraße 25a. Für Schwager Max Dittwaldt ist es wohl besonders bewegend bei dem Altar zu stehen, an dem schon seine Mutter Alwine Pauline Zinnow, dem August Dittwaldt aus Berlin vor 77 Jahren das „Ja-Wort“ gab! Zur Gestaltung der so genannten Festtafel haben alle Gäste mit Lebensmittelmarken oder mit Naturalien aus unergründbaren Kriegs-Quellen beigesteuert, also zumeist durch vorheriges und nachträgliches „Abdarben“.

Die Hochzeitszeitung hat viele Autoren für einzelne Beiträge, die Richard dann letztlich in die endgültige Form brachte und auch (für jeden der Gäste als Erinnerung) herstellte.

Nach langer, langer Wohn- und Arbeitsraumsuche zieht Richard mit seiner jungen Frau Anne-Marie, zwischen dem 08. und 15. April von der Wichgrafstraße 22, in die Lindenstraße 39 – mit seiner gesamten Maschinentechnik und dem Bürozeug. Der dortige Hauswirt ist Herr Wagner.

Jetzt sind nur noch Käti und ich in der Dreizimmerwohnung und auf einmal haben wir viel Platz. Das Hofzimmer richten wir uns als gemeinsames Schlafzimmer ein. Das große Zimmer, das nun 15 Jahre lang Büro, Zeichenwerkstatt, Druckerei, Lichtpauserei und Kundenraum darstellte, wird frisch gemalert und nun wieder ein schönes, ruhiges Wohnzimmer, in das Käti einzieht. Richard und Anne-Marie haben ihr dazu von ihren Ersparnissen die schönen, hellen, neuen Möbel gestiftet, denn Käte verdient ja kaum etwas, außer dem unfinanziellen Verdienst, dass sie uns bisher umsorgt hat und das auch mit mir weiter tun wird. Ich begnüge mich zugunsten „der Jugend“ mit dem kleinen „Kinderzimmer“ mit dem gemütlichen Sessel am Ofen und dem Tisch vor dem Ruhesofa. Das reicht schon.


Zum Weihnachtsfest gelingt es Schwager Max in Königsberg, ein Hühnchen, also ein bereits geschlachtetes, aufzutreiben. Er will es uns schenken und senden, die gute Seele. Selbstverständlich nicht mit der Post, sondern per Bahn, mit der Bahnpost. Als Expressgut. Na gut. Die winterlichen Temperaturen scheinen dafür geeignet. So schickt er uns zeitgleich den Gepäckschein, der das Hühnchen auf der Strecke überflügeln soll, damit wir das Paket an der Gepäckausgabe des Bahnhofs Potsdam-Hauptbahnhof ausgehändigt bekommen und es zum Fest alle miteinander, das sind Käte, Richard mit Anne-Marie und ich, verspeisen können. Damit wir uns nicht wundern, schreibt er, dass wir einen Kasten mit 13 kg Gewicht, in Wellpappe eingeschlagen, zu erwarten und zu empfangen hätten. Oh, das dürfte ein mageres Kriegshühnchen alleine nicht sein – oder hatte er nur keinen leichteren Sarkophag zur Hand? Als Reichsbahnamtmann weiß er natürlich, dass ein Zug nie mit zu geringem Gewicht fahren soll, weil er dann nur so über die Schienen hoppelt. 13 kg. Was für Gründe es dafür auch geben mag – wir sind gespannt, in Vorfreude und voller Dankbarkeit. Er bittet uns um schnelle postalische Eingangsbestätigung „auf nicht offener Karte“, denn leider gäb’ es viele Neider. Alles das hat er mit der Hoffnung für ein gesundes 1942 verbunden, mit dem „Wunsch für einen siegreichen Frieden“. Wir kennen sein Wesen gut – na, wenigstens etwas Gutes ist auch für den eventuellen geheimen Zensor dabei, wenn schon kein ausgesprochener Heil - Wunsch! Der Umschlag seines Briefes gleicht das aber noch weiter aus: Auf jenem prangt extra ein Schmuckstempel mit den aufmunternd mahnenden Worten: „Mit dem Führer zum Sieg“. Na, das kann ja wohl noch ein tolles Siechtum werden.


1942

Richard hält mit vervielfältigten Informations-Briefen (bis zum Kriegsende) die Verbindung zwischen der Babelsberger Friedrichskirchengemeinde und ihren Frontsoldaten aufrecht.

18. September: Der Soldatenkamerad aus der Zeit des 1. Weltkrieges W. Dobbert, Berlin N 65, Kiautschoustraße 14, sendet mir auch heute noch freundliche Wünsche zum neuen Lebensjahr. Wir gehörten damals beide zum 1. Garde-Dragoner-Regiment. in der Zeit, in der Deutschland noch jene Provinz in China „gepachtet“ hatte – der Straßenname hielt sich noch.

Kätchen sendet mir im September Grüße aus Krombach („Sudetenland über Zittau“), wo sie einen Luftschnapperurlaub genießt. Sie wohnt in der Pension „Brettschneider“ aber viele Urlauber, so auch sie, gehen zu den Mahlzeiten in eine gemeinsame Beköstigungsstätte. So ist es organisiert. Sie schreibt über herrliche Luft, stundenlanges einsames Wandern, freundliche Urlaubsbekanntschaften, ausreichende Essensportionen (wie sie hier schon unüblich sind). Natürlich müssen wir ihr schnell die neuen, nun gültigen Lebensmittelmarken für Fleisch, Brot, Fett, Nährmittel, Kuchen und Zucker hinschicken, damit es mit der Versorgung möglichst auch so bleibt. Hoffentlich kommen sie an. „Hier in Krombach“, so schreibt sie uns, „freut man sich noch sehr über ein fröhliches >Grüß Gott<. Man ist gleich vertrauter untereinander. „Heil Hitler“ gilt nur als ein „Mußgruß“. Wie wahr aber auch wie leichtsinnig von dem Kinde, dieses Erleben dem Brief als „Postgeheimnis“ anzuvertrauen. – Auch kein Geheimnis ist, dass Richard im Babelsberger Krankenhaus, Lindenstraße, an einem Leistenbruch operiert werden muss.

Unser Max Dittwaldt sendet seinen persönlichen Fahrplan für die bevorstehenden Besuche im Raum Berlin und Potsdam. Unter Kriegsverhältnissen benötigt der Zug für die 700 km von Königsberg nach Berlin voraussichtlich 10 Stunden, wenn nichts dazwischenkommt. - Am 22. November 1942: Feier der Goldenen Hochzeit von Kurt und Hedwig Borries (der älteren Schwester von Max) in Berlin-Zehlendorf. Am 23. kommen dann Max und Gertrud zu uns zu Besuch. Max weist in seinem Brief darauf hin: „Wegen der bekannten Schwierigkeiten finden unsere Besuche bei all unseren Verwandten und Bekannten stets zwischen den Mahlzeiten statt“.

(Anmerkung: Zwischenzeitlich war Maxens erste Frau Margarethe, genannt Gretel, verstorben. Anschließend hatte er dann Gertrud, genannt Trudel, geheiratet.)


1943

Am 18. Januar kommt zwischen den Sirenenwarnungen für zwei Bomberanflugwellen meine erste Enkelin „Anngret Janecke“ zur Welt. Dieses „Blitzmädel“! Käti hatte Anne-Marie des Nachts bei totaler Verdunkelung zum Babelsberger Krankenhaus begleitet, beide sich zwischen den Häuserwänden und den Linden stolpernd entlangtastend. Zu dieser Zeit fehlte auch gerade „die himmlische Beleuchtung“. Keine Zielmarkierungen zu unserem Glück.

Etwa jeden zweiten Tag ist für uns Luftalarm aber fast immer fliegen die Bomber in Richtung Berlin weiter, lassen dort ihre Ladung ab und uns noch unbehelligt. Aber natürlich müssen wir trotzdem raus aus dem Schlaf und vorsichtshalber runter „zwischen die Kohlen“.

Da mein Aufgabenkreis mit der Zeit kleiner geworden ist, habe ich mehr freie Stunden, höre mit Muße gerne interessante Radiosendungen, studiere gründlich die Tageszeitung aber besser unseren Büchervorrat (allerdings nicht die „Hütte“ von Richard), löse gerne Kreuzworträtsel, schmauche dazu öfter eine Prise Tabak aus meinem Pfeifchen und würde gerne nebenbei noch die Pflege einer kleineren Tabakplantage für den Eigenbedarf übernehmen. Na ja, das ist nur ein Spaß. Meinen Bedarf decke ich schon immer bei Paul Rieck in der Eisenbahnstraße 9. Ab und zu ein kurzes Nickerchen im Lehnstuhl gibt mir das Ausgeruhtsein, die Kraft für den ganzen Tag. Käti tut indessen mehr für das Reich. Sie ist freiwillig als Rot-Kreuz-Schwester hier am Ort im Einsatz. So erhält sie zumindest einen kleinen Einblick, welche Spuren der Krieg hinterlassen kann, selbst wenn wir hier noch nicht arg betroffen sind. Ach nein, richtig – sie kennt es noch zu gut vom vorigen Krieg.

08. Juli 1943. Unser Reichsbahnbeamter, der Ingenieur Alfred Zocher schreibt, dass sie beide (denn nach Almas Ableben hat er später wieder geheiratet) in Düsseldorf in der Herrmannstraße 4, auch als Opfer der Flugzeugbombardements zu beklagen sind. Das Haus steht nicht mehr. Die Stadt sei größten Teils zerstört. Sie würden nun schon im vierten Notquartier vegetieren. Das erste wurde ebenfalls von einer Brandbombe getroffen, das zweite war ein Kohlenkeller. Bei Verwandten, einer kurzen Bleibe, durften sie sich nicht offiziell anmelden, da der Regierungsbezirk nur Flüchtlinge und Bombenopfer aus Thüringen aufnehmen dürfe. Er schreibt: „Der Krieg wird noch lange nicht zu Ende sein aber das traurige Ende (nicht etwa ein Sieg) sieht man jetzt schon“. Derartige Post zu versenden, gilt für Absender und Empfänger als gefährdend, da der Inhalt im Gegensatz zur offiziellen Siegespropaganda steht und geeignet sein könnte, die Gemeinschaft der deutschen Volksgenossen zu zersetzen.

Zwischen Sommer und Herbst dieses Kriegsjahres machen Richard, Annemarie und Anngret endlich einmal richtig Ferien, die sie auch, wie Käti vorher, in Krombach im Sudetenland bei Bauer Moser verleben.


1944

Meine Schwiegertochter hat eine Fehlgeburt. Ein Junge. Bei dieser Belastung ist es ja auch kein Wunder, kann man hinterher sagen. Anngretlein hat ihre Beschäftigung hauptsächlich in der Geschäftswohnung. Kleine Luftschutzsandsäcke (Buddelsand) und Eimer gehören zu ihrem liebsten Spielzeug.


1945

Wegen der großen Wohnungsnot, die auf Zerstörungen in Potsdam und den nicht enden wollenden Flüchtlingsströmen aus dem Osten beruhen, wird uns die Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss gekündigt aber wir bekommen zwei Räume einer größeren Wohnung im 1. Obergeschoss des gleichen Hauses (also Wichgrafstraße 22) zugewiesen. Mein Zimmerchen befindet sich direkt über der Durchfahrt, etwas fußkalt zwar aber mit schöner Aussicht – nun von höherer Warte (zum Friedhof und über die Weberhäuser hinweg) und Kätes Raum liegt daneben. Wir richten uns gezwungenermaßen ein, denn die allgemeine Not ist groß. Mein Zimmer ist genauso klein wie das bisherige; die Möbel können also genauso stehen. Ich kann mich nach wie vor im Dunkeln zurecht finden. Käte muss sich allerdings etwas einschränken.

Auf unserer Speisekarte stehen nun auch völlig lebensmittelkartenfreie gute Zutaten wie Möhrenkraut, Kartoffelschalen, Löwenzahn, Sauerampfer, die Knospen der Sumpfdotterblumen und junge Brennnesseln. Nun, gesalzenes Kartoffelwasser gehörte schon von jeher zu meinen Lieblingsgetränken. Hinzu kommt die Beute von Pilz- und Beerenjagden. Man muss letztere ja nicht unbedingt mit „ä“ schreiben; man wird Vegetarier.

Am 26. September stirbt in Berlin, im Alter von 80 Jahren meine älteste Schwägerin Marie Weiland (geborene Dittwaldt).

Richard verweigert seine Teilnahme am Volkssturm, weil er die Sinnlosigkeit erkennt (vom Militär ist er ja ohnehin ausgemustert). Vorsicht Junge! Als Mitarbeiter der Bekennenden Kirche könnte man ihn sowieso schon auf dem Kieker haben. Es werden ihm, seinen Willen „sanft“ zu beugen, daraufhin sofort die Lebensmittelkarten, die Lebensgrundlagen, entzogen. Seine Frau Anne-Marie ist wieder schwanger – und das in dieser Zeit des Krieges – sie wollten es aber so.

In der Nacht vom 14. zum 15. April, kurz vor Mitternacht, wird das Potsdamer Zentrum von den Alliierten Streitkräften schrecklich zerbombt. Knapp zwei Wochen später marschiert die Rote Armee der Sowjetunion ein. Am 08. Mai ist der Krieg vorbei.


Am 10. November das erste Lebenszeichen von Schwager Max Dittwaldt. Sie leben! Seine Nachrichten sind solche, wie aus einer anderen Welt, als er über das Zurückliegende berichtet. Er musste mit seiner Frau Gertrud im März aus Königsberg in Ostpreußen fliehen. Von ihrer Habe konnten sie einen Rucksack und ein Handköfferchen mitnehmen, also nur einige Dokumente, etwas Reiseproviant, den Kaffeepott für Zahnbürsten und ein bisschen Wechselwäsche. Sie ahnen, dass sie diese Heimat nie wiedersehen werden. In Pillau erreichten sie ein Schiff, das sie über die Ostsee bis Swinemünde bringt. Sie werden aber auf der Fahrt nicht die Gedanken an das Schicksal der Menschen des Schiffes „Gustloff“ los und anderer Transporter, die nie mehr in einem Hafen ankamen. Von Schwerin, wo sich das Aufnahme- und Verteilungslager für Bedienstete der Reichsbahn befand, werden sie nach Lüneburg geschickt. Hier finden sie nach dem dreiwöchigem Unterwegssein, sogar, welch großes Glück, bald nach ihrer Ankunft ein Zimmer in der Wohnung der 76jährigen Oberschullehrerin Fräulein von Karnstädt (Ilmenaustraße 1a, 2 Treppen hoch), bei der in drei Zimmern ihrer Vierraum-Wohnung noch weitere Flüchtlingsfamilien untergebracht sind. Obwohl die Ruhe der „Gastgeberin“ einem Dauertrubel wich, ist sie stets gelassen, freundlich und hilfsbereit. Fräulein v. Karnstädt war pensioniert, lehrt jetzt aber freiwillig die Besatzersprachen englisch wie auch französisch und gibt vor allem praktische Lebenshilfe (auch, wenn es sich hierbei nicht um ein Unterrichtsfach handelt). Meine Schwipp-Schwägerin Gertrud Dittwaldt besorgt dort deshalb im Wesentlichen den Haushalt und Max als erfahrener Reichsbahn-Ingenieur, er ist jetzt 72 Jahre alt, erledigt alle im Hause anfallenden Reparaturarbeiten. „Mit Kohlen“, so schreibt er, „sind wir hier allerdings nicht versorgt“. Deshalb eilt er auch im Mantel und mit einem provisorischen Strickmützchen bedeckt, durchs Haus. Er sieht recht mager aus, wie eine Spitzmaus etwa. Ein Vergleich zum Spitzwegmilieu („Der arme Poet“) liegt da so ferne nicht. Max schreibt, dass man mit Fräulein von Karnstädt in freier Zeit auch gut parlieren könne. Dieser Tage seien sie auf den Hochadel zu sprechen gekommen und man erwähnte die junge Elisabeth von England als wahrscheinlich nächste Regentin des britischen Reiches. Ja, lobt Max, sie habe so ein nettes Reichsbahngesicht. „Wie dieses“?, fragt Fräulein v. Karnstädt. „Na, ja“, meint er, „regelmäßige Züge“.

Max fragt an, in wessen Besatzungszone Potsdam und Umgebung nun läge – bei Ihnen in Lüneburg seien es die Briten. Eine Reichsbahnpension würde ihm verweigert aber die zivilen dienstleistenden Kräfte würden vom Militär sogar sehr gut bezahlt. In Königsberg sei er bei der Bahn noch im Alter dringend gebraucht worden aber hier sieht ihn die Reichsbahndirektion in Hamburg nur als flüchtigen, alten, lästigen Ausländer an, so bekomme er keine Aufgabe mehr und weder Gehalt noch Rente – ein schreckliches Kuddelmuddel, wie ja aber im gesamten Reiche. Man ist arm dran.

Am 23. November scheidet der Vater meiner Schwiegertochter, der Mechaniker und Elektrotechniker Max Sommer, Priesterstraße 68, im Alter von 70 Jahren aus seinem meisterlichen Leben.

Ende des Jahres, zwei Tage vor Silvester, wird dann sein – genau wie mein zweites Enkelkind, ein Junge, geboren. Zwar ist der Krieg vor einigen Monaten zu Ende gegangen aber im Babelsberger Krankenhaus sind die noch zerstörten Fenster jetzt im Winter notdürftig mit Latten und Pappe vernagelt und es ist für die Frauen und die Neugeborenen hundekalt. Der Wind pfeift und der Schnee stiebt durch die Ritzen. Mit den Temperaturen haben wir bisher aber noch Glück – es könnte schlimmer kommen.


1946

Zu Pfingsten wird mein neuer Enkel auf den Namen „Christoph“ getauft. Die Feier findet in der Wohnung Priesterstraße 68 bei Oma Sommer statt, weil dort noch am meisten Platz ist. Warum aber müssen die Kinder ihn ausgerechnet „Christoph“ nennen? Also, mir hätte z. B. „Walter“ wesentlich besser gefallen – aber ich werde ja nicht gefragt. Ansonsten bin ich mit ihm ganz zufrieden. Ein freundlicher, ruhiger Knabe – ohne nerviges Geschrei, ein Junge, der über alles staunt, was ich ihm zeige. Leider fällt ein eigentlich gehöriges, feierliches Tauf-Frühstück aus, weil es fast nichts zu beißen gibt. Zur Nachmittags-Kaffeezeit finden wir uns aber alle zusammen. Dazu gehören außer unserem jungen Familienkreis: Margarethe Sommer, Käte Janecke, Elisabeth Gandert, Diakonissenschwester in der Oberlinklinik, die Christophs 1. Patentante ist. Rosemarie und Anton Bernhart (Rosemarie ist Christophs 2. Patentante), Ferdinand Pehlke, der, wie Christoph, am 29. Dezember geboren wurde und bereits Pate meiner Schwiegertochter Anne-Marie war. Seine Frau Betty, die nun Christophs 3. Patin ist. Johannes (Hans) Ewert als Christophs 4. Pate, Christlieb Albrecht als Pianist, Harmonist und Organist sowie Anngrets Patenonkel, mit seiner Frau Elfriede, geb. Michel, Lehrerin.

Richard muss sich einer weiteren Hernie-Operation unterziehen. Im September/Oktober sind Richard, Käte und Anngret zwei Wochen im Heil- und Solbad (Inhalatorium) Bad Sulza (Thüringen) zur Erholung. Zwar hoffe ich, dass sie dort irgendwie versorgt werden, sende ihnen aber doch noch die jetzt bereit stehenden Lebensmittel-Reisemarken hinterher: 3 Marken zur Bezugsberechtigung von jeweils 5 Gramm Fett! Das frisst schon fast das Porto auf. Meine Schwieto Anne-Marie allerdings hat aber keine Kur, sondern eine mehrfache Belastung. Sie bekocht mich, versorgt Klein-Christoph, ihre Mutter, die u. a. an „offenen Beinen“ leidet und führt irgendwie auch noch das Geschäft als ihren Hauptwirkungsort.

Der 15. September ist uns ein stiller Gedenktag. Eigentlich, würde Klara noch am Leben sein, das Fest der Goldenen Hochzeit begingen wir am heutigen Tage.

In diesem Jahr stirbt Ernst Borries, der Mann von Schwägerin Hedwig, geb. Dittwaldt, mit 82 Jahren. Er war, wie viele der Verwandten oder den Dittwaldts Angeheirateten auch ein Bahnbeamter; im Alter aber Sportstättenwart in Berlin. Der alte Kreis der lieben Verwandten und Bekannten wird in doch erschreckender Geschwindigkeit kleiner und ich bin als Älterer immer noch da.


1948

In ihrem 77. Lebensjahr entschläft nun auch meine gute Schwägerin Hedwig Borries, geborene Dittwaldt am 15. Februar 48. Vor dem Kriege wohnte die Familie in Berlin-Zehlendorf, Zinnow-Weg 7. Hedwigs Leben war eine nie rastende Sorge und Liebe für die Ihren. Sohn Kurt lässt beide verstorbenen Eltern nach Esslingen überführen, wo er wohnt.

Im Herbst ist Richard in Bad Elster zur Kur, von Anne-Marie begleitet. Nötig haben sie es ja.


1949

Klaras Verwandte aus den Westzonen der Besatzungsmächte, die uns auch Lebensmittelpäckchen zukommen lassen, müssen höllisch aufpassen: Überschreiten die Gaben das derzeitig als zulässig festgelegte Gewicht von 500 Gramm (oder einem Pfund, wie wir ja meist sagen), wird es von dem neuen Staat, der damit eigentlich in der Lebensmittelversorgung gestützt wird, konfisziert – auf Nimmerwiedersehen. Manche der innerdeutschen Absender versehen die Päckchen vorsichtshalber zur Empfängeranschrift mit dem Zusatz „German“ oder neuerdings „Germany“. Wer weiß, vielleicht denken die neuen Postkontrolleure sonst, Potsdam-Babelsberg läge jetzt kurz vor Moskau. Andere schreiben hingegen „Sowjetische Besatzungszone“ manche kurz „SBZ“ oder auch „Ostzone“ als Postleithinweis darauf. Später werden an der Grenze derartige Bezeichnungen fett unkenntlich durchstrichen, weil dieser kleinere Landesteil nach dem 07. Oktober, dem Gründungsfesttag, dann „Deutsche Demokratische Republik“ heißen wird.

Mon dieu, wie doch die Zeit vergeht. Schon wieder ist am 18. September mein Geburtstag ’ran. Nun bin ich schon 80 Jahre alt! Ein Oller. Kaum zu glauben und die kleinen Enkel werden immer größer. Die Kinder haben anlässlich dieses Tages eine herrliche Fahrt in offener Kutsche durch den goldenen September zum „Forsthaus“, am Templiner See vorgesehen. Dort mit „fürstlichem Mittagessen“, ha, ha, na eben im Rahmen der kargen Lebensmittelkartenversorgung – aber das ist ja nur äußerlich. Ganz besonders freue ich mich darauf, noch einmal Kontakt zu den Pferden zu bekommen. Das bespreche ich natürlich recht ausführlich mit Christoph, denn er wird ja schon bald fünf Jahre alt und ist recht verständig. Beim Gespräch habe ich da lebhaft meine früheren braven Füchse und Braunen „vor Augen“. Und als mein Stellvertreter, der auf der Treppe behänder zu Fuß ist als ich, wartet Christoph auch schon voller Ungeduld auf der Straße, wann wohl endlich die Kutsche vom Plantagenplatz kommend, in unsere Wichgrafstraße einbiegen wird. – Bald kommt er dann geeilt, um mir, momentan etwas enttäuscht, zu berichten, dass sich gar keine richtigen Pferde vor der Kutsche befänden, sondern bloß Schimmel. Ja, so spielt das Leben.

Dass ich das noch einmal erleben darf – eine Fahrt mit den schönen, empfindsamen Tieren, deren Artgenossen mich durch lange Strecken des Lebens begleiteten. Da bin ich ganz „aus dem Häuschen“. Schade nur, dass ich sie heute nicht selber führen darf, sondern mich in die Rolle eines Passagiers schicken muss. So sehe ich von etwas weiter hinten auf die gespitzten samtigen Ohren.

Am 03. November dieses Jahres geht das Leben der Mutter meiner Schwiegertochter, Frau Anna Margarete Sommer, geborene Runge, zu Ende. Sie stirbt im Alter von 69 Jahren nach kurzem Aufenthalt im Babelsberger Krankenhaus. Am 07. November wird sie an der Seite ihres Mannes, der seit dem November 1945 auf dem Friedhof in der Goethestraße ruht, beigesetzt.


1950

Der Neffe meiner Frau, Johannes Borries, vor dem Kriege Gutsinspektor in Berlin-Zehlendorf, ist noch immer in russischer Kriegsgefangenschaft. Sein politisch umstrittener Bruder, Kurt Borries, der damals in Tübingen Philologie studierte, ist inzwischen Universitätsprofessor in Gießen, sein Cousin und damaliger Mitstudent, unser Cousin Dr. Wernher Bauer, fristet sein Leben inzwischen als selbsternannter „Volksbuchwart“ in Rangsdorf bei Berlin und wohnt mit seiner verwitweten Mutter Marie (geb. Sotscheck) in materiell sehr schlichten Verhältnissen, in seinem kleinen Hüttchen, in der Falkenflur 2.

Im gesegneten Alter von über 80 Jahren, nach einem unruhigen, inhaltsreichen Leben, werde auch ich langsam müde. Unser etwas entfernterer Verwandter, der Tischlermeister Otto Gericke aus der Priesterstraße (jetzt Karl-Liebknecht-Straße 24), wird mir das letzte Bett bereiten. Er selbst schläft probeweise immer schon mal in seinen nach frischem Holz duftenden Särgen, weil es sich darin so wunderbar ruht, wie er sagt. Nur „fasst er den Deckel nicht an“. Auf denn, ist es sowieso unumgänglich, will ich auch dieser Zeit gelassen entgegen sehen.

So gehe ich am 02. Februar 1950 aus dieser irdischen Welt, friedlich in meinem Zimmer genau über der Durchfahrt, im Hause Babelsberg, Wichgrafstraße 22, einschlafend. Es braucht kein weiter Weg mehr zurückgelegt werden, denn schräg gegenüber im Friedgarten der Friedrichskirch-Gemeinde werde ich nun meine letzte Ruhe finden, dort, wo seit 1933 bereits meine Frau Klara liegt. (Anmerkung: Neue gemeinsame Stelle „E 49“ der Registratur.)

Am Montag, den 06. Februar findet sich gegen 14.00 Uhr die Trauergemeinde zusammen, um mir als Ehre „das letzte Geleit“ zu geben. Es begleiteten mich zur Ruhestätte – zusätzlich zu meinen Kindern: Herr Tietze, Anna Mittelstädt, Anna Rust, Frau Grabow, Anna Kirchhoff, Albert Reinhardt, Gustav Dessau: der Vorarbeiter im Schlosspark Babelsberg, aus dem Maschinenhaus und seine Frau; dann Charlotte Trinks – die Tochter des Paul Fix, „Neuendorfer Eiswerke“; Karl Braunstein und seine Frau, aus der Karl-Gruhl-Straße 12 (vormals Wallstraße); Johannes Ewert (Patenonkel von Christoph), Luzie Barth (Schulfreundin von Anne-Marie), Familie Blümel, Frau Kabelitz, Betty Pehlke, Hermann Kloppe und seine Frau Rosemarie (geb. Deutsch) sowie Johanna Füssel, die letztgenannten aus der Wichgrafstraße 18; Christlieb Albrecht und seine Frau Elfi aus der Karl-Liebknecht-Straße 27, Herr Schimmer, Max Lüscher – unser Hauswirt und natürlich Herr Pfarrer Iskraut, der Schwager von Pfarrer Viktor Hasse, der ja auch schon verstorben ist. Während dieser Feier des Abschieds von irdischer Last, werden die Kirchenlieder „Lobe den Herren“ und „Stern, auf den ich schaue“ gesungen. Diese Lieder wählte Richard aus.

Pfarrer Wolfgang Iskraut erinnert an einige Stationen meines Lebens, spricht den letzten Segen und notiert später alles sorgfältig im Kirchenbuch unter der Nr.15 / 1950. Ja, in diesem kalten Winterhalbjahr Jahr sterben viele auch aus dieser Gemeinde. In der Ruhestätte im Friedensgarten erinnert an alle Menschen unserer Familie der Namenzug „Janecke“, in einen schlichten Feldstein graviert.

Noch immer ist der gleiche Standesbeamte, Herr Richter, im Babelsberger Rathaus tätig, der mein Ableben unter der Nummer 46 / 1950 registriert. Damit hat nun alles seine Ordnung, für mich hat alles ein ruhiges Ende gefunden, doch das Leben wird von den Kindern, den Enkeln und Urenkeln in eine hoffentlich friedlichere, sonnige Zukunft weiter getragen.



Nachworte:

Vom äußeren Erscheinungsbild war August Janecke mit über 1,90m Körpergröße, ein großer, schlanker Mann, auch noch im Alter betont aufrecht gehend.

Verschiedene Zeitgenossen sagen, dass August ein eher wenig geselliger Mensch gewesen sei. Ein stiller, zurückhaltender Charakter, der als sensibel galt, mit etwas „leisem und trockenem“ Humor, der nicht jedem Zeitgenossen einging. Er habe die Dinge und Probleme an sich herankommen lassen und sich in Ruhe und mit Zeitbedarf um notwendige Lösungen gekümmert, statt sich ihnen aufgeregt „mit vielen Worten, entgegenzuwerfen“. Wenn es ihm zweckmäßig erschien, sei er aber auch drückenden Problemen einfach aus dem Wege gegangen, wenn er diese nicht ändern konnte. Gespräche seelisch tieferen Inhalts kamen wohl nur mit wenigen Menschen zustande, die er sich als Vertraute ausgewählt hatte.

Materielle Reichtümer konnte er in den Jahren während und zwischen den zwei Weltkriegen, während Inflationszeit, der Weltwirtschaftkrise, der Zeit seiner Arbeitslosigkeit und der erneuten Nachkriegszeit nicht anhäufen. Ihm war solches Streben ohnehin nicht gegeben; es gehörte nicht zu seiner Art. Bei den vielen Mühen, den vielen Wohnungsumzügen, immer einer beruflichen Arbeit hinterher reisend, schaffte er es, die Familie „so über Wasser zu halten“, was seine Ehefrau manchmal mit dem deftigen Berliner Ausdruck kommentierte: „Den Janeckes is eben det Jlück im Hintern erfror’n“ – gewiss hat sie sich mit recht, wie viele andere auch, ein schöneres, ein etwas leichteres und „erfüllteres“ Leben gewünscht, als es ihr die Realität aufgedrängt hatte. Zugegeben, aus unserer Sicht des Außenstehenden, des nur Lesenden, scheint vielleicht auch nicht jeder dieser Ortswechsel ganz dringend erforderlich gewesen zu sein. Fest steht zumindest, dass August im Grunde seines Wesens nichts gegen eine anregende Veränderung hatte, nichts gegen neue Aufgaben, neue Eindrücke, so dass vielleicht nicht jeder Wechsel der Tätigkeiten einer tatsächlichen Not geschuldet war.

Zu seinen Enkelkindern war Großvater August ein stets Freundlicher. Enkelin Annelein wurde gern von Tante Käti mit umsorgt und mit den Ergebnissen ihrer Schneiderinnen-Künste herausgeputzt; Enkel Christoph durfte in Opas kleinem Zimmer wohl als Einziger tun und lassen, spielen, was er wollte ... und „er blieb dabei auf dem Teppich“– ein harmonisches Miteinander.


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Nun habt ihr diese Gedanken zum Lebenslauf gelesen. So einiges wurde berichtet. Gewiss sehr vieles nicht gewusst, verschiedenes getreu dargestellt. Manches war aber vielleicht auch anders, als es nachempfunden wurde.

Noch mehr von den Stimmungen einzufangen, bringt das reale Aufsuchen jener Orte, die im Text genannt wurden, verbunden mit einer gedanklichen Zeitreise. Einen Teil dieses Lebens nachzuerleben, scheint aber noch leichter jenem möglich, der diesen Inhalt erforschte.




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(Sinngemäße Abschrift) C


Sterbe-Anzeige und -Eintrag Nr. C 46 / 1950


des Standesamtes in Potsdam-Babelsberg








Gestorben ist am 02. Februar 1950


in seiner Wohnung, Babelsberg, Wichgrafstraße 22,


der Rentner und Witwer


Karl Friedrich August Janecke






Ärzticher Befund: Zusatand nach Schlaganfall, vollständige Lähmung, Herz- und Kreislaufschwäche


Geheiratet in Berlin, am 15. September 1896, Standesamt IV Berlin, B 713 / 1896.




Quelle: Stadtarchiv Potsdam, C 46 / 1950 auf Film P 332 / S. 272 Sinngemäße Abschrift: Chris. Janecke



Potsdam, am 14. Juli 2008


Meine lieben Großeltern, Klara und August!


Wie Ihr ja wisst, wurde die prächtige, barocke Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam in den Jahren 1730 bis 1735 erbaut. Diese Kirche brannte nach dem Bombardement in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 aus, nachdem der Zweite Weltkrieg, der von Deutschland ausging, in unser Land zurückgekehrt war.

Nach dem Verlust der Kirche, wurde im Juni 1968 auch der äußerst massiv gebaute Turmstumpf gesprengt, „um damit die Reste des preußischen Militarismus’ zu beseitigen“.

Vierzig Jahre sind vergangen. – Die Verhältnisse in Politik und Wirtschaft haben sich seither stark verändert.

Heute nun, im Sommer des Jahres 2008, als die Pläne für einen späteren Wiederaufbau von Kirchenschiff und Turm gereift sind, gravierte ich als Euer Nachkomme, Euren/unseren Familien-Namen „Janecke“, verbunden mit einer kleinen Geldspende, in einen handgestrichenen, noch ungebrannten und somit weichen Tonquader aus Glindow bei Potsdam. Dieser wird nach dem Brennen, als belastbarer Ziegel, als ein kleines mittragendes Element in die Wand des Turmes der wieder aufzubauenden Kirche eingearbeitet und eine hoffentlich Jahrhunderte währende Erinnerung an Euch sein.

Ihr bleibt mit Eurer Familie verbunden.


Es grüßt Euch Euer Enkel Christoph Janecke.






Zusammenstellung der Wohnorte im Laufe des Lebens des Karl Friedrich August Janecke und ab 1896 auch seiner Ehefrau Klara:


Anzahl der Wohnstätten


Jahre

Wohnart und Lebensalter

Anschriften

1

1869 – 1880

Bei den Eltern

00 – 10

Osterburg (Altmark),

Melkerstraße 10

2

1881 – 1883

Bei Ehepaar Zelm

11 – 13

Berlin-Süd,

Wrangelstraße 141

3

1883 – 1884

Bei Ehepaar Zelm

13 – 14

Rixdorf,

Wiesenufer 13 (späteres: Maybachufer)

4

1884 – 1887

Bei Ehepaar Zelm

14 – 18

Rixdorf,

Schinkestraße 14

5

1887 – 1895


Berlin-Süd, Planufer 94 / 95

(6)

1896

Quelle: Angabe im Aufgebot zur Hochzeit

Berlin-Süd,

Kottbusser Damm 16 / 17

7

1895 – 1899

1899 im Adressbuch als Schankwirt geführt


Im Hause der Schwiegereltern 26 – 28

Berlin-Süd,

Kottbusser Damm 34

8

1899 – 1900

28 – 30

Rixdorf,

Steinmetzstraße 61 (spätere Kienitzstr.)

9

1900 – 1904

30 – 34

Rixdorf

Jägerstraße 69, I, (spätere Rollbergstraße)

-

1903 – 1904

Verlagerung des Fuhrbetriebes

Britz,

Werderstraße 53 (spätere Wederstraße)

10

1904 – 1904

34

Britz, Werderstraße 53

11

1904 – 1911

34 – 42

Nowawes-Neuendorf bei Potsdam,

Wiesenstraße 20 - 22

12

1912 – 1915

43 – 46

Neukölln (vormals Britz), Hannemannstraße 32a

13

1915 – 1917

46 – 48

Nowawes b. Potsdam, Mittelstraße 7 - 9

14

Klara bis zum 60. Lebensjahr,

1917 – 1933


August bis zum 80. Lebensjahr

1917 – 1950

Nowawes,

Mittelstraße 22,

(spätere Wichgrafstraße 22)



Autor und Kontaktpartner für Fragen, Meinungen oder Hinweise: Chris Janecke,

E-Mail: christoph@janecke.name



Nachtrag vom 03. Oktober 2015 zu ausgewählten Kriegstoten des Ersten Weltkrieges:

Außer dem hier im Jahr 1918 genannten Wilhelm Janecke aus unserer Familie, finden sich in den Verlustlisten einige Namensvettern aus der gleichen Region. Es handelt sich um:



Geboren in Wittenberge sind:




Quelle: wiki-de.genealogy.net/Verlustlisten_Erster Weltkrieg.


Diese Soldaten treten jedoch nicht vorher (im Adressbuch Wittenberge) als eigenständige Wohnungs-Inhaber/-Mieter auf, sind dort also nicht vermerkt.

Der angeführte Ort ist der Geburtsort. Dieser muss nicht unbedingt mit dem heimatlichen Wohnort in der Kriegszeit identisch sein.

Eine Verbindung zu unserem Familienverband konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Der Name Janecke tritt in der Altmark in verschiedenen Schreibvarianten (z. B. neben Janecke auch Janeke, Jahnke, ...) häufig auf.



- Ende -